Die Martinsklause/II
Um die stillgewordene Klause lag die Nacht. Sanft rauschte die Ache im Thal, der kühle Nachtwind machte die Wipfel der Bäume raunen und zahllose Sterne funkelten am Himmel, den der nahende Vollmond über den östlichen Bergen schon zu lichten begann. Aus dem schwarzen Schatten des Waldes trat ein Mann auf die Rodung. Der Anblick des dunklen Balkenhauses und der geheimnisvolle Lichtschein, welcher aus den Fensterluken des Kirchleins schimmerte, bannte seinen Fuß. Lange stand er auf das vorgestreckte Grießbeil gelehnt. Dann wanderte er lautlos über die Lichtung hinweg, im Walde wieder verschwindend. Unter den Bäumen rief ihn eine gedämpfte Stimme an: „Zeitlassen, Nachbar!“
„Zeitlassen auch!“ klang die leise Antwort. „Wohin zur Nacht?“
„Ich mein’, wir haben den gleichen Weg.“
„Wohl wohl, komm nur! Wir müssen gut ausschreiten, wollen wir droben sein, bis Vollmond einsteht.“ Schweigend schritten sie weiter auf dem dunklen Pfad.
Und dieser Pfad war nicht der einzige, der sich belebte in [242] der stillen Nacht. Ueberall in weiter Runde, auf offener Flur und in dichtem Walde klangen Schritte, auf jedem Weg und Steg. Zuwweilen tauchte der Schein einer Fackel auf und ging wieder unter in Finsternis. Dunkle Gestalten wanderten, bald einzeln, bald zu dreien und vieren gesellt, und sie alle suchten das gleiche Ziel. Von der Höhe des Totenmannes reckte sich eine Feuerzunge über die schwarzen Wipfel empor. Zu der Stätte, an der sie brannte, war das Thing gerufen, welches entscheiden sollte über Wazemanns Haus und das Geschick der Klause, über die kommende Zeit im Gadem.
Dunkle Gestalten wanderten, und jeder Schritt auf rauhem Stein, der klirrende Aufschlag eines jeden Grießbeils klang in der stillen Thingnacht wie das Rollen eines ehernen Würfels. –
Auf der kahlen, von dichtem Urwald umschlossenen Kuppe des Totenmannes loderte in der stillen Nacht das helle Thingfeuer. Die Flammen beleuchteten eine alte dürre Eiche, zwischen deren Wurzeln ein behauener, von Moos und kümmerndem Epheu umwucherter Stein sich erhob. Mit zuckender Helle fiel der Schein des Feuers über die grasige Lichtung, auf welcher einzeln und in Gruppen die zum Thing erschienenen Männer standen oder lagerten, die einen schweigend, die anderen in halblautem Gespräch. Immer noch tauchten, von allen Seiten kommend, neue Gestalten aus dem finsteren Wald hervor und machten mit leisem Gruß oder wortlosem Händedruck die Runde bei den andern.
Neben dem Feuer stand Eigel, der Thingbote, und von dem dürren Holze, welches andere mit vollen Armen herbeitrugen, legte er Ast um Ast in die fressenden Flammen. Vor dem Stein, auf welchem des Richtmanns Messer und ein Wedel aus Wachholderzweigen lag, saßen die beiden Thingschöffen, Kaganhart und der Köppelecker; zwischen ihnen lag ein Bündel dünner Buchenruten, welche sie in kurze Stäbchen zerschnitten … immer eines ließen sie in der dunklen Rinde und das andere schälten sie weiß. Nicht weit von ihnen lag ein an den Füßen gebundener schwarzzottiger Bock im Gras und daneben ein Hahn, an Füßen und Flügeln gefesselt.
Während sich mit dem Schein des Thingfeuers schon das Licht des steigenden Vollmonds mischte, kam einer der letzten, der Schönauer. Sein Gesicht war ernst, und schwer ging sein Atem. Eigel und die Schöffen traten ihm entgegen und reichten ihm die Hand; dann kamen auch die anderen, um den Richtmann zu begrüßen. „Viel’ seh’ ich, aber einen miss’ ich!“ sagte er. „Wo ist Sigenot der Fischer?“
„Er war der erst’, der gekommen ist,“ erwiderte Eigel und deutete gegen den Waldsaum. Dort saß der Fischer im Schatten einer tiefästigen Fichte, das Schwert über dem Schoß, das Gesicht in die Hände gedrückt. Der Richtmann wollte auf ihn zutreten, aber Eigel hielt ihn am Arm zurück und flüsterte: „Die Ramsauer fehlen! Es hat mir gleich geschwant.“ Er hatte kaum ausgesprochen, da kam aus dem Wald ein Zug stiller Männer hervor, wohl dreißig an der Zahl, geführt von einem weißhaarigen Greis; der alte Runot war’s, welcher auf dem Lindthaler Zinsgut saß, der Gaumann der Ramsauer.
„Da sind sie!“ sagte der Richtmann aufatmend und schritt den Kommenden entgegen. „Ihr säumet lang, Männer! Schon will der Vollmond einstehen zur Mitternacht; luget hin. der Eichschatten schneidet den Blutstein!“
„Beim Hirscheneck haben wir uns gesammelt,“ erwiderte der Greis, „und haben geharret auf einen, der nicht hat kommen wollen. Und er ist doch der Best’ von uns!“
„Wen meinst?“
„Unseren guten Bruder Hiltischalk.“
„Es kann nicht kommen, wer nicht geladen ist!“ sagte der Richtmann.
Erschrocken legte Runot die Hand auf des Schönauers Arm, während aus der Schar der Ramsauer unmutige Worte sich hören ließen. „Richtmann, das war übel gethan!“
„Nein, Runot, das war gethan nach Recht und Brauch! Wenn das Thing gerufen wird wider einen im Gadem, so laden wir seinen Vater nicht und nicht seinen Bruder, keinen von seinem Blut und Haus. Heut’ aber hab’ ich das Thing gerufen wider die Klosterleut’, die in unser Thal gekommen sind.“ Eine murmelnde Unruhe ging durch den Kreis der Männer, denn mancher von ihnen hörte mit diesem Wort die erste Botschaft von der Ankunft der Mönche. „Ich hab’ den Hiltischalk nicht geladen, denn er ist ein Gottesmann und der Gottesmänner Bruder; so hab’ ich gethan nach Recht und Brauch.“ Der Widerspruch der Ramsauer wollte nicht verstummen; unwillig hob der Schönauer den grauen Kopf. „Wenn Ihr meinet, ich hätt’ gefehlt an meinem Amt – über vier Mond’ ist Neujahr! Wählet dann einen anderen Richtmann! Heut’ aber halt’ ich das heilige Messer noch, und wer murren will gegen mich, wider den ruf’ ich das Thinggericht.“ Er schritt zum Stein, über dessen Platte der Mondschatten der Eiche fiel, und faßte das Messer. „Vollmond steht ein! Das Thing ist aufgethan! Gauleut’, thut Euch zueinander!“
Während Eigel das lodernde Feuer schürte, sammelten sich die Männer zu getrennten Gruppen. Um den Köppelecker standen die von der Schönau und von Unterstein, um Runot die von der Ramsau, vom Hintersee, vom Schwarzeck und von der Taubenlack, um den Schmied Ilsanker die Männer aus dem Engedein und der Strub, um den Hochgarter die aus der Aschau und dem Loipl, um den Greinwalder die Hochbauern vom Göhl und Untersberg. Sigenot der Fischer stand allein.
„Thingbot’!“ rief der Richtmann. „Geh’ um und zähl’ die Stimmen!“ Von einer Gruppe schritt Eigel zur anderen. Als er zum Richtmann zurückkehrte, sagte er: „Hundert und vier hab’ ich geladen … hundert und drei hab’ ich gezählt. Einer fehlt!“
Der Richtmann spie auf die Erde. „Wie er auch Namen hat und wär’ er mein eigen Blut, keiner soll ihm Freund sein, jeder soll ihm Feind sein! Fallt er in Not, so löst ihn keiner, liegt er in Weh, so tröst’ ihn keiner! Unehr’ über ihn!“
„Unehr’ über ihn!“ klangen hundert Stimmen im Ring.
„Thingbot’, thu’ seinen Namen kund!“
Eigel zögerte. „Der alte Gobl!“
Ein Gemurmel lief durch die Gruppe der Männer. Im Gauring der Schönau aber sagte der Schapbacher. „Hätt’ ich gewußt, daß es der Gobl ist, ich hätt’ nicht geflucht wider ihn. Ueber seinen Weißkopf ist so viel Leid gefallen, daß die Unehr’ daneben kein Platzl nimmer hat.“
Eigel hatte den Hahn von der Erde gehoben und ihm die Füße und Flügel entfesselt. Der Vogel flatterte und krähte, als ihn der Richtmann ergriff. „Was ein Gockel ist, muß gackern!“ sagte der Schönauer. „Wer aber das Thingfeuer hat brennen sehen, muß schweigen können, wenn der Morgen kommt.“ Er hob mit der Linken den flatternden und krächzenden Hahn. „Schau das Feuer an – und thu’ keinen Laut mehr!“ Mit jähem Messerhieb schlug er dem Vogel den Kopf vom Rumpfe und warf ihn zu Boden. Ein Brünnlein spritzte aus dem Hals des Hahns, welcher kopflos, mit schlagenden Flügeln, noch einige Sprünge that. Als er tot zur Erde fiel, hob ihn der Köppelecker auf, riß ihm eine Feder aus, reichte den Hahn weiter und steckte die Feder auf seine Kappe. So wie er, that jeder andere. Eigel, welcher den Hahn zuletzt empfing, warf den gerupften Vogel ins Feuer.
„Wer geredet in der Thingnacht, soll schweigen am Tag,“ rief der Richtmann, „oder eh’ der Mond wieder voll wird, soll er heißen, wie der Boden heißt, auf dem wir stehen! Mannerleut’, hebet die Hand zum Schwur!“
Alle Schwurhände erhoben sich, nur eine nicht. Eigel war, als er den Hahn ins Feuer warf, der Flamme zu nahe gekommen, und sie hatte einen Zipfel seiner grauen Kotze gefaßt – nun mußte er den Brand des Tuches mit beiden Händen ersticken.
„Thingschöffen,“ fragte der Richtmann, „ist kein unberufen Ohr im Ring?“
Kaganhart und der Köppelecker traten vor und sprachen einer mit dem anderen wechselnd: „Die Nacht ist einödig, und unbegangen der Wald. Wir haben gelugt in jeden Gipfel und geschlagen auf jeden Busch. Der Ring ist gezogen auf dreimal hundert Gäng’ in der Weit’, die Wächter stehen und lassen nicht ein, was nicht gerufen ist, sei’s Mensch oder Tier, Haar oder Feder!“
„So wollen wir unter uns Mannerleut’ raiten um unser Wohl, mit Mannswort und Mannsverstand. Zwei Weg’ gehen aus, der eine ist recht und der ander’ ist schlecht; wir wollen meiden den schlechten und suchen den rechten, daß wir hüten vor Schad’ und Nöten unser Haus, Weib und Kind, Stall, Vieh und Gesind’. Mannerleut’, her zur Heilstätt’!“ Während ein enger Ring um Feuer und Eiche sich bildete, hoben die Schöffen den [243] Bock auf den Blutstein. Da gewahrte der Richtmann, daß die Ramsauer zur Seite stehen blieben in getrennter Gruppe. „Ramsauerleut’, her zur Heilstätt’!“
Aber der alte Runot streckte das Grießbeil vor seine Gauleute und schüttelte den Kopf. Thu’ Du mit den Deinen, wie Du meinst, daß es gut und recht ist und Brauch seit alter Zeit. Das soll Euch keiner wehren. Es soll aber auch uns nicht verwehrt sein, daß wir thun nach unserem Brauch, wenn’s gilt, zu hüten vor Schad’ und Nöten unser Haus, Weib und Kind, Stall, Vieh und Gesind’!“ Der Alte stieß das Grießbeil in die Erde. ließ sich auf die Knie nieder und faltete die Hände. Rings um ihn her knieten die Männer der Ramsau, und der helle Feuerschein zuckte auf ihren Gesichtern und glänzte in ihren Augen, welche emporgerichtet waren zum mondlichten Himmel.
Bewegung und Murren ging durch die Reihen der anderen, und die Erregung steigerte sich noch, als Sigenot der Fischer auf die Ramsauer zuging und neben dem alten Runot die Knie beugte. „Fischer!“ stammelte der Richtmann, und es zitterte seine Hand. welche das Messer schon an den Hals des Bockes gelegt.
Der Greinwalder schien dem Fischer folgen zu wollen; auf halbem Weg aber blieb er stehen, kraute sich hinter dem Ohr, schielte zu den Knienden hinüber und drehte die Augen wieder dem Blutstein zu. Eigel, dessen Hände den Bock gefesselt hielten, stieß den Köppelecker mit dem Eckbogen an und sagte mit heiserer Stimme: „Greif’ zu, Schöff’, daß ich die Händ’ ledig krieg’ … ich hab’ einen Weg sell hinüber!“
„Thingbot’,“ rief ihn der Richtmann an. „halt’ fest!“ Und er führte durch den Hals des Tieres mit rascher Hand den tötenden Schnitt, während die Ramsauer mit halblauten Stimmen ihr frommes Lied begannen:
„Mein guter Herre, Du mein Gott
Dein Schild ist wider alle Not,
Du hürdest fest und hagest gut,
Herr, nimm uns auf in Deine Hut!“
Gleich einem sprudelnden Quell rann das Bockblut über den Stein. Der Richtmann tauchte den Wachholderwedel in das dampfende Bächlein und sprengte die Tropfen gegen den Eichbaum.
„Das Blut soll rinnen,
Daß uns die Holden Gutes sinnen!“
Wieder netzte er den Wedel.
„Das Blut soll rinnen,
Daß uns die Unholden nichts Uebles spinnen!“
Während der Richtmann zum Feuer trat, klang mit wachsenden Stimmen das Lied der Ramsauer:
„Mein guter Herre, Du mein Gott,
Thu’ speisen uns mit Hmmelsbrot
Und heb’ uns aus dem Leidenthal
Hinauf in Deinen Freudensaal!“
Das Lied verklang. und die Stimme des Richtmanns hallte: „Das Feuer scheinet, das Feuer reinet!“ Er warf den bluttriefenden Wedel in die Glut; es prasselte, eine schwarz aufsteigende Rauchwolke trübte den Schein der Flammen – aber rasch hatte das Feuer die nassen qualmenden Zweige verzehrt und loderte wieder in reiner Helle.
„Jetzt, Mannerleut’, lasset uns raiten um unser Wohl!“ Vor dem Blutstein ließ sich der Richtmann auf eine Wurzel der Eiche nieder, und um ihn her im Halbkreis lagerten sich die hundert Männer. während die Schöffen dem verbluteten Bock das Fell abzogen und Eigel neben dem Feuer über einem Haufen glühender Kohlen den Bratspieß rüstete. Die Metkannen gingen um, ihre hölzernen Deckel klapperten, und murmelnder Zuspruch und Dank ließen sich vernehmen.
Mit lauter Stimme begann der Richtmann zu sprechen, langsam, als wöge er jedes Wort. Noch hielt er seine eigene Meinung zurück und schwieg von der Zwiesprach, welche Herr Waze mit ihm gehalten. Er sprach von der Stiftung, welche Frau Adelheid auf ihrem Sterbebett gethan, von der Ankunft der Klosterleute, von ihrem Klausenbau beim Lokistein „Sie sind nach Brief und Siegel wohl die Herren im Gadem, Herr Waze aber sitzt auf seinem festen Haus und hat die Macht. Er will nicht weichen von seinem Sitz und will den Gadem nicht lassen aus seiner Hand. Für ihn und seine Buben ist Zins und Steuer, was für die Kuh das freie Futter ist. Und so müssen sie stehen wider die Klosterleut’ wie der Senn’ wider die Wölf’. Sie haben auch schon den Ring gezogen um den Lok’stein und den Wald um die Klaus’ her in schweren Bann gelegt.“
Der Greinwalder sprang auf. „Meine arme Dirn, weil sie Albengab’ getragen hat zur Klaus’, haben sie blutig geschlagen, daß sie schier sterben hätt’ müssen.“
Andere Stimmen schrien dazwischen, sie alle, die vor den Wazemannsbuben wieder umgekehrt waren in Scheu und Furcht. Jeden Ruf, der sich vernehmen ließ, schien der Schönauer gerne zu hören, denn er nickte zu jeder Stimme.
„Ihr sehet, Mannerleut’, es wird ein schieches Raufen anheben zwischen denen beim Lok’stein und denen in Wazemanns Haus. Zu wem sollen wir halten? Stehen wir zu keinem, so haben wir alle beid’ wider uns. Stehen wir zum einen, so ist wider uns der ander’. Jetzt raitet, Mannerleut’, wie wir uns hüten mögen vor Not und Schaden! Runot, Du bist der Aeltest’ unter uns, thu’ Du die erste Red’!“
Der Greis erhob sich. „Ich weiß keine! Und um was denn sollen wir Ramsauer raiten? Wir haben’s gut und wollen’s nicht besser. Solange Herr Waze der Spisar ist, tragen wir ihm Zins und Steuer hin … wenn er mehr will, soll er nur kommen! Unser Herr ist ein anderer, und sein guter Knecht ist Bruder Hiltischalk. Weiter weiß ich keine Red’ und keinen Rat. Ich red’ nicht wider Wazemann, denn es könnt’ für Euch im Gadem zu Not und Schaden sein – ich red’ nicht wider die Klosterleut’, weil’s unseren Bruder Hiltischalk verzürnen könnt’. So raitet halt selber. Ihr Gademer Leut’, es geht ja um Euch her! Ich mein’ wohl, unser Bruder Hiltischalk hätt’ das richtige Wörtl gefunden und den guten Weg gewiesen. Aber Du hast ihn nicht geladen, Richtmann. So haben wir ausgeredet, wir Ramsauer, denn mit ihm ist unsere Stimm’ daheim geblieben.“ Wirr schrien im Kreis, als Runot zurücktrat, alle Stimmen durcheinander. Der Schönauer hob das Messer, doch eh’ er noch sprechen konnte, war Eigel mit geballten Fäusten in den Ring gesprungen „Leut’, Leut’,“ schrie er mit zornigem Gelächter, „ich hätt’ gemeint, die Frag’, zu wem wir halten sollen, wär’ ausgeraitet beim ersten Wort. Wenn ich die Wahl thun muß zwischen Trunk und Durst, zwischen Tag und Nacht. zwischen Lieb’ und Haß … muß ich mich da denn noch besinnen und raiten? Ist denn einer unter Euch. der den Waze nicht kennt und seine Buben? Einer, der ihm nicht gedoppelt steuern hat müssen Jahr um Jahr? Einer. dem er nicht gerissen von seinem Gut und Vieh? Einer, der seine Buß’ nicht geschmeckt hat und nicht weiß, wie seine Ruten brennen? Einer, der vor ihm und seinen Buben nicht gebanget hat um Weib und Tochter? Und da raitet Ihr noch?“ Die Glut seiner Worte faßte die Männer und weckte zornigen Beisall auf allen Seiten. „Not und Unrecht hat er ausgeworfen über uns, so dick wie die Körner fallen aufs Traidfeld. Lieb’ hat er gerissen von Lieb’ und hat uns geschlagen mit Weh und Jammer! Jetzt aber, jetzt kommt für ihn die zahlende Stund’ … und für Euch die gute Zeit!“
Der Schönauer war aufgesprungen. „Kohlmann!“ überklang seine Stimme den wachsenden Lärm. „Kohlmann! Du hast sie wohl schon in der Hand, die gute Zeit? Gelt? So schau’ doch einmal drauf hin beim Lichtschein. ob’s auch die gute ist oder am End’ gar die schlechter’ noch!“
Stimmen. die zur Ruhe mahnten, mischten sich in den Lärm, der sich mühsam dämpfte. Eigel und der Richtmann standen voreinander, sich messend mit funkelnden Augen.
„Kohlmann, Dein Gesicht brennt! Aus Dir redet die heiße Rach’ wider Waze, der Dir die Salmued genommen!“
„Und Dein Gesicht ist weiß! In Dir zittert die Angst um Deinen Buben! Und doch ist die Zeit, die uns die Klosterleut’ bringen, die beste, die uns blühen kann … Dir wie Deinem Buben! Ich hab’ von den Klosterleuten einen geführt … das ist der Oeberst’ von ihnen, derselb’, dem der Gadem gelegt ist in die Herrenhand! Er hat geredet zu mir, und seine Red’ ist mir ins Herz gegangen. Ich hab’ ihm ins Aug’ geschaut, tief hinein und lichtscheinig hat’s mich angeleuchtet wie da droben der Vollmond in der Finsternis! Mit dem ist ein gutes Hausen, Leut’! Und eh’ ich mein Hölzl noch in die Bockshaut leg’, mag von Euch ein jeder wissen, wie ich los’: weiß für die Klosterleut’!“
„Ich auch!“ fiel Kaganhart ein mit hastigem Wort. Während im Ring die Stimmen laut durcheinander schwirrten, faßte Eigel den Kaganhart am Arm. „‚Ich auch‘? Mehr ist Dir nimmer [244] eingefallen? Um die zwei Bettelwort’ wär’s nicht der Müh’ wert gewesen, daß ich Dich geladen hab’. Dein Weib hätt’ das Maul wohl anders aufgethan!“
„Aber so wart’ doch, laß mir doch Zeit,“ brummte der Bauer. „Ich red’ schon noch und stell’ meinen Mann.“
Inzwischen klang über den wachsenden Lärm hinaus die Stimme des Gernroders: „Ich bin den Klosterleuten auch nicht feind! Einer von ihnen ist zu meinem Haus gekommen und hat meinen Kindern Lieb’s erwiesen.“
„Ohne die Klosterleut’ hätt’ meine arme Dirn’ verbluten müssen,“ rief der Greinwalder, „ich steh’ zu ihnen!“ Er ballte die Faust. „Der Fichtengipfel in meiner Kammer wartet auf seinen guten Tag.“ Und der Marderecker schrie: „Ob für oder wider die Klosterleut’, das ist mir alles eins, wenn’s nur wider den Waze geht!“
Immer mächtiger wuchs das Gewirr der Stimmen. Der Schönauer hob das blitzende Messer, aber niemand achtete des Zeichens, mit dem er Schweigen forderte. Da sprang der Schmied von Ilsank auf einen Stein, und mit hallender Stimme, die sich Gehör erzwang, schrie er über die Köpfe hinweg: „Mannerleut’, was wir fürchten und leiden müssen von Waze und seinen Buben, das wissen wir all’! Wer aber sagt uns denn, was wir hoffen und genießen sollen von denen beim Lok’stein?“ Tiefe Stille trat ein. „Das muß uns doch einer sagen. wenn wir raiten sollen!“ rief der Ilsanker. „Wer weiß denn das? Wer sagt es uns?“
„Ich, Leut’!“ Sigenot war in den Ring getreten. Laute Rufe begrüßten den Fischer, und alle Augen hingen an ihm. Der Spannung, die in allen Gesichtern zuckte, war es anzumerken, wie schwer das Wort dieses Einen wog, wie viel er galt in der Meinung aller. Langsam trat wieder Stille ein, und enger zog sich der Ring um Sigenot, der, die Hände über den Knauf des Schwertes gelegt, hochaufgerichtet stand, das bleiche tiefernste Gesicht überstrahlt vom Schein des lodernden Feuers. „Mannerleut’,“ sprach er mit klingender Stimme, „ich weiß vom Thingfeuer weg für mich und Euch alle nur eine Straß’, die geht zum Lok’stein und zu dem, der jetzt der Herr ist über den Gadem!“ Eine stumme Bewegung ging über die Köpfe, und alles drängte noch näher heran. Nur der Schönauer stand regungslos und hing mit bangen Augen an den Lippen des Fischers. „Der Oeberste der Klosterleut’ heißt Eberwein. Nach Brief und Recht, durch eidfeste Schenkung hat er im Gadem Herrenmacht über Land und Leut’. Dawider kann nimmer Streit sich heben, und auf der Seit’, auf der das Recht ist, müssen wir alle stehen, Schulter bei Schulter und Faust bei Faust.“
Unruhiges Gemurmel erhob sich im Ring, und der Ilsanker schrie: „Hut ab vor dem Recht! Aber wissen möcht’ ich halt doch, was ich hab’ davon?“
„Und wär’s auch mehr nicht, Ilsanker: die Ruh’ in Deiner Brust! Aber höret mich an! Ich bin beim Lok’stein gewesen und hab’ geredet mit dem Herrn und hab’ geraitet mit ihm um Leutwohl und Landrecht. und da hab’ ich gespürt, daß er eine Hand hat, lind und gut, und daß in seinem Herzen die Lieb’ ist wie das Feuer auf dem Winterherd. Und wie er es halten will als Herr im Gadem, das laßt er Euch sagen durch mich: Recht soll hausen bei jedem Hag, und Schirm soll haben jeder Blutstropfen an Mensch und Vieh, jeder Span an Thür und Thor, jeder Halm auf Acker und Wiesgrund. Wer unrecht thut, soll stehen nach altem Brauch unter dem Spruch der Gauleut’. Nimmer in heimlicher Nacht soll das Thing gerufen sein, sondern frei am Tag, in heller Sonn’. Ein jeder soll die Felder hagen dürfen wider Hirsch und Reh, und die Jagd soll frei sein auf alles Raubzeug, das von Schaden ist für Mensch und Tier. Keiner soll rühren an den Bergwald, der gegen die Lahnen steht und gegen die Wildbäch’. Im Thal aber soll jedes Haus seinen Heimwald haben, an dem der Bauer schlagen mag, was er braucht für Herd und Bau. Was überbleibt im Thal an Waldgrund, soll gerodet werden, und die Gauleut’ sollen das neue Feld aufteilen unter die Häuser nach gleichem Maß. Und es sollen dem Wild zulieb keine Alben mehr in der Oed’ liegen. Wo ein Kaser gestanden in alter Zeit, soll wieder einer stehen, und jeder Bauer soll an freier Albweid’ haben, was er braucht für doppelt Vieh. Denn wie die Felder sich mehren sollen, soll der Viehstand wachsen, daß bessere Zeiten einkehren für jeden Bauer im Gadem. Und weil der gute Herr gemeint hat, es läg’ an Zins und Steuer zuviel auf jedem Kopf, so laßt er Euch sagen: was Zins und Steuer heißt, soll gemindert sein um das halbe Maß.“
Sigenot konnte nicht weiter sprechen; ein jubelndes Geschrei erhob sich, alle drängten auf ihn zu, alle Hände streckten sich nach ihm, und die ihm zunächst standen, faßten sein Gewand, seine Arme, als wäre er nicht der Bote eines anderen, sondern selbst der gute Herr, der die neue bessere Zeit zu verkünden gekommen.
„Richtmann!“ überschrie der Ilsanker allen Jubel der anderen, „Richtmann, laß die Stäb’ austeilen! Wir wollen losen – weiß für die Klosterleut’!“
Der Schönauer hob das flimmernde Messer mit der vom Opfer noch blutigen Hand. Die Schöffen warfen sich in den schreienden Haufen und drängten die Männer auseinander. „Haltet Ruh’, Leut’, haltet Ruh’! Das Messer weiset auf Still’!“ Allmählich erweiterte sich der Ring und Schweigen trat ein. Da sagte der Richtmann mit heiser klingender Stimme: „Thingbot’, trag’ die Los’ um, ein schwarzes und ein weißes für jeden Mann! Schöffen, thut Met in die Kannen und reichet vom Bockfleisch jedem Mann sein’ Teil! Ihr aber, Leut’, trinket und esset und haltet Ruh’ ein’ Weil’ und höret, was ich zu raiten hab’ mit dem Fischer!“ Langsamen Schrittes trat er vor Sigenot hin. „Du hast mit denen beim Lok’stein geraitet um unser Wohl und Landrecht wie ein rechtschaffener Mann und guter Nachbar, und Deine Botschaft ist lichtscheinig wie der Sonnglanz, der die Bergwänd’ anfallt vor gutem Tag. Aber ich mein’ schier, sie blinket gar zu hell, und das wär’ ein Zeichen auf schiech Wetter. Ich will nicht sagen: ‚Viel versprechen und lützel halten, ist neuer Herren Art und Walten‘; ich will alles glaubenl Aber eine Frag’ noch hätt’ ich.“
„So frag’!“ erwiderte Sigenot, während im Ring die Männer auflauschten mit Unruh’ und Spannung.
„Viel Gutes hast verkündet. Verschwiegen aber hast, was ich gehört hätt’ am allerliebsten. Werden die Klosterleut’ dem Gadem einen neuen Spisar setzen oder soll Herr Waze bleiben, was er ist?“
„Das weiß ich nicht.“
„Warum denn hast nicht gefragt?“
Sigenots Brauen furchten sich, und eine dunkle Röte floß über seine Stirne. „Das hat seinen Grund, Richtmann, und der gehört nicht vor das Thing!“
„So?“ Der Schönauer nickte vor sich hin. „Meinetwegen, verschweig’ den Grund halt! Ich weiß – Du hast beim Lok’stein keine Frag’ thun wollen wider die Wazemannsleut’ … und weiß genug!“ Die Augen des Richtmanns glitten im Kreis über die verblüfft und erschrocken blickenden Gesichter.
Sigenot schien die Worte des Schönauers nicht gehört zu haben; schwer atmend streifte er mit der Hand über die Stirn und starrte vor sich nieder. Da fragte der Richtmann wieder: „Noch eins, Fischer! Wenn die Klosterleut’ halten wollen, was sie versprochen haben, und Herr Waze stemmt sich dagegen und wütet gegen sie und uns mit seinen Buben und Knechten, mit Feuer und Eisen, wer hilft ihnen wider ihn? Wer denn, Fischer, wer?“
Sigenot blickte auf. „Einer, Richtmann,“ sagte er und hob das Schwertkreuz gegen den Himmel. „Einer, der Arm’ hat, stärker als tausend Männer in Wehr und Eisen.“
Ein dumpfes Gemurmel ging durch die Reihen der Gademleute, und mancher von ihnen kraute sich hinter dem Ohr und blickte mit scheuen Augen zum mondlichten Himmel auf. Nur die Ramsauer winkten dem Fischer Beifall zu; und der alte Runot, als er das müde Lächeln sah, das dem Schönauer um die bleichen Lippen zuckte, hob das Grießbeil und rief: „Gieb acht, Richtmann, daß Dir das Lachen nicht vergeht!“
Eigel war in den Ring gesprungen; er hatte das blutige Bocksfell um die Lenden gebunden und zum Sack geschürzt, in welchem die noch unverteilten Lose lagen. „Wer ihnen helfen soll wider ihn? Ja wer denn sonst als wir? Wir alle miteinand’, Schulter an Schulter und Faust an Faust!“
„Wohl wohl! Recht hat er, der Kohlmann!“ schrie Kaganhart und schwang den gespitzten Stecken, an dem er ein dampfendes Stück Bockfleisch umgetragen. „Wir sind hundert gegen die zwanzig in Wazemanns Haus! Auf, Mannerleut’, auf! Gleich vom Thingfeuer weg ziehen wir hinaus zum Falkenstein und werfen die Bränd’ über Haus und Ställ’ und brennen das Blutnest nieder mit dem alten Gauch und seiner Brut, mit seinen Schandbuben und seiner rothaarigen Wetterhex’!“
Lautes Geschrei erhob sich, gemischt aus zornigem Beifall und [246] erschrockenem Widerspruch, während sich Kaganhart zu Eigel wandte. „Das wird wohl eine Red’ gewesen sein, eine richtige Mannsred’!“
Da packte eine Faust ihn an der Brust. „Mordbrenner!“ Der Bauer starrte den Fischer an, welcher vor ihm stand mit funkelnden Augen und fahlem Gesicht.
„Thingfrieden!“ rief der Schönauer und streckte den Arm mit dem Messer zwischen die beiden. „Was einer auch raten mag, jedes Wort ist frei!“ Und als der Fischer schweigend zurücktrat, sich mühsam zur Rühe zwingend, rief der Richtmann, mit hallender Stimme den Lärm übertönend: „Ich mein’ wohl, der Kaganhart hat heißer gekocht, als er essen möcht’. Aber sag’, Fischer … wenn wir thäten, was der da geraten hat, und wir kämen morgen zum Lok’stein und möchten sagen: ‚Herr Waze liegt erschlagen mit Buben, Dirn’ und Knecht’, und sein Haus ist Feuer und Rauch geworden‘ – was meinst wohl, daß er sagen möcht’, Dein Herr?“
Mit zuckenden Lippen erwiderte Sigenot: „Was er sagen muß nach heiligem Recht: wer Feuer wirft, soll die Händ’ verlieren, wer Blut vergießt, soll stehen unter Strick und Messer!“
Der Schönauer nickte und lächelte, während der Schmied von Ilsank mit seiner Bärenstimme den wilden Lärm überschrie: „Ja höret doch, Männer, so höret doch! Wenn wir den Wazemannsleuten ein Härlein sengen und einen Finger brechen, so müssen wir gar noch Gericht beim Lok’stein fürchten!“
Unter dem wirren Geschrei, das diesen Worten folgte, sprang der Richtmann zum Blutstein und hob das Messer. „Höret, nur eins noch höret, was ich sagen muß! Und Du, Nachbar Kaganhart, Du dank’ allen guten Mächten, daß Deine Stimm’ nicht hinaushallt über den eidfesten Ring! Sonst möcht’ Herr Waze von Dir noch träumen in der heutigen Nacht!“ Das seltsame Wort, das mit hallendem Klang an alle Ohren schlug, machte die Schreier verstummen und lauschen. „Höret, Mannerleut’! Der Fischer hat Euch Botschaft getragen vom Lok’stein … so muß ich Euch Botschaft bringen von der andern Seit’. Der Fischer hat es gut gemeint und ist zum Lok’stein gegangen. Herr Waze aber ist zu mir gekommen und hat mir das Messer an den Hals gelegt und hat das Eisen gehoben über meines Buben Kopf. Mannerleut’“ – wie drängende Wellen über das Gebälk der engen Schleuse, so stürzten in treibendem Schwall die Worte von den Lippen des Richtmanns – „Mannerleut’, ich scheu’ mich nicht, vor Euch allen sag’ ich’s grad’ heraus … in mir zittert die Angst um meinen Buben, der mein Alles ist, meine ganze Lieb’ und meine einzige Freud’!“ Lautlose Stille herrschte im Ring, während der Schönauer von Wazes Besuch in seinem Hof erzählte. Jedes Wort, das Herr Waze gesprochen, hatte die Angst und der Kummer in ihm festgehalten. Und er brauchte den lauschenden Männern Wazemanns „Träume“ nicht zu deuten, ein jeder verstand, wie sie gemeint waren. Wie der trübe Schlamm, den der Wildbach nach einem Unwetter aus seinem zerrissenen Bett hinauswälzt in den klaren See, von einer Welle in die andere quillt, so floß die dunkle Angst, welche aus den bebenden Worten des Richtmanns redete, in die Herzen der Lauschenden über, und jeder dachte der eigenen Kinder und sah sie fallen unter dem ersten Schlag, den Herr Waze zu führen drohte. Die Hoffnung der besseren Zukunft, welche Sigenots Botschaft geweckt, ging ihnen unter in der Furcht der Gegenwart, in der Angst vor der Not des kommenden Tages.
„So hat Herr Waze geredet,“ rief der Schönauer, „und was er mir und meinem Buben vermeint hat, das gilt Euch allen! Und schier ein jeder von Euch hat einen Buben oder Kinder, an denen er hänget mit Leib und Seel’. Und ich mein’ doch, es wär’ einem jeden sein Kind, was dem Baum sein Mark ist, das er haget mit Holz und Rind’, mit Aest und Blättern. Lasset den Waze doch thun, wie er mag, soll er doch reißen von unserem Hab und Gut! Wenn er mit keiner Hand nur rührt an unsere Kinder! Oder saget, Mannerleut’, saget, will einer von Euch morgen heimkehren in seinen Hag … und will er seinen Buben oder sein Kindl im Blut und im letzten Schnaufer finden, und wenn sein Liebl, sein armes, ihn anschaut und seufzet: ‚Vater, Vater, was hast Du gerufen über mich!‘ … wer will dann sagen von Euch: ‚Meinetwegen, sei hin – aber ich muß von Neujahr an nur halbe Steuer legen!‘“
Da kam es von allen Lippen wie ein einziger Schrei, sie streckten die Hände aus, als möchten sie den Mund verschließen, der solche Worte sprach; und der Marderecker sprang auf den Schönauer zu und rüttelte seinen Arm. „Drei Kinder hab’ ich, Richtmann, drei! Eines lieber wie’s ander’! Ja sag’ doch, sag’, was thu’ ich denn, daß ich meine Kinder hüt’?“
Der alte Eigel stand, mit dem blutigen Bocksfell um die Lenden, und schüttelte den Kopf. während Sigenots Augen mit verlorenem Blick über die erregten, vom zuckenden Feuerschein erhellten Gesichter hinschweiften, als könnte er nicht fassen, was hier geschah. Da hob sich die Stimme des Schönauers über den Lärm. „Mannerleut’, weil Ihr mich fraget, was ich rat’, so höret! Wir all’ müssen den Weg gehen, den die Not uns weiset. Wir all’ müssen stehen zu Wazemann, so lang’ er Spisar ist im Land. Ihm tragen wir Zins und Steuer hin, ihm bieten wir die Fron, und außer ihm geht uns kein anderer was an. Keiner von uns soll sich einlassen mit den Klosterleuten, keiner von uns soll Albengab’ tragen zur Klaus’!“
„Richtmann!“ rief Sigenot erschrocken und faßte die Hand des Schönauers. „Du hast üblen Rat!“
Aber im Ring schrien die Männer: „Red’ weiter, Richtmann! Weiter!“
„Mein Rat ist, wie die harte Stund’ ihn fordert. Noch allweil ist Wazemann der Herr. Blüht einmal andere Zeit und kommen die Klosterleut’ obenauf … Du selber, Fischer, hast ja gesagt, wie gut ihr Herz ist und wie stark ihre Lieb’ … wenn sie gar so gut und liebreich sind, so müssen sie auch einsehen, daß wir heut’ nicht anders können, und sie dürfen uns auch in einer kommenden Zeit nimmer harb drum sein, weil heut’ der einzige Weg, auf dem wir unsere Kinder hüten, um den Lok’stein herumgeht und dem Wazemann zu!“
„Richtmann. Richtmann!“ mahnte Sigenot mit bebender Stimme. „Dein Rat hat krummen Weg, Du gehst dem Unrecht zu! Richtmann. thu’ die Augen auf. Du hast die Wahl zwischen Tag und Nacht … an Deinen Buben denk’ und reiß’ ihn nicht hinaus auf den Nachtweg! Laß ihn stehen bei Licht und Recht!“
Doch Sigenots Worte erstickten unter dem wirren Geschrei, mit welchem der Rat des Richtmanns aufgenommen wurde. Und alle anderen überschrie der Schmied von Ilsank: „Wir wissen genug! Das Raiten hat ein End’! Richtmann laß die Los’ werfen … schwarz wider die Klosterleut’!“
Der Thingbot’ brauchte nicht im Ring zu gehen, um die Stäbe zu sammeln; haufenweise drängten sich die Männer um ihn her und warfen die dunklen Lose in das Bocksfell. Da schrie der Marderecker mit kreischender Stimme: „Richtmann. die Ramsauer losen nicht!“ Tumult erhob sich, und laute Rufe schwirrten durcheinander. „Das ist wider Brauch und Recht! Sie müssen losen!“
„Wer will uns zwingen?“ fragte der alte Runot und streckte das Grießbeil vor sich und die Seinen hin. „Wir losen nicht! Wir haben all’ nur eine Stimm’, und die ist daheimgeblieben.“
„Das ist eine Ausred’,“ klang’s aus dem Haufen. „Sie wollen sich lösen aus dem Schwurbann und wollen ihrem Kuttenbruder zutragen, was wir geraitet haben in der Thingnacht!“
Die Ramsauer hoben die Fäuste gegen den Schmäher, aber der alte Gaumann hielt das Grießbeil fest. „Gebet Ruh’, Leut’! Was die Lügenzung’ geredet hat, das fallt auf unser’ Ehr’ und Treu’ wie ein Stäubl ins Wasser. Rach einer solchen Red’ aber, mein’ ich, haben wir Ramsauer auf der Thingstätt’ nichts weiter mehr zu schaffen! Kommet, Leut’, wir gehen heim!“ Ohne Gruß ging der Alte dem Walde zu, und die Ramsauer folgten ihm.
Mit zornigem Geschrei drängte der Haufe ihnen nach. Aber da stand der Fischer vor den Schreiern und hob die geballten Fäuste. „Die Ramsauer haben freien Weg … wer ihnen nach will, muß weg über mich! Wollt Ihr raufen im Thing wie Buben in der Hofreut … nur her auf mich! Ich mein’, ich steh’ noch wider Euch alle!“ Vor seinen eisernen Armen und seinen blitzenden Augen wandelte sich die Streitlust in den erhitzten Köpfen zu raschem Frieden.
Inzwischen war Eigel auf den Schönauer zugetreten und hatte das Bocksfell mit den Stäben auf die Erde geworfen, zwei weiße Lose hielt er in der Hand. „Da brauchst nimmer zählen, Richtmann!“ sagte er mit zornigem Lachen. „All’ sind schwarz … bis auf die zwei in meiner Hand! Das erst’ hat der Fischer geworfen und das ander’ ich!“ Da gewahrte er den Kaganhart. „Du! Wo ist denn das Deinig’?“
[247] „Such’ nur, es muß schon dabei sein!“ brummte der Bauer und drängte sich zwischen die anderen.
Der Schönauer blickte auf die dunklen Lose nieder und atmete auf, als wäre ein drückender Stein von seiner Brust gefallen. Er faßte die Hand des Mardereckers, der an seiner Seite stand, und flüsterte: „Nachbar, wenn Du zur Alben kommst, so sag’ meinem Liebli: ich wart’ auf ihn … er kann wieder heim!“ Dann hob er das Messer und sprach mit hallender Stimme: „Mannerleut’! Das Thing hat den Spruch gethan: für Wazemann und wider die Klosterleut’! Wir stehen unter Schwur, das ist ein Weiser für alle!“
„Nicht für alle! Einen nimm aus!“ Mit bleichem Gesicht trat Sigenot vor den Blutstein.
„Fischer!“ stammelte der Schönauer, während die anderen sich erschrocken und lärmend herbeidrängten.
„Was ich sag’, das braucht in keinem die Angst erwecken. Den Schweigschwnr halt’ ich und geh’ von der Thingstätt’ unter der Hahnfeder. Aber ich kann nicht stehen, wo ich Unrecht seh’ und krumme Furcht. Und weil ich gehen müßt’ mit Euch, solang’ ich zur Gemein’ gehör’,“ er riß ein brennendes Scheit aus dem Feuerstoß, löschte mit einem Schlag auf den Blutstein die rauchende Flamme und schleuderte das glimmende Holz hinaus über den Ring der Männer, „so reiß’ ich mich los von Euch und Eurer Gemein’ und will von Stund’ an nimmer teilen mit Euch weder Rat noch That, weder Gut noch Blut, weder Leid noch Freud’, und will als Einschichtiger den Weg gehen, den ich für den rechten halt’!“
Ehe der Schönauer, der bis an die Lippen erblaßt war, ein Wort erwidern konnte, hatte Sigenot sich abgewendet und war den Bäumen zugeschritten. Totenstille war hinter ihm, nur das versinkende Thingfeuer rauschte und knisterte. Doch als er den Wald betrat, erhob sich beim Blutstein ein wüster Lärm …
Mit raschen Schritten folgte Sigenot dem schmalen Waldpfad, auf welchen die sinkende Mondhelle nur mit spärlichen Lichtern niederblickte. Er war nicht weit gekommen, da hörte er klappernde Sprünge hinter sich. „Fischer! Fischer!“ Eigel war es, der Kohlmann.
„Was willst? Keiner wird wenden, was ich gethan hab’! Auch Du nicht!“
„Wenden?“ lachte der Alte. „Ich hab’ Dir’s nachgethan und bin Thingbot’ gewesen zum letztenmal. Die Narrensupp’, die man da droben gekocht hat, schmeckt mir nicht. Jetzt merk’ ich’s: der einzig’ Gescheite von uns allen ist der gewesen, der nicht gekommen ist, der alte Gobl. Aber Verstand muß Unehr’ heißen. Hätt’ ich mir nur den Apfel mitgenommen!“ Wieder lachte der Kohlmann. „Aber wie schon alles geworden ist … da steh’ ich lieber zu Dir als zu den andern. So nimm mich halt mit in die Einschicht und laß mich hausen in Deinem Hag!“
Sigenot zögerte mit der Antwort. „Ich könnt’ Dich brauchen, Kohlmann, aber ich muß Dir sagen: meine Hofreut hat einen heißen Boden.“
„Warum?“
„Mein Weg geht unter Eisen, ich steh’ in Fehd’ wider Wazemanns Haus!“
„Wider Wazemann? Ich könnt’ ein besseres Wort nicht hören! Da hast meine Hand … so lieber geb’ ich mich!“
„So komm!“
Sie tauschten einen Händedruck, dann stiegen sie thalwärts durch die Nacht. Als sie auf vorspringender Bergrippe eine kleine Blöße erreichten, blieben sie erschrocken und lauschend stehen.
Ein dumpfes Rollen wie Donner in der Tiefe ging unter ihren Füßen hin, und noch eh’ es verstummte, lief ein Stoßen und Zittern über den festen Grund. Die Bäume ächzten im Wald, für einen Augenblick erlosch im Thal das Rauschen der Ache, und überall auf dem Berghang kollerte das lose Gestein. „Fischer!“ schrie der Kohlmann und faßte den Arm des Gefährten. „Es rührt sich im Berg’! Ob die da droben beim Feuer wollen oder nicht … die gute Zeit steht ein!“ Die beiden Fäuste streckte er gegen den Untersberg, der fern in der Nacht sich schwarz emporhob aus dem Thal, die Zinnen umflimmert vom letzten Dust des erlöschenden Mondlichts. „Rühr’ Dich Herr Wute, rühr’ Dich! Die hundert Jahr’ sind um, und der Birnbaum harret!“
Es rollte in der Erde und wieder bebte der Grund „Mein guter Herre, Du mein Gott!“ stammelte Sigenot. „Meine Mutter! Mein Haus!“ Und mit jagenden Sprüngen stürmte er den steilen Berghang niederwärts, daß ihm der Kohlmann nicht mehr zu folgen vermochte. –
Droben auf der Thingstätte waren die Männer, die sich mit den Metkannen um das Feuer gelagert hatten, erschrocken aufgesprungen, als jählings im Beben der Erde der glühende Holzstoß zusammenfiel. Bleich und lallend standen sie und starrten einander an, und als zum zweitenmal der Grund erzitterte, faßten sie schreiend, was ein jeder zu greifen fand in seiner Nähe, der eine sein Grießbeil, der andere eine rollende Metkanne, der dritte ein halbverkohltes Scheit, der vierte die Kappe, die seinem Nachbar entfallen, der fünfte einen hüpfenden Stein … keiner sah, wonach seine Hände griffen … ein jeder wollte in sinnloser Angst nur bergen und retten, ein jeder faßte, was ihm vor die Füße kollerte, und so stürzten sie vom Feuer weg und rannten schreiend davon nach allen Seiten.
Oede und schweigend lag die Thingstätte. Da raschelte es im Stamm eines vor Alter morschen Baumes, als wäre rührsames Leben in seinem hohlen Holze; dann knackten die Zweige, und eine Gestalt glitt an der Rinde nieder; sie hnschte über die Thingstätte, rannte thalwärts und verschwand im Wald. Nach einer Weile klangen auf tieferem Hang die Hnfschläge eines Pferdes über kiesigen Grund.
Ueberall im Thal ertönte Geschrei der Menschen, wer geschlummert hatte unter Dach, war aufgesprungen und aus der Hütte gerannt. Die einen standen, geschüttelt von Angst, und starrten hinaus in die Nacht, die anderen liefen um die hölzernen Mauern, ob sie noch stünden und hielten in ihren Fugen. Von den Almen tönte, halb erstickt durch die Ferne, das Gebrüll der scheu gewordenen Kühe, und hoch in den Felsen dröhnten und knatterten die Steinlawinen, welche niedergingen über die steilen Wände. Im Gadem zündeten sie die Feuer an auf dem bedrohten Herd und warfen die dürren Heilbuschen in die Flammen … in der Ramsau sanken sie auf die Knie und beteten, oder sie rannten zum Kirchlein, dessen Glocke sich gerührt hatte, ohne daß eine Hand den Strang gezogen. Und manch einer, der die Hände in christlichem Gebet gesaltet hielt, schielte nach den Alraunen und Feuermännlein im rußigen Winkel der Herdstatt, und manch einem, der die Heilbuschen in die Flammen legen wollte, zögerte die Hand und seine Augen suchten mit zweifelndem Blick die Höhe …
In der Schönau war der alte Gobl unter dem Apfelbaum erwacht, im nassen, zerlegenen Gras, zwischen Schutt und faulenden Aepfeln. Halb richtete er sich auf und lächelte müde: „Schau', jetzt rührt sich richtig der Berg! … Gute Zeit? … Komm oder komm nicht … mir ist alles eins!“ Er legte sich wieder nieder und wollte die Augen schließen. Da bebte der zweite Erdstoß durch den Grund. Ein paar Aepfel klatschten durch die Zweige herab, am brüchigen Hause ächzten die Balken, das Dach begann sich zu bewegen, die morschen Mauern wichen auseinander, und langsam fiel die Hütte in sich zusammen. Das machte keinen großen Lärm; ein träges, kurzes Gepolter – und alles war wieder stille. Gobl hob nur ein wenig den Kopf. „Hätt’ ich drin geschlafen heut’ nacht … nicht einmal erschlagen hätt’s mich!“ Er seufzte und drehte sich auf die Seite. – –
Ueber dem Falkenstein zitterte trüber Lichtschein; er kam aus Reckas Kammer, in welcher die Leuchte neben dem Spiegel brannte; schlummerlos lag Recka auf ihrem Lager, ihre nackten Arme schimmerten, und in wirren Strähnen hing das gelöste Rothaar über das Bärenfell auf die Diele nieder. Als der Stoß durch das feste Haus gegangen war, hatte sie die Arme zur Decke gehoben und gestöhnt. „Fall’ doch! Fall’! Dann hab’ ich Ruh’!“ Und schluchzend war sie hingesunken über das Lager.
Ihren Vater und ihre Brüder hatte das Rollen in der Tiefe und der Erdstoß nicht geweckt; sie lagen im Metrausch und in dumpfem Schlaf. Aber die Knechte und Mägde waren schreiend aus dem Steingeschoß des Hauses und aus den Ställen geflüchtet. Lärm erfüllte den Burghof, und unter den Mauern schwankte der in seinen Tiefen erregte See mit rauschenden Wellen, welche klatschend durch das Röhricht an die Lände schlugen und über den Sand hinausspülten bis an den Fuß des Kreuzes. Matt schimmerten dessen frisch behauene Balken in der Nacht, während am Fischerhaise roter Feierschein aus der offenen Thür und aus allen Fenstern leuchtete.
[261] Mutter Mahtilt und Edelrot hatten die Nacht beim flackernden Herdfeuer zugebracht, während Wicho und die Sennen auf der Hausbank die Wache hielten. Als die Erde dröhnte und die Felsen zitterten, waren die Männer erschrocken in die Halle gesprungen, um Mutter Mahtilt mit dem Lehnstuhl unter freien Himmel zu tragen; aber sie hatte die Knechte von sich gewiesen und die stummen Lippen bewegend, hatte sie Salz auf die glühenden Kohlen geworfen und die Heilbuschen in das Feuer gelegt. Mit Wicho war Rötli vor das Hagthor geeilt, und ihre bebende Stimme klang in der Nacht „Sigenot! Sigenot!“
Als das Echo des Rufes von der Falkenwand zurückfiel, rann zum andernmal das Beben durch die Erde. Schluchzend vor Angst, klammerte sich Rötli an Wichos Arm. Hoch über dem See mußte sich ein mächtiger Felsblock gelöst haben, mit Dröhnen und Gepolter ging sein Sturz über die steilen Wände nieder, und der schwere Fall ins Wasser klang in der Nacht aus dem Weitsee [262] heraus bis an die Lände. „Der Bid! Der Bid!“ stammelte Rötli und umschlang mit beiden Armen den Stamm des Kreuzes. Auch Wicho griff mit hastiger Hand nach dem heiligen Holz.
Nun war wieder Stille; nur der See rauschte und klatschte im Röhricht und warf im Dunkel seinen Schaum über die Lände. „Ich hab’ mir gleich gedacht, daß ’was geschehen muß,“ flüsterte der Knecht, tief atmend. „Der Bid hat das Heilholz gesehen, und das hat ihm nicht getaugt. Und vor Wut ist er heruntergesprungen in den See aus aller Höh’.“
„Er wird doch nicht auf den Alben gewesen sein!“ stotterte Rötli in bebender Angst. „Sell ist der Ruedlieb droben!“
Noch schlummerte die Liebe in diesem jungen Mädchenherzen; doch ihre Sorge wurde wach und lebendig in der Stunde der Gefahr und flog auf den Schwingen zärtlicher Angst empor durch die Nacht, den fernen Knaben suchend. Und in der gleichen Stunde geschah es, daß Ruedlieb auf der Reginalm aus der Hütte stürzte. Das Geschrei der Sennen und Alberinnen umgab ihn, das Gebrüll der rasenden Kühe, das Dröhnen der fallenden Steinlawinen … und er preßte die Hände an die Schläfe, ftarrte in die finstere Tiefe und lallte. „All Ihr guten Mächt'! Es wird doch dem Rötli nichts geschehen!“ …
Wie in der Ramsau, so hatte auch in der Martinsklause die Glocke geläutet, ohne daß eine Hand ihren Strang gezogen hätte. Eberwein und die Brüder waren vom Lager gesprungen, und während Schweiker das Feuer entzündete, lag Wampo auf den Knien und betete mit lallender Stimme. Eberwein wollte in Waldrams Zelle eilen, doch auf der Schwelle trat ihm Waldram entgegen, mit bleichem Gesicht, das kleine Holzkreuz in der erhobenen Hand. „Die Zeichen mehren sich! Und Gottes Stimme mahnet in der Nacht wie Donner! Will Dein Auge noch immer nicht sehen, Dein Ohr noch immer nicht hören?“
„Ich höre, wie die Mächte der Finsternis sich sammeln zum Streite gegen zitternde Menschen, und werde sehen, wie Gottes Macht die Geister der Vernichtung bändigt, wie Gottes Liebe sich erweist an seinen Kindern!“ Eberwein trat mit den Brüdern hinaus in die Nacht, da machte unter dumpfem Rollen der zweite Stoß den Grund erzittern, und die Glocke wimmerte. Auf dem Berghang über dem Teich löste sich eine Schuttlawine; die Finsternis deckte ihren Fall, aber ihr Rauschen und Gepolter hallte in der Nacht, und hüpfende Steine sprangen über die Rodung, kollerten um die Füße der Mönche und schlugen an die hölzerne Mauer der Klause. Bruder Wampos Knie brachen vor Angst, bleich stand Schweiker, eine lodernde Fackel erhebend; seine Augen starrten in Angst und Sorge hinweg über die schwarzen Wipfel der Bäume, einer fernen Höhe zu, und leise stammelten seine Lippen einen Namen.
Eberwein hatte die Arme erhoben, und zu den Sternen aufblickend, deren Glanz in der weichenden Mondhelle wuchs, sprach er mit fester hallender Stimme die Worte eines Psalms; da fühlte er seinen Arm erfaßt mit heftigem Griff, Waldram stand vor ihm.
„Was willst Du?“
„Folge mir und sieh mit eigenen Augen, was geschehen ist!“ Er zog ihn am Arm hinter sich her in das Kirchlein, welches der Schein der ewigen Lampe matt erleuchtete. „Blick’ auf zu ihm!“ rief Waldram und deutete nach dem Kreuzbild; aus den Händen des Bildes hatten sich die Nägel gelöst, und vorgeneigt, nur mit den Füßen noch haftend, hing es am Kreuz, als wollt’ es mit jedem Augenblick zur Erde stürzen. „Verstehst Du die Sprache dieses Zeichens?“
„Ja, Waldram!“ erwiderte Eberwein mit ruhigem Wort. „Sie sagt mir, daß ich morsches Holz für die Nägel wählte.“ Er löste seinen Arm und ging in die Klause, um den Hammer zu holen. Nach einer Weile hallten die Schläge. Weithin klangen sie in der Nacht …
Der Reiter, welcher auf keuchendem Pferd über die Felder der Strub jagte, hob lauschend den Kopf. „Die haben es aber nötig! In solch einer Nacht noch schaffen sie!“ Er duckte sich wieder und schlug dem Roß die Gerte über den Schenkel. Ueber die Schönau ging sein Weg, zum Falkenstein. Die Weiber, welche den Hufschlag hörten, stammelten zitternd: „Die Untersberger reiten.“
Fackelschein leuchtete in Wazemanns Burghof, und der Reiter fand das Thor geöffnet und die Brücke gesenkt. In Gruppen standen die Knechte und Mägde umher, während droben in der erhellten Halle Herr Waze saß, nur vom Hausrock umhüllt, mit nackten Beinen; seine Leute hatten ihn aus Bett und Stube herausgezerrt in die Halle; hier war er wieder eingeschlafen im Rausch und schnarchte mit offenem Mund. Der Knecht, der aus dem Sattel gesprungen war, stolperte über die Treppe hinauf und weckte den Schläfer. „Auf, Herr, auf, auf!“
Herr Waze hob den Kopf, glotzte in das Gesicht des Knechtes und erkannte ihn, er wollte sich aufrichten, doch seine Füße trugen ihn nicht, und fluchend fiel er wieder zurück auf die Holzbank.
„Auf, Herr, auf! Wer kann denn schlafen in einer solchen Nacht! Habt Ihr denn nicht gehört … es hat die Erd' gerumpelt!“
„Laß rumpeln,“ lallte der Berauschte, „und erzähl’! Wie war’s beim Thing?“
„Das Thing hat für Euch gesprochen, wider die Klosterleut’!“
Mit gröhlendem Lachen schlug Herr Waze die Fäuste über den Tisch.
„Der Käfig, den ich ihnen gebaut hab’, hat gute Stangen! Jetzt sollen sie springen, die Kutten! Erzähl’, Bub’, erzähl’ … wer hat wider mich geredet?“
„Der Fischer.“
„Den Tod an seinen Hals!“
„Und Eigel, der Kohlmann.“
„Wart’, Rußiger, ich such’ Dich heim an Deiner Kohlstatt! Ich weiß Dir ein heißes Bett in Deinem Meiler. – Wer noch? Wer noch?“
„Der Kaganhart! Der hat geraten, den Pechbrand in Euer Haus zu werfen.“
Herr Waze sprang taumelnd auf. „Zacho! Heripot!“ schrie er mit kreischender Stimme. Zwei Knechte kamen gesprungen. „Hinunter! Hinunter, sag’ ich, hinunter zu der Hilmtrud Haus! Den roten Hahn aufs Dach! Ich will das Aug’ nicht wieder schließen, eh’ ich die Keuch’ nicht brennen seh’. Weiter! Weiter! Soll ich Euch Füß’ machen?“ Herr Waze hob die Fäuste zum Schlag, doch er taumelte und fiel mit halbem Leib über den Tisch hin.
Die Knechte eilten davon, und der zuckende Schein der Fackeln, welche sie trugen, glitt niederwärts durch den Bergwald. Als sie der Achenbrücke sich näherten, hörten sie den hellen Schrei einer Mädchenstimme. Es war der Freudenschrei, den Edelrot ausgestoßen bei ihres Bruders Heimkehr. Am Waldsaum vor der Schönau mußten die Knechte hinter Gebüsch sich bergen. In allen Höfen war es lebendig; überall klangen in der Nacht die schrillen Stimmen der Weiber, die heiseren Rufe der heimkehrenden Männer. Einer rannte über die Halden, keuchend und stolpernd, kaum trugen ihn seine Füße noch, sein Weib, das im Dunkel harrte, hatte ihn schon gewahrt und schrie. „Bauer, Bauer!“
„Hilmtrud!“ klang die halb erstickte Antwort.
Sie lief ihm entgegen, umfaßte mit ihren derben Armen den Wankenden und schleppte ihn zum Hagthor. „Dank allen Gutholden! Weil Du nur wieder daheim bist!“
„Steht unser Haus noch?“ keuchte er mit erlöschendem Atem. „Steht’s noch?“
„Wohl, wohl! Schau’ hin: noch alleweil steht’s!“
Er taumelte in der Finsternis auf die hölzerne Mauer zu und griff nach ihr mit zitternden Händen, lachend und schluchzend. Da faßte das Weib seinen Arm, und bebende Angst klang aus der heiseren Stimme. „Sag’, Bauer, sag’ … gelt, Du hast im Thing nicht geredet wider Wazemann?“
Kaganhart zögerte mit der Antwort; dann stotterte er, nach Atem ringend. „Was Dir aber einfallt! Kein Wörtl hab’ ich geredet, kein einzigs Wörtl!“ Und mit scheuen Augen schielte er im Dunkel nach dem Gesicht seines Weibes.
Dies atmete Hilmtrud auf. „So ist alles gut!“
„Was ist gut? Ich versteh’ Dich nicht!“
Das Weib schüttelte den Kopf und stieß mit dem Ellbogen die Hausthür auf.
„Aber so red’ doch!“
„Laß mich in Ruh’! Wenn Du schon merkst, daß ich nicht reden will, was fragst denn noch?“
„Ja muß denn da schon wieder gescholten sein, weil ich auch einmal das Maul aufthu’ zu einer Frag’!“
„Wirst nicht Ruh’ geben?“ klang die drohende Stimme des Weibes aus der Thür. „Wirst nicht herein kommen?“
„G’rad nicht, jetzt g’rad nicht! So ’was! Das könnt’ mir [263] taugen! Ich lauf’ heim in Sorg’ und Aengsten, daß mich kaum die Füß’ mehr tragen, daß ich schier keinen Schnaufer nimmer hab’ …“
„Hätt’st Dir halt Zeit gelassen! Meinetwegen hätt’st noch ausbleiben können, bis der Kuhmist Butter wird!“
„So? So?“ schrie der Bauer. „Ja ist denn keiner da? Ja hört denn das keiner, was das für ein Weib ist? So ein Weib! Die Erd’ rumpelt und bidmet, daß die Berg’ schier einfallen … und noch alleweil giebt das Weib keine Ruh’!“
„Jetzt wirst aber still sein, gelt?“ Bei diesen Worten griff Hilmtruds Hand aus der Thür und faßte den Mann beim Kragen.
„Wirst auslassen oder nicht? Auslassen!“ zeterte Kaganhart; doch eh’ er mit diesem Machtwort noch zu Ende war, stand er schon, von der Faust seines Weibes geschwungen, in der Stube und stolperte wider den Herd, daß die Geschirre durcheinander klapperten. Die Thür wurde zugeschlagen und mit kreischendem Schelten mischten sich im Haus die beiden Stimmen.
Beim Hagthor klang ein leises Kichern: „Wirg! Thust ihnen einen Gefallen damit – die zwei, die haben gern heiß!“
In hohem Bogen, zischend, wirbelte ein Feuerbrand über den Hag, grell leuchtend in der Nacht, und klatschte auf das Moosdach. Flink, wie die kleinen Wellen bei jähem Windstoß über das Wasser, liefen die gelben Flammenzungen nach allen Seiten über das dürre Moos und Stroh. Lachend rannten die beiden Knechte dem Wald entgegen; als sie die Ache erreichten und rückwärts blickten, sahen sie schon die funkensprühende Lohe in die Lüfte schlagen. Ein rötlicher Schein fiel über die Waldberge und an die Falkenwand, die sich mit blutigem Schimmer im Seeweiher spiegelte.
Sigenot, welcher mit Wicho in flüsterndem Gespräch auf dem finsteren Lugaus saß, gewahrte den Schimmer, und als er aufblickte, sah er die Röte am Himmel und sah in der Ferne die Funken stieben. „Feuerjo! Das muß in der Schönau sein! O die armen Leut’, die armen!“ rief er, und ehe Wiche ihn halten konnte, war er vom Lugaus über den Hag hinuntergesprungen auf den Sand.
„Laß brennen, was brennt!“ schrie Wicho. „Wahr’ Dein eigen Haus!“
„Leut’ in Not und ich sollt’ nicht helfen?“ klang die Stimme des Enteilenden. Er rannte und rannte. Als er die freien Halden der Schönau erreichte, meinte er zu träumen; wohl sah er die Flammen lodern, aber Stille war ringsumher in der grell erleuchteten Nacht, keine Stimme klang, kein Schrei, kein Fenerruf. Nur die Hunde kläfften in den zerstreuten Höfen. Von den Nachbarn des brennenden Hauses war keiner zur Hilfe herbeigeeilt, die Furcht dieser Nacht, das zitternde Bangen vor dem Ungewissen hatte sie festgehalten im eigenen Hag, unter dem eigenen Dach.
Die Zähren traten in Sigenots Augen, als er nach keuchendem Laufe vor der Brandstätte den Fuß verhielt. Er sah, hier war nicht mehr zu helfen noch zu retten bis auf den Grund schon brannten die Mauern des Hauses und der Scheune, und von den rauschenden Flammen und dem glostenden Gebälk ging eine schwelende Hitze aus, welche das Nähertreten wehrte.
Mitten in der Hofreut, vom Feuer rot beleuchtet, stand Hilmtrud, regungslos wie ein steinernes Bild, der Bauer hockte neben ihr auf der Erde, klagend und schluchzend, mit den Armen eine rußige Pfanne umklammernd … sie war von all seinem Hab und Gut das einzige Stücklein, das er gerettet hatte in der wirren Angst. Wie der Mann, so hatte auch das Weib gejammert und geweint und in Verzweiflung die Hände gerungen. Doch als der Bauer in seinem Jammer geschrieen: „Jetzt hab’ ich selber, was ich dem Wazemann beim Thing gewunschen … sein Haus hab’ ich brennen wollen, jetzt brennt das meinig’!“ – da hatte Hilmtrud ihren Mann mit glasigen Augen angestiert und kein Laut mehr war über ihre Lippen gekommen.
Als Sigenot – zu sprechen vermochte er nicht – die zitternde Hand auf ihre Schulter legte, blickte sie hastig auf, starrte ihn an wie einen Fremden und wandte die verstörten Augen wieder dem Feuer zu. Der Bauer aber ließ die Pfanne sinken und warf sich schluchzend vor Sigenots Füße. „Mein Häusl, Fischer, mein liebes, einzigs Häusl, in dem ich gelachet hab’ als Büebli, bei Mutter und Vater, in dem ich gehauset hab’ in Glück und Fried!“ Aller Zwietracht und aller üblen Stunden hatte er vergessen in seinem Jammer, und nur der guten Stunden noch dachte er, die er genossen unter dem in Glut und Asche sinkenden Dach.
Sigenot hob den Schluchzenden auf. „Ich weiß Dir keinen Trost, Nachbar, als nur den einzigen: da hat Dein Haus gestanden, und schau’, da wird’s auch wieder stehen, neu und fest! Bist doch ein Mann! Schau’, streck’ Dich! Und wenn die Glut verkaltet ist, so heb’ das Bauen an! Mich und meine Leut’ kannst haben zur Hilf’ in jeder Stund’. Und bis Dein eigen Dach wieder hast, bis selbhin sollst mit Deinem Weib ein gutes Hausen haben an meinem Herd.“
Krachend stürzten die brennenden Balken in einem rauchenden Gluthaufen zusammen. Ein zitternder Schrei löste sich von Hilmtruds Lippen und schluchzend streckte Kaganhart die Arme wie ein hungerndes Kind, dem eine grausame Hand das Brot entrissen. Sigenot suchte die beiden mit sich fortzuziehen denn er sah, daß jeder Blick in die Glut ihren Jammer erneuerte und mehrte; aber es dauerte lange, bis Hilmtrud auf die Worte des Fischers hörte. Endlich nickte sie und drückte wortlos Sigenots Hand; dann schlang sie den Arm um ihres Mannes Hals und sagte mit tonloser Stimme: „Thu’ nicht weinen, Hartli – ich hab’ Dein Haus verbronnen, ich bau’s wieder auf!“
Er achtete dieser Worte nicht, er schluchzte nur, raffte die brüchige Pfanne von der Erde und ließ sich willenlos zum Hagthor führen; hier blickte Hilmtrud ein letztes Mal zurück auf den glühenden Trümmerhaufen; ihr Gesicht verzerrte sich, mit geballter Faust erhob sie den nackten Arm und schrie in die Nacht hinaus: „Wazemann! Wazemann!“
Mit nassen Augen blickte Kaganhart zu ihr auf; doch er fand keine Frage.
So verließen sie die Stätte, die ihr Haus getragen bis weit hinunter ins Thal verfolgte sie der Brandgeruch, als sie den See erreichten und Sigenot mit herzlichem Zuspruch seinen Hag vor ihnen öffnete, graute der Morgen schon und über die Schneekuppe des König Eismann fiel die erste Röte des nahenden Tages.
Das war ein seltsamer Morgen, still und ohne Lufthauch; sogar die Bäche schienen leiser zu rauschen und kaum eine Vogelstimme ließ sich vernehmen, es war in der Nacht kein Tau gefallen und dennoch deckte ein zarter grauer Duft alle Gräser, alles Grün der Bäume … Staub war es, dünner, fein zerteilter Staub. Alle Wege und Pfade im Gadem waren steinig oder grün bewachsen … woher nur war dieser Staub gekommen? Kein Wölklein schwebte am Himmel, aus den Wäldern flatterte kein Nebelstreif, die Luft war schwül und trocken … und dennoch füllte ein grauer Dunst das Thal und alle Höhen, so daß die Berge verschleiert erschienen wie vor einem anziehenden Ungewitter. Und zuweilen sah man in der Luft ein Flimmern und Glitzern wie von feinem Sand, auf den die Sonne scheint. Und überall war ein Geruch zu spüren … es war nicht der Brandgeruch des in Asche gefallenen Hauses, es war wie jener Geruch, welcher auftritt, wenn sich die Mahlsteine ohne Korn aneinander reiben.
Es war ein seltsamer Morgen, ein Morgen wie ein Geheimnis, wie das Schweigen auf eine leidenschaftliche Frage.
Still lag die Martinsklause inmitten des stummen Waldes. Im Morgengrau war Eberwein ausgezogen, und Waldram, den nach der Erregung der vergangenen Nacht die Schwäche wieder befallen hatte, hütete das Lager. Heute, am Tage des Herrn, durfte Schweiker das Beil nicht schwingen; aber es litt ihn nicht in der Ruhe, obwohl ihm eine dumpfe Müdigkeit wie Blei in allen Gliedern lag. Langsam ging er auf der Lichtung umher und sammelte die Steine und Felsbrocken, welche die vom Berghang niedergefahrene Schuttlawine über die Rodung und bis vor die Mauern der Klause geworfen hatte. Bei jedem Steine, den Schweiker in die geschürzte Kutte legte, seufzte er tief; und immer wieder glitten seine verlorenen Blicke über das Thal der Ache hinweg und empor über den jenseitigen Berghang.
Am Rand der Lichtung, vor dem grauen Schuttkegel, der die jungen Bäume auf dem Hang erdrückt, den Lauf der Quelle verändert und den Teich verschüttet hatte, stand Bruder Wampo; schlaff hingen seine Arme und dicke Zähren rollten aus seinen Augen, welche traurig niederstarrten auf den wüsten Schutt, unter dem die schönen Ferchen und Hechte begraben lagen. „Und ich [264] hab’ mich heut’ schon gefreut auf den ersten!“ Trübselig schüttelte er das runde kahle Köpflein, schlug die Hände ineinander und blickte mit scheuen Augen zum Himmel auf. „Herre, Herre! Schau’, das ist aber doch nicht gut und recht … Deinen armen Knechten die Fastenspeis’ verderben!“
Schweiker war zum Waldrand gegangen und hatte die Steine aus seiner Kutte geschüttet. Als er zur Klause zurückging und wieder hinüberspähte nach dem Berghang, sah er Eberwein über die Halde niedersteigen, auf welcher Hinzula ihre Ziegen zu hüten pflegte. Eine zitternde Erregung befiel ihn und er verwandte kein Auge mehr von der Stelle, an welcher Eberwein bei der Heimkehr aus dem Walde treten mußte. Doch er wartete umsonst.
Eberwein war im Thal dem Lauf der Ache gefolgt, hatte den Lokiwald umgangen und suchte einen Pfad, der ihn zur Ramsau führen möchte. Zwischen wirren Büschen fand er einen betretenen Steig und überließ sich ihm. Schatten lagen um seine Augen und sein Antlitz hatte einen kummervollen Zug. Die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten ihn mit banger Sorge erfüllt … und was er vor den Brüdern nicht hatte zeigen wollen, nagte in ihm mit doppelter Schärfe, jetzt, da er einsam war. Bei solcher Stimmung hatte auch die befremdende Erfahrung, die er soeben gemacht, tiefer auf ihn gewirkt, als es sonst wohl geschehen wäre: beim Hag des Greinwalders, zu dem die Sorge um die arme mißhandelte Hirtin ihn geführt, hatte er stehen müssen vor geschlossenem Thor; er hatte gepocht und gerufen, aber niemand war gekommen, ihm zu öffnen, und er hatte doch in der Hofreut Schritte gehört, es war ihm gewesen, als klänge ein ersticktes Schluchzen aus dem Haus, und der Herdrauch war ihm aufgefallen, der in blauen Fäden aus dem Moosdach quoll. Man wollte nicht öffnen, ihm nicht öffnen! Weshalb nicht? Welche Ursach’ konnten sie haben in jenem Haus, das Thor vor der Hilfe zu sperren, vor dem Freund? Diese Frage wühlte in ihm und er fand keine Antwort.
Aus den Büschen führte ihn der Pfad in dichten Wald und unter den Bäumen hervor auf eine weite Lichtung. Es waren die Halden der Strub, welche vor ihm aufstiegen in welligem Hügelland; gemähte Wiesen wechselten mit geräumten Feldern, auf steileren Gehängen lag der Hanf zum Trocknen in der Sonne. Zwischen den Feldern, weit zerstreut, standen einzelne Gehöfte, niedere Hütten und Scheunen, von hohem Hag umzogen. Bei ihrem Anblick wich die Schwermut aus Eberweins Augen. Ihm schwoll vor Freude das Herz bei dem Gedanken, wie viel es hier für ihn zu schaffen gab, zu raten und zu nützen. Er sah es gleich; hier lebte und wirtschaftete das Volk noch, wie es draußen vor den Bergen die Leute getrieben hatten vor hundert Jahren. Das sollte anders werden! Er wollte sie lehren, den Lein zu bauen an Stelle des rauhen Hanfes. Und wie übel die Felder anzusehen waren! Da galt es, besseren Pflug zu führen … und sie sollten lernen, die Steine aus den Furchen zu sammeln und rings um den Acker aufzuschichten zur Schutzmauer, auf welcher sich die Dornenhecke wider das Hochwild flechten ließ. Und diese armseligen Hütten! Das sollte sich wandeln! Er wollte sie lehren, mit steinernem Sockel zu bauen, mit Fachwerk in der Mauer und mit geschindeltem Dach. Und so übel, wie von außen, waren die Hütten wohl auch anzusehen in ihrem Innern. Da sollten trauliche Stuben entstehen und wohnsame Kammern … und wenn der lange Winter käme, dann sollten die Männer und Buben das hohle Eisen und das kurze Messer führen lernen, um handliches Holzgerät zu fertigen und freundliches Schnitzwerk.
Eberweins Wangen brannten, und leuchtend blickten seine träumenden Augen in die kommende Zeit. Raschen Ganges folgte er dem Pfad, der einem Hag entgegenführte. Blauer Rauch wirbelte aus dem Hüttendach, Stimmen klangen in der Hofreut, und das Thor stand offen. Auf der Schwelle der Hausthür saß ein Weib, den Hanfrocken unter dem Arm, in der Hand die tanzende Spindel; zwei nackte Kinder tummelten sich lachend im Hof und der junge Bauer hielt ein drittes auf dem Arm. Als Eberwein vor dem Thor erschien, fuhr ein zottiger Hund auf ihn los und kläffte. Der Bauer wandte das Gesicht, und den Mönch gewahrend, stand er einen Augenblick erschrocken und unschlüssig; dann setzte er hastig das Kind auf die Erde, sprang zum Hag, schleuderte mit dem Fuß den Hund zurück, schlug das Thor zu und legte den Balken ein.
Mit trübem Lächeln wandte sich Eberwein ab und folgte einem schmalen Felsweg, hügelab und hügelauf. Nach einer Weile kam er zu einem zweiten Gehöft. Im offenen Hagthor stand ein alter Bauer, welcher verschwand, als er den Mönch des Weges kommen sah. Und wieder fand Eberwein das Thor geschlossen.
Eine dunkle Röte stieg ihm in die Stirn, und es zuckte seine Faust, als möchte sie den Eingang erzwingen; doch er fand die Ruhe wieder und rief: „Mann, thu’ mir auf! Gottes Gruß Deinem Haus!“
„Wer will ein zu mir?“
„Dein bester Freund!“
„Der bin ich selber und brauch’ keinen andern.“
In aufflammendem Zorn schlug Eberwein den Stab an das Thor. „So öffne Deinem Herrn!“
„Was Herr? Wer Herr?“ klang die rauhe Stimme zurück. „Meines Herrn Stimm’ kenn’ ich … die Deinig’ ist mir fremd! Ich thu’ nicht auf!“ Und klappernde Schritte entfernten sich.
Eberwein stand ratlos und streifte mit zitternder Hand über die Stirn. „Was ich erlebe, ist wie ein Rätsel … Bruder Hiltischalk in der Ramsau soll es mir lösen!“
Er wanderte in drängender Eile über die Halden, ohne Wahl jedem Pfade folgend, den seine Füße fanden. Bald hier, bald dort sah er Leute laufen und in den Gehöften verschwinden. Einmal blieb er stehen und rief mit bebender Stimme: „Bin ich denn noch, der ich gewesen … oder bin ich ein reißendes Tier geworden, daß die Menschen vor meinem Anblick fliehen wie die Schafe vor dem Wolf!“ Als er an einen Bach gelangte, dessen Lauf zu einem stillen Tümpel sich ausbuchtete, beugte er sich über das Wasser und starrte auf sein Spiegelbild. Aufatmend wandte er sich ab und übersprang den Bach. In Gedanken versunken, achtete er des Weges nicht und geriet in dicht verwachsenen Wald. Bald aufwärts steigend, bald wieder niederwärts, folgte er den schmalen, häufig sich kreuzenden Wildpfaden; bald hörte er das Rauschen eines Wassers, bald wieder war tiefe Stille um ihn her. Ueber niedere Felswände mußte er klimmen, durch wirres Gebüsch sich kämpfen, über Schluchten sich schwingen, unter gestürzten Bäumen hindurchschlüpfen, mannshohe Hecken von verflochtenen Wurzeln überwinden … Stunde um Stunde verging ihm auf so mühsamer Wanderung, und noch immer wollte der Wald kein Ende nehmen, noch immer zwischen den ragenden Bäumen kein Ausblick sich zeigen, der ihn gewiesen hätte. Schon war ihm in beginnender Erschöpfung zu Mut, als sollte er niemals wieder dieser Wildnis entrinnen, da klang ihm, freundlich und hell, der Schall eines Glöckleins durch den Wald entgegen. Seine Augen wurden naß, in jäher Freude streckte er die Arme und rief: „Klinge, klinge, Du holde Stimme, Du führest den Irrenden auf guten Weg!“ Und mit erneuten Kräften kämpfte er sich durch die Wirrnis des Urwaldes, der Richtung zu, aus welcher die Glocke tönte. Er kam in lichteren Wald, in welchem die Spuren der Axt zu erkennen waren, und fand einen Pfad, der ihn ins Freie führte.
Ihm zu Füßen, zwischen grasigen Halden und steilem Bergwald, lag ein enges langgestrecktes Thal, in dessen Tiefe ein reißender Bach durch grauen Schutt seine Straße grub; überall an seinen Ufern sah man die Zeichen der Zerstörung, die er angerichtet in wilden Tagen. In weiter Ferne, wo die Berge sich schlossen, schimmerte ein kleiner grüner See. Friedliche Sonntagsstille lag über dem Thal; nur die Ache rauschte und das Glöcklein tönte. Zwischen den mächtigen Kronen alter Ulmen und Linden sah Eberwein das plumpe hölzerne Türmlein ragen, in dessen Luken die Glocke sich schwang. Das Turmdach zeigte die Spuren eines Brandes, und ein neues weißes Holzkreuz schimmerte auf der Zinne.
„Hier wohnet Gott und mein Bruder, hier will ich frohe Einkehr finden!“ Geradeswegs stieg Eberwein über die steilen Halden hinunter.
Aus einem nahen Gehöfte liefen ihm zwei Kinder entgegen, ein Bub’ und ein Dirnlein, in hänfene Kittelchen gekleidet, gestrählt und sauber gewaschen. Als sie näher kamen, blieben sie stehen und schauten einander an. „Das ist er ja nicht!“ lispelte das Dirnlein. „Das ist ein junger!“
„Aber schwarzhäset ist er auch!“ meinte das Bübchen und lugte mit schiefem Köpflein zu Eberwein auf, der den Stab in die Erde stieß und mit gestreckten Händen sich den Kindern näherte.
„Gott grüß’ Euch, Ihr lieben Kinder!“
[266] Zutraulich faßten sie seine Hände, und ihre hellen Stimmlein klangen. „Gott grüß’ Dich auch!“
Da warf sich Eberwein auf die Knie, umschlang die Kinder und drückte ihre linden warmen Körperchen an seine Brust. „Die ersten, die ich halte! Die ersten, die mir freundlich sind!“ Zähren erstickten seine Worte.
Mit scheuen Augen beugte sich das Dirnlein zurück und rührte mit dem Händchen an Eberweins Wange. „Manne, was weinest denn? Thut Dich hungern oder dursten?“
Er mußte unter Thränen lächeln. „Ach ja, mein Dirnlein! Wie mich hungert und dürstet nach Eurer Liebe! Aber sag’, mein kleines Schätzel, wie heißt Du denn?“
„Moidi[1]!“ erwiderte das Dirnlein stolz. „Wie die liebe Gottesmutter!“
„Und Du, mein kleiner Mann?“
Das Bürschlein nahm das ganze Mäulchen voll. „Ich heiß’, wie Gott Vater heißt: Seppeli – wohl wohl!“
Eberwein hörte in tiefer Bewegung die christlichen Namen und hatte seine helle Freude an dem kleinen Kirchengelehrten, der in seiner fünfjährigen Weisheit Gott Vater selbst mit dem braven Zimmermann von Nazareth verwechselte. Da rief hinter dem Hag des nahen Gehöftes eine Frauenstimme die Namen der beiden Kinder, mit dem wirkungsvollen Zusatz: „Kommet zum Mus!“ und nun konnte Eberwein das Pärchen nicht mehr halten; er griff an den Gürtel und fand seine Tasche nicht … er wollte schenken, und seine Hände waren leer. „Ich will den Trost vergelten, den ich von Euch gewonnen!“ sagte er und küßte die Kinder auf die roten Wangen.
Dann stieg er die Halde hinunter, erquickt in seinem Herzen und wie neu belebt. Noch eh’ er das Thal erreichte, sperrte zwischen Bäumen und welkenden Büschen eine hohe Hecke seinen Weg. Das Glöcklein war verstummt, doch aus dem Kirchhof, von welchem die Hecke ihn schied, hörte er Stimmen. Durch eine Lücke sah er zur Rechten die Holzmauern des Kirchleins, welches von Grabhügeln umgeben war, und zur Linken ein niederes Balkenhaus, der Hütte eines Bauern gleichend, neben der Thür erhob sich eine alte Linde, welche mit ihren Aesten das Moosdach überspannte. Ihren mächtigen Stamm umzog eine Steinbank, auf welcher Hiltischalk saß, der Ramsauer Leutpriester, er hatte wohl achtzig Winter schon gesehen, denn schneeweiß fielen ihm die dünnen Haarsträhnen auf die Schultern. Eine lange schwarze Lodenkutte, an der Hüfte mit einem Stricklein festgebunden, umhüllte den hageren gebeugten Leib; der Bart war geschoren, und die weißen Stoppeln deckten das halbe Gesicht. Freundliche Augen lugten unter den weißen Dächlein der Brauen hervor, und herzlich klang seine sanfte langsame Stimme. „Jetzt gehet heim zu Weib und Kind,“ sagte er zu einigen Männern, welche vor ihm standen mit sorgenvollen Gesichtern, die Kappen in der Hand, „gehet heim und sorget Euch nimmer! Ich weiß Euch besseren Trost nicht als allweil den einen: bauet auf den Himmel, vertrauet auf Gott! So kann Euch kein Unheil ankommen und keine Not kann fallen über Euch!“
„Wohl wohl!“ sagte einer der Männer kleinlaut und strich die Hand über das struppige Haar. „Aber der alte Runot ist doch auch ein guter Christ, und der best’ schier von uns allen … und heut’ in der Nacht, derweil er fern gewesen ist, hat doch der Bidem[2] sein Haus geworfen!“
„Wohl wohl,“ fiel der Pfarrherr ein und hob die zitternde Hand, „das hast Du aber gut gesagt: derweil er fern gewesen ist! Freilich, freilich, das Häusl ist gefallen! Aber es ist ein altes Häusl gewesen … und schauet, Mannerleut’, was alt ist, geht seinem letzten Stündl zu, Mensch oder Haus, Vieh oder Baum, Berg oder Thal. Das Häusl ist alt gewesen und hat fallen müssen. Und jetzt schauet, Mannerleut’: was Gott gethan hat, weil der Runot sich allezeit gehalten hat als guter Christ – er hat das alte Häusl fallen lassen, derweil der Runot fern gewesen ist! Freilich, freilich, das Häusl liegt, aber der Runot steht gesund und lebig und kann seine Buben rufen von der Alben und kann ein neues Häusl bauen. Und wir all’, Mannerleut’, gelt, wir all’ helfen dazu um Gottes Lieb’?“
Da nickten die Männer.
„Ja, ja, ich sag’s halt alleweil: nur auf den Himmel bauen, nur auf den lieben Gott vertrauen! Haltet nur Ihr fest … der liebe Gott laßt nicht aus! Drum gehet jetzt nur heim, Mannerleut’, und sorget Euch nimmer! Sie soll nur bidmen, die Erd’, sie soll nur bidmen! Ich weiß schon einen, der fest halt’t! Ich hab’ schon gerufen zu ihm aus tiefstem Herzen … und das hat noch alleweil geholfen! Wohl wohl, da hab’ ich gar keine Sorg’!“ Er faltete die Hände im Schoß und suchte mit langsamen Augen den Himmel. „Eine einzige Sorg’ noch hab’ ich gehabt in meinem Leben, und die hat mein guter Herr jetzt auch von mir genommen.“
Fragend blickten ihn die Männer an, und einer sagte: „Eine Sorg’? Was wär’ denn das für eine?“
„Schauet mich doch an, Mannerleut’! Bin ich nicht alt, wie dem Runot sein Häusl gewesen ist? Und was alt ist, geht seinem jüngsten Stündl zu. Aber wenn ich einmal nimmer bin, wer wird denn sein an meiner Stell’, wer wird Euch denn halten beim Guten und Rechten? Wer wird denn rufen für Euch in Not und Fahr? So hab’ ich alleweil denken müssen in Tag und Nacht. Aber derzeit ich gehört hab’ gestern, daß die frommen Brüder gekommen sind ins Gademer Land, derzeit ist auch die letzte Sorg’ von mir gefallen!“
Eine Bewegung der Unruh’ ging über die Männer, und sie blickten einander an mit stumm redenden Augen.
„So eine Freud’! Was saget Ihr, Mannerleut’ … so eine Freud’ hat mein guter Herr mich noch genießen lassen auf meinen Abend! Ueber die vierzig Jahr’ lang hab’ ich keinen mehr gesehen, der das heilige Häs getragen hat. Vierzig Jahr’, Mannerleut’! Aber heut’ noch muß ich hinaus, heut’ noch! Freilich, der Weg ist schiech und weit für meine müden Füß’ …“
„Ich will ihn Dir sparen, mein guter Bruder!“ klang die bewegte Stimme Eberweins; er hatte die Hecke geteilt und war über den brüchigen Erdwall in den Kirchhof niedergestiegen. Scheu traten die Männer auseinander, und der greise Pfarrherr starrte auf Eberwein wie auf ein frohes Wunder. Stammelnd richtete er sich auf, und wie ein Vater, der den ersehnten Sohn begrüßt, eilte er mit offenen Armen auf Eberwein zu und warf sich an seine Brust. „Sei gegrüßt, sei gegrüßt, Du mein lieber Bruder, tausend und tausendmal!“ Und als wäre für ihn die Freude zu groß, um sie allein zu tragen, so rief er: „Mannerleut’, so kommet doch her …“ Betroffen verstummte er und riß die Augen auf – die Männer waren verschwunden. „Schau’, jetzt sind sie heimgegangen, jetzt, derweil sie doch hätten bleiben sollen! Freilich, freilich, ich hab’ ja gesagt zu ihnen: gehet heim!“ Und wieder schlang er die Arme um Eberwein. „Gelt, mein lieber Bruder, gelt, jetzt weilest Du ein lützel bei mir und thust Dich setzen an meinen Tisch … und … und …“ Er riß sich los und humpelte in geschäftiger Eile, mit fuchtelnden Händen dem Hause zu. In der Thür verschwand er, und seine zitternde Stimme klang: „Hilti, Hilti! Jetzt thu’ Dich aber tummeln, jetzt schaff’ nur, schaff’ … wir haben einen Gast!“
Mit glücklichem Lächeln hatte Eberwein dem Greise nachgeblickt. Tief atmend hob er die Augen zum Himmel: „Ja, Herr, hier wohnest Du!“
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Seit einer Stunde saß Eberwein mit Hiltischalk auf der Steinbank unter der Linde. Kopfschüttelnd hörte der Greis, was ihm Eberwein von seinen Erlebnissen am Morgen erzählte.
„Die Gademer sind rauhe Leut’,“ sagte der Alte, „und der Unglauben hauset noch in ihrem Herzen wie die Mäus’ in der leeren Stub’. Wie ich jung gewesen bin, da war’s noch ein lützel besser, da bin ich all’ Woch’ ein paarmal hinaus zu ihnen. Aber meine alten Füß’ vermögen den Weg nimmer, und zu mir kommen sie halt nicht … freilich, der Weg ist weit, und sie haben viel zu schaffen! Doch das muß ich sagen: geschlossene Thor’ hab’ ich bei ihnen nie gefunden. Da muß ’was dahinterstecken, mein’ ich, da muß was dahinterstecken!“
„Meinst Du nicht, es könnte die böse Nacht die Leute so sehr geängstet haben, daß sie in blinder Furcht ihr Haus verschließen – vor mir, wie vor jedem andern?“
Der Greis schüttelte den Kopf. „In der Angst, Bruder, schreien die Leut’, und jede Hand sucht einen Halt und Stecken – die Not macht alle Thüren auf, nicht zu! Glaub’ mir, eh’ der Tag noch gekommen ist, haben die meisten den Nachtschrecken schon halb wieder vergessen gehabt. Wenn es anders wär’, wenn sie nicht ein so kurzes Gemerk hätten, sie könnten ja nimmer leben! Schau’ die Berg’ an: da steckt in jedem Steinl ein Tod; und eine Not in jedem Wässerlein. Da muß man schnell vergessen [267] können, oder der eine Schmerz fallt auf den anderen hin wie Schnee auf Schnee im langen Winter. Nein, nein, Bruder – das muß was anders sein. Aber wart’ nur, wir kommen schon dahinter, wir Zwei! Und derweil mußt halt Geduld haben, und wenn Du Honig begehrest von ihnen und sie bieten Dir Salz, da mußt halt schlucken! – Aber gelt, mein guter Bruder, gelt, jetzt thust mir doch die Lieb’ und schaust mein Kirchl an?“
Eberweiu stand auf. „Führe mich!“ sagte er, mit herzlichem Blick an dem Antlitz des Greises hängend. Sie traten in die kühle Halle des Kirchleins. Plumpe Betstühle füllten den schmucklosen Raum, und armselige Geräte zierten den steinernen Altar; aber jedes Stücklein streichelte der Greis mit zärtlicher Hand, von jedem Stücklein wußte er eine lange Geschichte zu erzählen. Die Betstühle hatte er selbst gezimmert, das steinerne Taufbecken mit eigener Hand gemeißelt. Kummervoll aber blickten seine Augen, als er aus einer Wandnische einen hölzernen Buchdeckel mit eisernen Schließen hervornahm … nur einige Fetzen beschriebenen Pergaments umschloß der Deckel noch. „Schau’ nur, Bruder, schau’ … das ist einmal mein heilig Meßbuch gewesen, aber die Mäus’ sind mir drüber gekommen. Ja, ja, die Mäus’, wenn die nur nagen können! Die haben nicht einmal Scheu vor dem Heiligsten! Ueber mein Evangelienbuch im Haus drüben sind sie mir auch schon gekommen!“
„Aber wie kannst Du ohne Buch die Messe lesen?“ fragte Eberwein erschrocken.
„Hab’ sie doch vierzig Jahr’ lang mit dem Buch gelesen!“ lächelte Hiltischalk. „Weißt, da ist schon ’was hängen geblieben in meinem Gemerk, wohl wohl … und wenn’s einmal auslaßt, in Gottesnamen, so red’ ich halt mit meinem lieben Herrn, wie’s das Herz mir eingiebt.“ Er blickte in Eberweins Augen und fragte zögernd: „Das wird doch wohl kein Unrecht sein, gelt?“
„Nein, Bruder Hiltischalk!“ Tiefe Rührung sprach aus Eberweins Worten. „Doch wenn der lange Winter kommt, dann will ich Dir ein neues Meßbuch schreiben.“ Der Greis nahm dieses Versprechen auf wie die Verheißung reicher Schätze.
Diesem ersten Schreck, den Eberweiu überstanden, folgte rasch ein zweiter: seit Jahren las Hiltischalk die Messe nicht nur ohne Buch, auch ohne Wein. In früheren Zeiten hatte wohl jahraus und ein das gefüllte Fäßlein in der Kellergrube gelegen. Eines Tages aber waren Wazemanns Knechte im Pfarrhof eingekehrt, durstig von der Jagd … sie hatten den Wein gesucht und hatten ihn gefunden. Die Bauern steuerten dem Kirchlein Honig, Butter und Käse, trugen die frommen Gaben nach Hall und tauschten dafür ein neues Fäßlein ein … und bald ein drittes und viertes. Doch wo der Wein auch immer verborgen wurde – Wazemanns Knechte fanden ihn wie die Mäuse das Meßbuch.
„Und schau’, mein lieber Bruder, da hab’ ich mir sagen müssen: wie darf ich denn alleweil den Schweiß meiner armen Leut’ in die schiechen Gurgeln rinnen lassen? Die Mess’ aber hab’ ich doch lesen müssen. So hab’ ich halt gemeint, es geht mit Wasser auch. Und schau’, der, welcher zu Kana das Wasser in Wein verwandelt hat, der hat sich das Wasser gern gefallen lassen, wohl wohl, und hat’s gewandelt … wenn ich den Kelch gehoben hab’ und hab’ gebetet und hab’ getrunken, da hat’s mir nie wie Wasser geschmeckt, alleweil wie der rechte heilige Himmelstrank!“ Lächelnd blickte der Greis zum Altarkreuz auf und nickte dem Bilde zu wie einem guten Freund, der sich bewährt in aller Not.
„Selig, die festen Glaubens sind!“ flüsterte Eberwein. Er legte die Hand auf die Schulter des Greises. „Aber Du sollst nicht weiter Gottes Allmacht auf die Probe stellen. Ich werde Dir Meßwein senden und will dafür sorgen, daß böse Hände nicht wieder rühren an das Gut Deiner Kirche.“
Da rief eine Stimme den Namen des Priesters. „Das ist unsere Mätzel,“ sagte Hiltischalk, „ich mein’, sie rufet zum Tisch.“ Im Thor erschien eine Magd von abschreckender Häßlichkeit, mit dem Ausdruck des Blödsinns in den rotgeränderten Augen. „Geh’ nur, meine gute Mätzel,“ rief der Greis ihr zu, „wir kommen schon!“ Und als die Magd verschwunden war, sagte er: „Thu’ Dich an ihr nicht scheuen, lieber Bruder … weißt, einwendig ist sie sauber und lieblich! Ist eine fromme treue Magd, wohl wohl! Ihre Mutter ist tot … die hat gesennet, und wer ihr Vater ist, weiß niemand. Keiner im Thal hat sie nehmen mögen, so haben halt wir sie genommen und haben’s nie bereut! Wohl wohl, die Mätzel ist eine gute brave Magd.“
Langsam gingen sie dem Hause zu; Eberweiu hatte keinen Blick für den Weg und strauchelte auf der Schwelle. Mit beiden Armen stützte ihn der Greis und meinte lächelnd: „Ach, Du mein lieber Bruder, Du wirst mir doch kein Unheil tragen in meine Stub’!“
Da schüttelte Eberwein den Kopf. „Welches Haus noch wäre sicher wenn nicht das Deine?“
Sie traten in die Herdstube; das war ein kleiner Raum, nicht besser ausgestattet als die Stube eines Bauern, aber die Armut, welche hier wohnte, hatte ein lächelndes Antlitz, und der mit gebleichtem Hanftuch überdeckte Holztisch schien dem Gaste sagen zu wollen: „Komm, ich gebe, was ich habe.“ Ueber dem Tisch im Winkel hing ein großes Holzkreuz, geschmückt mit den letzten Blumen des Herbstes, auf einem Wandgesimse stand der zinnerne Kelch zwischen anderem Altargerät, ein frisch gewaschenes Chorhemd hing an hölzernem Nagel und rührte sich im leisen Windzug, der durch die unverwahrten Fensterluken in die Stube strich.
[277] Mätzel kniete neben dem Herd und überwachte eine Pfanne, während eine greise Frau die dampfende Milchsuppe in hölzerner Schüssel zum Tische trug. Sie war, wie Hiltischalk, in eine lange schwarze Lodenkutte gekleidet, deren weite Aermel die welken Arme zeigten; zwei dünne weiße Zöpfe hingen über die Brust der Greisin, und tief in Stirn und Wangen des stillen freundlichen Faltengesichtes reichte das aus Garn geklöppelte Häubchen, welches den Scheitel bedeckte. „Schau’, mein lieber Bruder,“ sagte Hiltischalk zu Eberwein, „schau’, das ist meine gute brave Hiltidiu.“ Er humpelte auf die Greisin zu und faßte sie am Aermel. „Komm, Hilti, komm, thu’ unseren Gast begrüßen und dank’ der Freud’, die er gebracht hat in unser Haus!“
Eine dünne Röte glitt über die Wangen der alten Frau, als sie die Hand dem Mönche zum Gruße bot. „Gesegnet sei Dein Eingang, Herre, in unserem Haus!“ Ihre Stimme klang weich und leise wie das Plaudern einer Quelle.
Hiltischalks Antlitz leuchtete vor Freude, als er sah, wie das Auge seines Gastes mit herzlichem Blick auf Hiltidiu ruhte. „Ich danke Deinem Gruß!“ sagte Eberwein zu der Greisin. Und zu Hiltischalk gewendet: „Deine Schwester, Bruder? Ich sehe, sie gleichet Dir.“
Mit fröhlichem Kichern rieb der Greis die Hände. „Freilich, freilich gleichen wir uns. Sind wir doch ein Herz und eine Seel’ seit zweiundfünfzig Jährlein! Nimm zwei Felsen, Bruder, und laß sie herunterrollen über den ganzen Berg, von der höchsten Höh’ bis tief ins Thal ... wenn sie drunten sind und das letzte Hupferlein machen, schaut einer wie der ander’ aus ... da hat ein jeder die Ecken abgestoßen. Freilich, freilich gleichen wir uns ... aber meine Schwester ist die Hilti nicht!“
„Deine Magd?“. klang Eberweins erstaunte Frage.
Lächelnd schüttelte die Greisin den weißen Kopf, während die frohe Laune Hiltischalks zu hellem Lachen wuchs. „Freilich, freilich eine Magd ... eine gute fromme Gottesmagd. Aber meine Magd? Der liebe Herre soll mich bewahren, daß ich sie je gehalten hätt’ wie eine Magd. Nein, nein, mein lieber Bruder, die Hilti ist mein gutes braves Weib!“
Erschrocken trat Eberwein zurück und jähe Blässe rann über sein Antlitz. Der Greis gewahrte die Wirkung seiner Worte nicht. Er hatte Hiltidius Hand erfaßt und streichelte zärtlich ihre dürren Finger. „Zweiundfünfzig Jährlein! Und alleweil harren wir noch auf den ersten Streit, den wir haben sollen. Wohl wohl, recht und treu haben wir zusammengehalten wie zwei rechte Christenleut’ in gottesfürchtiger Eh’. Und hat es uns der gute Herr im Himmel nicht gelohnt? Hat er uns nicht alle Lieb’ und Freud’ genießen lassen, bis auf eine? Und die hat er uns versagt in seiner Weisheit! Wir haben ja hundert Kinder gehabt um unser Haus her ...“ Er wandte sich zu Eberwein. „Und das kannst mir glauben, mein lieber Bruder, die Hilti ist ihnen eine gute Mutter gewesen, und so [278] manches harte Köpfl, das ich nicht hab’ ducken können in Güt’ oder Streng’, das hat meine Hilti vor dem Kreuz gebeugt mit ihrer Mutterhand. Aber schau’ nur, schau’ ... das Süppl will ja schon nimmer dampfen. Komm, jetzt wollen wir uns niedersetzen! Aber beten müssen wir auch noch! Freilich, freilich, das muß alleweil das erste sein!“
Er trat zum Tisch und faltete die Hände. In frommer Inbrunst hingen seine Augen am Kreuz, und mit seinen betenden Worten mischte sich die sanfte leise Stimme der Greisin. „Amen!“ sprach Hiltischalk und rieb die Hände. „Komm, lieber Bruder, setz’ Dich auf den Ehrenplatz!“ Da gewahrte er die Verwandlung in Eberweins Zügen und stammelte erschrocken „Ja lieber Bruder, ja was ist Dir denn?“
Eberwein trat auf ihn zu, mit nassen Augen und bebender Stimme. „Hiltischalk, ich darf nicht zehren an Deinem Tisch!“
Zitternd stand der Greis. „Ja warum denn nicht?“ Hiltidiu war an seine Seite getreten, als fühlte sie, daß eine Gefahr ihn bedrohe.
Eberwein drückte die beiden Hände auf Brust und Stirne; dann atmete er tief und richtete sich auf. „Hiltischalk! Weise die Frauen aus der Stube, ich habe mit Dir zu sprechen!“
Der Priester starrte auf den Mönch, als hätte er seine Worte nicht verstanden. Hiltidiu aber ging lautlos zum Herd, faßte Mätzel bei der Hand und zog sie zur Thür. „Ihr könnet laut reden,“ sagte sie, „wir gehen weit vom Haus.“
Hiltischalk blickte ihr nach, während sie die Stube verließ, dann sah er wieder auf den Mönch, rührte die Lippen und fand kein Wort. Eberwein schlug die Hände zusammen, und wie der Aufschrei eines Verzweifelnden klang seine Stimme: „Hiltischalk, Hiltischalk! Was hast Du mir angethan!“
„Ich, lieber Bruder? Was denn?“ stotterte der Greis.
„Ich bin getreten in Dein Haus, als wär’s in eine Kirche, Gottes Nähe meinte ich zu fühlen an Deiner Seite. Nun wirfst Du Feuer über mich und weckest Zwietracht zwischen meinem Herzen und heiliger Pflicht.“
Der Greis zitterte, daß ihn die alten Knie kaum mehr trugen. „So ’was hätt’ ich gethan? Ich? Ja wieso denn?“
„Du kannst noch fragen?“ Helles Entsetzen klang aus Eberweins Stimme. „Hast Du denn nicht ein Weib?“
„Wohl wohl, lieber Bruder!“
„Ein Weib! Du – ein Priester!“
„Wohl wohl! Aber laß das jetzt ... komm doch drauf: was hab’ ich denn gethan? So red’ doch einmal ... was hab’ ich denn gethan?“
Eberwein griff an seinen Kopf, als wüßte er sich nimmer Rat noch Hilfe. „Ja Mensch, wie redest Du? Mitten in Flammen stehst Du, Deine Kleider und Haare lodern, und Du fragst: wo brennt es, wo denn, wo? Ja weißt Du denn nicht, daß es Dir als Priester verwehrt ist, ein Weib zu nehmen, daß Du in schwerer Sünde lebst wider der Kirche heiligstes Gebot?“
Mit beiden Händen griff Hiltischalk nach der Tischkante und sank auf die Holzbank nieder. Zitternd saß er und strich sich über das Gesicht, als müßte er einen bösen Traum verscheuchen. Dann schüttelte er Kopf und Hände, und beinahe heftig stammelte er: „Mein lieber Bruder, jetzt muß ich Dir aber doch sagen: Du thust Dich irren! Wenn ich kein Weib haben dürft’, wie hätt’ es denn nachher sein können, daß vor zweiundfünfzig Jährlein der hochwürdigste Herr Bischof in der Salzaburg meine Hilti und mich zusammengegeben hat? Vierzig Denar’ hab’ ich gezahlt zur Sportel ... ich hab’ sie aufgebracht mit Müh’ und Not ...“ In ratlosem Jammer hatte Hiltischalk sich von der Bank erhoben. Seine Blicke fielen auf das Kreuz, er streckte die zitternden Hände aus, und da schien es über ihn zu kommen wie Trost und Ruhe. „Nein, Bruder, nein, Du mußt Dich irren! Ich sollt’ meine Hilti nicht haben dürfen? Ja, warum denn nicht? Ich bin ja kein Ordensbruder wie Du! Dich bindet ein heilig’ Gelübd’, aber ich, Bruder, ich bin ja doch ein niedriger Leutpriester wie tausend andere. Wie ich noch ein junger Klerikus gewesen und umgezogen bin da draußen im tiefen Land, da hab’ ich doch überall den Pfarrherrn sitzen sehen mit seiner guten Pfarrin, und wie sie mich dahergeschickt haben in die Einöd’ ... alles hat mir fehlgeschlagen bei den harten Köpfen, ich hab’ schon gemeint, ich muß verzweifeln ... aber da hat mich der liebe Himmelsherr die Hilti finden lassen, und sie ist mein Trost geworden und meine Hilf’ zu allem Guten. Und wenn ich sie genommen hab’, so hab’ ich ja nur gethan, was draußen im Land viel tausend andere thun!“
„Was jene thaten, es war ein Greuel, sagt die Kirche!“
Der Greis schüttelte den Kopf. „Nein, lieber Bruder, nein, wie könnt’ eine fromme Eh’ vor Gott ein Greuel sein! Nein, das kann die Kirch’ nicht sagen! Ich weiß schon, wohl wohl ... wie ich noch ein junger Klerikus gewesen bin, da hab’ ich oft gehört, daß über den Bergen sell drüben im welschen Land ein paar hitzige Köpf’ so reden, als wär’ die fromme Priestereh’ ein Greuel ...“
„Nein, Hiltischalk, nein! So hat der Papst entschieden, der Papst!“ rief Eberwein, wie in Qual und Marter. „Auf heiligem Konzil, umgeben von allen Bischöfen der christlichen Welt!“
„Ach Du mein lieber Herr im Himmel droben!“ lachte der Greis, bis in die Lippen erbleichend. Schweigend und schwer atmend, standen sie voreinander, als wäre der eine gleiche Jammer in ihnen beiden. In die dumpfe Stille klang von einer nahen Halde her der fröhliche Gesang zweier Stimmen; dort oben wandelte ein Bursch mit seinem Mädchen in der Sonne, und die beiden Herzen, die sich gefunden, jubelten ihr Glück dem Himmel zu.
„Ja sag’ nur, Bruder, sag’ ... davon hör’ ich ja heut’ das erste Wörtlein!“ sagte Hiltischalk mit tonloser Stimme, „wann wär’ denn das gewesen?“
„Vor vierzig Jahren!“
„Aber schau’ doch, wie hätt’ ich denn das wissen sollen! Ueber die vierzig Jahr’ lang bin ich nimmer hinausgekommen aus meinem einödigen Sitz, über die vierzig Jahr’ lang hab’ ich keinen mehr gesehen, der das heilige Häs getragen hat. Wer hätt’ mir’s denn sagen sollen? Und schau’ doch, schau’ ... was wär’ denn anders geworden, wenn ich’s gewußt hätt’?“ Ein Gedanke des Trostes fiel in sein Herz wie Sternschein in die Nacht. „Ich und die Hilti, wir sind ja schon über die fünfzig Jahr’ lang Mann und Weib! So kann’s ja doch für uns nicht gelten!“
„Das Wort des Papstes hat gelöset, was gebunden war,“ stammelte Eberwein. „Wer Priester bleiben wollte, mußte lassen von seinem Weibe. Das ist gegangen durch alle Lande wie ein Sturm, und nur an Deinen Herd hat keine Welle geschlagen? Land auf und nieder sitzet kein beweibter Priester mehr, nur Du noch, Du!“
„Ich, der Einzig’!“ Hiltischalks Hände griffen in die Luft, und wie ein Schwindel überkam es den Greis. Mit beiden Armen umfing ihn Eberwein, ließ ihn auf die Holzbank niedersinken, setzte sich an seine Seite und hielt ihn umschlungen an seiner Brust. „Wär’ ich doch nie gekommen, hätt’ ich dieses stille reine Haus doch nie betreten!“ rang es sich in heißer Qual von seinen Lippen. „Glück will ich säen und muß doch Unheil streuen, wohin ich schreite!“
Hiltischalk richtete sich auf und löste sich aus Eberweins Armen. „Du mußt Dich irren, Bruder – es kann nicht sein, ich kann’s nicht glauben ... oder schau’, ich müßt’ versterben dran! Wie meine Hilti und ich gehauset haben miteinander – vor einer Stund’ noch hab’ ich gemeint, es müßt’ der liebe Herr im Himmel seine Freud’ dran haben! Und jetzt auf einmal soll ...“ Das Wort erstickte ihm, als würde sein Hals zugeschnürt. Er schüttelte Kopf und Hände. „Nein, Bruder, nein! Alles in schuldigen Ehren ... aber wie könnt’ denn ein Konzilium sprechen wider das Heilige Buch?“ Mit beiden Händen faßte er Eberweins Arm und keuchte: „Oder steht denn nicht geschrieben, daß die Apostel Weib und Kind gehabt ... der heilige Petrus selber! Heißt es nicht bei Paulus an die Korinther: ‚Haben wir nicht, so wie wir essen und trinken, auch das Recht, von einer christlichen Frau uns begleiten zu lassen wie die Apostel, wie die Brüder des Herrn und Kephas?‘ Und eins noch, Bruder, eins noch ... heißt es nicht bei Paulus an Timotheus: ‚Darum muß ein Priester unbescholten sein, eines Weibes Mann, der seinem Haus gut vorstehet, denn wie könnt’ er sonst in allem ein gutes Beispiel geben seiner Gemein’?‘ Wart’ nur, Bruder ... die Stell’, die muß ich Dir zeigen ...“ Er humpelte davon und stolperte über die Schwelle einer Kammer. Die schlaffen Hände im Schoß, mit nassen Augen, starrte Eberwein ihm nach.
Einen plumpen Pergamentband auf den Armen schleppend, kehrte Hiltischalk zurück. „Komm nur, komm ... die Stell’, die muß ich Dir zeigen!“ Er legte das Buch auf den Tisch, die Schüssel zurückstoßend, daß die erkaltete Suppe den Rand überschwankte; rote Flecken erschienen auf seinen bleichen Wangen; [279] immer wieder fuhr er mit dem Aermel über die Augen, um die Zähren fortzuwischen und bei dem zitternden Eifer, mit welchem er den ersten Brief an Timotheus suchte, fielen einzelne Blätter aus dem Bande, vergilbt und brüchig, mit halb erloschener Schrift, an Kanten und Ecken übel zugerichtet von den Zähnen der Mäuse und der Zeit. „Gleich muß es kommen ...“ Er warf die Blätter um und suchte: „An Timotheus, drittes Kapitel, zweiter Vers ... da schau’ her, da muß es stehen ...“ Er wollte mit dem Finger deuten; aber da stand er wie entgeistert und starrte auf das Pergament, welches bis über die Mitte zu Fasern und Fetzen zerbissen war. „Jetzt haben mir die Mäus’ das heilige Wort gefressen ...“ Lachend sank er in die Knie, fiel mit Gesicht und Armen über das Buch und brach in bitterliches Schluchzen aus.
Eberwein erhob sich, mühsam, als hätte er nicht mehr die Kraft, zu stehen. In seinen Zügen spiegelte sich der Kampf, der ihm das Herz erfüllte; sein reines menschliches Empfinden und Erbarmen auf der einen Seite, auf der anderen die beschworene Pflicht seines kirchlichen Amtes. Er legte die Hand auf die Schulter des schluchzenden Greises, doch er fand kein Wort des Trostes, kein Wort des Rates, weder für Hiltischalks Jammer, noch für die eigene Pein. „Ich kann ihn nicht weinen sehen,“ stammelte er, „ich ertrag’ es nicht!“ Und die Hände vor die Augen schlagend, taumelte er aus dem Hause.
Hiltischalk richtete sich wankend auf, und seine nassen verstörten Augen irrten in der leeren Stube umher. „Fort ist er! Fort! Hat mich geworfen in Not und in der Not verläßt er mich!“ Mit ausgestreckten Händen lief er zur Thür. „Bruder, mein lieber Bruder!“ Als er den Hof erreichte, sah er Eberwein unter dem Kirchhof, am Ufer der reißenden Ache, auf schmalem Karrenweg dahineilen, mit flatterndem Gewand und vorgehendem Haupte wie einer, der in tobendem Sturme schreitet.
Hiltidiu kam mit Mätzel vom Kirchlein gelaufen. „Warum ist er denn fort? Was hat er?“ Die Sprache versagte ihr, als sie das verstörte Gesicht des Greises und seine nassen Augen sah.
„Ja wo lauft er denn hin?“ jammerte Hiltischalk, als wäre die vergangene Stunde jählings vergessen und nur der Weg noch, welchen Eberwein genommen, seine einzige Sorge. „Er will ja doch zum Lokiwald und lauft der Windach zu! Er muß sich ja verirren! Es kann ihm ja ’was geschehen! Mätzel, komm doch, komm und lauf’ und zeig’ ihm den rechten Weg!“
Aber Mätzel stand und rührte sich nicht; ihre Augen hingen an ihrem Herrn und am ganzen Körper begann sie zu zittern, als fiele ihr jede Zähre, die sie über seine weißen Bartstoppeln niedertropfen sah, wie ein heißer Schmerz in die treue Seele.
„So lauf’ doch, Mätzel, lauf’ – oder ich lauf’ halt selber und führ’ ihn!“ Hiltischalk wollte zum Hagthor eilen, da aber hielt ihn Mätzel kreischend zurück, faßte einen dürren Stecken, der neben der Thür an der Holzwand lehnte, und schoß zum Hof hinaus, mit langen Sprüngen dem Wege folgend, auf welchem Eberwein verschwunden war.
„Was sagst, Hilti, was sagst! Der wär’ jetzt hineingelaufen in die Windachklamm!“ Mit diesen Worten wandte sich Hiltischalk zu seinem Weibe, das schweigend und bleich dastand, von dunkler Angst bedrückt. „In die Windachklamm ...“ wiederholte er noch, dann ging ihm die Sprache aus. Seine verstörten Blicke glitten über die Greisin, ein schluchzender Wehlaut erschütterte seine Brust, und in ratlosem Jammer die Hände ringend, wankte er der Steinbank unter der Linde zu. Erschrocken eilte ihm Hiltidiu nach. „Ja lieber Herr im Himmel, was ist denn? So red’ doch!“
Sie wollte ihn stützen, doch er wich zurück und stammelte: „Thu’ nicht rühren an mich!“ Im nächsten Augenblick aber streckte er selbst die Hände aus, warf sich an die Brust der Greisin, umschlang sie, drückte sie an sich mit all der müden Kraft seiner alten Arme und weinte wie ein Kind. Sie sprach kein Wort; nur ihre Blicke suchten den Himmel. Den Wankenden zärtlich stützend, ließ sie ihn auf die Steinbank sinken, hielt sein Haupt an ihrer Brust, streichelte mit linder Hand sein weißes Haar und harrte geduldig, bis er sprechen würde.
Als Hiltischalk in seinen Thrähnen endlich Worte fand, flüsterte er scheu und leise: „Weißt, was er gesagt hat, Hilti? Er hat gesagt: wir zwei, wir wären nicht Mann und Weib!“
Hiltidiu schüttelte den Kopf – sie verstand nicht. „Wir zwei nicht Mann und Weib? Ja was denn sonst?“
„Ich weiß nicht!“ schluchzte der Greis und griff mit zuckenden Händen an seine Brust, an seine Schläfe. Taumelnd erhob er sich. „Komm, Hilti, komm!“ Er umklammerte ihren Arm. „Komm, komm – das reden wir zwei nicht aus, wir zwei allein ... da muß noch ein anderer dabei sein, ein anderer!“ Und er zog die Sprachlose hinter sich her durch den Friedhof, zum Thor des Kirchleins. Sie traten ein ...
In der leeren Stube erlosch der Schein des vergessenen Herdfeuers. Stille lag um die hölzernen Mauern und über den Gräbern; nur manchmal raschelte es leise ... von der Linde fiel das welke Laub.
In der Morgenstille zog Recka durch den Untersteiner Forst. Wohl führte sie die Zügel, doch ihr Rappe suchte die Pfade, wie er wollte. Mit verlorenen Blicken starrte sie vor sich nieder; zuweilen, unter einem stockenden Atemzuge, hob sie die Augen und sah umher, als fände sie sich in fremder, nie gesehener Gegend. Dann wieder versank sie an ihr Brüten und Sinnen. Ein Rehbock, den der Hufschlag aufgescheucht, flüchtete vor dem Pferde vorüber; da erinnerte sich Recka, daß sie zum Weidwerk ausgezogen war, und griff nach dem Bogen; doch sie merkte, daß sie einen leeren Köcher an den Sattel gehängt. Seufzend ließ sie die Hände sinken, und ein müdes Lächeln ging über ihre Lippen.
Im Weiterreiten gewahrte sie nicht, daß der Rappe den Heimweg suchte; sie blickte erst auf, als das Pferd unter den Bäumen hinaustrat auf die Seelände. Beim Anblick des Fischerhauses floß eine dunkle Röte über ihr Gesicht, und sie spannte mit so heftigem Ruck den Zügel, daß der Rappe sich bäumte. Sie wollte wenden, aber da ließ sie die Zügel wieder sinken und raunte mit zuckenden Lippen: „Fürcht’ ich mich schon vor ihm?“ Zornig auflachend, stieß sie dem Pferde den Stachel in die Flanke, daß es mit tollen Sprüngen hinwegjagte über den Sand.
Edelrot, welche mit Hilmtrud auf der Hausbank saß, gewahrte die Wazemannstochter. „Recka! Recka!“ rief sie und eilte zum Hagthor. Doch als sie auf die Lände trat, war die Reiterin schon im Uferwald verschwunden. „Recka! Recka!“ Und mit flatterndem Röcklein lief Edelrot der Ache zu; vor der Brücke holte sie die Wazemannstochter ein. „Recka, so hör’ mich doch, oder kennst Du die Stimm’ Deiner Gesellin nimmer?“
Langsam wandte Recka das Gesicht und blickte mit halbgeschlossenen Augen auf das Mädchen nieder. „Wer bist Du?“
Erschrocken und sprachlos starrte Edelrot zu der Reiterin auf. Als aber Recka sich abkehrte und den Rappen auf die Brücke lenkte, lief ihr das Mädchen nach und klammerte sich mit beiden Händen an ihr Kleid. „Ja was hast denn? So schau’ mich doch an! Ich bin’s ja, ich, Deine Treugesellin!“
„Laß Deine Hände von mir!“ rief die Wazemannstochter in aufwallendem Zorn. „Du bist Deines Bruders Schwester, mehr weiß ich nicht von Dir!“
Erblassend trat Edelrot zurück, und ihre Augen wurden naß, während sie den Goldring, den sie von Recka empfangen, von ihrem Finger streifte. „Wenn Du um meines Bruders willen mich nimmer kennen magst,“ sägte sie mit schwankender Stimme, „so nimm auch den Reif wieder, den Du mir gegeben hast auf Lieb’ und Treu’.“ Sie legte den Ring in Reckas Hand. „Thu’, wie Du magst, lös’ Deine Lieb’ von mir ... die meine soll Dir bleiben, solang’ ich leb’!“
Recka starrte auf das Ringlein in ihrer Hand, dann hob sie tief atmend die Augen; der Ausdruck ihrer Züge wandelte sich, und in tiefer Bewegung stammelte sie: „Rötli, Rötli!“
Hastige Schritte erklangen im Wald, und Sigenot kam unter den Bäumen hervorgestürzt. Als sähe er die Tochter Wazes nicht, so stellte er sich mit dem Rücken gegen sie, faßte die Hand des Mädchens und sagte, halb atemlos: „Schwester, wie hast Du vergessen können, was ich Dich geheißen hab’? Du sollst nicht weilen außer Thor! Winter liegt her um unseren Hag und die Wölf’ gehen um!“
„Aber so schau’ doch,“ flüsterte Edelrot, „ich bin ja nicht allein!“
„Ich seh’ nur Dich!“
Da lachte Recka; sie senkte die Hand, das Ringlein kollerte über ihren Schoß, fiel nieder auf einen Stein, sprang klingend in [282] die Höhe und verschwand im schießenden Wasser der Ache. Schluchzend hatte Rötli das Kleinod noch haschen wollen; aber Sigenot hielt die Schwester fest und führte sie mit sich fort. Recka sprengte über die Brücke und den Reitweg empor, daß ihr Rappe zu schnauben und zu schäumen begann; wie versteinert waren die Züge ihres Gesichtes, doch ihre Augen schimmerten feucht. Als sie das Thor erreichte, hörte sie aus dem Burghof lautes Johlen und schallendes Gelächter. Mit jähem Ruck verhielt sie das Pferd. „Sie lachen und ich möchte schreien in Schmerz und Zorn!“ Ungestüm wandte sie den Rappen und nahm den Weg wieder thalwärts. Hinter ihr schallte das Geschrei und das johlende Gelächter, über welches eine kreischende Stimme sich hinaushob.
Mitten unter Wazemanns Knechten und Mägden stand Bruder Wampo, welcher gekommen war, um Eberweins Weisung zu erfüllen und Waze mit seinem Sohne Henning vor den Herrensitz im Lokiwald zu laden. Gedrückten Mutes, hungrig und müde, hatte der Bruder Wazemanns Haus erreicht, mehrmals auf dem Wege war er gar übel in die Irre geraten, und hatte er einen Hag gefunden, so war trotz all seines Rufens das Thor geschlossen geblieben. Das hatte ihn mit böser Ahnung erfüllt. „Geschieht mir so von den Knechten, wie werden sie mit mir umspringen im Herrenhaus!“ Klopfenden Herzens und den Blick der Sorge in den kleinen Aeuglein, hatte er, endlich an seinem Ziele angelangt, den Burghof betreten; als die Knechte und Mägde zusammenliefen und ihn unter lachenden Reden beguckten wie ein drolliges Wundertier, lehnte er schweigend den Stab an die Mauer, wickelte den Rosenkranz um die Linke, als wäre die geweihte Perlenschnur sein Schild, und zog gleich einem Schwerte das hölzerne Kreuzlein aus dem Gürtel. „So, jetzt kommet nur an, jetzt bin ich gewappnet!“ Er trat den Lachenden entgegen, doch seine Stimme schwankte ein wenig, als er nach dem Herrn des Hauses fragte. Kaum aber hörte er, daß Herr Waze mit seinen Söhnen ins Gejaid gezogen wäre, da richtete er das runde Köpflein auf, und es wuchs ihm der Mut wie dem Hasen im Kleefeld, das der Bauer mit der Sense verläßt. Mit hohen Worten verkündete er die Wichtigkeit seiner Sendung. „Und ich rat’ Euch, erweiset mir alle Freundlichkeit und Ehrfurcht, auf daß Ihr Eurem Herrn einen guten Fürsprech’ an mir gewinnet! Denn ich sag’ Euch: er kann ihn brauchen. Sonst möcht’ ihn wohl das Grausen ankommen vor dem Gericht, das ihn erwartet!“ Die Mägde nahmen diese Rede mit Verblüffung auf, die Knechte mit Schreien und Gelächter. „Was lacht Ihr und sperrt die Mäuler auf?“ rief Bruder Wampo mit aller Würde, die er sich zu geben vermochte. „Führet mich in das Haus, daß ich Euren Herrn in Ruh’ erwarte. Und ich sag’ Euch: in die beste Stub’, darin das Tischlein gedeckt ist und der Krug gefüllt, wie es einem fürnehmen Gaste zukommt ...“
Unter dem Gelächter der anderen warf sich eine Magd auf die Knie. „So fürnehmen Herrn muß man grüßen mit Fingerkuß!“
Freundlich blickte der Bruder auf sie nieder und reichte ihr die Hand. „Deine Demut soll Dir vergolten werden mit reichem Lohn!“ Als aber die Magd nicht seine Hand, sondern die eigene küßte und lachend aufsprang, wurde seine Stirne dunkelrot, und zornig rief er: „Wartet nur, hinter mir wird einer kommen, der wird es Euch verleiden, Gespött zu treiben mit einem frommen Mann! Ich sag’ Euch zum letztenmal: jetzt führet mich ins Haus! Ich bin nur ein bescheidener Gottesknecht und für mich selber möcht’ ich keinen Tropfen und kein Bröselein begehren. Aber ich bin gekommen an meines Herrn Statt, und seinetwegen will ich kein Härlein von der Ehr’ vermissen, die ihm zukommt! Gebet Gott, was Gottes ist, oder es könnt’ geschehen, daß der Teufel an Euch sein Recht begehrt!“
Die Mägde lachten, die Knechte wurden grob, und einer schrie: „Aber so führet ihn doch zum Mahl, es ist ja schon aufgetragen, schnell, schnell, sonst fressen ihm die anderen alles weg!“ Er faßte Wampos Arm, zerrte den Verblüfften zu einem Schuppen und öffnete vor ihm das Thürlein des Schweinestalles. „Da, fang’ nur gleich an! Und tummel’ Dich, daß Du nicht zu kurz kommst!“
Es fehlte nicht viel, so hätte Bruder Wampo in seinem Zorn dem Knechte das Kreuz auf den Kopf geschlagen; doch ehe sein Arm noch fiel, besann er sich. Unter dem dröhnenden Gelächter, das ihn umgab, küßte er das Kreuz und verbarg es mit dem Rosenkranz unter seiner Kutte, an der Stelle des Herzens. Zwei dicke Zähren rollten über seine zitternden Backen, während er die Augen zum Himmel hob: „Thu’ mir nicht zürnen, Du Allgütiger, weil ich Deine heiligen Zeichen an einen solchen Ort getragen hab’!“ Dann ballte er die Fäuste, und kreischend hob sich seine Stimme: „Nur her auf mich! Meint Ihr, daß ich Furcht hab’ vor Euch? Ihr Unfläter, Ihr Stallbrüder von denen da drinnen! Und ob Ihr mich auch zerreißet, ich will keinen Schrei wider Euch zum Himmel thun. Denn Gottes Hand ist mir viel zu gut und heilig, als daß ich sie anrufen möcht’ zur Hilf’ gegen Euch! Ihr Teufelsbraten übereinander! Grausen thut mir vor Euch! Und möchtet Ihr mich gleich zu einem Mahl führen, wie es der Kaiser hat, nicht hinrühren thät’ ich mit einem Finger! Euch aber, wartet nur, Euch wird eine Schüssel aufgetragen werden mit einer brenzligen Supp’, von der ein übler Geruch ausgeht und ein heißer Dampf!“
Diese Prophezeiung trug dem Bruder einen Puff ein, der ihn wanken machte. Aber nicht schweigen! Wie ein mutiger Jagdhund inmitten der Wolfsmeute, so stand er und biß um sich mit den scharfen Worten seines Grimmes. Die Adern schwollen ihm an Hals und Schläfen, in dunkler Röte brannte sein Gesicht, und der Schweiß rann ihm in hellen Bächlein über den Kahlkopf und die Backen. Jedes saftige Schmähwort, das sie ihm zuschrien, jeder Stoß, der ihm an die Rippen fuhr, mehrte noch seine Tapferkeit. „Schimpfet nur und schlaget mich, es kommt schon die zahlende Stund’! Wie der Sturmwind über das Getreidefeld wird der Teufel herfahren über Eure Köpf’! Es hat schon gerumpelt heut’ nacht – da hat er sein Schürhakl aus dem Feuer gerissen! Aber wartet nur, wenn er ausfahrt aus dem Berg, mit glühenden Hörnern und feuriger Zung’ ...“ Allein seine Stimme, ob sie auch schmetterte wie eine Trompete, ging unter in dem Geschrei und Gelächter, in dem Höllenlärm, der ihn umringte ... denn das Geschrei im Hofe hatte auch alle Stimmen in den Ställen geweckt, die Hunde im Zwinger kläfften wie toll, im Käfig brummte der Bär, und der Wolf saß auf den Hinterbeinen und heulte gradauf in die Luft.
Sie spielten dem Bruder so übel mit, daß in einer der Mägde das Erbarmen erwachte, sie riß ihn aus dem Knäuel und lachte. „Jetzt laßt ihn aber endlich in Ruh’! Schauet ihn nur an; er schwitzt ja schon!“
„Jawohl, ich schwitz’, jawohl!“ schrie Bruder Wampo atemlos. „Und jedes Tröpflein, das ich vergieß’, ist eine Ehr’ für mich. Denn ich gleich’ dem schwitzenden Philosophen, dem eines Tages ein Freund begegnet ist. ‚Warum schwitzest Du?‘ hat ihn der Freund gefragt. Und der Philosoph hat erwidert: ‚Weil ich mich herumgeschlagen habe mit Unflätern und Dummköpfen!‘“
Ein Dutzend Hände griffen nach ihm, und da der Bruder merkte, daß die Reise vor die Mauer beginne, rief er mit kreischender Stimme: „Nur zu, nur zu! Und ich bitt’ Euch, gebet mir nur einen festen Schwung! Denn mein Wohlthäter ist ein jeder, der mich hinauswirft aus einem solchen Haus. Eurem schiechen Hauswirt aber saget, daß er geladen ist vor Gericht, zwischen heut’ und dem dritten Tag! Stehen soll er vor meinem Herrn wie das Wölflein vor dem Löwen ...“
Bruder Wampo fand nicht Zeit, seine Rede zu vollenden; seine Bitte, ihm einen „festen“ Schwung zu geben, wurde flink und redlich erfüllt. Aber nicht das Fallthor hatten sie für ihn geöffnet, sondern das schmale Pförtlein über dem Felsenstieg, und da war es ein Glück, daß Bruder Wampos Bäuchlein in dem Thürloch einen harten Durchlaß fand, dessen Reibung die Kraft des Schwunges linderte, sonst wär’ es ihm wohl kaum gelungen, mit den Händen noch das Seil zu haschen, das an der steilen Felswand befestigt war. Ein Schwindel befiel ihn fast, als er von der knappen Stufe niederblickte in die Seetiefe, und doch verließ ihn der Mut nicht. „Bin ich denen da drin entronnen, so komm’ ich wohl auch noch heil da hinunter.“ Unter einem Stoßgebetlein begann er den Abstieg. Das war für ihn ein doppelt bedenklicher Weg, denn die Stufen waren schmäler als die Breite seines Leibes, und er mußte sich krampfhaft an die Felswand drücken, um das Uebergewicht seines irdischen Teils nach Möglichkeit zu mindern. Während er sich mit zitterndem Fuß von Stufe zu Stufe tastete, klang über ihm das Geschrei der Wazemannsleute, deren Köpfe auf der Mauer erschienen waren. Es regnete üble Scherzworte auf ihn nieder und auch sonst noch mancherlei Dinge, für deren nähere Betrachtung dem Bruder auf seinem bösen Wege keine Zeit verblieb.
[293] Als Bruder Wampo glücklich den ebenen Waldgrund erreichte, that er einen brunnentiefen Atemzug und schüttelte den Staub von sich ab, den sie von der Mauer auf ihn niedergeworfen. „So ein Teufelsnest!“ schalt er und hob die geballten Fäuste gegen Wazemanns Haus. „Aber gelt, hingesagt hab' ich's Euch! Aber schon gehörig! Wartet nur, wenn wir wieder einmal zusammenkommen, dann sollt Ihr noch schärfere Wörtlein hören!“ Wieder schüttelte er die Kutte, und als er, langsam dem Pfade folgend, zum Ufer gelangte, blickte ihn der klare See so kühl und verlockend an, daß der nach Erfrischung Lechzende nicht zu widerstehen vermochte. „Kalt wird’s sein, aber gut!“ Ein Busch, in welchem er sich zum Bad entkleiden konnte, war bald gefunden. Als er mit Armen und Schultern aus der Kutte schlüpfte, machte er sorgenvolle Augen zu seinem eigenen Anblick. „Fein haben sie mich zugerichtet, das muß ich sagen. Ausschauen thu’ ich wie ein Ferch: blau und grün schillerig, mit roten Tupfen!“
Er sprang ins Wasser, vor Kälte prustend und mit den Zähnen schnatternd. Aber wie ein Fisch, der an der Angel zappelt, schlug er um sich und dabei wurde ihm warm, so daß ihm das Bad gar wohl behagte. Nicht weit vom Ufer sah er die stille Insel ... sie lockte ihn. Auf dem Rücken liegend, schwamm er dem Röhricht entgegen, und wenn ihm Wasser in den Mund geriet, blies er die Backen auf und spritzte aus den Lippen ein dünnes Brünnlein in die Höhe. Als er die Insel erreichte und zwischen dem Schilf umherwatete im weichen warmen Schlamm, hörte er auf dem jenseitigen Waldhang die frische helle Stimme eines Burschen klingen.
Fröhlich hallte das Albenlied im Wald, und die jauchzenden Jodelrufe weckten das Echo an der Falkenwand.
Edelrot erschien in der offenen Thür des Fischerhauses; sie lauschte, und eine zarte Röte huschte über ihre schmalen Wangen. „Der Ruedlieb!“ Mit leuchtenden Augen spähte sie gegen den Wald aber noch konnte sie den Heimkehrenden nicht gewahren, sie hörte nur sein klingendes Lied. Und obgleich sie die Worte nicht verstehen konnte, so wußte sie doch, was das Liedlein sagen wollte: „Rötli, hab’ acht ... ich komm’!“
Es zog sie zum Thor, aber sie dachte der Mahnung ihres Bruders. Nach allen Seiten blickte sie, doch die Hofreut war leer – Hilmtrud saß bei Mutter Mahtilt in der Herdstube, und Sigenot war mit den Knechten, mit Eigel und Kaganhart hinter dem Hause, wo sie an den Pfählen zimmerten, mit denen Sigenot den Hag zu höhen und das [294] Thor zu festigen gedachte. Edelrot wollte den Bruder suchen; schon lief sie am Haus entlang, da hörte sie, wie das Lied des Burschen jählings verstummte mit heiserem Schreckenslaut.
„Was hat er denn?“ stammelte sie, von banger Sorge befallen; ihr Röcklein flatterte, so hastig lief sie über den Hügel hinunter zum Thor; kaum gelang es ihren schwachen Kräften, den schweren Sperrbalken aus der eisernen Oese zu heben. Als sie den Thorflügel aufstieß, hörte sie den Buben schon über die Lände einherspringen mit keuchendem Atem.
Nun stand er vor ihr, und bei seinem Anblick faßte sie ein Schreck, der ihr die Sprache nahm. Er war ohne Hut und Grießbeil, Leichenblässe deckte seine Züge, die Augen starrten in Angst, und kaum trugen ihn noch die zitternden Knie. Edelrot wußte: er war ein mutiger Bub’, der nicht Wolf und Bären fürchtete, nicht Feuer und Wasser – es mußte ihm Entsetzliches widerfahren sein. Sprechen konnte sie nicht, nur die Hände streckte sie ihm entgegen, und da fiel er auf die Knie vor ihr, umschlang sie mit den Armen und drückte das Gesicht in ihren Schoß. Mit zitternden Händen versuchte sie ihn aufzuheben, sie wollte nach Hilfe schreien, aber der Laut erstickte auf ihren Lippen. Seine starren Augen blickten zu ihr auf. „Sag’, Rötli, sag’, ist das wahr, daß einer sterben muß, der den Bid gesehen hat?“
„All’ Ihr guten Mächt’! Ruedlieb!“ lallte sie und klammerte die Arme um seinen Hals. Thränen stürzten über ihre Wangen. Sigenot! Sigenot!“ wollte sie schreien. Aber der Bub’ sprang auf und drückte die Hand auf ihre Lippen. „Thu’ nicht rufen, Rötli! Wer’s ausredet, der macht’s noch ärger!“
Zitternd hielten sie sich umfangen, und als sie langsam hinaufstiegen zum Lugaus, suchte eins das andere zu stützen und zu führen. Nun saßen sie auf der Bank, aneinander gelehnt, mit verschlungenen Händen. Zitternde Sonnenlichter spielten um sie her, und im Laub der Eichen raunte der sachte Wind. In saftigem Grün stand Edelrots Bäumchen; es war an ihm kein Blatt noch welk geworden, während an Sigenots krankendem Jahrbaum alle Blätter müd’ und lechzend hingen wie nach langer Dürre.
Schwer atmend hob Edelrot das Köpfchen und blickte mit angstvollen Augen hinaus über den stillen schimmernden See, in welchem die kleine Insel lag, umgeben vom blaugrünen unbewegten Röhricht. Diese Ruhe berührte ihre bangende Seele wie Trost. „Gelt, nein?“ lispelte sie. „Gelt, Du hast ihn nicht gesehen?“
Scheu blickte Ruedlieb um sich und begann zu flüstern. „Durch den Seewald bin ich hergestiegen und hab’ gesungen in meiner Freud’, weil ich nur Dich wieder sehen soll. Denn weißt, in der letzten Nacht ... oder hat man’s am End’ bei Euch herunten gar nicht gespürt, wie die Erd’ gebidmet hat?“
Sie nickte nur und deckte die Hände vor die Augen; Grauen befiel sie bei der Erinnerung dessen, was sie gehört und erfahren in der verwichenen Nacht.
„Wie es gerumpelt hat und die Steinlahnen sind niedergegangen über alle Wänd’ ... schau’, Rötli, da hab’ ich in meiner Angst nur alleweil an Dich denken müssen und drum ist mir so leicht und freudig ums Herz ’worden, wie nach der schiechen Nacht ein so stiller und schöner Tag aufgestanden ist und der Vater mir hat sagen lassen, daß ich heim darf. Wie ich vom Seewald aus Euer Dach gesehen hab’, da hab’ ich singen müssen und meine Freud’ hinausschreien. Aber wie ich herkomm’ ans Ufer und schau’ zum Bidlieger hinaus ...“ Die Worte stockten ihm.
Lautlos die Lippen rührend, umklammerte Rötli seinen Arm.
„Ich hab’ gemeint vor Schreck, ich müßt’ tot umfallen auf der Stell’!“
„Gesehen hast ihn? Gesehen!“
„Aus dem Schilf ist er aufgestiegen, ein grauslicher Unhold, keinen Hals hat er und keinen Leib, nur einen endsgroßen runden Kopf, schier zehnmal größer als ein richtiger Mannskopf ... und gleich am Kopf hängen die schwarzen Füß’, und wo die Menschenleut’ die Ohren haben, hat er die Arm’, und keine Nas’ hat er im roten Gesicht, und Haar’ hat er auch nicht ... er muß geschuppet sein wie ein Fisch! Rötli, ich hab’ den Bid gesehen! Jetzt muß ich sterben!“
„All’ Ihr guten Mächt’! O all’ Ihr guten Mächt’!“ jammerte das Mädchen und rang die Hände.
Er blickte sie an, während die Zähren über seine Lippen kollerten. „Ich thät’ mich vor dem Sterben nicht fürchten ... aber schau’, ich hab’ Dich lieb!“
„Und ich Dich auch!“
Schluchzend umschlang sie ihn, schmiegte ihre Wange an die seine, und so saßen sie wortlos, und ihre Thränen flossen ineinander.
Als Ruedlieb einmal aufblickte und scheu hinausspähte über den See, faßte ihn neuer Schreck. „Rötli, thu’ nicht aufschauen!“ stammelte er und wollte die Hände über ihre Augen drücken. „Ich seh’ ihn wieder!“
Edelrot sprang auf und riß die Hände des Buben von ihrem Gesicht. „Hast Du ihn sehen müssen, so fürcht’ ich mich auch nimmer und schau’ ihn an!“
„Rötli! Rötli!“ jammerte Ruedlieb und suchte sie vom Lugaus hinwegzureißen. Aber Edelrots Blicke waren schon hinausgeglitten über den Seeweiher. Zwischen der Insel und dem waldigen Ufer unter der Falkenwand trieb eine große, runde, rotschillernde Kugel über die Flut, vergleichbar einem riesigen, halb in das Wasser versunkenen Kürbis ... es war der „Kopf“ des Bid. Weiße Wellen umschwankten ihn, manchmal tauchte etwas auf wie eine rote Floße, und dann spritzte ein Wasserstrahl in die Höhe, der in glitzernde Tropfen zerfiel. Im Röhricht des Ufers verschwand der Unhold. ... Schwer atmend stand das Mädchen und strich mit den zitternden Fingern über das blasse Gesicht.
„Rötli, was hast gethan!“ klagte der Bub in ratlosem Kummer. „Wär ’s nicht an mir genug gewesen? Jetzt hab’ ich Dich auch noch in den Tod gerissen!“
Da faßte Edelrot sein Gesicht mit beiden Händen und flüsterte in selig verlorenem Lächeln. „Ich hab’s ja so wollen! Thu’ Dich trösten, mein Liebgesell .... jetzt sterben wir miteinander!“ Mit verschlungenen Armen sanken sie auf die Bank, im ersten Kusse hingen ihre Lippen aneinander, und ihre Sinne gingen unter im süßen Vergessen junger Liebe.
Still und schimmernd lag der See, auf dem Dache gurrten die Tauben, hinter dem Hause klang der Schlag der Beile, und aus dem Walde herüber tönte wie eine Rätselstimme der Natur das Rauschen der Ache .... Rötli und Ruedlieb hörten nicht.
Hinter dem Hause kam Wicho hervor; er sah das Hagthor offen, schüttelte befremdet den Kopf und ging, das Thor zu schließen. Als er den Sperrbalken eingelegt hatte und wieder emporsteigen wollte über den Hügel, gewahrte er das Pärchen auf dem Lugaus. „Schau’ nur,“ sagte er lächelnd, „da ist heimlich ein Blümel aufgeblüht in aller Not!“ Ein dumpfes Dröhnen, das wie der Widerhall fernen Donners klang, machte ihn lauschen und aufblicken. „Ist denn noch alleweil keine Ruh’? Die ganzen Berg’ sind roglig[3]!“ murmelte er und spähte mit sorgenvollen Augen zur Höhe. Unter den höchsten Felswänden des Jennar sah er, winzig klein in der Ferne, eine Staubwolke aufsteigen. Eine Schuttlawine war niedergegangen, und wie ein tiefer stöhnender Seufzer der Natur lief das Echo über die Berge hin. War es ein verspäteter Nachklang der vergangenen Nacht? War es eine Mahnung an kommende Schrecken? Das Echo rollte .... Rötli und Ruedlieb hörten nicht. Sie merkten auch nicht, daß am Hagthor gerüttelt wurde und eine fremde Stimme rief: „In des lieben Himmels Namen: gebet Einlaß einem frommen Gottesmann!“ Sie blickten erst auf und lösten die Arme, als es lebendig wurde in der Hofreut. Sigenot kam mit den Sennen, mit Eigel und Kaganhart hinter dem Haus hervor und Hilmtrud erschien in der offenen Thür.
Als der Hag geöffnet wurde und Bruder Wampo den Fischer erkannte, breitete er in heller Freude die Arme. „Ich hab’ mir aber gleich gedacht, daß mir das liebe Kreuz da draußen ein guter Weiser sein wird!“ Sigenot mußte sich die mit einiger Schwierigkeit sich vollziehende Umarmung des Bruders und zwei schnalzende Küsse gefallen lassen. Dann setzte sich Wampos Zünglein in Bewegung. Das erste, was er zu berichten hatte, war das traurige Schicksal, welches die Ferchen und Hechte im Lokiteich gefunden.
„Wär’ das die einzige Not, die aus der heutigen Nacht gewachsen,“ meinte Sigenot, „wider die wär’ bald geholfen!“ Er führte den Bruder zum Haus und wollte schon hinter ihm in die Thüre treten, da sah er den Sohn des Richtmanns stehen, Hand in Hand mit Rötli. In Freude und zugleich mit Kummer betrachtete [295] er das Paar, denn er merkte wohl, wie es stand um diese jungen Herzen, und es währte lange, bis er fragen konte: „Ruedlieb, weiß Dein Vater, daß Du in meinem Hag weilest?“ Der Bub’ schüttelte den Köpf; sprechen konnte er nicht. „So muß ich Dich weisen aus meiner Hofreut,“ sagte der Fischer mit gepreßter Stimme. „Ich thu’ es ungern, denn ich hab’ Dich lieb, aber Dein Vater könnt’ mit Sorg’ und Unmut hören, wo Du gewesen bist.“
Rötli und Ruedlieb standen wie versteinert. Sigenot legte den Arm um die Schwester und reichte dem Knaben die Hand. „Ich mein’, das spüret Ihr alle beid’, daß ich Eurem Glück ein Haus bauen möcht’, lieber heut’ als morgen. Aber zwiespältige Zeit ist eingefallen, die dem Glück feind ist wie der Winter den Blumen. Fehd’ liegt über dem Gadem; ich steh’, wo ich stehen muß, und Dein Vater, Bub’, steht auf der anderen Seit’.“ Ruedlieb wollte sprechen, doch Sigenot streifte ihm die Lippen mit der Hand. „Thu’ keine Frag’ – ich hab’ schon geredet bis zu dem Fleckl, auf dem das Schweigen anfangt. Und sei gescheit, Liebli, geh’ heim! Denn schau’: der Bub’ muß stehen, wo der Vater steht. ... von aller Treu’ und Lieb’ die erst’, das muß die Treu’ für Haus und Blut sein!“. Sigenot atmete tief, und mit verlorenem Blick schweiften seine Augen über den See hinweg zur Höhe der Falkenwand. „Geh’ heim, Liebli, es kommt wieder gute Zeit .... Dir, mein’ ich, bleibt sie nicht aus. ... nachher wird wohl der Weg, der Deinem Herzen lieb ist, auch Deinem Vater taugen. Eine weiß ich, die wartet auf Dich! Gelt, Rötli?“ Zärtlich strich er mit der Hand über das Haar der Schwester, welche schluchzend das Gesicht an seiner Brust verbarg.
Unter stammelnden Lauten streckte der Bub’ die Hände; doch als der Fischer den wehrenden Arm zwischen ihn und die Schwester legte, wandte sich Ruedlieb und taumelte über den Hügel hinunter. Am Pfosten des Hagthors mußte er eine Stütze suchen. Und schluchzend schrie er: „Ich komm’ wieder, Rötli! Ich komm’, ich komm’!“
Da riß sich Edelrot aus ihres Bruders Armen, und die bleichen Wangen von Zähren überronnen, rief sie in heißem Schmerz: „Und kommst auch nimmer und nimmer, wir zwei, wir müssen uns finden, so bald der Mond wieder voll wird!“ Sie meinte die Nacht, in welcher Ruedliebs Leben und das ihre dem Bid verfallen war.
Hilmtrud, die auf der Hausbank saß und Ruedlieb scheiden sah, verschlang die Hände im Schoß und murmelte: „Not über Not! Schau’ einer hin, wo er mag ... überall brennt ein Haus, überall schreien die Leut’!“ Da setzte sich Kaganhart an ihre Seite. Scheu und Unruhe sprachen aus seinen Augen. „Was willst?“ fragte Hilmtrud.
„Laß Dir im Guten raten,“ flüsterte er, „und bleib’ dem Schwarzkittel aus der Näh’. Herr Waze ist wider die Klosterleut’. ... und wenn wir bauen wollen müssen wir alleweil wieder hinauf zu ihm und um Schlagrecht für das Bauholz bitten.“
Das Weib sprang auf, wilden Haß in den lodernden Augen. „Mann, das sag’ ich Dir: nicht ehnder wird der erste Baum zu unserem Haus geschlagen eh’ der da droben nicht den letzten Schnaufer thut!“ Sie trat ins Haus.
Der Bauer folgte ihr. „So ein Weib! Ist das ein Weib!“ murmelte er und strich mit der Hand über das Haar. „Ich mein’ schier, sie will mit dem da droben auch noch zanken und raufen!“
Nach einer Weile saßen sie alle in der Herdstube um den gedeckten Tisch; nur Mutter Mahtilt wollte das Mahl nicht teilen, und Rötli blieb bei der Mutter am Herd. Bruder Wampo hatte den Ehrenplatz eingenommen, und er sorgte dafür, daß die Suppe nicht kalt wurde wie auf dem Tisch im Ramsauer Pfarrhaus. Jeden Bissen würzte er mit Schnurren und Späßen, so daß sich manchmal helles Gelächter um den Tisch erhob und zuweilen sogar über Sigenots Lippen ein Lächeln huschte. Es schien, als hätte sich der drohende Schatten, der über den Köpfen dieser Menschen hing, für ein Stündlein in freundliche Helle verwandelt. Am lautesten unter allen lachte Kaganhart, und um gedoppelten Trost zu haben, griff er so mutig in die Schüssel, daß Bruder Wampo, den Entsetzten spielend, die Arme wie zum Schutz vor die anderen streckte und mit dem alten Sprichwort rief: „Habet acht! Ein Bayer frißt ... da werden wir all’ mitgefressen!“
Als das Mahl zu Ende war und die Männer die Herdstube verlassen wollten, stellte sich Bruder Wampo vor die Thüre. „Holla! Jetzt wird noch geblieben ein’ Weil’! Vor dem Mahl haben wir all’ im Hunger das Beten vergessen, das wird aber jetzt fein säuberlich nachgeholt! Wartet nur, Ihr Heidenschüppel, ich will Euch schon Christentum predigen. Draußen vor dem Hag wird der Herr aufgestellt und Euer Haus soll er hüten – gelt, das thät’ Euch schmecken? Aber beten und danken will keiner! Her da zum Tisch und nachgebetet, was ich vorsag’!“
Bruder Wampo faltete die Hände und sprach mit tönender Stimme das Gebet, Zeile um Zeile. Sigenot fiel als der erste ein, und da wurden auch die Stimmen der anderen laut. Nur Mutter Mahtilts stumme Lippen rührten sich nicht; den betenden Mönch mit finsterem Blicke streifend, legte sie ein dürres Kraut ins Feuer, und die verbrennende Staude füllte die Stube mit schwerem Duft. Sigenot gewahrte das Gebaren der Mutter, und seine Stimme wurde leiser. Nach dem Gebet verließen die Männer wortlos die Stube. Bruder Wampo wollte auf der sonnigen Hausbank die Mittagsruhe halten, doch Edelrot faßte ihn beim Kuttenärmel und zog ihn unter die Eichen. „Ich muß Dich ’was fragen, Gottesmann!“
Er sah den Ausdruck tiefen Kummers in ihrem lieblichen Gesicht und ließ sich erschrocken führen, wohin sie wollte. Im Schatten der Bäume hielt Rötli tiefatmend inne und sagte mit bebenden Stimmlein: „Es geht die Red’, Ihr wisset viel, Ihr Gottesleut’.“
„Freilich, Dirnlein, ein guter Gottesmann weiß alles.“
„So sag’ mir ... ist das wahr mit dem Bid?“
Bruder Wampo machte ein verdutztes Gesicht. „Mit wem? Mit was?“
„Mit dem Bid!“
„Bid, Bid? Den kenn’ ich nicht! Wer soll denn das sein?“
Scheu, mit stockenden Worten, erklärte Rötli dem Bruder, wer der Bid wäre, wo er hause und welches Schicksal aus seinem Anblick erwachse. Da schüttelte Wampo lachend den Kopf. „Papperlapapp, Dirnlein, das ist Narretei und schiecher Aberglauben! Einen solchen Kerl giebt’s nicht. Und das wird gleich bewiesen sein! Außer Menschen und Getier und außer den leblosen Dingen der Welt giebt’s nur zwei Sachen noch: das ist der liebe Gott mit seinen Engelein und Heiligen, die im Himmel wohnen, und das ist der Teufel mit seinen schwefligen Heerscharen, die in der Höll’ hausen. So schau’ ... da bleibt ja fürs Wasser nichts übrig als nur die liebe Gottesgab’ der Fisch’ und Krebse. Nein, Dirnlein, einen solchen Kerl giebt’s nicht! Sag’ nur: ich hab’s gesagt!“
„Wenn ihn aber doch einer schon gesehen hat, den Bid?“ kam es zitternd von den Lippen des Mädchens, in dessen Augen schon ein Fünklein von Hoffnung glomm.
„Gesehen? Ja wie soll er denn ausschauen?“
„Grauslich! Einen weltsgroßen roten Kopf hat er, mit glitzrigen Schuppen wie ein Ferch, keine Nas’ und keine Augen im Gesicht ... und wo die Leut’ die Ohren haben, da hat er lange Flossen!“
„Pfui Teufel, der schaut aber gut aus!“ lachte Bruder Wampo, dann aber stockte er und schien sich zu besinnen. „Freilich, freilich ... er weiß gar mancherlei Künst’, der schieche Feind, und diemal schreckt er die Menschen in grauslicher Gestalt! Da können die lieben Heiligen davon erzählen! Aber da muß man sich noch lang nicht fürchten, Dirnlein. Sei nur gut und fromm, so hat er keine Macht über Dich! Und wenn er Dir einmal erscheinen sollt’ ... ich wünsch’ Dir’s nicht ... aber nachher schlag’ nur gleich das Kreuzzeichen, thu’ Dein Stoßgebetlein und wirst sehen: weg ist er! Weg, wie fortgeblasen! Aber ein Geruch bleibt hinter ihm ... Du, da gehört eine gute Nas’ dazu!“
Mit beiden Händen umklammerte Rötli die Hand des Mönches und stammelte mit zuckenden Lippen: „Ach Du guter Gottesmann, schau’, ich thu’ Dich bitten; zeig’ mir’s doch, zeig’ mir’s, wie ich’s machen muß!“
„Wohl wohl, Dirnlein, komm nur und setz’ Dich her zu mir, komm nur!“
Sie saßen auf dem Lugaus in warmer Sonne, umgeben vom leisen Fall der welkenden Blätter. Als Bruder Wampo nach einem Stündlein Abschied nahm vom Fischerhause, geleitet von Wicho, der das schwere Lägel trug, da war aus Edelrot eine gute Christin geworden, freilich eine „gute Christin“ nach der Meinung Bruder Wampos. Sie hatte gezittert in Angst und [296] Not, und da war ihr der Glaube gar leicht geworden, der den lieben Gott im Himmel walten und daneben den Teufel bestehen ließ, bei starker Hilfe wider seine üblen Künste. Ein Stündlein hatte Bruder Wampo reden müssen, um die Angst aus diesem zitternden Kind zu lösen. Vielleicht wäre ihm diese Liebesmühe rascher und leichter gelungen, wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, zu erzählen: „Ich habe gebadet im See ...“ Da hätte wohl Rötli hellauf gelacht, und vielleicht hätte sie für kommende Zeiten die Lehre gewonnen, daß es um so manche Furcht des Lebens bestellt ist wie um den Bid des Ruedlieb: blick’ hin mit verwirrten Sinnen, und Schreck und Grauen erfaßt Dich ... blick’ hin mit klarem, sehendem Aug’ und die Posse macht Dich lachen!
Auf beschwerlichem Pfade wanderte Eberwein, von Mätzel geführt, durch dichtverwachsenen schattendunklen Fichtenwald. Sein Gesicht war bleich, seine Augen hingen mit verlorenem Blick an der Erde, und manchmal bewegten sich seine Lippen wie in raunendem Selbstgespräch. Er hörte das dumpfe Rauschen nicht, das ihm durch den Wald entgegenscholl, und blickte erst auf, als er den aus einem mächtigen Baumstamm gebildeten Steg erreichte, welcher die Schlucht der Windach überspannte. Ein eiskalter Luftstrom fuhr ihm entgegen und peitschte sein Gewand. Mätzel hatte den Steg betreten, dem eine morsche Stange als Geländer diente; mitten auf dem Balken blieb sie stehen und deutete in die Tiefe der Schlucht. Eberwein sah, daß ihre Lippen sich bewegten – sie schien ihm etwas sagen zu wollen – doch das Rauschen und Brausen, welches aus der Tiefe quoll, verschlang den Hall ihrer Stimme. Zögernd betrat Eberwein den Balken, welcher zitterte und schwankte wie ein Mühlbrett über den Mahlsteinen. Steil und wirr geklüftet, stürzten vor seinem Blick die Felsen niederwärts, Wasser rann und sickerte über alles Gestein, in mächtigen Fetzen, noch von Wurzeln durchflochten, hing die zerrissene Erde über alle Kanten der Felsen, auf allen Seiten bröckelte und kollerte das Erdreich. Gewaltige Felsblöcke hingen eingekeilt zwischen den Wänden der Schlucht, in deren grauem Zwielicht der weißschäumende Wildbach hauste wie ein gefesselter, in seinen Banden tobender Riese. Aus dem Brausen und Rauschen klang noch das dumpfe Poltern des Gesteins, welches der Bach auf seinem Grund wälzte und zerrieb, und bis zur Höhe des Steges sprühte der kalte Wasserstaub, an Eberweins Antlitz hauchend wie der eisige Atem der Vernichtung.
Wieder deutete Mätzel unter kreischenden Worten in die Tiefe. So laut die Magd auch schrie – Eberwein verstand sie nicht. Und dennoch schien er zu wissen, was sie sagen wollte. Seine Hände griffen nach dem schwankenden Geländer, als befiele ein Grauen seine Sinne, und aus gepreßtem Herzen schrie er auf: „Aus den Schrecken dieser Tiefe, aus diesem Höllenrachen hat ihn Gott gehoben mit barmherziger Hand! Und ich soll ihn stürzen in Jammer, der noch tiefer ist und grauenvoller? Was Eid und Pflicht mir gebieten ... ist es nicht wider Gott?“ Als könnte er den Anblick der finsteren Tiefe nicht länger ertragen, so legte er die eine Hand über die Augen und mit der anderen am Geländer sich weitertastend, verließ er den Steg.
Erschrocken, mit glotzenden Blicken, starrte die Magd ihn an; und kaum vermochte sie ihm zu folgen, so hastig eilte er auf dem steinigen Pfad dahin. In jedem Zug seines Gesichtes spiegelte sich der Kampf, der seine Seele stürmisch erfüllte. Geschah es doch zum erstenmal, daß sein Herz in schreienden Widerspruch geriet mit den Gesetzen der Kirche, deren treuester Sohn er allezeit gewesen. Zwiespalt war jeder Gedanke, den er dachte, Pein und Marter jede Regung, die er empfand. Wie sollte er sich lösen aus diesem Streit? Wie sollte er das Rechte finden? Waren diese beiden Menschen, Mann und Weib, ihm nicht entgegengetreten – zwei Körper und doch eine Seele nur, und diese Seele rein und fromm, gläubig und liebreich, ein Wohlgefallen für Gottes Augen? Wie zwei treue Gärtner des Himmels waren sie Hand in Hand durch ein langes Leben gewandert, und kein Tag war ihnen vergangen, an dem sie nicht den Samen des Guten ausgestreut, nicht ein Flecklein steinigen Grundes gewandelt hatten in fruchtbares Erdreich! Welch’ eine Ehe ward im Himmel geschlossen, wenn nicht diese? Mußte ihm diese Ehe nicht erscheinen wie die lautere Erfüllung aller edelsten Bestimmung menschlichen Lebens, mehr noch: wie reiner Gottesdienst? ... Aber sein Eid! Seine Pflicht! Wie Glut aus der Asche bricht, so tauchte immer wieder, wenn seine Gedanken ruhiger wurden, diese brennende Mahnung in ihm auf. Streng und unerbittlich lautete das Gesetz der Kirche, das er beschworen bei seiner Weihe und zum andernmal bei seinem Auszug nach dem Land, in welchem er walten und richten sollte als Kirchenfürst. Daß jene Ehe rein war, fromm und heilig, daß diese beiden Menschen nach einem fast schon vollendeten Leben nicht mehr zu zählen waren als Mann und Weib, nur noch als Bruder und Schwester im weißen Haar – solche Ausnahme kannte das Gesetz nicht. Streng und ehern klangen seine Worte: jeder beweibte Priester ist verlustig seines Amts und seiner Pfründe; jeder beweibte Priester, der die Sakramente verwaltet, jeder Laie, der aus eines solchen Priesters Hand das Sakrament empfängt, verfällt dem Bann und ewiger Verdammnis!
„Das Gesetz ist wider mein Herz! Wie soll ich wählen? Wer weiset mich?“
Da ging der Wald zu Ende, und vor Eberweins verstörten Blicken lag hügeliges Weideland, eine Halde der Schönau. Von der Höhe eines Hügels tönte eine freundlich klingende Stimme: ein junger Hirte lockte seine Schafe, er griff in die Ledertasche und bot den Tieren, die ihn umdrängten, mit vollen Händen das Mied. Der Hirt verschwand mit seiner kleinen Herde ... für Eberweins Augen aber war der Hügel nicht leer. Vor seinen Blicken stieg es auf wie ein Gesicht: die dunklen Wogen der Wälder erschienen ihm wie ein weitgedehntes Meer, der niedere Hügel verwandelte sich in ragenden Berg, Tausende von Männern, Weibern und Kindern waren auf dem Hang gelagert, und auf der Höhe des Berges sah er den „Mildesten der Menschen“ stehen, im Kreise seiner Jünger, umflossen von einem Schimmer der Verklärung, und weithin klangen mit sanfter glockenweicher Stimme die Worte der Bergpredigt: „Ich sage Euch, wenn Eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet Ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Wie Erleuchtung drang die Mahnung dieser Worte in Eberweins Seele; er atmete tief und strich mit der Hand über die Augen. Und lächelnd, erlöst von allem Sturm seines Herzens, blickte er hinaus in das sonnige Thal. Rings um seine Füße standen die Heideblumen noch in später Blüte, und das silberige Laub einer einsamen Birke flüsterte im leisen Wind. Vom Stamm des Baumes löste Eberwein ein Stück der Rinde und ritzte auf das weiße Blatt mit spitzigem Stein die Worte: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden!“
Er pflückte von den Blumen, wickelte das Birkenblatt um das Sträußlein und band es fest mit langer Schmehle. Mätzel sah zu mit aufgerissenen Augen. Er reichte ihr die Blumen und sagte: „Bringe sie Deiner guten Herrin und sag’ ihr, daß ich mit Sehnsncht der Stunde harre, in der ich wieder weilen darf an ihrem freundlichen Herd. Ich komme, wenn die Woche vergangen ist ... nein, gute Mätzel, sage nur: morgen, schon morgen!“
Die Magd verstand nur halb, eines aber fühlte sie: es war gute Botschaft, welche sie tragen durfte. Röte und Blässe wechselten auf ihrem häßlichen Gesicht, das Wasser schoß ihr in die Augen, mit zuckender Hand, wie ein Falk seine Beute greift, haschte sie das Sträußlein und rannte davon. Eberwein blickte ihr lächelnd nach, bis sie im Wald verschwunden war. Dann wanderte er über die Halden und erreichte auf bewaldetem Hügel einen halb zerfallenen Hag. Er sah das offene Thor – und es wurde nicht geschlossen, als er sich näherte. Erschrocken aber verhielt er den Fuß, da er die traurige Verwüstung gewahrte, welche der morsche Hag umschloß: die Reste der niedergebrannten Scheune, die Trümmer des gestürzten Hauses und den von Unkraut überwucherten Garten. Im spärlichen Schatten eines Apfelbaumes sah er einen schlafenden Greis auf der Erde liegen, das Gesicht in die Arme vergraben; er wollte nähertreten, doch der üble Geruch, der den Hofraum erfüllte, benahm ihm fast den Atem. Ein sumsender Fliegenschwarm lenkte seine Blicke auf die halbverweste Ziege, deren Aasgeruch die Luft verpestete. Unter dem Gerümpel, welches im Unkraut umherlag, gewahrte er einen Spaten. Er hob ihn auf, schritt an dem schlafenden Greis vorüber, und seinen Ekel überwindend, schaufelte er in einem Winkel der Hofreut eine Grube und versenkte den Leichnam des Tieres. Während er die Grube wieder mit Erde füllte, erschien ein Dirnlein von etwa [298] neun Jahren im offenen Thor; das Kind hatte verweinte Augen, und zögernd schlich es zum Apfelbaum. „Gobl-Ähni!“ Das lispelnde Stimmlein weckte den Schläfer nicht. „Gobl-Ähni!“ Schüchtern griff das Kind nach der Lodenkotze des Schlummernden und zupfte. Da erwachte der Greis, halb richtete er sich auf und hob die müden Augen. „Was willst?“
„Ich such’ den Huzebuben!“ stotterte das Dirnlein unter rinnenden Zähren. „Hast ihn nicht gesehen?“
„Was geht mich der Bub’ an!“ murrte der Alte. „Lauf’ hinauf in Wazemanns Haus und frag’! Laß mich schlafen ... und schau’, daß Du weiter kommst!“ Er streckte sich wieder hin.
Eine Weile noch stand das Kind, stumm und zitternd, dann verließ es schluchzend die Hofreut. Seufzend drehte sich der Greis auf die Seite. Da hörte er Schritte hinter dem Baum, blickte auf und gewahrte den Mönch. Weder Neugier noch Staunen sprach aus seinem Blick, nur ein mattes Lächeln ging über seine Lippen.
„Dein Haar ist weiß, und bei dem Alter sollte die Milde wohnen,“ sagte Eberwein, „aber Dein Herz ist hart. Du hast übel geredet mit diesem Kind. Fürchtest Du nicht, daß Dich einer straft, der die Thränen der Kinder zählt?“
„Fürchten?“ lächelte Gobl. „Es giebt keinen, den ich fürcht’ ... nur einen noch, auf den ich wart’! Zu mir kommt er heut’ oder morgen, zu Dir ein andermal. Zu allen kommt er, denn alle hat er lieb wie der gute Hirt seine Geißen ... laß sie nur laufen, wohin sie mögen, einer jeden steigt er nach, einer jeden bringt er das Mied zum guten Heimweg in den kühlen Stall!“
In tiefer Bewegung beugte Eberwein das Knie und faßte die Hand des Greises. „Du rufst den Tod ... ich aber will Dich zu Jenem führen, der das Leben ist.“
Da lachte Gobl. „Den kenn’ ich nicht! Und wüßt’ ich auch, wo er hauset ... ich thät’ keinen Schritt nach ihm. Das Leben noch suchen, wo ich doch wart’ auf das Stündl, das mich erlöst von ihm!“
„Mensch, wie redest Du? Glimmt in Deinem Herzen kein Funke der Liebe mehr? Denkst Du nicht Deiner Kinder?“
Mit starrem Blick hafteten die halb erloschenen Augen des Greises auf Eberwein. „Schau’ mein Haus an, dort liegt’s! Such’ meine Kinder ... wo die liegen, weiß ich nicht. Drei Buben hab’ ich gehabt, gewachsen wie Bäum’ – den einen hat die Lahn geschlungen, den anderen haben die Wölf’ gefressen, und den letzten hat der Teufel geholt, der Wazemann heißt! Eine Dirn’ hab’ ich gehabt, lichtscheinig und gut“ ... Gobl ballte die Fäuste, und seine Stimme wurde zum Keuchen „frag’ beim Henning an, wo meine Heilka geblieben ist! Zur Windach ist sie gelaufen ... heimgekommen aber ist sie nimmer, und nur Hennings Bub’ ist noch übrig von ihr.“ Zitternd an allen Gliedern hob der Greis sich auf die Füße. „Wo haust er denn der Deinig’, der das Leben ist? Sell oder sell?“ Er deutete mit zuckenden Armen. „Sag’ mir’s, daß ich’s weiß – oder ich könnt’ am End’ den Weg verfehlen, den ich such’, den Weg nach der anderen Seit’!“
In die Stille, welche diesen Worten folgte, klang vom Hagthor her das Schluchzen des Kindes. Eberwein stand auf und ging dem Greise nach bis zu den Trümmern des Hauses. „Schwere Not hast Du erfahren, Unheil und Unrecht sind über Dein Herz gefallen wie die Wölfe über das Lamm. Und ich sage Dir doch ...“
Da fiel ihm Gobl ins Wort: „Hörst denn nicht: sell draußen weint das Kind! Mein Herz wär’ hart? Hast recht! Aber das Deinig’ ist härter noch. Mich laß in Ruh’, mir hilft keiner mehr als der einzig’, auf den ich wart’. Aber dem Kind da draußen kannst ein Wort sagen, das einen Trost hat. So thu’s doch! Ich mein’, das wär’ gescheiter, als daß Du mich um den Schlaf bringst, in dem ich ein leichteres Warten hab’!“ Der Greis wandte sich ab, zog aus dem Wust der Trümmer ein zerschmettertes Stücklein Hausrat hervor, betrachtete es von allen Seiten und ließ es wieder fallen.
Eberwein stand in schwerem Kampfe. Heißes Erbarmen hielt ihn fest an der Seite des Greises, und tiefes Mitleid trieb ihn zu dem Kinde. Wer war der Hilfe bedürftiger? Dieser sinkende Stamm oder jenes zitternde Stäudlein, dem der erste Schmerz an die Wurzel seines jungen Lebens rührte? Mit feuchten Augen blickte er dem Greise nach, der ihm den Rücken kehrte, unter dem Apfelbaum sich niederstreckte in das Kraut und das Gesicht in den Armen barg. „Schlafe nur! Einer wird kommen und wird Dich wecken! Noch lebst Du, und wie die Schmerzen des Lebens nimmer enden, so enden auch nimmer seine Freuden. Ich seh’ es kommen, daß Du den Tod, den Du so heiß gerufen, mit Stammeln und Zähren bitten wirst: warte noch ein Weilchen, laß mir nur dieses letzte Stündlein noch! Dann wirst Du Jenen suchen, der das Leben ist!“
Der alte Gobl lachte, ohne das Gesicht zu heben; aber sein Lachen klang, als wär’ es Schluchzen.
Eberwein hatte nicht weit zu gehen; nah vor dem Hagthor, im Schatten eines welkenden Dornstrauchs, fand er das weinende Kind. Er setzte sich an die Seite des Dirnleins und umschlang es mit den Armen. Das Kind hob die nassen Augen, starrte erschrocken auf den fremden Mann im schwarzen Kleid, dann ließ es das Köpflein wieder sinken und weinte noch lauter.
„Sag’ mir, Kindlein, warum weinst Du?“
„Um meinen Huzebuben muß ich weinen.“
„Wer ist denn Dein Huzebub’?“
„Ach, so ein lieber guter Bub’! Meinem Vater hat er die Geißen gehütet hinter dem Eismann droben. Und all’ Woch’ hab’ ich mich gefreut, bis er heimgekommen ist. Blümlein hat er mir alleweil gebracht und die schönsten Farbstein’, rot und grün und gelb ... und auf den Abend alleweil ist er bei mir gesessen und hat mir Liedlein gesungen und hat gehäuselt mit mir ...“ Die Worte des Kindes erstickten in bitterlichem Schluchzen.
Eberwein hob das Dirnlein auf seinen Schoß und stellte Frage um Frage. Als er hörte, welch’ einer grausamen Strafe der arme Bub’ verfallen war, stieg ihm dunkle Röte in die Stirn. Das Kind zur Erde stellend, sprang er auf, und seine blitzenden Augen suchten in der Ferne den Falkenstein. „Herr Waze,“ rief er und hob die Faust, „das soll Deiner Sünden Abend sein!“ Und zu dem Kinde sich wendend, sagte er: „Ich löse Deinen Spielgesellen und kehre nicht heim aus Wazemanns Haus, ohne daß ich an meiner Hand den Knaben führe.“ Unter Zähren starrte das Kind zu ihm auf; es verstand den Sinn seiner Worte nicht und hörte nur seinen Zorn, vor dem es erschrak. Da beugte sich Eberwein nieder, streichelte dem Kinde das Haar und flüsterte: „Mußt nimmer weinen, Dirnlein, ich bring’ Dir Deinen Huzebuben.“
Es ging wie Sonnenschein über das Gesicht des Kindes. „Aber gelt, recht bald? Und thu’ ihn nur gleich grüßen von mir!“
„Ja, mein Dirnlein, das will ich nicht vergessen.“
Eberwein küßte das Kind, dann faßte er seinen Stab und wanderte seewärts. Als nach einer Weile der Pfad sich teilte und Eberwein zögernd stehen blieb, klang hinter ihm ein dünnes Stimmleine „Sell hin geht’s, Herre, sell hin!“ Das Kind war ihm nachgelaufen und wies ihm nun den Weg. Eberwein ließ das Dirnlein zu sich herankommen und redete ihm zu, nach Hause zu gehen, das Kind nickte wohl und blieb zurück, doch es währte nicht lange, so hörte er hinter sich schon wieder die trippelnden Schrittlein; wenn er sich umblickte, blieb das Dirnlein stehen – schritt er weiter, so lief es hinter ihm her. Als er die Achenbrücke erreichte und wieder die Augen wandte, sah er das Kind nicht mehr.
Auf dem Reitweg kam einer von Wazemanns Knechten herabgestiegen; die Erinnerung an Bruder Wampo machte ihn lachen, als er den Mönch gewahrte; aber das Lachen verging ihm, da er in Eberweins Augen sah. An der Kleidung erkannte Eberwein den Troßknecht. „Führt dieser Weg zu Deines Herren Haus?“
„Wohl wohl!“ sagte der Knecht und griff mit zögernder Hand nach der Kappe. Scheu blickte er dem Mönche nach und that, als Eberwein zwischen den Bäumen verschwand, einen leisen Pfiff vor sich hin. Hastig verließ er den Reitweg, rannte quer durch den Wald, dem nahen Felsenpfad entgegen und sprang über die steilen Stufen empor. Mit der Faust schlug er an das Pförtlein. Als ihm aufgethan wurde, fragte er keuchend: „Wo ist der Herr?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, rannte er über den Hof, an dem Gesind’ vorüber, welches mit dem erlegten Wild beschäftigt war, das Herr Waze und seine Buben von glücklicher Jagd nach Hause gebracht. „Herr, Herr!“ schrie der Knecht, noch auf der Freitreppe, und stolperte über die Schwelle.
[309] Ulla und zwei Dirnen deckten in der Stube den Tisch, und Herr Waze saß auf seinem Spanbett, als der Knecht hereinstürzte. „Herr, Herr!“ rief dieser atemlos.
„Was schreist Du denn wie ein Jochgeier! Halt Dein Maul!“
„Einer kommt, einer von den Kuttenleuten,“ keuchte der Knecht, „und es muß der Oeberste von ihnen sein, denn er hat mich angeschaut mit Herrenaugen. Der bringt nichts Gutes!“
Herr Waze wurde blaß und rot. „Hol’ ihn der Teufel!“ stotterte er und sprang zornig auf. „Das hab’ ich jetzt von dem heillosen Unsinn, den Ihr getrieben heut’ am Morgen!“ Er hob die Faust, doch er schlug nicht. „Das Kreuz, das Kreuz – wo ist das Kreuz, das über Frau Frideruns Bett gehangen?“
„Ich weiß nicht,“ stammelte der Knecht.
„Keiner hat’s haben mögen,“ sagte die alte Magd mit scheuen Worten, „so hab’ ich’s in meine Kammer gehängt.“
„Her in die Stub’ damit!“ kreischte Herr Waze, „neben dem Ofen muß es hängen … da sieht er es gleich!“ Die Mägde eilten aus der Stube. „Und Du, hinaus in die Kammer! Die Buben sollen Ruh’ halten und keiner soll sich blicken lassen. eh’ ich nicht selber nach ihnen ruf’!“ Der Knecht rannte davon.
Mit beiden Händen griff sich Herr Waze an den Kopf, alles wirbelte in ihm. „Wär’ nur Rimiger schon daheim von der Salzaburg, so wüßt’ ich doch, wie ich dran bin!“ Da hörte er das Knarren der Fallbrücke, und im Zwinger schlugen die Hunde an; nur kurz, dann verstummten sie wieder. Herr Waze stand, wie befallen von abergläubischem Schreck. „Die Hund’ schweigen? Als käm’ einer, der zum Haus gehört, oder einer, den sie fürchten?“ so lallte er vor sich hin. „Fürchten? Fürchten? Wen soll ich denn fürchten, in meinem Haus, mitten unter meinen Knechten?“ Er wollte lachen, doch das Lachen gelang ihm nicht. Seine Augen starrten ins Leere, und er drückte die Hände über die Ohren, denn ihm war, als klänge von irgendwo eine gellende Weiberstimme: „Hab’ nur acht, Du, hab’ nur acht! Einer wird noch kommen über Dich … der soll vergelten was Du an mir gethan!“
Herr Waze schüttelte den Kopf und wehrte mit der Hand; aber das Bild, das aus vergangenen Zeiten vor ihm aufgestiegen, wollte nimmer weichen. Ihm war, als stünde er im Hof, lachend, im vollen Haar noch und schwarz gebartet … und vor ihm die Salmued, mit gefesselten Händen, Verzweiflung in den Augen und Schaum auf den verzerrten Lippen, welche schrien „Hab’ nur acht! Einer wird noch kommen über Dich … der soll vergelten was Du an mir gethan!“ „Wirf sie auf [310] Deinen Karren!“ rief Herr Waze dem fahrenden Händler zu. „Hundert Denar’ hast Du genommen; einen für jede Wegstund’, die Du legen sollst zwischen mich und die Narrendirn’! Fort mit ihr!“ Der Händler und die Knechte griffen zu; mit der Kraft der Verzweiflung wehrte sich die Gefesselte, und ihr gellendes Geschrei erfüllte den Hof: „Eigel, Eigel! Hilf, mein Bub’! Hilf mir doch! Hilf’! Hilf’!“ „Gebt ihr den Knebel!“ rief Herr Waze; da streiften seine Augen das offene Thor, und Röte und Blässe stiegen über sein Gesicht. Unter dem Thor stand Frau Friderun, mit ihren beiden Knaben, dem vierjährige Henning und dem dreijährigen Sindel. Früher, als Herr Waze erwartet hatte, war sie heimgekehrt aus dem Fischerhaus, in welchem sie mit der jungen Frau Mahtilt, dem Weib des Gelfrat, zu plaudern liebte. Ihr Antlitz wurde fahl und ihre Augen erweiterten sich, als sie das gefesselte Mädchen sah; ein paar wankende Schritte that sie, dann blieb sie stehen, ein steinernes Bild, die Gesichter der Knaben in ihren Schoß drückend, die starren Blicke auf ihren Mann gerichtet, der mit geballten Fäusten dastand, an der Lippe nagend und mit der Ferse trommelnd. Es klirrte vor ihren Füßen ... unter der wilden Kraft, mit welcher die Gefesselte sich wehrte und im Ringen alle Muskeln spannte, war der beinerne Reif zersprungen, den sie am nackten Arm getragen; wie eine Klammer haftete die eine Hälfte noch an den geschwellten Muskeln, die andere Hälfte war klirrend über die Steine gehüpft, bis vor die Füße des bleichen Weibes. Der kleine Henning hob das Bein von der Erde, doch seine Mutter riß es ihm aus der Hand. Und die Stimme der Salmued gellte: „Halt’ es fest oder nicht ... es soll nimmer lassen von Dir! Hör’ meinen Fluch ...“ Der Knebel erstickte ihre Stimme. Frau Friderun ging auf ihren Gatten zu, sie sprach kein Wort, sie hielt ihm nur das zersprungene Bein vor die Augen, dann barg sie das böse Erbe der Salmued an ihrer Brust, faßte die Hände der Knaben und schritt ins Haus. Mit funkelnden Blicken sah Herr Waze dem Weibe nach. „Macht ein Ende!“ schrie er den Knechten zu und stampfte mit dem Fuß. Als die Gefesselte auf den Karren gehoben wurde, schossen ihre Augen noch einen Blick, bei dessen stummer Sprache Herr Waze ein kaltes Grauen empfand. Er atmete auf, als der Händler mit der Peitsche auf seine Mähre losschlug und der Karren, den vier Knechte geleiteten, sich in Bewegung setzte. Knarrend hob sich die Fallbrücke und schloß das Thor ...
Das Bild der Vergangenheit zerrann vor Wazemanns Augen im Nebel. „Narretei, Narretei!“ lallte er und fuhr mit den Fäusten über die Augen. „Soll ein Weiberfluch mich schrecken?“ Und wieder sah er ein Bild: eine steile Felswand über dem See, und der Wand zu Füßen auf blutigem Geröll, lag Frau Friderun mit zerschmettertem Haupt, die Augen noch offen im Tod ...
Und als flösse ihm das eine Bild in das andere, so hörte er wieder das Knarren der Fallbrücke. Aber nein, er hörte ihr Aechzen wirklich und wahrhaftig. Es schloß sich die Brücke nicht hinter dem Karren, der die Salmued davonführte, sie hob sich hinter Eberwein, der den Hof betreten hatte. Herr Waze lauschte. Aus dem stillen Hof herauf klang eine hallende Stimme: „Führt mich zu Eurem Herrn!“
Da faßte er mit beiden Fäusten die eigene Brust, als müßte er seine taumelnden Sinne aufrütteln zu wachem Leben. Er ging zum Tisch, auf welchem schon die Metkrüge standen, und that einen langen Trunk. „So, jetzt komm nur!“ murmelte er, richtete sich lächelnd auf und schritt hinaus in die Halle. Noch eh’ er die Freitreppe erreichte, klangen Hammerschläge hinter ihm in der Stube. Der Knecht nagelte das Kreuz, welches Ulla gebracht hatte, neben dem Ofen an die weiß getünchte Wand.
In Wazemanns Hof waren die Knechte und Mägde zusammengelaufen, aber sie lachten und schrien nicht wie am Morgen bei Bruder Wampos Ankunft; flüsternd standen sie, mit scheuen Augen aufblickend zu der hohen stolzen Gestalt des Mönches; durch ihre Gasse schritt Eberwein, von einem der Knechte geführt, zur Freitreppe. Noch hatte er die Stufen nicht erreicht, als Herr Waze in der Halle erschien. Wie in Ueberraschung und freudigem Staunen breitete er die Arme und rief: „Täuschen mich meine Augen oder seh’ ich recht? Ein Gottesmann!“ Er humpelte über die Treppe herab, als läge ihm das Alter schwer in den Knien. „Seid mir gegrüßt, frommer Vater, gegrüßt in meinem Haus! Es hat in der Nacht die Erd’ gebidmet, und Unheil hat mir geschwant, aber schau’: da kehret die Gottesfreud’ ein unter meinem Dach!“ Er machte Miene, seinem Gaste um den Hals zu fallen, doch aus Eberweins Augen traf ihn ein flammender Blick. Herr Waze stutzte. Wo hatte er nur diese Augen schon gesehen? Diesen Blick? Wo nur, wo? Schnell wie ein huschender Wolkenschatten flog diese Frage durch seine Sinne. Aber seine süßlichen Worte stockten nicht. „Es hat die Erd’ gebidmet, und der große Lärm hat große Freud’ verkündet! Kommt, frommer Vater, kommt! Zu guter Stunde seid Ihr eingekehrt, es steht die Tafel gedeckt, als hätt’ sie Euch erwartet .... kommt nur, kommt und streckt den geweihten Fuß unter meinen schlechten Tisch!“
Herr Waze wollte die Hand des Mönches fassen; doch Eberwein streckte den Stab zwischen ihn und sich, und seine Stimme klang wie Hammerschlag: „Ich komme nicht zum Mahl, nicht Drank und Speise such’ ich in Deinem Haus! Knecht Waze, ich komme, um mit Dir zu rechten als Dein Herr!“
Dunkle Röte schoß über Wazes Gesicht. „Du? Mein Herr?“ fuhr es ihm über die Lippen, dann verstummte er wieder, er hatte seine Maske verloren und suchte mühsam seine Fassung zu gewinnen. Da sah er die Knechte und Mägde stehen. „Was gafft Ihr?“ Das Gesinde stob auseinander wie ein Hühnerschwarm, in den der Fuchs gefahren. Der Hof war leer und still – nur im Zwinger winselten die Hunde und im Stangenkäfig trabten die gefangenen Raubtiere hinter dem Gitter auf und nieder. Herr Waze wandte sich mit gekränkter Miene zu Eberwein: „Frommer Vater, Ihr bietet mir üblen Gruß!“
„Den Gruß, den Du geworben von Deinem Herrn! Denn gewaltet hast Du in meinem Lande als ein schlechter Knecht.“
„Ein schlechter Knecht!“ Herr Waze nickte und lächelte. „Schlecht und niedrig, niedrig vor Euch! Ich hab’ es ja gleich aus Eurem Aug’ gelesen, daß Ihr es sein müßt, dem der Gadem in die Herrenhand gelegt ist. So müßt Ihr Eberwein heißen, denn Euer Nam’ ist hergegangen vor Euch wie Rauch vor dem Feuer. Und keinem Besseren, so hat es geheißen, keinem Besseren könnt’ das Ländlein übergeben sein, das Frau Adelheid .. selig mag sie ruhen im Himmel! ... zu frommer Stiftung an die Kirch’ gegeben. So grüß’ ich Euch, der Knecht den Herrn!“ Das war so bieder gesprochen und klang so ehrlich, daß Eberwein um sich blickte, als müßte er sich überzeugen, ob er auch wirklich in dem Hause sich befände, das er im Zorne gesucht. Doch als Herr Waze das Knie vor ihm beugte und nach dem Aermel der Kutte griff, um ihn zu küssen, trat Eberwein mit gefurchter Stirn zurück. „Ich höre Dich blöken wie ein Lamm und weiß doch: Du bist der Wolf! Rühre nicht an den Saum meines Kleides! Nach Deinem Gruße verlangt mich nicht. Du warst nicht eilig, ihn zu bieten. Eine Woche schon weil’ ich in meinem Land, Du hörtest die Botschaft, daß ich gekommen, aber Dein übles Gewissen hat mein Auge gemieden.“
„Frommer Vater, Herr – was denket Ihr von mir!“ Herr Waze schien von diesem Vorwurf tief getroffen in seinem schuldlosen Herzen. Wie ein Bächlein sprudelte ihm die Rede von den Lippen. Mit heller Freude hätte er die Botschaft begrüßt, welche Recka, sein „gutes Kind“, ihm gebracht; er hätte ein Mahl gerüstet und gewartet auf die willkommenen Gäste. Und als sie zu seinem Staunen nicht erschienen wären, hätte er Tag um Tag mit Söhnen und Knechten das Thal durchsucht. „Umsonst! Ich hab’ Euch nicht gefunden und hab’ schon gefürchtet, Ihr hättet wieder das Land verlassen. Das wär’ mir leid gewesen, denn ich sag’ Euch, frommer Vater, wir brauchen Euch im Thal wie das liebe Brot. Die Leut’ im Gadem sind dicke Heidenschädel ... es wird eine Weil’ wohl dauern, bis Euer frommes Wort offene Ohren findet und Euer Fuß auch überall ein offenes Thor.“
Eberwein streifte mit der Hand über die Stirne, und seine Augen blickten in das ferne Thal, diese letzten Worte hatte Herr Waze gut gewählt: sie weckten in Eberwein die Erinnerung dessen, was er beim Auszug am Morgen hatte erleben müssen. Und hatte die Glocke nicht Tag für Tag umsonst geklungen?
Mit scharfem Aug’ erspähte Herr Waze den verwandelten Ausdruck in Eberweins Zügen, und er benutzte diese Stimmung, um seinen Gast unter freundlichen Worten, welche Eberwein kaum hörte, über die Freitreppe emporzuführen. In der Halle erwachte Eberwein wie aus einem Traum; dunkle Röte floß über sein Gesicht, und seine Stimme bebte. „Ich will die Wahrheit nicht suchen [311] in Deinen Worten. Magst Du ehrlich reden oder nicht ... ich kam nicht, um Deine Gesinnung wider mich zu erkunden. Sei mir Feind – es soll mich nicht betrüben und ich will Dich nicht büßen darum, denn es ist die Art des Wolfes, daß er wider den Hirten steht. Mich hat anderes zu Dir geführt!“ Seine Stimme wurde fest und seine Augen brannten. „Seit ich mein Land betreten, hab’ ich keinen Schritt gethan, ohne Blut zu finden, das Du vergossen, ohne auf die Asche eines Lebens zu stoßen, das Du vernichtet, ohne Thränen fließen zu sehen, die Du erpreßt! Waze! Wie hast Du gewaltet in diesem Land!“
Ich, ich? Ja hör’ ich denn recht?“ Herr Waze schlug erschrocken die Hände über dem Kopf zusammen. „Und Ihr, frommer Vater, Ihr glaubet von mir ...“ Er faßte Eberweins Arm. „Aber tretet doch in die Stub’, ich bitt’ Euch! Wie mögt Ihr so böse Wort’ wider mich rufen unter freiem Himmel, vor meinem lauschenden Gesind’!“
Eberwein löste den Arm. „Mag das Gesinde lauschen, es hört aus meinem Munde nichts Neues. Was Du gethan, ist ausgeschrieen zwischen allen Bergen!“
„Nein, nein, frommer Vater, man muß mich verlästert haben bei Euch! Und ich mag mir auch denken, wer es gethan: der Fischer! Glaubet ihm nicht, er ist mir feind und widersässig ...“
„Nein, Waze! Kein Wort der Klage kam über Sigenots Lippen. Wider Dich schreien die Steine!“
„Ja was denn, was? So redet doch, frommer Vater! Bei Eurem mächtigen Heiligen, der mich schützen und gnaden mög’ ... ich bin mir keiner Schuld bewußt. Sollt’ ich aber wider Wissen gefehlt haben, so redet ... ich will ja mein Unrecht einsehen und will es zum Guten wenden!“
„Zum Guten wenden? Kannst Du Tote wieder lebendig machen, vergossenes Blut zurückgießen in die leeren Pulse? Verzweiflung in Freude wandeln und Schmach in Ehre? Aber bei meinem Gott, der gerecht ist und Deine Thaten sah, Du wirst der Strafe nicht entgehen! Waze, Waze, mich faßt Erbarmen, wenn ich denke, wie Du stehen wirst vor dem ewigen Richter! Noch aber lebst Du, und ich komme, Dein Herr, und sage Dir: jeden Halm sollst Du mir wieder aufrichten, den Deine Faust nur gebeugt hat, noch nicht gebrochen! Gieb mir den armen Knaben heraus, den Du grausam gebüßt um geringe Schuld!“
Mit scheuen Augen hatte Herr Waze zu dem flammenden Antlitz des Mönches aufgeblickt; jetzt lief eine dünne Röte über seine zerstörten Züge, und staunend fragte er: „ Welchen Knaben?“ Er lachte. „Ihr meint doch nicht den Huze, frommer Vater, den Geißhirt?“
„Gieb mir den Knaben!“
„Ja wie soll ich ihn denn geben? Der Bub’ ist lang schon wieder über alle Berg’. Gegen mein Gebot ist er eingestiegen in meinen Bannberg, so hab’ ich ihn – es muß doch Ordnung sein – zur Straf’ eine Nacht ins Loch gesteckt und hab’ ihn am andern Morgen wieder laufen lassen. Er ist gesprungen wie ein Gemskitz. Und deshalb kommt Ihr, frommer Vater, und ...“
„Der Knabe ist nicht heimgekehrt.“
„Nicht heimgekehrt?“ Herr Waze machte verblüffte Augen. „So wird er wohl auf dem Berg bei seinen Geißen sein! Wo sonst? Nein, die Leut’, die Leut’ – wie die Leut’ nur reden! Aber ich kenn’ sie! Nur gleich über den Herrn schimpfen! Eine Schwalb’ laß ich fliegen ... und da heißt es am anderen Tag im ganzen Thal, ich hätt’ einen Geier streichen lassen ... und bis der Geier hinausfliegt zum Untersberg, ist schon ein Drach’ aus ihm geworden. So reden die Leut’! Kaum einen weiß ich, der das Wort wägt, sobald es ans Reden wider den Spisar geht, dem sie die Steuer erlegen müssen. Aber der Fischer, ja, der Fischer! Er ist mir feind und widersässig ... aber ich muß sagen von ihm: er hat eine redliche Zung’! Hätt er eine Klag’ gefunden wider mich, er hätt’ sie gethan!“ Herr Waze blickte zu Eberwein auf. „Und nach allem, was ich sag’ ... noch alleweil’ seh’ ich Unglauben in Eurem Aug’? So folgt mir in die Stub’ ... dort hängt das liebe Kreuz, vor dem ich bet’ all’ Morgen und Abend’, ich leg’ die Hand darauf ... und wollt Ihr noch alleweil’ nicht glauben ... wartet, ich ruf’ meine Knecht’.“ Er wollte zur Treppe eilen.
Da legte Eberwein die Hand auf seinen Arm. „Laß das, Waze! Du hast beim Kreuz geschworen ... ich glaube Dir! Und ich bin nicht lüstern nach dem Anblick Deiner Knechte, die das fromme Haus des Hiltischalk zur Schenke machten und nach dem Meßwein griffen!“
„Wildes Volk, frommer Vater! Aber wart’ nur, ich will sie lehren, Wasser zu saufen! Und jeden jag’ ich aus dem Haus, der mir den braven Hiltischalk ...“
„Verjage die schlechten und werbe Dir gute Knechte,“ fiel ihm Eberwein ins Wort, „das böse Beispiel Deiner Söhne wird sie doch verderben. Rufe mir Deinen Aeltesten, welcher Henning heißt!“
Es zuckte über Wazemanns Gesicht. „Der weilt noch im Gejaid!“ Jammernd hob er die Hände. „Hätt’ ich den Buben nur jetzt daheim, daß ich ihn herführen könnt’ vor Euch, mein frommer Vater, daß Ihr ihm ins Gewissen reden möchtet! Ach, dieser Bub’! Ist ein Mann schier an die vierzig Jahr’, und ich muß mich noch sorgen mit ihm wie mit einem zahnenden Kind. Jeder Tag bringt einen neuen Streich! Und nicht viel besser als er sind die andern. Freilich, wär’s ein Wunder! Vor fünfzehn Jahren, kaum, daß der Jüngste geboren war, haben sie ihre gute Mutter verloren und sind aufgewachsen wie die Wildling’ im Wald! Schauet hinüber, frommer Vater“ – Herr Waze deutete über den See und ließ die Stimme zittern – „dort auf der Rabenwand ist ihre Mutter Friderun über die Felsen gestürzt und noch heut’ weiß keiner, wie das Unglück hat geschehen können! Jetzt denket: sieben Buben – und keine Mutter!“
„Keine Mutter!“ Leise klangen die beiden Worte von Eberweins Lippen. Schwer atmend richtete er sich auf, schüttelte den Kopf und strich mit der Hand über die Augen, als müßte er sich gewaltsam der weichen Regung erwehren. „Schweres Los ist Deinen Söhnen gefallen, da sie die Mutter verloren, und es wär’ ihnen die üble Zucht und der wilde Mut wohl zu verzeihen, doch nicht das Laster und alles schreiende Unrecht. Henning, Dein ältester Sohn, soll stehen unter meinem Gericht! Blutschuld hat er auf sich geladen!“
Die Demut begann Herrn Waze schwer zu werden; er biß sich auf die Lippen, und seine Augen schossen einen Blitz. Um seine Wallung zu verbergen, neigte er das Gesicht, und als er wieder aufblickte, zeigte er eine betrübte Miene und kummervolle Augen. „Blutschuld! Ja, frommer Vater, schwere Blutschuld. Ich weiß schon, wen Ihr meint: die Dirn’ des Greinwalders! Ich selber bin erschrocken. Wohl hat sie lästerlich geredet wider meinen Buben und es war auch der Streich nicht so grob gemessen, als er ausgefallen ist, aber Blut ist Blut! Es soll geschehen nach Eurem Willen!“
„Nicht nach meinem Willen, nach dem Recht! Dein Sohn wird Buße leiden, und vor meinen Augen soll er bittend die Hand auf die Stirne legen, die er blutig schlug. Und dem Vater des Mädchens wirst Du Wehrgeld zahlen, nach dem Gesetz!“
Herr Waze zögerte mit der Antwort. „Ja, frommer Vater, ja, ja! Was Ihr wollt, und darüber noch! Der Bauer soll nur verlangen! Es wär’ nicht das erste Pflaster, das ich auf Wunden leg’, die der wilde Bub’ geschlagen!“
„So sage mir: was legtest Du auf die Wunden der Heilka, die den Weg zur Windach ging?“
Da verlor Herr Waze die Geduld, und er platzte heraus: „Frommer Vater, jetzt muß ich aber sagen: da hab’ ich ein hartes Reden mit Euch. Meine Söhn’ sind gewachsene Buben, ich kann sie nicht hindern, dumme Streiche zu machen. Und geht so ein heimliches Stückl schief aus ... natürlich so muß der Vater leiden, und ein Geschrei geht an ...“
„Waze!“ klang Eberweins Stimme in heller Empörung. „Das erste, was ich an Dir begreife: daß Du dem Laster Deiner Söhne zuliebe redest, Du, der Du ihnen das Beispiel gabst, wie man der Unschuld und Ehre die Gruben legt, Du, der Du dem Eigel die Salmued nahmst. Was ist geworden aus ihr? Steigt nicht der Schatten dieses Mädchens vor Dir auf? Sieht Dich ihr Auge nicht an mit drohendem Blick?“
Herr Waze stand mit klaffenden Lippen. Er hörte nicht, er starrte nur in Eberweins Augen. Dieser Blick des Mönches! Wo hatte er diesen Blick nur schon gesehen? Wo nur? Wo?
„Zitterst Du, weil einer kam, der Deiner Sünden Dich mahnt und Rechenschaft von Dir begehrt? Wahrlich, ich will meine Herde erlösen von dem reißenden Wolf! Du bist der Spisar in diesem Land gewesen!“
Herr Waze streckte die Fäuste aus, als wollte er dem Mönch an die Kehle springen; doch jählings wandelte sich der Ausdruck seiner fahlen Züge. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen, fuhr sich in die dünnen Haare und schrie: „Ja, ja, ja, ich hab’ gesündigt, hundertmal in jedem Tag! Einschichtig bin ich [312] gestanden in meiner Oed’, ohne Freund und frommen Rat, ohne Mahnung und geistlichen Zuspruch … da ist der Teufel stärker worden in mir als mein himmlisch’ Teil! Und jetzt, wo die Reu’ mich packt vor meinem nahen End’, jetzt wollt Ihr mich niederstoßen ins höllische Feuer!“ Er stürzte auf die Knie und umklammerte Eberweins Schoß. „Kann Euch meine heiße Reu’ nicht rühren – wer soll mich denn lösen, wenn Ihr mich verdammt? Wer soll mir denn helfen zum ewigen Heil, wenn Ihr mich verlaßt?“ Verstummend drückte er das Gesicht in die Kutte des Mönches und schluchzte.
Mit bleichem Antlitz stand Eberwein, erschreckt und erschüttert von diesem wilden Ausbruch. Thränen wogen ihm schwer; er selbst hatte ja in seinem Leben noch keine Zähre vergossen außer in tiefstem Weh oder in höchster Freude. Er hörte das Schluchzen des Greises, und das blinde Kinderherz in diesem dreißigjährigen Manne schmolz hin wie Wachs. Er glaubte an die Reue, die er schreien hörte zu seinen Füßen – und Reue war ihm heilig. Sein Zorn wich dem Erbarmen, und da war auch sein Mitleid schon geschäftig, alles Schwarze in milderes Grau zu wandeln. Einsam hatte dieser Mann gestanden, seinem wilden Blut überlassen, wie er gesagt: ohne Freund und frommen Rat, ohne Mahnung und Zuspruch. Er hatte schwere Schuld auf sich geladen; aber Wohl so manche seiner Sünden wäre verhütet worden, wenn ein treuer Mahner sich gefunden hätte zu guter Stunde. Durfte er von dem Sinkenden sich wenden, den Reuigen verstoßen, der aus seiner Tiefe die beiden Arme streckte nach der ewigen Güte?
Eberweins Augen wurden feucht, als er die Hand auf Wazes Scheitel legte. „Ihr sollt zu Gottes Liebe nicht umsonst gerufen haben. Doch stehet auf, Herr Waze – hier ist der Ort nicht, daß ich den Mittler mache zwischen Euch und dem Himmel. Morgen, in meinem stillen Kirchlein …“ Er verstummte.
Die Fallbrücke war niedergegangen und Recka sprengte auf ihrem Rappen in den Hof. Herr Waze hob das Gesicht; seine Zähren mußten rasch getrocknet sein, denn auf seinen Wangen zeigte sich keine feuchte Spur; doch demütig klang seine Stimme: „Da kommt meine gute Tochter! Ich bitt’ Euch, frommer Vater, redet vor dem Kind nicht übel wider den Vater!“
Eberwein errötete. „Es hätte solcher Mahnung nicht bedurft.“ Und während Herr Waze über die Freitreppe hinunter eilte, ruhten die Augen des Mönches auf Recka, welche aus dem Sattel glitt und den Gurt des Pferdes lockerte. „Eine wilde Taube unter Krähen!“ flüsterte er.
Herr Waze war zu seiner Tochter getreten, welche mit staunendem Aug’ den Gast in der Halle gewahrte. Mit eisernem Griff umklammerte er ihre Hand, und während ein Knecht, der gesprungen kam, das schweißbedeckte Roß nach den Ställen führte, raunte er mit zischenden Worten: „Wenn Du mich und Deine Brüder nicht verderben willst, so gieb dem Pfaffen ein freundlich Wort. Ich muß ihn im Guten halten, bis Rimiger kommt. Es wird gespielt um unser Haus, mehr noch, um mein Leben!“
Recka starrte ihn an. „Du bist mein Vater! Ich kann Deinen Tod nicht wollen.“
Lächelnd führte Herr Waze seine Tochter empor über die Freitreppe. Vor Eberwein blieb er stehen. „Seht, frommer Vater, das ist das beste Reis auf meinem Stamm, gesund und in der Blüt’. Seid gut mit ihr, und ich hoff’, sie soll Euch eine liebe Schwester werden.“
Ungestüm löste Recka ihre Hand aus der des Vaters, und seine Worte unterbrechend, sagte sie: „Wir haben scharf widereinander geredet, da sich beim Albenbach unsere Wege kreuzten. Nun find’ ich Euch wieder als Gast in meines Vaters Haus, und wir wollen Frieden halten. Hört nicht auf meines Vaters Lob … ich bin nicht, wie er sagt. Ich bin, wie ich bin, nicht gut, nicht schlecht. So biet’ ich Euch meine Hand. Wollt Ihr sie nehmen?“
Wazemanns Augen funkelten vor Zorn, und an seiner Stirne schwollen die Adern. Mit Verblüffung aber sah er wie Reckas Worte wirkten. „Ja, ich will!“ sagte Eberwein lächelnd und faßte die Hand des Mädchens. Der Gruß, welchen Recka ihm bot, hatte [313] rauhen Klang, doch dieser Klang war echt. Und ihm war, als fände er an dieser Hand eine Stütze, deren er bedurfte in diesem Haus. Hatte er doch im Gadem noch kein Wort gehört, welches übel redete von Wazemanns Tochter – nur der alte Kohlmann hatte gescholten wider ihren tollen Wagemut, der beim Weidwerk in den Bergen keine Höhe scheute und keine Tiefe. So faßte er die Hand des Mädchens wie ein Wanderer im pfadlosen Sumpf den grünen Zweig, der zu ihm niederwinkt.
Mit dem Ellbogen stieß Herr Waze an Reckas Arm und sagte lachend. „So führe doch Deinen Gast ins Haus!“
„Laßt Euch geleiten, Herr!“
Eberwein blickte erschrocken auf und zögerte. Da furchten sich Reckas Brauen. „Scheint Euch der Tisch, an dem ich sitze, zu schlecht für Eure Würde?“
Wortlos schüttelte Eberwein den Kopf und folgte. Als er auf die Schwelle trat und die weite Herrenstube mit der gedeckten Tafel sah, mußte er an das Stübchen in der Ramsau denken. Hatte er jenen frommen Tisch verlassen, um hier zu sitzen? Er war geflohen, wo er hätte weilen sollen, und sollte nun bleiben, wo er fliehen mußte! Wie eine Strafe erschien es ihm, was dieser Gedanke sagte. Schon zuckte seine Hand, als möchte sie sich lösen und nach dem Stabe greifen; da trafen ihn Reckas Augen, und er mußte bleiben …
Herr Waze holte die Söhne; schweigend hörte Eberwein ihre Namen und streifte mit irrendem Blick die trotzigen Gesichter. Rimiger und Henning fehlten – der letztere saß in der Kammer hinter der Thür und lauschte jedem Wort, das in der Stube gesprochen wurde. Mit verblüfften Augen sahen die Buben sich an, als Herr Waze vor das Kreuz trat, sich auf die Knie warf und zum Tischgebet die Hände faltete; eine Weile zögerten sie, dann folgte einer nach dem anderen dem Beispiel des Vaters; nur Recka furchte die Stirn und wandte sich ab; Eberwein stand und rührte weder Hand noch Lippe … er konnte nicht beten.
Lärmend trat Herr Waze mit den Söhnen zum gedeckten Tisch und wies seinem eigenen Stnhl gegenüber dem Gaste den Platz an zwischen Recka und Otloh. Ein Bärenschinken wurde aufgetragen. Herr Waze faßte ein langes Messer und stieß es in die braune Schwarte; dann hob er die Metbitsche und sagte mit heiserem Lachen: „So biet’ ich meinem edlen Gast die Minne und trink’ ihm zu als meinem Herrn! Auf Eure Gesundheit, frommer Vater!“ Er setzte die Kanne an die Lippen; sie hob und hob sich … es war ein Trunk, der nimmer enden wollte. Und es wäre wohl das letzte Tröpflein aus der Bitsche geronnen, hätte Eberwein nicht über den Tisch gegriffen und Wazes Arm mitsamt der Bitsche niedergezogen. „Meiner Gesundheit dienet Ihr auch mit minderem Trunk – und noch mehr der Eurigen.“
Herr Waze strich mit dem Aermel über den tropfenden Bart. „Nein, frommer Vater – meine sündige Seel’ mögt Ihr kampeln, so viel Ihr wollt – aber die langen Züg’, die müßt Ihr mir lassen. Bei mir muß alles tief sein, Reu’ und Durst, Lieb’ oder Haß. Mein Los ist so gefallen, weil meine Mutter mich geboren hat im Zeichen der Venus und des Wassermann: mein Herz ist allzeit heiß gewesen und meine Gurgel schreit nach Feuchtigkeit wie die Frösch’ um nasses Wetter.“ Herr Waze verstummte, und während die Söhne lachten, erweiterten sich seine Augen in starrem Lauschen. Heller Hufschlag klang im Hof und die Stimme Rimigers: „Wo ist der Vater?“
Die Buben sprangen auf, aber Herr Waze, dessen Züge sich mit fahler Blässe überzogen hatten, schrie ihnen zu: ^Bleibt sitzen!“ Seine Augen richteten sich auf Eberwein, funkelnd, mit stechendem Blick; es schien, als läge ein Wort auf seiner Zunge. Doch er sprach nicht, er lachte nur heiser vor sich hin, stieß mit der Faust den Sessel zurück, daß er umfiel, und eilte nach der Halle. Betroffen erhob sich Eberwein. Doch Recka faßte, wie vor Scham errötend, seine Hand. „Verzeihet meinem Vater seine Art … er hat durch Jahre keinen Gast in seinem Haus gesehen.“
Auf der Freitreppe kam Rimiger seinem Vater entgegen, und Herr Waze griff nach dem Arm des Sohnes, zitternd vor Erregung. „Was bringst Du?“
[314] „Zwielicht!“ sagte Rimiger und zuckte die Achsel. „Ob es Tag bedeutet oder Nacht – ich weiß nicht.“
„Red’, daß ich versteh’! Es muß auf eine Frag’ doch Antwort sein! Hast Du den Haunsperger nicht gesprochen?“
„Wohl, Vater! Er hat mich angehört und hat gelacht, aber geredet hat er nicht. Beim Frühmahl hab’ ich sitzen dürfen an der Tafel des Bischofs, und der große Herr ist freundlich zu mir gewesen und bei jeder Anred’ hat er mich seinen ‚guten Sohn‘ geheißen. Für unsere Sach’ aber hat er kein einzig Wort gehabt.“
„Kein einzig Wort?“ wiederholte Herr Waze mit zuckenden Lippen. „Aber ich weiß doch, wie er selbigsmal vor Wut sich verfärbt hat bei der Botschaft, daß Frau Adelheid den Gadem an das Kloster und nicht an seine Kirch’ gegeben hat! Sag’s noch einmal: kein einzig’ Wort?“
„Kein Wort! Aber wie ich schon im Sattel gesessen bin, ist der Haunsperger lachend auf mich zugetreten und hat mir ein Streiflein Pergament gereicht –“ Rimiger zog eine kleine Rolle aus dem Wams hervor – „und dabei hat er gesagt: unser Schalksnarr hat ein neues Lied gesungen, das bring’ Deinem Vater mit meinem Gruß.“
[325] Herr Waze faßte mit jähem Griff das Pergament, auf dem das Lied des bischöflichen Narren verzeichnet stand, während Rimiger brummte: „Eine solche Narretei! Um Schelmenlieder sollen wir uns kümmern, wo es hergeht um unsere Haut.“
„Der Narr ist des Bischofs liebster Gesell - er muß wissen um seines Herren Meinung, Bub’! Ich schwör’ darauf: es steht ’was in dem Lied!“ Herr Waze starrte auf die Rolle in seiner zitternden Hand und griff nach seinem kahlen Scheitel. „Es muß’ was stehen in dem Lied - aber wer liest mir’s denn? Ich müßt’ ja rein zum Hiltischalk in die Ramsau schicken! Doch wenn er gelesen hat ... wie schließ’ ich ihm das Maul?“
„Der Haunsperger hat gemeint, Du hättest ja vier gute Freund’ im Gadem, die sich wohl aufs Lesen verstehen!“
Verblüfft sah Herr Waze seinen Buben an; dann schüttelte er den Kopf und entfaltete das Pergament. In zierlicher Schrift stand Zeile unter Zeile; doch Herr Waze verstand nur eines: das kleine in bunten Farben ausgeführte Bildchen, welches der erste Buchstabe umschloß. Auf dem Wipfel einer Fichte war ein Nest zu sehen, welches vier Raben umflatterten; um den Fuß des Baumes drängte sich ein Häuflein seltsamer Tiere - sie waren rot gemalt, und man konnte sie wohl als Füchse deuten; über dem Baum, in blauer Luft stand ein Adler mit gebreiteten Schwingen. Herr Waze lachte. „Komm!“ sagte er. „Jetzt mag der Würfel fallen, wie er will!“ Er stieg zur Halle hinauf. Lautes Gelächter tönte aus der Stube, und die Stimme Sindels klang: „Nimm Dich in acht, Otloh, der Pater sitzt neben Dir ... wenn Du noch einmal so übel scherzest, fahrt er Dir mit einem Sprüchlein über den Schnabel, das Dir schmecken wird wie eine Kratzbürst’!“
„Was hat er denn so Arges gesagt?“ verteidigte Eilbert den jüngeren Bruder. „Es ist doch die Wahrheit, daß sich der Pater um die Bauern sorgt wie eine Bruthenn’ um ihre Küchlein! Und das muß er thun, schon seinem Namen zu lieb! Wer Eberwein heißt, der muß gut Freund sein mit den Säuen.“
Johlendes Gelächter erhob sich, während Recka zornig aufsprang. „Eilbert!“ Sie wollte den Arm des Bruders fassen, doch Eberwein vertrat ihr den Weg; sein Gesicht war bleich, und seine Stimme bebte. „Laßt ihn! Wenn Eure Brüder die Gegenwart der Schwester nicht achten, wie soll ich erwarten, daß sie Ehrfurcht zeigen vor meinem Kleid und vor dem Gast ihres Vaters!“ Da trat Herr Waze in die Stube, der Ausdruck seines Gesichtes und der Anblick Rimigers machten die Lachenden verstummen; sie wußten was dieser Augenblick für sie bedeutete; aus der Kammer ließ sich ein Geräusch vernehmen, als wäre ein Stuhl gefallen, und die Thüre öffnete sich um eine schmale Spalte.
„Seht her, frommer Vater,“ rief Herr Waze mit gepreßter Stimme, „seht her, was mein Rimiger [326] gefunden hat. Das Pergament muß Euch gehören, es lag auf Eurem Weg – Ihr müßt es verloren haben.“
„Nein, Herr Waze, das Blatt gehört mir nicht!“ Eberwein nahm den Streif und rollte ihn auf. „Auch keinem meiner Brüder. Ein Fahrender, der Euer Haus gesucht, mag wohl das Blatt verloren haben ... es ist ein weltlich Lied.“ Und mit halblauter Stimme las er:
„Es schwebt der fürstliche Aar im Blau,
Den Blick gerichtet zur Ferne,
Ihn lockt Frau Sonne, ihn kümmern nicht
Die kleinen Knechte, die Sterne.
Sein Blick späht über die Berge hin,
Sucht nimmer Thal und Halde,
Ihn kümmert das Nest der Raben nicht,
Das sie bauten im finsteren Walde.
Es mag bestehen, es mag vergeh’n
Und fallen den zausenden Winden,
Es mögen die Füchse schleichen und späh’n
Und ihre Beute finden.
Der fürstliche Aar nimmt hohen Flug,
Die Blicke fernab gewendet,
Und nimmer frägt er, wie der Streit
Im tiefen Wald sich endet.“
„Ein Meisterlied!“ schrie Herr Waze wie von Sinnen, „ein Meisterlied!“ und faßte die schwere frischgefüllte Bitsche. „Dem unbekannten Sänger einen festen Trunk zur Minne! Er meint es gut mit den Füchsen!“ Sein heiseres Lachen erstickte in der Kanne.
Eberwein ließ die Rolle sinken und blickte befremdet, von peinlicher Empfindung erfaßt, an der Tafel umher. Ueberall sah er funkelnde Augen und brennende Gesichter. Ihm war, als stünde er inmitten eines tollen Traumes. Herr Waze stieß die geleerte Kanne auf den Tisch, lachend, und kreischte. „Setzt Euch doch, mein lieber fürstlicher Herr! Euch zu Ehren will ich schmausen und zechen ... und ich mein’, es hat mir im Leben noch kein Mahl geschmeckt, wie es heut’ mir schmecken soll! Euch zu Ehren! Nur Euch zu Ehren! Ihr seid ja mein Herr! Mein Herr!“ Seine Worte gingen unter im Geschrei und Gelächter seiner Söhne.
Eberwein strich mit der Hand über die Stirne und ließ sich nieder. Seine Sinne taumelten, er wußte nicht, was er that. Er hörte nicht, daß die Thür der Kammer sich öffnete, aus welcher Henning trat, einen hochstämmigen Rüden am Halsband führend ... er sah nicht, daß Recka, bleich bis in die Lippen und mit blitzenden Augen ihren Vater streifend, von der Tafel wich und den Saal verließ, als wollte sie nicht teilhaben an dieser Stunde. Mit zitternden Händen griff er nach einem Brot, segnete es und brach es entzwei. „Nehmt, Herr Waze!“ Er reichte die Hälfte des Brotes über den Tisch. Da griff eine Hand über seine Schulter. „Mir die ander’ Hälft’ ... meinen Hirschmann hungert!“
Schallendes Gelächter erhob sich um den Tisch. Eberwein sprang auf und sah, wie Henning das gesegnete Brot dem Hunde zuwarf, der es mit klaffendem Rachen haschte. Glühende Zornröte fuhr über das Gesicht des Mönches. Mit beiden Händen faßte er die Tafel an der Kante und stürzte sie um, daß Herr Waze mit dem Sessel wankte, daß die hölzernen Teller, die zinnernen Schüsseln und die Metkannen klirrend und polternd über den Estrich rollten. „So end’ ich dieses Mahl,“ klang seine Stimme mit schrillem Hall, „und nichts mehr hab’ ich gemein mit Euch!“
Schreiend vor Wut, mit geballten Fäusten und verzerrtem Gesicht sprang Herr Waze auf; seine Söhne aber starrten auf die Lippen des Mönches ... er war es doch gewesen, der diese Worte gerufen, und dennoch schien es ihnen, als hätten sie ihren Vater gehört. So klang seine Stimme im Zorn. „Faßt ihn! Faßt ihn!“ schrie Herr Waze. „Er hat mein Haus geschändet – das soll er büßen!“
Henning war der erste, dessen Fäuste nach Eberwein griffen. Da sah auch der Hund in dem Mönche einen Feind seines Herrn und stürzte heulend auf ihn los. Mit einem Faustschlag streckte Eberwein das Tier zu Boden. „Feinde über mir!“ klang seine schmetternde Stimme, und eine Metkanne von der Erde raffend, schwang er sie zum Schlage wider Henning. Doch er schlug nicht; aus erhobenem Arm ließ er die Kanne sinken, und zwei der Wazemannssöhne beiseite schleudernd, gewann er mit mächtigem Sprung das an der Mauer hängende Kreuz, griff nach ihm mit beiden Händen und rief: „Vergieb, o Herr, die Sünde meines heißen Blutes! Bei Dir ist die Rache, bei Dir die Hilfe!“
Da faßten sie seine Arme, seine Brust, seinen Hals ... er stand und wehrte sich nicht, während sie an ihm hingen wie die Hunde am gestellten Hirsch. Geifernd, die geballten Fäuste vor Eberweins Augen streckend, leerte Herr Waze in unflätigen Worten die Schale seiner Wut über ihn aus. Ein bitteres Lächeln zuckte um Eberweins bleiche Lippen. „Knecht Waze, nun kenn’ ich Dich! Nun zeigst Du mir Dein wahres Gesicht!“
„Fort mit ihm! Hinunter in meinen tiefsten Keller!“
Ueber das Geschrei der Söhne, die den Gefangenen zur Thüre stießen, hob sich Eberweins Stimme: „Waze, ich warne Dich! Da Du Gott nicht fürchtest, so fürchte den Kaiser, vor dessen Gericht ich Dich berufe, der Fürst seinen ungetreuen Knecht!“
„Der Kaiser!“ höhnte Herr Waze mit schallendem Gelächter. „Wo ist er denn, Dein Kaiser? In vierzig Jahren hab’ ich ihn nicht gesehen, hab’ keinen Ruf von ihm gehört, hab’ keinen Mann zu seinem Heer geschickt. Schrei’ doch, schrei’, ob er Dich hört, ob er kommt! Ich mein’, er wird den Käfig so leicht nicht finden, in dem ich Dich bergen will. Packt ihn, meine Füchslein, hinunter mit ihm!“
Schreiend stießen sie ihn aus dem Saal und über eine steile Treppe hinunter, eine schwere Thüre wurde vor ihm aufgerissen, er taumelte in Finsternis und kalte Moderluft, hinter ihm dröhnten die Bohlen, und der eiserne Riegel klirrte. Draußen Gelächter, das sich entfernte, Geschrei, welches unterging wie in weiter Ferne ... dann dumpfe Stille.
Eberwein streckte im Dunkel die Arme aus, seine Hände griffen den nassen Fels der Mauer und einen eisernen Ring. Ein kalter Schauer rann ihm durch die Glieder, und die Knie brachen ihm. Die Arme schlug er über die Brust, als möchte er gewaltsam den Sturm seiner Seele bezwingen, und aus heißem Herzen sprach er laut ein Gebet. Plötzlich aber verstummte er, denn ein Geräusch war an sein Ohr gedrungen. Mattes Stöhnen klang aus einem Winkel des finsteren Raumes. Erschrocken sprang Eberwein auf. „Wer teilt meinen Kerker? Bist Du ein Mensch, so rede!“ Das Stöhnen wurde zum Wimmern, eine wortlose Sprache des Schmerzes, welche Eberweins Herz erzittern machte. „Gott des Erbarmens!“ stammelte er, warf sich zu Boden, und über die Fliesen kriechend, tastete er mit den Händen vor sich her. Er fühlte halb verfaultes Stroh und jetzt einen menschlichen Körper, fast nackt, mit schlaffen Armen und steifen Fingern, mit bartlosem Gesicht und kurzgeschorenem Haar. „Der Knabe, den ich suchen kam! ... Wazemann, Wazemann!“ Mit beiden Armen griff er zu und hob das Haupt des Knaben an seine Brust, dessen Zunge lallte: „Wer ist bei mir?“
„Einer, der es mit Dir gut meint!“
Da klang es wie der schluchzende Aufschrei eines Verzweifelnden: „Giebt’s denn noch einen, der gut ist?“
„Ja, ja, ja!“ rief Eberwein, die Stimme halb erstickt von Zähren. „Allgütiger im Himmel, wie blind war meine Seele! Ich wähnte, daß ich irre ging, von Dir verlassen ... nun seh’ ich: es war der Weg Deiner Liebe, die mich hierhergeführt, um dieses Kind zu finden!“ Er fühlte, wie die Hände des Knaben an ihm emportasteten, wie die kalten zitternden Finger sein Antlitz berührten, welches naß von Thränen war.
„Er weint ... einer, der weint um den armen Huzebuben! Bist auch ein Geißhirt, hat er Dich auch gebüßt?“ Und wie der Sinkende den Balken, den eine mitleidige Welle ihm zugeworfen, so umklammerte der Bub’ mit beiden Armen seinen Gesellen und schmiegte sich an ihn unter strömendem Schluchzen. Aus der Höhe des Hauses klang ein dumpfer Lärm hernieder – das Johlen der Wazemannssöhne, welche die gestürzte Tafel wieder aufgerichtet hatten und die Kannen leerten auf das Glück ihrer kommenden Zeit.
Eberwein tastete in der Finsternis umher, und seine Hand fand an der Mauer einen vorspringenden Stein; er setzte sich und hob den Knaben auf seinen Schoß. der Bub’ wimmerte, denn die Bewegung mehrte seine Schmerzen, und auf Eberweins Frage begann er, von Schluchzen unterbrochen, zu erzählen, was er verschuldet hatte, welche Strafe er gelitten, welche Qual und Marter er in diesem finsteren Verließ ertragen; seine Sprache war arm an Worten, und sie sagte doch mehr, als Eberweins Herz zu ertragen vermochte. Er drückte das Gesicht des Knaben an seine Brust, um ihn verstummen zu machen, und während er ihm mit zärtlicher Hand die struppigen Haare streichelte, flüsterte er, die heimatliche Sprache seiner Berge redend: „Mußt nimmer weinen, Büebli! Schau’, es hebt für Dich die gute Zeit wieder an. Ich thu’ Dich pflegen, daß Du gesunden sollst, und will Dich lieb haben all mein Leben lang.“ Und weißt, meine Arm’, die tragen Dich schon, bis Du wieder laufen kannst auf Deinen Füßen. Wohl wohl, hab’ nur acht, wenn die Thür sich aufthut, wie ich Dich hinauftrag’ in die liebe Sonn’!“
[327] Langsam hatte der Bub’ den Kopf erhoben. „Du mußt mehr sein als ein Geißhirt! Wer bist denn Du?“
„Ich bin ein Gottesmann! Weißt Du, was das ist?“
„Wohl wohl, so einer wie der Hiltischalk. Den hab’ ich einmal gesehen – der hat ein schwarzes Häs.“
„Mehr weißt Du nicht von ihm?“
„Wohl wohl: und weiße Haar’ hat er, weil er alt ist.“
„Und ein Kirchlein hat er, ia dem das Glöcklein läutet. Und einen lieben Vater im Himmel! Hast nie von dem gehört?“
„Wohl wohl, ich mein’ schon, ich hätt’ so ’was reden hören!“ Stöhnend griff der Knabe nach seinen schmerzenden Füßen.
„Schau’, mein Büebli,“ sagte Eberwein, die Arme fester um den Knaben schlingend, „schau’, das ist ein treuer Vater, dem alle guten Meuschen liebe Kinder sind. Wer leiden muß, den tröstet er, und wer in Not gefallen, dem bringt er Hilf’ ...“
„Mir auch?“ klang scheu und zitternd die Stimme des Knaben.
„Freilich, Büebli! Denn alles weiß er und alles kann er. Er hat Dich gesehen in Deinen Schmerzen und hat zu mir gesagt: geh’ hin und hilf dem Huzebuben – und wie ich gegangen bin, Dich suchen hat er mir ein kleines Dirnlein geschickt, das mir den Weg gewiesen, ein Dirnlein, das Dich lieb hat! Gelt, Du weißt schon, wen ich mein’?“
„Ach Du guter Mann!“ rief der Knabe, lachend in seinen Schmerzen. „Es wird doch nicht das Trudli gewesen sein?“
„Das Dirnlein des Bauern, dem Du die Geißen hütest!“
„Das Trudli, das Trudli!“ Der Name des Kindes war das einzige Wort, das der Knabe fand in Weh und Freude.
Eine stumme Weile verging, dann begann Eberwein wieder zu sprechen; es lag ihm das Herz auf den Lippen, und leuchtend öffnete sich die ganze Tiefe seines reinen hoffenden Glaubens, so wie ein Fels in geheimnisvoller Stunde die verschlossenen Schätze zeigt. Der Knabe that keine Frage mehr; er lauschte nur und schien im Lauschen seiner Schmerzen vergessen zu haben; nur manchmal zuckte sein Körper unter halb ersticktem Schluchzen und seine Arme klammerten sich fester um den Hals des Mönches. Eberwein sprach – und wie guter Same, der schon keimt, da er die Erde berührt, fiel jedes seiner Worte in das Herz des Knaben.
Wüster Lärm klang aus der Höhe. Die Berauschten sangen und schlugen die Tafel mit den Fäusten. Die Mägde weigerten sich, den Saal zu betreten – es mußten die Knechte bedienen und die Metkrüge schleppen. Draußen dämmerte schon der Abend, und das Zechen wollte kein Ende nehmen. Den ganzen Bau des Hauses durchschütterte das johlende Geschrei und das Poltern der stürzenden Krüge und Sessel.
In Reckas Kammer, in welcher schon die Leuchte brannte, hallte der Lärm, daß die Wände zitterten. Vom gelösten Haar umringelt, im weißen Schlafgewand, lag Recka im Erker, das Gesicht in die Arme vergraben. Sie hörte nicht, daß die Thüre der Zeugkammer sich öffnete; es war der Bub’, der die Falken pflegte; in seiner Hand trug er das Federkleid, das er dem verendeten Liebling Reckas abgestreift. Scheu trat er zum Erker. „Herrin!“
Recka fuhr auf; als sie den Balg des Vogels sah, griff sie nach ihm, breitete auf ihrem Schoß das Gefieder aus und strich mit zitternden Händen über die Schwingen. Ihre Augen wurden naß. Der Bub’ ging zur Thüre, dort blieb er zögernd stehen. „Herrin! Ich mein’, daß ich weiß, wie Dein Falk hat umkommen müssen. Willst mich nicht verraten, wenn ich red’?“
Recka hatte sich erhoben. „Sprich!“
„Ich sag’s, weil mir leid ist, denn ich hab’ den Vogel lieb gehabt.“ Der Bub’ faßte den Balg und deutete auf eine Stelle der Innenseite. Schau’ her, da hat die Haut einen Stich wie von einer Nadel ...“ Er griff in das Wams. „Und schau’ die Spulnadel an: sie ist rostig von Blut. Durch das ganze Ingeweid’ ist der Stich gegangen. Den Tag, ’vor Du ausgeritten bist, auf den Abend, da ist Dein Falk noch frisch und gesund gewesen – ich bin um Wasser gegangen, und wie ich wiederkomm’, hat der Vogel getrauert.“
Mit zornigem Griff umklammerte Recka das Handgelenk des Buben. „Wer war in der Kammer?“
Scheu blickte der Knabe gegen den Saal, aus welchem das Geschrei der Zechenden hallte. Er wollte sprechen, doch Recka schob ihn ungestüm zurück. „Schweig! Ich könnte, wenn der Zorn mich faßt, den Namen nicht wahren.“ Sie öffnete das auf dem Erkertisch stehende Kästlein und reichte dem Buben eine silberne Spange. „Nimm!“ Er schüttelte den Kopf und legte die Hände hinter den Rücken „Ich hab’ nicht um Lohn geredet!“
„Nimm!“ wiederhalte Recka zornig, dann atmete sie tief auf und sagte leise: „Nimm nur! Ich weiß, Du bist dem Vogel gut gewesen!“ Sie drückte dem Buben die Spange in die Hand.
Als er gegangen war, hefteten sich ihre funkelnden Blicke auf die Saalthür, und die Fäuste auf den Busen drückend, rief sie mit bebender Stimme: „Wann kommt die Reih’ an mich?“ Zum Erker wankend umschlang sie stöhnend ihr Haupt mit den Armen. „Hol’ mich, Mutter, hol’ mich! Bei Dir wär’ Glück und Ruh’!“ Sie sank auf den Sessel und griff nach dem Federkleid des Falken; doch ihre Blicke glitten darüber hinweg, durch das offene Fenster und nieder über den abenddämmerigen See zum Fischerhause, dessen Thüre rot leuchtete vom Wiederschein des Herdfeuers. „Ich that ihm Unrecht!“ flüsterte sie und drückte das Gefieder des Falken über die brennenden Augen. Raschelnd strich der Abendwind durch die welkenden Bäume, die sich zum Erker erhoben. In der Tiefe murmelte der See, der in sachten Wellen ging, und leise Stimmen zischelten durch das schwankende Röhricht.
In der stillen Hofreut des Fischerhauses stand Sigenot, durch die Dämmerung emporspähend nach Wazemanns Haus. Wicho trat zu ihm: „Hörst, wie sie lärmen?“
„Sie zechen. Die Nacht über werden sie liegen im Rausch, und mein Haus ist sicher vor ihnen bis zum Morgen. Trag’ das Netz in den Einbaum und mach’ die Pechpfann’ fertig, wir ziehen auf die Fischweid. Der Kalter ist leer und das Haus hat Leut’!“
Während Wicho ging, um alles für die Fahrt zu rüsten, schritt Sigenot zum Lugaus. Im schwarzen Abendschatteu der Eichen saß Edelrot, die Hände im Schoß, versunken in ihre Träume, die sich webten aus banger Sorge und süßer Lust. Seufzend hob sie die Augen, als der Bruder sich an ihre Seite setzte. Er schlang den Arm um die Schwester, Rötli lehnte das Köpfchen an seine Brust und so saßen sie wortlos ...
Eine Stunde später, als der stahlblaue Himmel schon übersät war mit blitzenden Sternen, fuhr Sigenot mit Wicho zum Fischfang aus. Plätschernd schlugen die sachten Wellen an den Einbaum, der am Fuß der Falkenwand vorüberglitt. Vor einer Ecke des Felsens stockte das Ruder in Sigenots Hand – es war die Stelle, an welcher er in jener Sturmnacht den Gransen gefunden. „Soll ich zünden?“ fragte Wicho. Ohne Antwort zu geben, trieb Sigenot den Einbaum weiter. In tiefer Schwärze lag der weite Seekessel vor ihm, und der Wind trug das dumpfe Rauschen eines Wildbachs über das Wasser her. Gegen die Mündung dieses Baches steuerte Sigenot den Kahn. In der Rähe des Ufers hielt er, hob das Ruder und ließ sich im Spiegel des Schiffes nieder. Lautlos schwankte der Einbaum auf den linden Wellen, während Sigenot empor spähte zum Falkenstein. Fast eine Stunde verging; dann schwieg auch der letzte Laut in Wazemanns Haus, die Hunde schliefen und alle Fenster waren dunkel.
„Zünd’ die Pfann’!“
Wicho schlug Feuer und warf den glimmenden Schwefelfaden auf die mit Pech getränkten Späne. Lodernd wuchs die Flamme, ihr greller Schein fiel über den See und lockte die Fische aus der Tiefe. Der Knecht warf die Schwimmer aus und ließ die Maschen gleiten, während Sigenot im Bogen führ. Als sie das Netz hoben, war es schwer, überall im Garne zappelten die Hechte, die Salmen und Ferchen. „Solchen Zug haben wir nicht oft gethan!“ rief Wicho lachend.
„Ich weiß, wer das Netz so schwer gemacht,“ sagte der Fischer ernst, „denn ich hab’ den ersten Zug den Klosterleuten zugelobt.“
„Den ganzen Zug? Da wird der dicke Bruder lachen! Wenn er wüßt’, was ihm zusteht, er möcht’ wohl springen vor Freud’!“
Bruder Wampo hatte wohl keine Ahnung, daß seiner gedacht wurde beim Fischfang in stiller Nacht. Und dennoch spraug er um diese Stunde, aber nicht vor Freude. Schreck und Sorge hatte die Brüder befallen, als die Nacht erschien, ohne daß Eberwein heimkehrte zur Klause. Da sie meinten, er hätte sich auf dem Rückweg im pfadlosen Wald vergangen, zogen sie die Glocke, damit ihr Hall ihn rufe. Laut, wie klagend, tönte die eherne Stimme in der stillen Nacht – doch Eberwein kam nicht. Stunde um Stunde verging, er kam nicht. Nun beschlossen sie, Pater Waldram sollte bleiben, denn seine Kräfte waren schwach, und von Zeit zu Zeit die Glocke rühren, während Schweiker und Wampo mit Spanlichtern auszieheu wollten, um Eberweins Namen durch den Wald zu rufen. Schweiker stieg zur Ache nieder; Bruder Wampo nahm die Richtung gegen die Ramsau. Er zitterte an allen Gliedern, [328] während er mit erhobener Fackel dahinstolperte durch den finsteren Wald, und seine Stimme klang so gepreßt, daß es gar weit nicht hallen konnte, wenn er Eberweins Namen rief. Manchmal, wenn ein Tannenzapfen durch die Aeste fiel oder der Sprung eines flüchtenden Wildes sich hören ließ, schrak er zusammen, daß es eine Weile dauerte, bis er die Kraft seiner Glieder wieder fand. Seine Stangenbritsche in der Klause war hart, doch mit heißer Sehnsucht dachte er jetzt an die gute Stätte unter Dach. Aber bei allem Jammer, den er mit stammelnden Worten zwischen seine Stoßgebete mischte, schritt er weiter und weiter, denn großer als seine Angst war noch die Sorge um den geliebten Herrn. Er schrie und schrie ... Plötzlich wich der Grund unter seinen Füßen. Kreischend nach einem Halt suchend, ließ er die Fackel sinken, und während sie erlosch, stürzte er, wie er meinte, in bodenlose Tiefe. Es that einen lauten Klatsch, als Bruder Wampo festen Boden erreichte. Ein Wust von Reisig fiel hinter ihm her und überschüttete ihn. Stammelnd raffte er sich aus, warf die stachligen Reiser von sich ab und fühlte nach seinen Gliedern; sie waren ganz und heil. „Ein Glück, daß ich gute Polster hab’!“ meinte er und begann in der Finsternis mit gestreckten Händen umherzutappen. Ueberall griff er steile glatte Erdwände, nirgends fand er einen Halt, an dem er sich hätte emporziehen können – und ob er sich auch auf die Fußspitzen reckte, er konnte den Rand der Grube nicht erreichen. Er tappte und tastete ... und da geriet ihm etwas unter die Hände. Fest griff er zu. doch mit einem Schrei des Entsetzens wich er zurück ... seine Hände hatten struppiges Haar gegriffen. Und da fuhr auch schon ein unsichtbares Etwas im Kreis um ihn her wie der ledige Teufel. Bruder Wampo sah nichts, er fühlte nur die Püffe, die er bekam, hörte ein Schnauben, Springen und Scharren ... das währte eine Weile ... dann wieder war Stille um ihn her. nur hoch über ihm rauschten die Bäume leis im Nachtwind. Er taumelte, geriet in eine Ecke und kauerte auf die Erde, mit lallender Stimme betend. Seine Glieder waren wie gelähmt, er wagte keinen Finger mehr zu rühren und starrte mit aufgerissenen Augen auf die beiden runden glimmenden Lichter, die er nah’ vor sich in der Finsternis erblickte. Und wenn ihm die betende Stimme erlosch, hörte er den fliegenden Gang lechzender Atemzüge, wie ein Jagdhund atmet nach der Hetze. Das Grausen machte seine Sinne wirbeln, und die schweißtreibende Angst malte ihm das Bild eines Ungeheuers vor Augen, mit Drachenflügeln und aufgesperrtem Rachen, groß genug, um einen Berg zu schlingen, geschweige denn das winzige Bröcklein, welches Bruder Wampo hieß.
Fern, im Thal der Ache, klang die rasende Stimme Schweikers und die Berge warfen ihren Hall zurück. In Zwischenräumen ertönte beim Lockistein die Glocke. Weit drangen ihre Klänge in der stillen Nacht, über die Gehänge des Göhl empor, hinaus über die Halden der Strub und das Thal entlang bis zum Schönsee und zu Wazemanns Haus, an welchem ein einsames Fenster in mattem Licht erschimmerte. Es war das Erkerfenster in Reckas Kammer. Neben dem Spiegel flackerte die Leuchte. Mitternacht war lange vorüber, und noch immer stand das Lager unberührt. Recka saß, mit dem nackten Arm über die Brüstung des Fensters gelehnt. Lautlose Stille herrschte draußen im Saal, im ganzen Hause, nur aus dem Hof herauf drang manchmal ein Geräusch: die gefangenen Raubtiere wachten in ihrem Käfig. Recka spähte nach dem Himmel. Ein bleicher Schein begann über den östlichen Bergen das Firmament zu erhellen und die Sterne zu löschen. Als hätte sie auf diese Helle gewartet, so nickte sie vor sich hin und erhob sich. Inmitten der Kammer stand sie noch einmal lauschend stille; dann streifte sie die Schuhe von den Füßen, nahm die Leuchte und schlich auf nackten Sohlen in die Herrenstube. Als sie zurückkehrte, mit einem Schlüssel in der Hand, stand sie und schüttelte sich, als möchte sie die Erinnerung des häßlichen Bildes, das sie gesehen, von sich abwerfen. Lautlos schritt sie hinaus in die Zeugkammer, der Zugwind rührte die Flamme der Leuchte, und die Jagdnetze, die Sauspeere und eiserne Raubtierfallen warfen ein zuckendes Gewirr von Schatten über die Wände. Recka erreichte den Unterstock des Hauses, über eine zweite Treppe ging es nieder, und nun hielt sie vor der niederen Thüre des Bußloches. Sie öffnete das Hängeschloß und schob den Riegel zurück. Als die Thüre sich aufthat und der Schein der Leuchte in den Kerker fiel, stand Recka überrascht und ergriffen im innersten Herzen. Einen Verzweifelnden wähnte sie zu finden – und sah zwei Menschen, schlummernd in stillem Frieden. Eberwein saß auf dem Steinblock, an die Mauer gelehnt, von seinen Armen umschlungen, ruhte ihm der Knabe an der Brust; so schliefen sie, Wange an Wange. Recka berührte die Schulter des Mönches. Als Eberwein erwachte und die vom Lichtschein umzitterte weiße Gestalt erblickte, welche vor ihm stand, wie herausgetreten aus seinen wundersamen Träumen, stammelte er: „Gott sandte seinen Engel ...“ Da erkannte er Recka und verstummte, tief errötend.
Huze schlug die Augen auf und erzitterte beim Anblick der Wazemannstochter. „Schweige, Kind!“ flüsterte Eberwein und drückte ihm die Hand auf die Lippen. Der Schein der Lampe fiel über das leichenfahle Gesicht des Knaben mit den hohl liegenden Augen, über die abgezehrten, von Lumpen umhüllten Glieder und über die mit geronnenem Blut bedeckten Füße mit ihren Wunden. Ein Grauen schüttelte Reckas Nacken. „Wer ist der Bub’?“
„Ein Opfer Deiner Brüder. Blick her, wie sie an ihm thaten um geringe Schuld!“
„Das wußt’ ich nicht!“ stammelte Recka.
„Ich glaube Dir, denn Dein Herz ist gut! Und kamst Du, um mir die Freiheit zu bringen, ich danke sie Dir um dieses Knaben willen.“
Eine Weile stand Recka schweigend; sie mußte die Augen von dem Knaben wenden, denn sie ertrug den Anblick seiner Wunden nicht. Zur Thüre lauschend, sagte sie flüsternd: „Löset Eure Schuhe von den Füßen.“ Eberwein ließ den Knaben auf den Steinblock nieder, löste die Sandalen und knüpfte sie an seinen Gürtel.
„Folgt mir!“ Recka erhob die Leuchte und schritt zur Thür.
Eberwein nahm den Knaben auf seine Arme und flüsterte ihm zu: „Fürchte Dich nicht!“ Da schüttelte der Bub’ den Kopf, und seine Augen glänzten. „Fürchten? Es ist doch der gute Vater mit uns!“
Fester umschlang ihn Eberwein, als er die Schwelle des Kerkers überschritt. Recka schloß die Thüre, schob den Riegel vor und drehte den Schlüssel um. Lautlos stiegen sie die Treppe hinauf, sie erreichten die Zeugkammer und Recka öffnete die Thüre ihres Gemachs. Auf der Schwelle zögerte Eberwein, er schien zu erkennen, welchen Raum er betrat, und die Stirn von dunkler Röte übergossen, sagte er mit gepreßter Stimme: „Führet mich anderen Weg ... um Euretwillen!“
„Anderen weiß ich nicht! Tretet ein! Rasch!“
Als sie zur Saalthür kamen, flüsterte Eberwein: „Ich bitt’ Euch, reichet mir Zeug, daß ich die Wunden des Knaben verbinde.“
Recka zog die Hirschdecke von ihrem Lager, riß von dem Hanftuch, welches über die Haut geschlagen war, einen Streifen ab und schob ihn hinter den Gürtel des Mönches. Dann löschte sie die Leuchte und faßte Eberweins Arm. „Laßt Euch führen und seid ohne Sorge ... sie liegen im Rausch.“
Nun traten sie hinaus in die Herrenstube. Bleiches Mondlicht fiel durch die offene Hallenthür und alle Fenster. Gestürzte Sessel lagen umher, auf dem verwüsteten Tisch und auf dem Estrich schimmerten die zinnernen Kannen, in lang ausgeronnenen Lachen spiegelte sich der Mondschein, und der verschüttete Met erfüllte den ganzen Raum mit widerlich süßem Geruch. Henning und Otloh lagen wie Klötze unter dem Tisch; vor der Thür, welche zur Kammer der Buben führte, war Eilbert niedergesunken, und Herr Waze lag in den Kleidern auf seinem Spanbett, schnarchend, mit Kopf und Armen niederhängend über die Kante. Eberweins Schritte stockten, doch Recka zog ihn mit sich fort, in die Halle hinaus und hinunter in den Hof. Als sie dem Zwinger sich näherten, schlugen die Hunde an, doch mit leisem Lockruf machte Recka sie verstummen. An der Mauer öffnete sie eine Pforte, welche gegen die Höhe des Berges führte. „Nach hundert Gängen teilt sich der Pfad,“ flüsterte sie, „Ihr müßt zur Rechten schreiten und die Mauer umgehen. So gelangt Ihr auf den Reitweg, der Euch zur Ache führt und“ – ihre Worte zögerten und klangen heiser – „und zum Haus des Fischers. Unter seinem Dache seid Ihr sicher, er ist ein starker und redlicher Mann!“
Schwer atmend rückte Eberwein den Knaben höher an die Brust. „Ich kann Euch zum Dank die Hand nicht bieten ... mag Gott Euch diese Stunde lohnen! Ihr habt gethan an mir wie eine Schwester an ihrem Bruder.“
„Ihr, mein Bruder?“ klang Reckas rauhe Antwort. „Ihr mahnet mich zur Unzeit, daß ich Brüder habe und einen Vater.“ Und von Eberwein sich wendend, schloß sie mit ungestümer Hand die Pforte. Sie wollte zum Hause schreiten doch ihre Knie wankten und neben dem Zwinger sank sie nieder auf die Steine. Winselnd streckten die Hunde ihre Schnauzen durch die Lücken der Stangen und fuhren mit den heißen Zungen nach Reckas Gesicht und Händen.
Unter dichten Bäumen, durch welche der von rasch ziehenden Wölklein häufig verschleierte Mond nur mit spärlichen Lichtern niederblickte, folgte Eberwein dem Pfad. Schwül und feucht wehte ihm der Nachtwind in das brennende Gesicht, und welkes Laub raschelte um seine Füße. Bei dem Wirbel der Gedanken und Empfindungen, die ihn erfüllten, und in dem mit Finsternis wechselnden Zwielicht übersah er die Zweigung des Pfades und schritt zur Linken weiter. Als er eine kleine mondhelle Lichtung erreichte, mußte er rasten, denn seine Arme zitterten schon unter der Last des Knaben. Er setzte sich auf einen gestürzten Baum, und nun zum erstenmal, im Licht des Mondes, sah Huze das Antlitz seines Retters; leuchtend traf ihn der Blick dieser stillen Augen, und mit bebenden Armen den Mönch umschlingend, seufzte der Knabe wie einer, der nach üblen Wegen die sichere Ruhstatt fand.
Nach einer Weile erhob sich Eberwein; er hatte die Sandalen wieder angelegt, und mit neugestärkter Kraft seinen Schützling tragend, folgte er dem Pfad, der sich nach kurzer Strecke teilte. Zu spät der Weisung Reckas gedenkend, wandte sich Eberwein nun zur Rechten; über steile Stufen ging es nieder; eine Wolke deckte den Mond - doch aus der Tiefe klang ein sachtes Rauschen, und durch die Nacht her leuchtete ein rötlicher Schein wie der Glanz eines Herdfeuers bei offener Thür. Das mußte die Ache sein und der Herdschein des Fischerhauses, dessen Bewohner sich - denn der Morgen war nahe - vor der Dämmerung schon zum Tagewerk erhoben hatten. So meinte Eberwein. Doch als er den Niederstieg über den steilen von Büschen überwachsenen Pfad mühsam vollendet hatte und ebenen Grund erreichte, gewahrte er im auftauchenden Mondlicht, daß er auf engem von Felswänden eingehegtem Raume stand, während vor ihm der See sich dehnte, in weitem Kreis umschlossen von den schwarzen Mauern der Berge. Schreck und Sorge befielen ihn. Wie sollte es seinen erschöpften Kräften gelingen, den Knaben wieder [342] empor zu tragen über den steilen Hang? Da leuchtete weit draußen im See der Feuerschein, und ein hoffender Gedanke zuckte in Eberwein auf: das mußte Sigenot sein, der bei Fackelhelle die Netze warf.
„Sigenot!“ hallte der Ruf des Mönches in die weichende Nacht. Keine Antwort kam; nur das Echo wiederholte dumpf die letzte Silbe des Namens: „Not!“ Doch meinte Eberwein zu gewahren, daß die Fackel näher käme. Auf einer Steinstufe saß er, den Knaben auf seinem Schoß, und harrte ...
Der Himmel wurde bleich, es graute der Morgen über dem See, und der Feuerschein erlosch. In Eberwein verstummten alle Sorgen dieser Stunde vor der ungeahnten überwältigenden Schönheit des Bildes, welches die schwindende Dämmerung vor seinen staunenden Augen entschleierte. In sachten Wellen schwankend, durchsichtig grün wie ein Smaragd, eine geheimnisvolle Flut, welche mit jedem Wellenschlag das Lied der eigenen Schönheit rauschte, so dehnte der See sich hin in stundenweite Ferne. Die Ufer schienen keinen Pfad zu dulden; als hätte die Natur diese herrlichste ihrer Stätten geheiligt vor dem Fuß der Menschen, so stiegen die im Rund geschlossenen Berge steil aus der Flut und wuchsen zum Himmel. Dunkle Fichtenwälder und Laubgehölze, die im Welken alle Farben spielten, bekleideten die ragenden Gehänge, wie bunte Festgewänder die Großen schmücken, wenn sie den Thron umstehen. „Wahrlich, ein Thron der Schönheit,“ rief Eberwein, „ein königlicher See! Er soll den Namen führen, der ihm gebührt!“
Immer herrlicher traten alle Formen und Farben aus dem Duft des Morgens hervor, neue Schönheit wuchs hinter jedem weichenden Schatten, und die Gießbäche schimmerten, als gössen geheimnisvolle Hände flüssiges Silber über die Wände nieder in den See. Ein schwindelnd hoher Felsgrat und der weiße Schnee, der die höchsten Kuppen deckte, begannen schon zu leuchten im ersten Glanz des nahenden Tages. Rot säumten sich die Wolken, welche hoch durch die Lüfte jagten, wie geflügelte Boten. Träumenden Auges blickte Eberwein zu ihnen auf ... wie hätte er bei ihrem rosigen Schimmer ahnen mögen, daß sie die Boten der Vernichtung waren, welche aufstieg aus dem Schoß der Nacht, um diese Stätte der Schönheit heimzusuchen. Er sah die leuchtende Strahlengarbe, welche von Osten her über alle Höhen loderte, und ihm war, als hätte der Himmel sich aufgethan und eine Stimme riefe: „Preise die Größe meiner Allmacht! Genieße, was ich schuf zur Freude der Menschen!“
Aus seiner Versunkenheit riß ihn ein leiser Wehlaut des Knaben. „Hast Du Schmerzen?“ fragte er erschrocken. Der Bub’ schüttelte den Kopf und lächelte; doch es sprachen die Furchen auf seiner Stirn. Hastig trug ihn Eberwein zum Ufer und ließ ihn zwischen Büschen auf weichen Rasen nieder. Mit dem Tuche, das er am Gürtel fand, wusch er ihm die von Blut überronnenen Füße und verband die Wunden. Lächelnd, mit verträumten Augen zur Höhe blickend, saß der Knabe und lispelte: „Wie das kühlet, wie das wohl thut!“ Und nach einer Weile fragte er: „Gelt, das alles thust an mir, weil’s der gute Vater so will?“
Eberwein konnte nicht sprechen, die Prüfung der Wunden hatte ihm gesagt, daß der Knabe an den Füßen gelähmt sein würde für sein ganzes Leben. Huze aber sah nicht, was in den Zügen des Mönches redete; er blickte zum leuchtenden Himmel auf und flüsterte: „So viel gut, wie der ist, so gut ist keiner mehr!“
Und als die Binden geschlossen waren, sagte er: „Ich mein’, ich müßt’ schon laufen können!“ Er zog sich an Eberwein in die Höhe, und der Glaube gab ihm Kraft. Er konnte stehen und schlurfend, mit klunkernden Füßen, that er ein paar kleine Schritte; dann sank er auf einen Stein. „Es geht schon, wohl wohl, es geht schon wieder! Ein lützel hinken werd’ ich halt müssen. Aber das thut nichts! Wer schnell hinket, kommt auch vom Fleck! Gelt? Freilich, hinauf ...“ seine Augen suchten die Alben und wurden feucht, „hinauf werd’ ich wohl nimmer können. Aber herunten ist auch ein gutes Weilen!“
In wortloser Bewegung streifte Eberwein mit den Händen über das Haar des Knaben.
Da deutete Huze: „Und schau’ nur: sell schickt uns der gute Vater auch schon das Schiffl her!“
Eberwein blickte auf und sah den Einbaum schwimmen, noch ferne von ihnen doch nahe dem gleichen Ufer, und der Kahn schien in gerader Fahrt sich zu nähern. Aber nein, nun lenkte er jählings zur Seite und drohte hinter einer Biegung der Felswand zu verschwinden. Eberwein wollte rufen; da hörte er zu seinen Häupten die Stimme Reckas: „Ulla! Hier! Nimm den Mantel und bring’ ihn mir hinunter an das Ufer.“ Auf einer vorspringenden Felsplatte erschien sie, von einem weißen Mantel umhüllt. Durch die Lücken des Buschwerks blickte Eberwein empor und sah, wie Reckas entblößte Schultern sich aus der Hülle hoben. Im Schreck umschlang er den Knaben und deckte die Augen mit der Hand. Doch ob er die Lider auch geschlossen hielt, er konnte das Bild des Weibes nicht mehr aus seiner Seele scheuchen, er sah den Mantel niedergleiten, sah den schimmernden Körper von der Höhe stürzen, umflattert vom Goldhaar, und niedertauchen in die Flut. Als das Wasser rauschte, riß Eberwein den Knaben auf seine Arme und eilte durch die Büsche am Ufer hin, bis die Felswand seine fliehenden Schritte hemmte. Auf den Knien liegend, mit hämmernden Pulsen, zitternd an allen Gliedern, drückte er den Knaben an sich. Er mußte jedes Wort vernehmen, welches Recka aus den Wellen rief, jedes Wort, das die alte Magd erwiederte, und hörte das Wasser plätschern, als die Badende an das Ufer stieg und nach der Hülle verlangte.
„Schau’ nur, wie Du zitterst!“ jammerte die Magd. „Baden! Bei solchem Wetter!“
„Es war wie Eis! Aber diese Nacht ist weggespült!“
Die Stimmen entfernten sich und verklangen auf der Höhe des Felsenpfades; durch die Büsche nieder schimmerte noch der weiße Mantel.
Da rang es sich von Eberweins Lippen: „Hiltischalk! Vergieb mir!“
Scheu blickte Huze in das brennende Gesicht des Mönches. „Was hast denn, Gottesmann! Warum denn thust Dich fürchten vor ihr? Sie hat uns doch geholfen in der Not und wird doch jetzt wider uns nicht feindlich thun?“
Gedämpfte Stimmen klangen, und der Schlag eines Ruders ließ sich vernehmen. Eberwein sprang auf und trug den Knaben durch die Büsche ans Ufer. Als seine heißen Augen niederblickten in die klare Flut, gewahrte er ein wundersames Bild: in der Tiefe des Wassers, auf grünem Moosgrund, hing mit gebreiteten Schwingen ein verendeter Schwan im Kraut verbissen; sacht bewegte der Wellengang das schneeige Gefieder und rührte die Leichname zweier Falken, welche im Tod noch ihre Fänge um den Hals des Schwans geschlagen hielten.
„Wer sendet mir diesen Anblick?“ stammelte Eberwein. „Wie die Falken an diesem Schwan, so hängt der Zweifel und die Sünde an meinem Herzen! Herr! Laß mich niedertauchen in die Tiefen Deiner rettenden Liebe!“
An der Biegung der Felswand glitt der rauschende Einbaum unter den Büschen hervor. In Schreck und Freude erkannte Sigenot den Mönch und trieb mit klatschendem Ruderschlag den Kahn zum Ufer. Eberwein begrüßte den Fischer mit einem stummen Händedruck und ließ sich mit dem Knaben in den Einbaum heben, wußte aber kaum, wohin die Füße stellen; denn der Boden des Kahns war bedeckt mit den Fischen, welche in der an einem Weidenseil nachschwimmenden Kufe nicht mehr Platz gefunden hatten. Immer dem Fuß der Felswand folgend, trieb Sigenot mit wuchtigen Ruderschlägen das Boot. Den Knaben auf seinem Schoß, saß Eberwein schwer atmend und mit gesenkten Augen; seine Lippen blieben geschlossen, er schien nicht zu sehen, nicht zu hören. Doch Huze gab Antwort auf die drängenden Fragen der beiden Fischer, und in tiefer Bewegung hörte Sigenot, was der Knabe erzählte von seinem Leiden, von dem Wunder seiner Rettung. Hinter dem gleitenden Nachen schloß sich der Weitfee. Still, vom Duft des Morgens umflossen lag die Lände und das Fischerhaus, aus dessen Moosdach sich der Herdrauch kräuselte. Dünne Nebel dampften aus dem Röhricht und hoben sich in die weißen Lüfte, als trügen sie den immer dichter ziehenden Wolken Kunde aus der Tiefe zu.
Der Einbaum fuhr in den Sand, und es wurde lebendig im Hag. Eigel und die beiden Sennen kamen gelaufen. Hilmtrud wollte ihnen folgen; doch Kaganhart faßte sie am Arm und zog sie unter leisem Schelten um die Hausecke. Als der Mönch aus dem Nachen stieg, fiel der Kohlmann vor ihm nieder und küßte den Saum seines Kleides. Doch Eberwein sah ihn nicht; seine Augen hingen an dem ragenden Kreuz. Mit gestreckten Armen eilte er dem heiligen Zeichen entgegen, beugte die Knie, umklammerte den Stamm mit beiden Armen und preßte die Stirne an das Holz.
[343] „Er redet mit seinem guten Helfer!“ flüsterte Sigenot. „Laßt ihn allein! Tragt den armen Buben ins Haus!“
Doch Huze wollte sich nicht tragen lassen. „Die Händ’ von mir! Ich geh’ schon, wohl wohl ... mir hilft schon einerl“ Seinen Schwerz verbeißend, richtete er sich auf und duldete kaum, daß Wicho und Eigel ihn stützten, als er Schrittlein um Schrittlein dem Hagthor entgegenhinkte.
Es währte lange, bis Eberwein sich erhob. Unter dem Thor trat Sigenot vor ihn hin und sprach: „Eh’ Du den ersten Schritt in meine Hofreut thust, laß raiten mit Dir. Wie ich selbigsmal von Dir gegangen bin, hab’ ich gemeint, ich könnt’ wiederkommen mit hundert hinter mir. Ich kann mein Wort nicht lösen – frag’ nicht, warum! Aber mich nimm ganz, mich und meine Leut’! Und wo der Mann ist, muß sein Haus sein!“ Er zog das Messer vom Gürtel, schlug vom Pfosten des Hagthors einen Span und legte ihn in Eberweins Hand. „So nimm mein Haus mit allem Recht und Eigen! Thu’ mit ihm nach Deinem Willen, laß mir die Nießung oder gieb sie einem andern ... Du bist der Herr!“
„Was Du bietest, soll gelegt sein in Gottes Hand!“ erwiderte Eberwein mit bebender Stimme. „Du aber schalte in Deinem Haus als freier Mann, und mögen Dir Tage des Glückes und der Ruhe blühen unter seinem Dach!“
„Glück, Herr?“ Schwer hob sich die Brust des Fischers. „Hätt’ ich die Ruh’ allein, ich wär’ zufrieden!“
„Sigenot, was bedrückt Dich? Sprich!“
Da klang es wie ein Schrei aus tiefer Qual. „In mich ist Feuer gefallen, bei lebigem Leib verbrennt mein Herz! Wo ich hoffen müßt’ ...“ Sigenot verstummte und drückte die Fäuste auf seine Brust, mit heißen Augen aufblickend über den See, zur Höhe der Falkenwand.
Eberwein sah diesen Blick. „Sigenot!“ stammelte er und umschlang den Fischer mit ungestümeb Armen. –
In Wazemanns Haus kläfften die Hunde, denen der Zwingerknecht das Futter zutrug. Von dem Lärm und Geheul, das sie erhoben, erwachte Herr Waze aus Schlaf und Rausch. Lallend stierte er im Saal umher und fuhr mit beiden Händen nach dem Gürtel; als er den Schlüssel griff, der an ledernem Riemen hing, lachte er heiser, fiel wieder zurück auf die Polster und schloß die Augen.
Es stieg der Morgen. Im Thal der Ache hoben sich schwere Dünste aus allen Sümpfen und zogen wie schleichende Gespenster durch den Wald und über die Halden. Sie stiegen in die Lüfte und verschwammen mit dem Gewölk, das seinen Lauf zu hemmen schien. Wolke schloß sich an Wolke, und immer dichter breitete sich die graue Wand zwischen Erde und Himmel. Als hinter den Bergen die Sonne stieg, fanden ihre Strahlen keinen Weg in das Thal mehr offen.
Fahles Zwielicht wie an einem düsteren Wintermorgen lag über dem Lokiwald. Und nur eine spärliche Helle fiel in die tiefe Wolfsgrube, in welcher Bruder Wompa gefangen saß. Noch immer kauerte er in der gleichen Ecke, die aufgezogenen Knie mit den Armen umschlungen haltend, die schlotternden Backen überronnen von kaltem Angstschweiß ... und ihm gegenüber, in einen Winkel gedrückt, hockte der Wolf wie ein Hund auf den Hinterbeinen. Die lechzende Zunge hing ihm zwischen den Zähnen hervor, und seine Augen waren unverwandt auf den Gesellen in der Grube gerichtet, der dem Wolfe nicht minder schrecklich erschien als der Wolf dem Bruder. Da fürchtete einer den andern. Wampo redete mit keuchender Stimme; seit das erste Grau des Tages in die Grube gefallen, hatte er die Zunge nicht ruhen lassen; verstummte er und ging ihm der Atem aus, so wurde das Tier unruhig – sprach er aber, so saß der Wolf mit schiefem Kopf und äugte nach den tönenden Lippen, halb in Scheu und halb wie in Neugier. Alle Gebete, die er wußte, alle Lieder und Litaneien, deutsch und lateinisch, hatte Bruder Wampo schon hergesagt. Auf die Psalmen Davids waren Salomonis Sprüche gefolgt. Er hatte dem Wolfe die schöne Geschichte der holden Ruth erzählt und war von der Königin Esther auf Hiob geraten. Da hielt er nun im siebenten Kapitel, als fern im Wald die rufende Stimme Schweikers klang. Ein Zittern befiel den Bruder, brennende Röte schoß ihm in das bleiche Gesicht, doch er wagte weder zu schweigen, noch zu schreien; nur langsam hob sich seine erschöpfte Stimme. Näher klang das Rufen Schweikers, der Wolf wurde unruhig und spitzte die Lauscher, seine Haare sträubten sich und mit funkelnden Augen streckte er den Hals. Schritte ließen sich hören: Schweiker kam durch den Wald einhergegangen.
„Nicht wehren will ich meinem Munde,“ scholl die Klage Hiobs in der Grube, „ich will reden von der Bedrängnis meines Herzens und will heraus sagen von der Betrübnis meiner Seele ...“
Schweiker erkannte die Stimme. „Bruder!“ schrie er und spähte nach allen Seiten in den leeren Wald.
„Bin ich denn ein Meer oder Walfisch, daß Du mich so verwahrest?“ klang es aus der Erde. „Wenn ich gedacht ...“
„Bruder, wo bist Du?“ In langen Sprüngen folgte Schweiker dem Hall dieses Jammers und fand die Grube. „Allmächtiger!“ stammelte er und griff nach dem Beil, das er im Gürtel trug. Da erloschen plötzlich die betenden Worte unter lautem Gezeter. Denn mit tollem Satz war der Wolf auf Wampo losgesprungen, und des Bruders Schultern und Glatze als Schemel benutzend, schwang sich das Tier zum Rand der Grube. Schon aber wirbelte Schweiker das Beil und warf. Einen Sprung noch that der Wolf, dann stürzte er blutend ins Moos. Ein wuchtiger Hieb endete sein Leben. „So soll es jedem ergehen, der wider uns anspringt!“
Bruder Wampo hüpfte wie ein Frosch, um die Hände zu fassen, mit denen Schweiker in die Grube niedergriff. Das kostete ein festes Ziehen, denn das Bäuchlein wog, obwohl es in dieser Nacht um einige Pfunde minder geworden.
„Bruder! Das soll Dir Gott vergelten mit reichem Himmelsbrot!“ stöhnte der Erlöste, als er ebenen Grund betrat; er fühlte nach seiner Glatze, ob sie nicht blute, wischte den Angstschweiß vom Gesicht und taumelte ins Moos, alle Viere streckend.
Schweiker warf sich neben ihm auf die Knie und umschlang ihn. „Dich hab’ ich! Aber wo ist der Herr?“
„Ich weiß nicht! Laß mich nur erst mich selber finden!“ Bruder Wampo war so erschöpft, daß ihm die Sinne zu schwinden drohten. Aber der Anblick des erlegten Raubtiers machte ihn wieder lebendig. „Schweiker,“ rief er, „das Fell muß ich haben für mein Bett! Ich mein’, ich hab’s verdient!“ – –
Eine Stunde später war Bruder Wampo an Leib und Seele gestärkt und neu gekräftigt. Der Sterz mit Wasser hatte ihm all sein Leben lang noch nie so köstlich gemundet wie an diesem Morgen. Nun lag er im Halbschlaf auf seiner Stangenbritsche – wie weich ihn das Moosbett dünkte! – und seine Ruhe störte kein Laut. Er war allein. Waldram und Schweiker waren ausgezogen, um nach Eberwein zu forschen.
„Er hat den Bruder in der Ramsau aufgesucht, dort will ich fragen nach ihm!“ hatte Waldram gesagt und war hinausgewandert gegen die Strub.
„Er muß bei dem kranken Kindl gewesen sein, dort will ich suchen!“ meinte Schweiker und stieg über die Gehänge des Göhl empor. Als er die Höhe erreichte und vom Waldsaum aus den Hag des Greinwalders erblickte, hämmerte sein Herz, daß ihm die Adern am Hals wie Striemen schwollen. Er meinte, das käme vom raschen Gang. Freilich, es stockte ihm fast der Atem ... und da begann er nun gar noch zu laufen: so große Eile hatte er, Kunde von seinem Herrn zu hören. Mit Faust und Grießbeil schlug er an das geschlossene Thor. „Thut auf in Gottes Namen!“ Er hörte flüsternde Stimmen im Hof, dann gedämpfte Schritte; doch niemand kam, um das Thor zu öffnen.
Schweiker pochte und rief, aber hinter dem Hag blieb alles still. Er wurde blaß und rot, mit beiden Fäusten trommelte er auf den Bohlen und schrie, daß in der Runde der Wald erschallte: „Thut auf! Aber Leut’, so thut doch auf!“ Als er wieder einmal mit verhaltenem Atem lauschte, war es ihm, als klänge vom Hause her ersticktes Weinen an sein Ohr. Das konnte der Bauer nicht sein, auch nicht die Bäuerin. Kalt wie Eis fuhr ihm ein Schreck in alle Glieder. „Da muß ein Unheil geschehen sein!“ stammelte er, und vor seinen Augen stand ein Bild: Wazemanns Söhne waren in den Hag gefallen, sie hatten den Bauer und die Bäuerin niedergeschlagen oder gefesselt, hatten um die Hände des wunden Mädchens die Stricke geschlungen und ... doch weiter dachte er nicht „Hinzula!“ schrie er, warf das Grießbeil nieder, verschlang die Arme über der Brust und rannte mit der klobigen Schulter wie ein Sturmbock gegen das Thor. Alle Bohlen krachten, der Riegel splitterte, und Bruder Schweiker hatte freien Weg. Er raffte einen Prügel von der Erde und stürzte dem Hause zu. Unter der Thüre trat ihm die Bäuerin entgegen, bleich, mit aufgerissenen Augen; sie knickte fast zu Boden bei Schweikers Anblick, der [346] den Knotenstock schwang mit hallendem Ruf: „Wo sind die Buben? Wo sind sie?“
„Buben? Was für Buben?“ stotterte sie. „Ich hab’ nur einen einzigen! Und der ist auf der Alben!“
Schweiker ließ den Prügel fallen und griff mit beiden Händen an seinen Kopf, in dem er einen Wirbel spürte, als wären seine Gedanken ein Häuflein Blätter, die der Wind gefaßt. Hinter dem Stall kam der Greinwalder hervorgeschlichen. „Da hört sich doch alles auf!“ brnmmte er. „Gleich ein Loch in den Hag rennen! So ein Unfirm!“ Er ging zum Thor, kraute sich hinter den Ohren und besah den Schaden.
„Warum habt Ihr denn das Thor nicht aufgethan? Ich hab’ doch gerufen!“ stammelte Schweiker.
„Gerufen, gerufen!“ Das Weib wurde rot bis über die Ohren und schielte nach ihrem Mann. „So ’was muß man doch hören eh’ man aufthun kann! Was willst denn eigentlich?“
Da mußte sich Schweiker besinnen, nach einer stummen Weile fiel es ihm ein: „Meinen Herrn hab’ ich suchen wollen. Ist er nicht dagewesen?“
„Nein, nein, hab’ nichts gesehen, hab’ nichts gehört.“
„Aber er muß doch dagewesen sein! Ich hab’ doch gesehen, wie er über die Halden heruntergestiegen ist. Wo sollt’ er denn gewesen sein, wenn nicht bei Deinem Kindl?“
Verlegen suchte die Bäuerin nach Worten, doch sie fand nur wieder die alte Rede: „Nein, nein, hab’ nichts gehört, hab’ nichts gesehen!“
Schweiker schüttelte den Kopf und machte ein paar Schritte gegen das Thor. Schwer atmend blieb er wieder stehen und fragte: „Wie geht’s ihr denn?“
„Gut, gut!“ lautete die hastige Antwort. „Da brauchst Dich nimmer sorgen! Kannst schon gehen! Wohl wohl! Sie wird bald wieder hüten können.“
„Der liebe Gott sei drum gelobt!“ Ein tiefer Seufzer, und Schweiker ging zum Thor; doch wieder kehrte er um, und seine Stimme schwankte: „Sag’ ihr ... sag’ ihr, ich thu’ sie grüßen lassen! Gelt, sag’ ihr das!“
Er wollte gehen; da klang es mit zitterndem Ruf aus der Stube: „Gottesmann!“
Mit einem Sprung war Schweiker bei der Thüre; stotternd wollte ihm die Bäuerin den Weg verlegen, aber den das Thor nicht aufgehalten, den hielten auch die Hände des Weibes nicht. Im Halbdunkel der Stube leuchtete ihm vom Bett das Gesichtlein der Hirtin und die weiße Binde entgegen. „Kindl! Kindl!“ Mehr brachte er nicht über die Lippen.
Wortlos streckte Hinzula die Hände nach ihm. Als er zögernd nähertrat, sah er ihre verweinten Augen und die Spur der Zähren auf ihren schmächtigen Wangen. „Gelt, so hab’ ich doch recht gehört!“ stammelte er. „Was ist denn geschehen, Kindl? Sag’ doch, sag’, warum denn hast Du geweint?“
„Weil, weil ...“ da gewahrte Hinzula die Zeichen, die ihr die Mutter hinter dem Rücken des Mönches machte. Sie senkte die Augen und lispelte: „Weil ich Schmerzen hab’.“
Erschrocken faßte er ihre Hände, setzte sich auf die Kante des Lagers und starrte mit kummervollen Augen auf ihre blassen Züge. Sie schien die Sprache seiner Blicke zu verstehen. „Mir ist schon wieder ein lützel besser,“ flüsterte sie mit scheuem Lächeln und ließ sich auf das Heupolster zurücksinken. „Thu’ nur meine Händ’ nicht auslassen!“
Bruder Schweiker hielt fest. Nach einer Weile aber wurde er unruhig und drehte immer wieder das Gesicht zur Thüre.
„Was schaust denn alleweil’?“ fragte sie.
Er zögerte mit der Antwort.. „Ich mein’, ich werd’ wohl fort müssen.“ Sie hob sich erschrocken auf und ihre zitternden Finger umklammerten seine Hände. „So schau’ doch, Kindl,“ jammerte er, „ich muß ja meinen Herrn suchen!“
Sie ließ das Köpflein sinken. Weshalb er gehen mußte, das kümmerte sie nicht – sie hörte nur, daß er nicht bleiben konnte, und seufzte. „So gut ist mir, wenn Deine Händ’ mich halten! Schier völlig gesunden hätt’ ich können ... jetzt muß ich halt wieder liegen in Schmerzen!“
Bei dem fassungslosen Zwiespalt, in welchen Bruder Schweiker durch diese Worte geriet, fiel es ihm gar nicht auf, daß dem Druck seiner Hände eine so wundersame Heilkraft innewohnte. Was sollte er thun? Konnte er gehen? Durfte er bleiben? Im Wirbel dieser Fragen kam ihm wie eine Erleuchtung die Erinnerung, daß Eberwein einst zu ihm gesprochen: „Findest Du ein Menschenkind in Not und Schmerzen, so denke nicht Deiner selbst, nicht Deiner Brüder und des Klosters, Not hat kein Gebot als nur das einzige des Erbarmens!“ Und es war doch sein Herz des „Erbarmens“ so voll, daß es ihm fast zerspringen wollte.
„Ja, Kindl, ja, Du bist in Not und Schmerzen, da muß ich bleiben! Das hat er selber gesagt!“
Ueber die Züge der Hirtin ging ein Lächeln, so hell wie Sonnenschein ...
Draußen aber leuchtete kein Strahl. Grau hing das dicht geschlossene Gewölk über dem Thal, alle Spitzen der Berge verhüllend. Kein Windhauch regte sich, und das trübe Zwielicht verschleierte die Farben. Es hatte sich über alles Leben der Erde gesenkt wie eine dumpfe trostlose Stimmung. Lautlos dehnte sich der welkende Bergwald, und es schien, als stünde jeder halb entblätterte Strauch und jeder fröstelnde Baum in Furcht und Scheu vor einem nahenden Feind. Dunkler und dunkler sammelten sich die Wolken. Aus allen Bergscharten tauchten sie auf, glitten die Gehänge entlang und drängten sich über dem Thal zu Hauf, als wäre in den Lüften ein „Thing“ berufen, welches entscheiden sollte über die kommende Zeit. In schwärzlichem Blau wälzte sich ein gesonderter Wolkenzug, zwischen dem Totenmann und Steinberg, über das Ramsauer Thal einher.
Die ziehenden Schwaden streiften den steilen Bergwald, durch welchen der alte Runot von den Alben niederstieg. Er hatte seine Buben gerufen, um mit ihrer Hilfe sein in Trümmer gefallenes Haus neu wieder aufzurichten. Als er das Thal erreichte und am Kirchleiu vorüberschritt, sah er das greise Paar auf der Steinbank unter der Linde sitzen; um den Baum her war die Erde gelb von gefallenen Blättern. Der Bauer lüftete zum Gruß das lederne Käpplein und deutete nach der Höhe. „Schau’ hinauf, die tragen den weißen Winter im grauen Kittel.“
„Wohl wohl,“ nickte Hiltischalk, „tummel’ Dich nur, daß Du Dein Häusl unter Dach bringst, ’vor der Schnee am Hag hinaufwachst.“
„Ich mein’, es wird sich machen. Bieten doch alle Nachbarsleut’ die Händ’ zum Schaffen.“
„Recht so, recht, nur alleweil’ fest zusammenhalten! Bei solchem Bund ist Gottes Segen. Geh’ nur, geh’ und versäum’ kein Stündl!“
Der Bauer grüßte und wanderte weiter.
„Ist ein guter braver Mann!“ nickte der Greis. „Gott hat sich sichtlich an ihm erwiesen und wird ihm das neue Haus behüten.“
„Ja, das wird er!“ sagte Hiltidiu mit ihrer leisen Stimme und blickte mit verträumtem Lächeln auf das Sträußlein in ihren Händen. Es waren welkende Heideblumen ... die Blüten, die ihr Eberwein gesandt. Nach einer Weile suchten ihre Augen den Weg, der neben dem Kirchhof vorüberzog und am Ufer der Ache unter Bäumen verschwand. „Meinst, er kommt wohl heut’ noch?“
„Freilich, freilich, er hat es ja durch die Mätzel sagen lassen!“ Hiltischalk griff an seiner Kutte umher. „Wo hab’ ich nur das Birkenblättlein?“ Er zog aus einer Tasche die weiße Rinde hervor und las: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden!“ Er faßte die welken Hände der Greisin und wortlos schmiegten sie die faltigen Wangen aneinander. Um sie her fielen die Blätter, und hoch in den Lüften, fast im Gewölk, eilte eine Schwalbenschar der Ferne zu, wie auf hastiger Flucht ...
Die Greisin fuhr auf, zitternd, und deutete gegen das Thal der Ache. „Er kommt! Er kommt! Schau’ nur: zwischen den Bäumen seh’ ich das schwarze Häs!“
„Wohl wohl, das ist er schon!“ rief Hiltischalk. So schnell, als ihre alten Füße sie trugen, eilten sie zum Thor der aus Felsbrocken aufgeschichteten Umfriedung.
„Willkommen, willkommen!“ rief der Greis in bebender Erregung, „willkommen in Gott, Du mein guter Bruder ...“ Er verstummte und blickte erschrocken auf den Mönch, weicher wankenden Ganges den Hof betrat. Pater Waldram war es, kaum trugen ihn die Füße noch, und keuchend ging sein Atem; seine bleiche Wange war blutig geschunden wie von einem Sturz, und übel hatten die Dornen des Weges und die dürren Aeste des Urwalds seine Kutte zugerichtet. Und was er sonst noch auf diesem Wege erfahren, redete aus dem heiseren gereizten Klang seiner ersten Worte. „Ein Thor, das dem Diener Gottes offen steht? Wo sind die Hunde, um mich zu jagen? Wo die Steine, die mich treffen sollen?“ Seine Hände, die den Stab verloren, griffen nach einer Stütze, und taumelnd sank er auf die Steinbank nieder.
[347] Stotternd in Schreck und Sorge umschlang ihn Hittischalk mit beiden Armen. Lauf, Hilti, lauf, bring’ Speis’ und Trank, daß wir den Müden laben! Schau’ nur, der gute Bruder ist völlig von Kräften!“
Die Greisin eilte ins Hans. Bei Hiltischalks letzten Worten hatte Waldram sich aufgerichtet. „Ohne Kraft ist nur, wen Gott nicht stärket!“ Er stand und hob die Arme. „Ich stehe auf Gottes geweihter Erde, und mir ist wohl!“
„Freilich, freilich, mein guter Bruder, freilich: wohl ums fromme Herz ... aber schau’, der schwache irdische Leib, das ist eine andere Sach’!“
„Rede nicht unnütz! Bist Du Hiltischalk, der Leutpriester in der Ramsau?“
„Wohl wohl, mein lieber Bruder, der bin ich. Und Du bist von den Gademer Brüdern einer? Gelt? Der gute Herr hat wohl selber nicht kommen können, so hat er wohl Dich geschickt, um mir die Ruh’ zu bringen ...“
„Mich hat die Sorge geführt. Eberwein, mein Herr und Propst, ist gestern mit dem Morgen ausgezogen und zur Nacht nicht heimgekehrt.“
„Nicht heimgekehrt!“ Erschrocken schlug Hiltischalk die Hände ineinander. „O Du allgütiger Gott im Himmel! Es wird ihm doch kein Unheil widerfahren sein?“
„Er war bei Dir?“
„Freilich, und meine Magd hat ihn hinausgeführt bis in die Schönau und hat das Sträußlein von ihm gebracht und das Birkenblatt und hat mir ausgerichtet, heut’ will er wiederkommen. Stund’ um Stund’ schon warten wir auf ihn mit Schmerzen ... denn wenn mir der liebe Bruder auch gleich das Birkenblatt geschickt hat und das Sträußlein für mein gutes Weib, so hätt’ ich halt doch gern ...“ Der Greis verstummte.
Wie vor einem Aussätzigen war der Mönch vor ihm zurückgewichen. „Dein Weib! Du sagst: Dein Weib, und es öffnet sich unter Deinen Füßen nicht die Hölle!“
„Aber mein lieber Bruder,“ stammelte Hiltischalk, „tausendmal thu’ ich Dich bitten: laß doch reden mit Dir in Ruh’!“ Seine Stimme dämpfte sich zu zitterndem Flehen. „Schau’ nur, da kommt meine gute Hilti ...“
Die Greisin kam aus dem Haus, achtsam ein Kännlein Milch in den Händen tragend; Mätzel folgte ihr mit Brot und Käse. „Nehmet, lieber Gast,“ sagte Hiltidiu, „und genießet der Gottesgäb’ ...“
„Lästere nicht den Himmel mit diesem Wort!“ klang Waldrams schrille Stimme. „Eh’ soll der Hunger mich töten, eh’ meine Lippe kostet, was solche Hand mir bietet. Des Teufels ist, was Du berührtest mit verfluchten Händen!“ Und mit zuckender Faust schlug Waldram die Kanne aus der Hand der Greisin. Bleich und zitternd stand Hiltischalk, zu Tod erschrocken sein Weib. Mätzel ließ die hölzerne Schüssel fallen, rannte kreischend aus dem Hof und durch das Thal hin klang ihr zeterndes Geschrei um Hilfe.
„Herr, Herr,“ keuchte der Greis, während seine Blässe mit dunkler Röte wechselte, „übel thust Du an meinem Weib!“ Er trat vor Hiltidiu hin und breitete schützend die Arme.
„Bangest Du um die Gesellin Deiner Sünde? Rufe zu ihrem Schutz die Hölle an, sie wird erscheinen, denn Jubel und Freude habt Ihr dem Teufel bereitet!“
„Herr, Herr,“ schrie Hiltischalk in wachsendem Zorne; doch die Greisin zog ihn an sich, drückte ihm die Hand auf die Lippen und sagte zu Waldram: „Redet nicht so böse Wort’! Blicket her auf unser weißes Haar und habet Ehrfurcht vor dem Alter!“
Unbewegt, mit einem Antlitz, in dessen Zügen der Zorn versteinert schien, stand der Mönch. „Ich kenne nur eine Ehrfurcht: die Ehre, die ich dem Himmel gebe, die Furcht vor Gott. Wider den Himmel habt Ihr gefrevelt, und Gottes Wohnhaus habt Ihr entweiht zur Stätte des Lasters! Es sandte mich der Herr, sein heiliges Haus zu reinigen und Gericht zu halten über Euch. Wollt Ihr der Hölle nicht ewig verfallen sein, verstoßen aus dem Schoß der Kirche, wollt Ihr nach schreiender Sünde noch Buße gewinnen, so zerreißet ohne Zögern den verruchten Bund, den der Teufel gesegnet! Löset Eure Hände! Tretet auseinander! Ihr sollt geschieden sein wie Tag und Nacht, und Meer und Berge sollen liegen zwischen Euren Herzen!“
Die flammende Kraft dieser Worte versagte auf das greise Paar die Wirkung nicht. Wohl lagen ihre Hände ineinander wie festgeschmiedet, doch zitternd standen sie, mit bleichen Gesichtern und starren Augen.
„Hört Ihr das Geheiß der Kirche nicht? Mit jedem Atemzug, den Ihr noch Seite an Seite schöpfet, mehrt Ihr Eure Sünde! Tretet auseinander! Löset Eure Hände! Verflucht ist jeder Blick, den Ihr Auge in Auge taucht!“
„Aber Bruder, Bruder!“ stammelte Hiltischalk und holte aus seiner Tasche mit schlotternder Hand das Birkenblatt hervor. „Lies doch, lies, welch eine Botschaft uns Dein Herr und Propst gesendet!“
Waldram las und wie in Entsetzen schleuderte er das Blatt von sich. „Er sandte Dir diese Worte? Er? Und er wußte, daß Du in Buhlschaft lebst?“
Hiltidiu schlug die Hände vor das Geacht, der Greis aber richtete sich auf, als wäre seinen Gliedern Kraft und Jugend wiedergekehrt. „Sag’ das Wort nicht wieder!“ klang seine bebende Stimme. „Ich und meine Hilti, wir leben in frommer gottesfürchtiger Eh’. Und was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden! Der mir die Wort’ geschickt hat, dem glaub’ ich mehr als Dir!“
„Er wußte um Deine Sünde und mißbrauchte das heilige Wort! Er hat gehandelt wider Eid und Pflicht, hat die Treue gebrochen, die er der Mutter Kirche zugeschworen ... und ich frage noch, weshalb er nicht heimgekehrt? Geh’ doch, geh’, suche die Tiefe, in die ihn Gott gestürzt zur Strafe seines Treubruchs!“
Hiltischalk drückte das thränenüberströmle Gesicht seines Weibes an die Brust und umschlang sie mit zitternden Armen. „Laß ihn reden, Hilti,“ sagte er schluchzend, „laß ihn reden! Wir zwei, wir können nimmer voneinander. Gewachsen sind wir und gestanden Seit’ an Seit’, zwei gute feste Bäum’. Die Aest’, die sind verflochten, daß keiner mehr die Blätter scheidet, und aneinander sind die Stämm’ gewachsen, daß zwischen ihnen nimmer Platz ist für den Beilhieb. Uns zwei, uns löset keiner mehr. Laß gut sein, Hilti, laß gut sein ... es giebt kein Beil, das solche Schneid’ hat!“ Zärtlich faßte er mit beiden Händen das Haupt der Greisin und küßte ihr weißes Haar.
Zögernd stand der Mönch, als wäre ihm ein menschliches Rühren in das starre Herz geschlichen; doch seine Hände griffen nach dem Kreuz an seinem Gürtel, und schrill hob sich seine Stimme: „Wagt sich die Hölle schon heran an mich? Weichet von mir, Ihr Geister der Verführung! Mit mir ist Gott!“ Er schwang das Kreuz gleich einem Schwerte und faßte den Arm des Greises. „Ihr wollt das Wort der Kirche nicht hören ... so leg’ ich zwischen Euch das Krenz ...“
Da stürzte Mätzel schreiend in den Hof; ihr folgte ein lärmender Haufe, Männer, Weiber und Kinder; sie umringten das greise Paar, drohende Blicke richteten sich auf den Mönch, die Weiber griffen uach Steinen, die Männer hoben die geballten Fäuste, und ihr Geschrei erfüllte den Kirchhof. Waldram wich zurück, doch wenige Schritte nur; brennende Röte flammte auf seinem Gesicht, und seine Augen glühten. „Wollt Ihr den Diener Gottes morden, verführt von diesem falschen Hirten? Schwinget die Steine doch! Lasset die Fäuste fallen auf mein Haupt ... Ihr seht, ich rühre keinen Arm zu meinem Schutz und fessele meine Hände!“ Das Kreuz umklammernd, streckte er die Hände, als wären sie gebunden, den Schreienden entgegen. Da wurden sie still, ließen die Fäuste sinken und die Steine fallen und starrten mit scheuen Augen auf den Mönch; man hörte nur noch das Rauschen der Ache und das Schluchzen der Magd, welche zu Hiltidius Füßen kauerte. Waldram richtete sich auf und hob das Kreuz. „Fühlt Ihr, daß ich ohne Waffen stärker bin als Ihr mit Euren Steinen und Fäusten? Kommt die Furcht Euch an vor jenem, der über den Wolken wohnt als meine Hilfe? Ein Hauch aus seinem Munde, und Ihr seid wie Blätter vor dem Winde, preisgegeben der Vernichtung! Doch Gott der Herr will Euer Elend nicht und Euren Untergang, er hat mich ausgesandt, um Euch zu retten. Höret mich, Ihr Armen und Betrogenen! Wenn Ihr nicht sinken wollt in ewiges Verderben, so löset Euch von diesem Manne, der als ein falscher Hirte unter Euch gestanden, ein Wolf in Eurer Herde!“
Alle Augen wandten sich auf Hiltischalk und einer der Männer stammelte: „So red’ doch, Bruder Hiltischalk, so red’ doch! Wie darfst Du denn so ’was sagen lassen wider Dich? Du, der alleweil’ zu uns gewesen ist wie ein Vater zu seinen Kindern!“
Lallend bewegte Hiltischalk die Zunge und blickte mit verstörten Augen um sich her.
„Sehet, wie Gott mit Stummheit seine Zunge schlägt und die Lüge erstickt auf seinen Lippen!“ Jähen Schrittes, daß die Weiber und Männer erschrocken vor ihm wichen, trat Waldram [348] auf den greisen Priester zu, mit steinernem Antlitz und flammenden Augen, wie ein Dämon der Rache und des Zornes. „So lös’ ich von Dir das heilige Zeichen, das Du geschändet!“ rief er und riß das hölzerne Kreuzlein von der Brust des Greises. „Und höre Dein Gericht nach dem Gesetz der Kirche: Du bist dem Bann verfallen, verlustig Deines Amtes und Deiner priesterlichen Würde! Die Weihe sei getilgt von Deinem Haupt – was Du gebunden sei gelöst, was Du gesegnet, sei verflucht!“ Er wandte sich zu einem Weibe. „Hat er Dein Kind getauft? So hat er es der Hölle übergeben! Reiß es hinweg von ihm, sei Deinem Kinde eine Mutter, trag’ es in Gottes Haus und leg’ es auf den Altar ... ich will Dir helfen, will zum Himmel schreien, daß Gott Deines Kindes sich erbarme!“ Bleich und zitternd hob das Weib ihren Knaben an die Brust und taumelte in die Kirche, während Waldram den Arm eines Mannes faßte. „Vergab er Deine Sünden? Reichte er Deinen Lippen das Sakrament? Unseliger! Dein Herz ist schwer von Schuld, und Brot der Hölle hast Du genossen! Thue Buße, wirf Dich auf die Knie und bete, daß Gott Dir gnädig sei!“ Da folgte der Mann dem Weibe, das greise Paar noch streifend mit einem scheuen Blick.
Ein paar murrende Stimmen ließen sich hören, doch mit hallender Kraft übertönte sie die Rede des Mönches. „Folget mir, Ihr alle, die dieser falsche Hirte von Gott gewendet und der Hölle zugeführt. Kniet nieder und schreiet zum Himmel um Gnade! Oder es könnte geschehen, daß Gottes Langmut ein Ende nimmt und daß er im Zorne sein Fener wirft auf das entweihte Haus!“
„Es hat ja der Blitz schon in die Kirch’ geschlagen,“ kreischte eine Weiberstimme, „und hat das Kreuz geworfen und das Dach verbronnen!“ Und wieder lichtete sich der Kreis um Hiltischalk. Wie Keulenschläge fielen die Worte des Mönches, und das zehrende Feuer, das in seinem Herzen brannte und von seinen Lippen schlug, erfaßte diese zitternden Menschen. Hiltischalk und Hiltidin hatten aus den Lenten der Ramsau allzu gläubige Christen gemacht, als daß der Himmel und die Hölle, welche Waldram vor ihnen beschwor, ihre Gemüter nicht hätten erfüllen sollen mit scheuer Ehrfurcht und drückendem Bangen. Sie sahen den Himmel verschlossen und die Hölle offen und da streckten sie in Angst die Arme nach der Hilfe. Das kleine Kirchlein füllte sich, und es wurde einsam um das greise Paar, das verloren dastand in sprachlosem Jammer, um sich herstarrend wie in eine stürzende Welt.
[357] Von allen, die um Hiltischalk und Hiltidiu gestanden, war eine einzige nur geblieben, die Magd. Die Hände verkrampft, mit verzerrtem Gesicht und aufgerissenen Augen, kauerte sie auf der Erde. „Willst Du allein dem Himmel nicht folgen?“ schrie Waldram und faßte ihren Arm. „So will ich Dich der Hölle mit Gewalt entreißen!“ Keuchend wehrte sich die Magd; doch Waldram schleifte sie zur Kirche und stieß sie in das offene Thor.
Mit zitternden Händen griff Hiltischalk nach seinen Augen, als müßte er eine Binde niederreißen, die ihm das Sehen wehrte. „Hilti, Hilti!“ lallte er. „Komm! Jetzt müssen wir rufen zu Ihm! Er muß uns hören! Er muß!“ Mit versagenden Knien taumelte er der Kirche zu. Doch Waldram stand vor dem Thor und streckte wehrend die Arme. „Weiche von dieser Schwelle, die Dein Fuß entweiht! Hier wohnt Gott – wo Du bist, brennt die Hölle!“ Das Kreuz erhebend, trat er rücklings in das Dämmerlicht der Kirche. Dröhnend schloß sich das Thor, und der eiserne Riegel klirrte.
Hiltischalks Hände griffen zuckend ins Leere, er drohte niederzustürzen, doch Hiltidiu eilte herbei und stützte ihn; mühsam bezwang sie ihre Thränen und redete zu ihm mit ihrer sanften leisen Stimme, aber was sie auch sagte … er schüttelte den Kopf und wehrte zornig mit den Händen. Wie hätte er auf Worte hören sollen? Er sah die Welt zertrümmert, die sein reiner Glaube und die Liebe ihm erbaut hatten in seinem Herzen, er sah das Haus zerstört, darin er gewohnt in Glück und Frieden. Er hatte gesät durch sechzig Jahre … und wie lag die Ernte jetzt vor ihm? Verwüstet in einer kurzen Stunde! Wovon nun sollte er zehren? Wie sollte er noch leben können?
Mit verstörten Augen blickte er sein Kirchlein an, sein Haus, die welkende Linde und die Gräber; dann hoben sich seine Blicke empor zum grauen treibenden Gewölk, und keuchend rang es sich aus seiner Brust: „Rufen muß ich! Rufen! Rufen! Hat er mich nie gehört … heut muß er mich hören! Und darf ich auch nimmer hinein in das heilige Haus – komm, Hilti, komm, ich weiß schon ein Platzl, wo ich rufen kann, ein Fleckl, wo er mich hören muß!“ [358] Er faßte den Arm der Greisin und riß sie hinter sich her, zum Kirchhof hinaus, hinunter auf den Karrenweg am Ufer der rauschenden Ache, dem stillen Wald entgegen und der Windach zu.
Es ging auf die Mittagsstunde; doch tiefe Ruhe herrschte in Wazemanns Haus. Das Geflügel war in die Ställe gesperrt, und im Zwinger saß ein Rüdenknecht, um die Hunde bei Ruhe zu erhalten. Das Gesinde, welches im Hof und im Unterbau des Hauses beschäftigt war, vermied jedes Geräusch, denn nach einer Nacht wie der vergangenen pflegten Wazemann und seine Söhne dem Lärm nicht hold zu sein.
Herr Waze lag in den Kleidern auf seinem Spanbett, einen nassen Bund um die Stirn, und kaute Schlehen, um den bitteren Pelz auf seiner Zunge mit Bitterkeit zu lösen. Zuweilen grub er das Gesicht in die Bärenhaut und drückte stöhnend die Fäuste an seine Schläfe. Herr Waze litt an Haarweh; wohl hatte er nicht viele Haare mehr, doch die wenigen schmerzten ihn doppelt.
Es wär ein hartes Stündlein für die alte Ulla, als sie zur Not die Herrenstube in Ordnung bringen mußte, um für Mittag die Tafel decken zu können. Bei dem leisesten Geräusch, das sie verursachte, flog eins von den Dingen, die in Herrn Wazes Armbereich nicht niet- und nagelfest waren, ihr an den Kopf oder um die Füße, begleitet von einem Fluch. Als sie die schwere Metbitsche brachte, drückte Herr Waze die Hände an den Kopf und kreischte: „Hinaus mit dem Gesöff! Mir graust! Und Ruh’ will ich haben, Ruh’, Ruh’! Man soll noch warten mit dem Mahl! Solang’ mich selber nicht hungert, braucht kein anderer zu fressen! Wo sind die Buben?“
„Sie liegen noch,“ flüsterte die Magd.
„So laß sie liegen! Und Recka?“
„Sie ist vor Tag zu Berg geritten.“
„Schon wieder! Einen Tag um den andern! Was stehst Du noch? Hinaus mit Dir!“
Ulla zögerte und fragte scheu: „Herr, soll man Zehrung in das Bußloch tragen?“
„Hinaus, hinaus!“ Alle Geschosse hatte Herr Waze schon versandt, nur der hölzerne Schemel vor dem Spanbett war noch übrig, doch eh’ ihn Herr Waze mit tappender Hand zu fassen bekam, hatte sich Ulla aus der Stube geflüchtet. „Zehrung in das Bußloch?“ Herr Waze saß halb aufgerichtet, stierte vor sich hin, griff nach dem Schlüssel an seinem Gürtel und lachte. „Zehrung? Wozu denn? Der Pfaff ist ja ans Fasten gewöhnt! Knurren soll er, mürb’ soll er werden, eh’ ich raiten will mit ihm! Und giebt er mir den Gadem nicht zu Lehen mit Brief und Siegel, mit einem Schwur bei seinem Heiligen, so soll er den Tag nicht wieder sehen! Ich will ...“ Seine Worte erloschen in einem Grinsen. Stöhnend drückte er die Fäuste an seinen brummenden Schädel und ließ sich zurücksinken auf die Bärenhaut. Nach einer Weile fiel er in Schlaf und schnarchte.
Um die gleiche Stunde verließ Eberwein das Fischerhaus, von Sigenot geleitet, der alte Senn’ und Wicho trugen eine Stangenbahre, auf welcher Huze ruhte. Als sie die Ache erreichten, faßte Eberwein die Hand des Fischers. „Weiter sollst Du nicht gehen mit mir. Kehr’ um und wahre Dein eigen Haus!“
„Das muß ein anderer wahren, der stärker ist als ich!“
Eberwein atmete tief, und eine matte Röte schlich über seine bleichen kummervollen Züge. „Ja, Sigenot, bei Gott ist alle Hilfe! Doch wir dürfen die Hände nicht in den Schoß legen und thatlos harren und rufen: jetzt zeige, Gott, wie stark Du bist! Wir müssen auch der eigenen Kraft vertrauen und müssen sinnen auf Schirm und Schutz vor unseren Feinden. Weißt Du mir einen sicheren Boten?“
„Wohin soll er Botschaft tragen?“
„Weit hinaus ins ebene Land, an den Hof des Bayernherzogs.“
„Mein Jungsenn’ hat lange Füß’ und ist ein treuer Bub’. Ich schick’ ihn Dir zum Lok’stein, wenn die beiden wieder heimkehren.“ Sie schieden. Sigenot stand und blickte ihnen nach, bis sie unter den Bäumen verschwunden waren.
Gesenkten Hauptes, versunken in den heißen Streit seiner Empfindungen und Gedanken, schritt Eberwein hinter der Bahre her. Er blickte nicht auf, als sie nahe den Halden der Schönau vorüberkamen, auf denen die Leute in Hast die letzten Garben von den Feldern räumten.
Reges Leben herrschte rings um den Hag des Richtmanns; doch die Knechte und Mägde sprachen nicht, sie rührten nur die Arme und warfen zuweilen sorgenvolle Blicke hinauf in das finster treibende Gewölk. Der Schönauer überwachte die Ladung der Karren und zählte die Garben, und jeden Karren, der in den Hag gezogen wurde, geleitete er bis zum Thor; dort stand er immer eine Weile und blickte mit kummervollen Augen nach seinem Buben. Ruedlieb saß auf der Steinbank unter den Eichen, die Arme um seine Knie geschlungen, regungslos ins Leere starrend. Einmal rief ihn der Vater an: „Liebli, willst nicht auch ein lützel mit zugreifen?“
Der Bub’ schüttelte nur den Kopf; seufzend kehrte der Richtmann aüf die Felder zurück, doch es währte nicht lange, so trieb es ihn wieder in die Hofreut. Er ging auf Ruedlieb zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und rüttelte ihn. „Wach’ auf, Liebli, wach’ auf! Das ist ja kein Leben nimmer seit gestern. Mag daraus werden, was will – das kann ich nimmer länger mit anschauen! Und wenn Dir die Arm’ so tot sind, daß Dich kein Schaffen freut ... schau’, ich weiß Dir einen Gang: geh’ ein lützel in Heimgart zum Rötli und sag’ der lieben Dirn, daß ich sie grüßen lass’!“
Ruedlieb sprang auf, und die Zähren schossen ihm in die Augen, während er die Hände seines Vaters drückte.
„Aber wenn Du gescheit bist,“ sagte der Richtmann, „so thust Dich noch gedulden bis auf den Abend. Der Tag ist unser Feind, die Nacht hat bessere Weg’.“
Da nickte der Bub’, und unter einem stockenden Atemzug dehnte sich seine Brust. „Weis’ mir Arbeit an, Vater! Die Zeit vergeht mir flinker, wenn ich schaff’!“
„Ja, Liebli, komm!“
Als sie zum Hagthor gingen, führ ein kalter Windstoß vom Untersberg einher über die Halden der Schönau. Der Richtmann und Ruedlieb lauschten: auf dem Winde kam vom Lokiwald ein verwehter Hall der Glocke über das Thal geflogen. Bruder Wampo hatte den Strang gerührt. Als er aus seinem langen Schlaf erwacht war und sich noch immer einsam in der Klause fand, befielen ihn Angst und Sorge, doch er wagte die hölzernen Mauern nicht zu verlassen, unter der Thüre stand er und schrie den Namen Schweikers in die Stille hinaus; aber keine Antwort kam – es rauschte nur der Wald, wenn ein Windstoß, welcher plötzlich erwachte und rasch verwehte, für kurze Weile die dumpfe Ruhe der Lüfte störte. Auch klangen Bruder Wampos Rufe nicht weit, denn seine Stimme war heiser von der langen Zwiesprach’, die er in der Nacht mit seinem unheimliche Gesellen in der Grube gehalten. Die Glocke, meinte er schließlich, würde besser rufen. Als er im Läuten einmal aussetzte und über die Lichtung spähte, glaubte er Stimmen im Wald zu hören. „Schweiker!“ rief er und eilte den Bäumen zu, doch er fand nur den stillen öden Wald, eine kleine Strecke wagte er sich noch weiter, dann aber schüttelte er bedenklich das runde Köpflein und kehrte wieder um. Ein Summen machte ihn aufblicken, und was er gewahrte, ließ ihn plötzlich alle Furcht und alle Sorge um die Brüder vergessen. An einem morschen Baum, in ziemlicher Höhe, sah er ein Loch, welches in die Höhlung des Stammes führte, der ein Bienennest zu bergen schien, denn zahlreich und emsig flogen die wilden Immen aus und ein. „Schau’, schau’! So kann man in dem schiechen Wald doch auch ’was Liebes finden!“ lachte Bruder Wampo, der den süßen Honig schon auf der Zunge spürte. Er musterte den Baum und meinte, daß er ohne allzugroße Mühe das Nest ersteigen könnte, denn die Stümpfe dürrer Aeste ragten wie Leitersprossen aus dem Stamm. Er griff nach Schwefelfaden und Feuerstein in seiner Kutte, nahm zwei kleine Moosbüschel, die er hinter den Gürtel steckte, und begann über die Sprossen emporzuklimmen. Aber er hatte diese Mühe doch zu leicht geschätzt; freilich, der Baum erhob keine Schwierigkeiten, um so größere jedoch Bruder Wampos Bäuchlein, das eine besondere Vorliebe bezeigte, mit jedem Zweig und jedem Rindensplitter eine längere Auseinandersetzung zu halten. Manches Tröpflein Schweiß war vergossen, als Bruder Wampo endlich neben dem Immenloch auf luftigem Aste saß. Während er schwere Mühe hatte, die ihn umschwärmenden Immen abzuwehren, schlug er hurtig Feuer, brachte das eine der Moosbüschel in glimmenden Brand, schob den dick rauchenden Wisch in die Höhlung des Stammes und verstopfte mit dem anderen das Loch. Flink ließ er sich auf die Erde gleiten und rannte davon, mit schlagenden Armen die Immen scheuchend. In einiger Ferne blieb er lachend stehen und schnalzte mit der Zunge.
[359] „Jetzt soll Euch der Rauch einen Tag lang beißen! Dann komm’ ich wieder und heb’ den süßen Schatz!“
Ein Wehlaut schloß diese Worte, und mit beiden Händen griff Bruder Wampo nach seiner Glatze; er spürte zwischen den Fingern noch die Biene, die ihn gestochen hatte; kreischend schüttelte er sich, rannte der Lichtung zu, raffte im Laufe einen Klumpen Erde auf und drückte ihn stöhnend über sein Köpflein. „Schweiker! Schweiker!“ schrie er mit seiner heiseren Stimme. Doch hätte Bruder Wampo auch einen Ruf gethan so mächtig wie das Gebrüll eines Löwen – es wäre wohl kaum zu Schweikers Ohr gedrungen.
Hoch oben auf dem Hang des Göhl saß Schweiker noch immer in der Stube des Greinwalders und hielt die Hände der Hirtin fest, damit ihre bösen Schmerzen nicht wiederkehren möchten. Er hatte sich seines Traumes in jener ersten Nacht erinnert, und da begann er nun zu forschen, wie es um das „Seelgerät“ der Hirtin bestellt wäre. Erschrocken über das zweifelhafte Ergebnis seiner Fragen rief er: „Kindl, Kindl! Sauber und gewaschen liegst vor mir, aber einwendig schaut’s bei Dir noch aus, daß einem grausen könnt’!“ Während draußen im Hof die Beilschläge des Greinwalders klangen, der das zertrümmerte Thor wieder zusammenflickte, fing Bruder Schweiker zu sprechen an und predigte der lauschenden Hirtin den Himmel ... seinen Himmel. Es war ein Himmel, den man greifen konnte mit Händen. Um zu beweisen, wie schön es im Himmel wäre und welche Wonne man von der ewigen Seligkeit zu erwarten hätte, schilderte er die Qualen, welche die Heiligen und Märtyrer auf Erden erduldet hatten, um all dieser himmlischen Freuden teilhaftig zu werden. Er wählte die Geschichten seiner Lieblingsheiligen ... das waren jene Märtyrer, für welche die „wüsten Heiden“ die grausamsten Leiden ersonnen hatten.
Hinzula zitterte an allen Gliedern, und ihre Augen wurden feucht, als sie hörte, wie standhaft die Heiligen all ihre furchtbare Marter ertragen hatten. „Ja sag’ nur, sag’ ... und das alles ist wahr?“
„Freilich, mein liebes Kindl, so wahr, wie daß ich bei Dir sitz’!“
„Aber wie kann denn ein Mensch solche Leiden nur aushalten?“
„Das kann freilich nur ein Heiliger, weißt, den der liebe Gott gekräftiget hat und gespeiset mit Himmelsbrot!“
„Himmelsbrot? Was ist denn das für eins?“
„Das ist von allem das best’! Das backen die guten Engel im Himmel, und wer so fromm ist, daß ihm Gott ein Bröcklein schickt davon, der fühlt in Leid und Schmerzen sein Herz erhoben zu reiner Freud’ und Süßigkeit, der spüret nimmer Schmerz und Kummer, und seine Seel’ thut jauchzen und ist voll von all dem Glück, das ihr der liebe Gott gegeben. Gelt, für so ein Himmelsbrot, da möcht doch ein jeder gern leiden bis aufs Blut? Meinst nicht auch?“
Hinzula nickte. „Freilich, da möcht’ mir auch ein Bröcklein schmecken!“ Mit träumendem Lächeln blickte sie zu Schweiker auf – und nun schwiegen sie alle beide und hingen Aug’ in Auge.
„Wohl wohl!“ stotterte Schweiker nach einer Weile, aus seiner Verlorenheit erwachend. „Was hab’ ich denn sagen wollen? Richtig, ja ... alleweil’ in der höchsten Not, wenn die Kräft’ die Heiligen schier haben verlassen wollen, hat ihnen der liebe Gott einen Engel geschickt mit Himmelsbrot. Schau’ nur, wie’s dem heiligen Laurenzi gegangen ist ...“
„Hat der auch so viel leiden müssen?“
„Wohl wohl! Paß nur schon auf, ich erzähl’ Dir alles ...“ Während Schweiker die Legende begann, trat draußen in der Hofreut die Bäuerin zu ihrem Mann. „Ja sag’ nur. was ich thun soll? Jetzt hockt er noch alleweil’ drin! Es muß schon lang’ über Mittag sein ... ich muß ja Feuer schüren und kochen.“
Der Greinwalder kratzte sich hinter den Ohren. „Ich weiß mir selber keinen Rat. Hinauswerfen ... das wird sich hart machen. Der Unfirm möcht mir ja alle Knochen im Leib brechen. Meinetwegen, setz’ die Supp’ halt zu! Jetzt ist er da – soll er halt mitessen!“
Durch die offenen Fenster klang Schweikers Stimme: „Und richtig, wie es ihm der heilige Vater Sixtus, der ihm vorangegangen ist im Martertod, vorhergesagt hat ... drei Tag’ später, da haben ihn die heidnischen Schergen gepackt und haben verlangt von ihm, daß er die heiligen Kirchenschätz’ den Richtern ausliefern soll.“
„Solche schieche Leut’!“ stammelte Hinzula.
„Da hast recht! Und was hat der heilige Laurenzi gesagt? Wohl wohl, hat er gesagt, kommet nur morgen, und alle Schätze meiner Kirche will ich Euch zeigen ... hat er gesagt!“
„Geh’, das ist aber doch nicht recht von ihm gewesen!“
„Wart’ nur, wie’s weiterkommt, wart’ nur! Am andern Tag haben sich die Schergen wieder eingestellt, und da hat der heilige Laurenzi die Kirch vor ihnen aufgethan, und die ganze Kirch’ ist voll gewesen mit Kranken, mit armen notbeladenen Leuten. Schauet hin, hat er gesagt, schauet hin, das sind die Schätze meiner Kirche.“
Schweikers Stimme schwankte vor Rührung, und Hinzulas Augen füllten sich mit Thränen. „So ein guter guter Mann!“
„Und weißt, was sie ihm gethan haben? Einen eisernen Rost haben sie hergeschleift, haben einen ganzen Haufen heißer Kohlen drunter ausgebreitet, und wie der Rost über und über geglüht hat, haben sie den heiligen Laurenzi lebendigen Leibes draufgelegt.“
„All Ihr guten Mächt’,“ rang es sich mit erstickten Lauten von Hinzulas Lippen, „wie kann man denn einem guten Menschen so ’was thun!“
„Gezischt und geprasselt hat’s, und Rauch und Feuer ist aufgegangen von seinem schönen Lockenhaar. Der heilige Laurenzi aber ist standhaft geblieben und hat nach einer Weil’ gerufen: ‚Schauet her, die eine Seite ist genug gebraten, jetzt wendet mich auf die andere!‘“
„Hör’ auf, hör’ auf, ich kann’s nimmer hören!“ flehte Hinzula und brach in krampfhaftes Schluchzen aus. Erschrocken sprang Schweiker auf, und während ihm selbst die dicken Zähren über die Backen kollerten, suchte er das Mädchen mit stotternden Worten zu trösten. Doch Hinzula hörte nicht, sie schluchzte und schluchzte. „Kindl, Kindl!“ rief er in heller Verzweiflung. „So hör’ doch auf, das Weinen muß Dir ja schaden!“
Unter herzzerbrechendem Schluchzen jammerte die Hirtin: „So viel leiden hat er müssen, so viel leiden!“
„So thu’ doch nimmer weinen! Das ist ja doch viele hundert Jahr’ schon her, und schau’ ... wer weiß, ob’s wahr ist!“ Der Jammer und sein zitterndes Erbarmen hatten ihm diese bedenklichen Trostworte auf die Zunge gelegt; er selbst erschrak, als sie gesprochen waren, und griff mit beiden Händen an seine Stirn, als ginge ihm alle Besinnung aus den Fugen.
Die Bäuerin trat in die Stube, ein Bündel dürren Holzes auf den Armen. Als sie das Schluchzen ihres Kindes hörte, warf sie das Holz auf den Herd und eilte zum Bett. „Ja was thust denn?“ fuhr sie den Bruder an und beugte sich über die Schluchzende. „Jetzt macht’ er mir die sieche Dirn’ noch weinen!“
Schweiker brachte kein Wort über die bleichen Lippen. Hinzula aber bezwang ihr Schluchzen und stammelte. „Mutter, Mutter so thu’ doch ihn nicht schelten! Er hat doch keine Schuld ... ich selber ... und ... der heilige Laurenzi!“ Brummend ging die Greinwalderin zum Herd, und während sie Feuer schlug, rief sie über die Schulter zurück. „Der Bauer hat gesagt, Du kannst mitessen! Hörst!“
„Mitessen?“ fragte Schweiker. „Hat denn das Kindl noch kein Frühmahl gehabt?“
„Frühmahl? Ja bist denn Du gescheit? Es geht doch schon bald auf den Abend zu.“
„Auf den Abend?“ Dem Bruder fuhr der Schreck in alle Glieder. „Allmächtiger Gott, wo bin ich denn gewesen! Mein Herr! Mein guter guter Herr!“ Er stürzte zur Thüre; als er den schluchzenden Ruf der Hirtin hörte, drückte er die Hände über die Ohren, dennoch hielt es ihn fest auf der Schwelle. Mit verstörten Blicken hing er an dem Mädchen, dann schüttelte er den Kopf, wehrte mit den Armen und taumelte aus dem Hause. Mit langen Sprüngen gewann er das Thor, rannte in seiner blinden Eile den Bauer nieder und war schon im Wald verschwunden noch ehe der Greinwalder wieder auf die Füße zu stehen kam. Keuchend und erschöpft erreichte Schweiker die Klause. Auf der Thürschwelle saß Bruder Wampo, der ein Stück Rasen über seinen Kahlkopf gebunden hatte, um den Schmerz des Bienenstiches zu lindern. Schweiker hatte kein Auge für den drolligen Anblick dieser seltsamen Kappe; nach Atem ringend, stieß er die Frage hervor: „Ist unser Herr daheim?“
„Nein, nein.“
„Hat ihn der Pater nicht gefunden?“
„Ich weiß nicht ...“
[362] Was Bruder Wampo noch weiter sagte, hörte Schweiker nicht mehr; keuchend rannte er wieder davon. Wohin er wollte, das wußte er nicht; kreuz und quer durchirrte er den Wald und schrie den Namen Eberweins hinaus in die dumpfe Stille. Durch wirre Gebüsche schlug er sich und geriet in das Thal der Ramsauer Ache. Auf schmalem Pfad kam ihm die Tochter Wazes auf ihrem Rappen entgegengeritten. Sie wollte wenden, als sie den Mönch erblickte, doch mit dem Aufgebot seiner letzten Kraft sprang Schweiker auf Recka zu, faßte den Zügel des Pferdes und keuchte: „Mein Herr, mein Herr . . . hast Du meinen Herrn nicht gesehen?“ Das Pferd bäumte sich, aber Schweiker hielt fest und ließ sich schleifen.
In jähem Zorn hatte Recka die Gerte gehoben; da traf sie ein Blick aus Schweikers Augen, angstvoll und verzweifelt; sie ließ die Gerte sinken und konnte die Antwort nicht versagen: „Sorge Dich nicht – Dein Herr weilet unter sicherem Dach, bei Sigenot, dem Fischer.“
Schweikers Arme ließen los, und während Recka davonritt, drückte der Bruder seine zitternden Fäuste auf die atemlose Brust. „Unter sicherem Dach!“ keuchte er, dann warf er sich zu Boden und preßte schluchzend das Gesicht ins Moos.
Dem Lauf der Ache aufwärts folgend, ritt Wazes Tochter unter den Halden der Strub vorüber und kam in das enge Waldthal, dessen Gehänge wiederhallten vom klingenden Hammerschlag der Ilsanker Schmiede. Nach kurzem Ritt erreichte sie die Stelle, an welcher die Windach ihre schäumenden Wellen in die Ramsauer Ache goß. Sie setzte über den rauschenden Bach und ritt in den dunklen Hochwald ein, um nach einer Bärengrube zu sehen, welche am Fuß einer den Wald durchschneidenden Felswand ausgeworfen war. Noch hatte sie das Ziel ihres Rittes nicht erreicht, als sie das Pferd verhielt und gegen die Höhe lauschte. Ihr war, als hätte sie vom Gewänd der Windach hernieder den angslvoll klingenden Schrei einer weiblichen Stimme vernommen. Lange lauschte sie, doch sie hörte nichts mehr als das dumpfe Rauschen des Wassers. Eine quälende Erinnerung befiel sie, und kaltes Grauen schlich ihr in das zerrissene Gemüt . . . der Schatten der armen Heilka war vor ihr aufgestiegen.
„Die Lebendigen und die Toten, alles schreit um mich her und klagt wider meine Brüder und meines Vaters Haus! Könnt’ ich doch nimmer hören! Müßt’ ich doch nimmer sehen! Hätt’ nur alles schon ein End’! Ein End’!“ Mit pfeifendem Gertenschlage trieb sie das Roß und verschwand im Dunkel des Gehölzes.
Da klang der Schrei in der Höhe wieder. Hoch über dem Geklüft der Windach, wo nah’ dem Absturz zwischen Felsen und Gestrüpp ein Albensteig emporführte gegen den König Eismann, rangen zwei Menschen miteinander. Ihre lauten Stimmen mischten sich, ihre schwarzen Gewänder und ihre weißen Haare flatterten in dem eisigen Luftstrom, der dem Sturz der Windach thalwärts folgte. Hiltidiu lag auf den Knien vor Hiltischalk und hielt ihn umklammert mit ihren dürren Armen; das sonst so milde sanfte Antlitz war verwandelt zu einem Schreckbild, jeder Zug verzerrt von Entsetzen und Todesangst. Um Hilfe schreiend, umkrampfte sie den zitternden Körper des Greises, der sich loszureißen suchte. Hiltischalks Augen glühten wie im Wahnsinn und schrill und heiser klang seine Stimme: „Laß mich, Hilti, laß mich! Jetzt muß ich rufen zu ihm, da ist das Fleckl, wo er mich hören muß! Hat er mich selbigsmal nicht auch gehört, wie ich da drunten geschrieen hab’ zu ihm: Mein guter Herre, Du mein Gott? Hat er mich nicht gehoben aus Not und Tod? Jetzt muß er mich wieder hören, jetzt muß er mich lohnen für die Treu’, mit der ich gestanden zu ihm . . .“
„So hör’ mich doch! Um Gotteswillen laß Dir sagen . . .“ jammerte das Weib.
Doch Hiltischalk hörte nicht. „Ein Urtel muß ich haben! Recht muß er sprechen nach seiner ewigen Gerechtigkeit!“
„Mann, Mann!“ schrie die Greisin mit halb erstickter Stimme. „Ja bist denn Du ein anderer geworden! Du, der allzeit Gute, der allzeit Fromme – Du willst Gott versuchen und Dich versündigen an ihm?“
„Laß mich, Hilti, laß mich! Ein Urtel muß ich haben! Wissen muß ich, ob ich fromm gelebt hab’ oder ein Verfluchter bin, ob ich Gott gedient hab’ oder der Höll’!“
„Denk’ schon nimmer an mich und meine Lieb’ . . . nur laß Dich bitten: versuch’ den Himmel nicht . . .“
„Ein Urtel muß ich haben! Ich muß! Ich muß! Laß Deine Händ’ von mir ... und hab’ nur keine Sorg’ ... er wird mich heben aus Not und Schmerzen! Hab’ nur acht, wie er demselbigen zeigen wird: was Gott vereinet, können Menschen nimmer trennen! Laß Deine Hand’ von mir! Ich muß! Ich muß! ...“
Er riß sich los und taumelte zum Rand der Felsen. Gellend hob sein Ruf sich zu den Wolken: „Mein guter Herre, Du mein Gott!“ Und mit ausgebreiteten Armen, brennenden Blicks die grau verschleierte Höhe suchend, trat er hinaus ins Leere. Unter herzzerreißendem Schrei hatte Hiltidiu sich aufgerafft und wankte ihm nach mit brechenden Knien. Ihre Hände haschten noch sein flackerndes Gewand, sie wollte nicht lassen von ihm und stürzte, von seinem Fall gezogen, mit ihm hinunter in die dunkel gähnende Tiefe . . .
Dumpf rauschte die Windach, ihre grauen Wasserdämpfe stiegen auf, und in der Tiefe rollten ihre Wellen den immer gleichen Weg, die fallenden Steine verschlingend, den weichenden Erdgrund fressend und alles Wachstum mordend, das ihr zu nahe kam. Sie gab nicht wieder, was sie genommen. Ein Urteil war gefallen, und es lautete, wie Hiltischalk gehofft: nun war er ledig aller Not und Schmerzen und war vereint mit seinem Weib für alle Zeiten.
Dumpf rauschte die Windach; ihre lohenden Wellen erschütterten den Felsengrund und machten den Steg erzittern, der die finstere Kluft überspannte. Da schwankte der Balken unter dem festen Schritt eines Mannes. Pater Waldram suchte den Heimweg. Ohne Grauen blickte er nieder in die finstere Tiefe, furchtlos überschritt er die Kluft Er wußte sich in Gottes Hut! Hatte er nicht das stolzeste Werk seines Lebens an diesem Tag vollführt? War ihm heute der Dank des Himmels nicht doppelt gewiß, da er Gottes Haus gesäubert von Laster und Aussatz, eine ganze Gemeine mit hundert Seelen gerettet hatte vor ewigem Verderben? Sicher trug ihn der Steg.
Als er die Blöße des Ufers überschritten hatte und in den von Dorngestrüpp umwachsenen Hochwald trat, vernahm er einen jauchzenden Ruf, der das Rauschen des Wassers übertönte. Ueber ihm, in der Weite eines Bogenschusses, hielt Recka auf ihrem Pferd vor dem Absturz der Felsen. Sie hatte in die Tiefe geblickt, dann mit den Augen den Pfad im Thal gesucht. „Ist denn mein Leben noch den Umweg wert?“ Lachend hatte sie das Roß zum Sprung getrieben. „Heilka, jetzt ruf’ die Alfen der Windach auf . . . laß sie greifen nach Hennings Schwester!“ Und mit dem jauchzenden Schrei, welchen Waldram gehört, hatte sie den Anlauf zum Sprung genommen. Doch vor dem Absturz der Felsen stockte das Pferd im Lauf mit vorgeschobenen Hufen und scheute zurück. „Willst Du nicht?“ lachte Recka. „Ich sag’ Dir aber: Du mußt!“ Sie lenkte rückwärts und begann von neuem den Anlauf, die Flanke des Pferdes mit der Gerte peitschend. Nun sprang das Roß, vorgestreckten Halses, mit wehender Mähne flog es über die Kluft. Seine Hufe gewannen das Ufer, wohl brach unter ihm der hohle Rasen, doch es schnellte sich vorwärts und stand auf fester Erde, zitternd an allen Gliedern.
„Gott schütze Dich!“ hatte Waldram geschrieen und wie in heißer Angst um dieses Weib die Arme ausgestreckt.
Recka sah ihn nicht und hörte keinen Laut seines Rufes. Das schöne Antlitz von tiefer Blässe überzogen, blickte sie mit verlorenem Lächeln rückwärts in die Tiefe. „Den Himmel find’ ich nimmer, die Höll’ begehrt mich nicht . . . wohin denn jetzt? Wieder heim in meiner Brüder Haus!“ Sie streichelte den Hals des Pferdes und ließ es mit hängendem Zügel in den Hochwald treten.
Als sie verschwunden war, schien Waldram wie aus einem Traum zu erwachen. Brennende Röte schoß ihm in Stirn und Wangen, während er die beiden Fäuste auf seine Augen schlug. „Teufelin! Hat Dich zum anderenmal die Hölle geschickt, mich zu versuchen?“ Mit zuckenden Händen faßte er seine Brust. „Sündiges Fleisch, erbärmliches Gefäß du einer gottgeweihten Seele ... ich will dich züchtigen!“ Gestreckten Leibes warf er sich in einen Dornbusch und wälzte sich auf den stachligen Ranken.
Dem trüben Tage folgte ein grauer lichtloser Abend. In einem der hölzernen Wächtertürmchen, welche die Ecken der um Wazemanns Haus gezogenen Mauer krönten, stand Henning bei seinem vertrauten Knechte. Sie redeten mit gedämpften Stimmen.
„Das weißt Du gewiß, daß er seit Tagen nicht mehr ausgefahren ist zur Fischweid?“
[363] „Ja, Herr, das schwör’ ich. Was drunten im Hof geschieht, weiß ich nicht – die Bäum’ decken den halben Hag; aber der See liegt offen unter mir. Ich hätt’ ihn sehen müssen, wenn er gefahren wär’.“
„Er braucht aber Fisch’!“ Henning lachte. „Die Leut’, die er gesammelt hat in seinem Hag, wollen zu beißen haben. Bei Taglicht hält er das Thor geschlossen, so muß er fahren in der Nacht und fischen bei der Fackel. Schleich’ Dich hinunter, bevor es dunkel wird, und steig’ auf einen Baum! Merkst Du, daß er die Netz’ zur Ausfahrt richtet, so komm gelaufen. Und eh’ Du gehst, sprich mit Deinen Kammergesellen Zacho und Heripot . . . versprich ihnen, was Du willst! Sie wagen ja nicht viel. Wenn die vier besten Fäust’ auf der Fischweid sind, so greifen wir die Dirn’ halb wie im Spiel. Und sag’ ihnen . . .“
Ein Blick des Knechtes machte ihn verstummen unter dem Wächterhäuschen ließ sich ein Schritt vernehmen, und Henning lächelte spöttisch. Mit lauter Stimme begann er von dem bösen Wetter zu reden, das die schweren Wolken erwarten ließen. Dann flüsterte er: „Thu’, wie ich Dir gesagt hab’!“ und verließ das Wächterhäuschen. Da stand sein Bruder Eilbert vor ihm, mit schmalen Lippen und eingekniffenen Augen. „So? Grob’ Wetter wird kommen? Meinst Du?“
„Ich denk’!“
„Dann bleib’ nur schön in Deiner Kammer heut’ nacht. Sonst könnt’ Dir das Wetter grob in die Knochen fahren!“ Eilbert wandte sich und ging dem Hause zu.
Henning ballte die Fäuste, aber sein Zorn verrauchte schnell, und lächelnd eilte er dem Bruder nach. „Laß reden mit Dir! Ich merk’, Du hast gelauscht. Gut also ... Dir sticht die Dirn’ in die Augen, mir auch. Müssen wir aber deshalb gegen einander stehen? Laß uns zusammenhalten, wir sind ja Brüder! Dem Vater brummt der Schädel, und die schwarzen Schermäus’ haben wir nimmer zu fürchteu . . . so kommt uns gute Stund’, wenn der Fischer in der Nacht mit seinem Knecht zum Fang ausfahrt. Wir wollen zusammenhalten als gute Gesellen und ... um die Dirn’ spielen wir. Willst oder nicht?“
Eilbert besann sich. „Gut, ich stell’ das Brett auf. Komm!“ Lächelnd stieg er über die Freitreppe empor ... er hoffte zu gewinnen, denn er war der bessere Spieler. Doch Henning war der bessere Trinker. Er ging in den Unterbau des Hauses und rief die alte Ulla. „Bring’ einen Krug vom schwersten Met hinauf in meine Kammer!“
Während die beiden Brüder beim gefüllten Becher und beim Brettspiel saßen und bei jedem Stein, der geschlagen wurde, der Schwester Sigenots die Minne tranken, stieg Hennings Knecht über den Felsenpfad hinunter zum Ufer. Als er sich unter den Bäumen in die Nähe des Fischerhages schlich, sah er Rötli auf dem Lugaus sitzen. In heißer Sehnsucht spähte sie gegen den Achensteg, denn sie wußte, daß Ruedlieb kommen würde. Wicho und der Altsenn’ waren vor kurzer Weile aus dem Lokiwald heimgekehrt; als sie unter den Halden der Schönau vorübergezogen waren, hatte Ruedlieb, der auf dem Felde schaffte, den Knecht des Fischers erkannt und war auf ihn zugesprungen. Bei der Heimkehr hatte Wicho das Mädchen mit Sigenot auf dem Lugaus gefunden und hatte ihr lächelnd die Botschaft zugeflüstert „Auf den Abend kommt Dein Bub’ . . . und sein Vater mit ihm!“ Erblassend und zitternd war Edelrot aufgesprungen, mit bangem Blick an ihrem Bruder hängend. Doch Sigenot hatte die Schwester an sich gezogen und ihr zärtlich das Haar gestreichelt. „Freu’ Dich nur! Hast ja gehört: er kommt mit seinem Vater. Harte Zeit liegt über uns allen, aber ich weiß ein Blüml, das blüht auch unter dem Schnee. Der Richtmann und ich, wir wollen heut’ vergessen, daß ein jeder von uns auf anderen Wegen geht, und treulich wollen wir raiten um Euer Glück.“
Schluchzend vor Freude hatte Rötli den Bruder umschlungen und seit er mit dem Knecht ins Haus getreten, saß sie auf dem Lugaus, in heiß quellender Sehnsucht ihres Buben harrend. Doch bei aller Sehnsucht war die Gewißheit des Wiedersehens nicht ihre tiefste Freude, sie konnte kaum den Augenblick erwarten, daß sie ihm sagen durfte: „Du sollst nicht sterben müssen! Leben sollst Du! Es giebt keinen Bid - das hat ein Gottesmann gesagt, der alles weiß. Und hat Dich der böse Feind geschreckt und sollt’ er wiederkommen, ich weiß ein Mittel wider ihn, da muß er weichen. Er muß! Er muß!“. Mit zitternder Hand bekreuzte sie das Gesicht und stammelte das Stoßgebetlein, welches Bruder Wampo ihr vorgesprochen. Da klang, weit über die Ache her, der helle Jauchzer, mit welchem Ruedlieb sein Kommen meldete. Rötli sprang auf, schluchzend und lachend ... der Weg zum Thor war ihr zu weit und das Thor stand ja geschlossen; sie schwang sich auf die Bank, auf den Tisch und sprang vom hohen Hag auf den Weg hinunter. Mit flatterndem Röcklein und fliegenden Haaren eilte sie der Ache zu und kam an dem Busch vorüber, hinter welchem Hennings Knecht verborgen lag. Der machte große Augen, als er das Mädchen gewahrte. „Die Dirn’ allein? Um und um kein Mensch? Bessere Stund’ kann nimmer kommen – ich will mir schweren Dank von meinem Herrn verdienen!“ Im Schatten der Bäume glitt er am Weg entlang und sah, wie Edelrot hinwegeilte über den Achensteg. Er sprang ihr nach; am Waldsaum, wo die Wege sich teilten, erreichte er sie und schlug die Hände um ihre Kehle. Mit gellendem Schrei brach Edelrot in die Knie. „Wart’, ich will Dich schweigen machen!“ raunte der Knecht, riß die lederne Kappe vom Kopf und schloß mit ihr den schreienden Mund. „Komm nur, komm, ich trag’ Dich ein lützel, daß Dir die kleinen Füßlein nicht müd’ werden.“ Mit groben Fäusten riß er das Mädchen in die Höhe . . . aber da sanken ihm jählings die Arme, und während Rötli mit halb erloschenen Sinnen zu Boden glitt, taumelte der Knecht und stürzte lautlos über den Weg. Ein dicker Blutstrom quoll ihm aus der linken Schulter.
Als Edelrot mit verstörten Augen aufblickte, sah sie vor sich ihren Buben stehen, sein Gesicht war totenbleich, er hielt das blutige Messer in der Hand und starrte nieder auf den entseelten Knecht.
„Ruedlieb!“
Ein Zittern befiel ihn beim Klang dieser Stimme. Rötli wollte sich in seine Arme werfen, doch vor seinen Füßen sank sie schluchzend zur Erde und barg das Gesicht.
Der Schönauer kam, entsetzt die Hände ringend. „Bub’, Bub’ – um aller guten Mächt’ willen, was hast denn gethan?“
„Was ich thun hab’ müssen! Hast Du nicht selber gesagt: wenn’s zum Aergsten kommt, so greif’ zum Messer und stoß’! Und was könnt’ ärger sein, als was dem Rötli geblüht hat?“
„Liebli, mein armer Bub’, Du hast den Tod über Dich gerufen!“
„Tod oder Leben – aber von denen da droben soll mir keiner an das Rötli rühren!“
Unter schluchzenden Worten hatte Edelrot sich aufgerafft und umklammerte den Geliebten mit zitternden Armen. Das Messer fiel aus Ruedliebs Hand, er faßte das Haupt des Mädchens, bog es zurück, um ihre Augen zu sehen und sagte mit tonloser Stimme: „Rötli, Du meine liebe Dirn’! Schau’, jetzt hab’ ich Dir die Blutblumen ins Haar gelegt! Gelt, der Bid hat schnelle Füß’?“ Sie schüttelte den Kopf und rührte die Lippen, doch die Sprache versagte ihr; kaum vermochte sie noch die Hand zu heben, um das rettende Zeichen über Ruedliebs Stirn und Lippen zu schlagen.
„Fort, fort! Schau’, daß Du mit ihr den Hag gewinnst!“ keuchte der Richtmann und drängte die beiden mit ungestümen Armen der Ache zu. „Fort! Fort!“ Er schob sie hinaus auf den Steg.
Mit verlorenen Sinnen, eines das andere umschlingend, überschritten sie im Zwielicht des sinkenden Abends den rauschenden Bach, als sie unter den Bäumen gingen, sahen sie nicht, daß ein junger Bauer ihnen entgegenkam, und hörten nicht, daß er zu ihnen redete. Es war der Hanetzer, der mit halb geheilter Wunde von den Alben gestiegen kam. Lachend blickte er den beiden nach. „Die Zwei hat das Lieb’sglück blind und taub gemacht!“ Er wanderte zur Ache; unter den letzten Bäumen stockte ihm der Schritt. Drüben am anderen Ufer schleifte der Richtmann einen stillen Mann zur Böschung und ließ ihn niederrollen in die schießenden Wellen. Das gelbe Wams des Knechtes leuchtete noch aus dem weißen Wasserschaum – dann verschwand es. Schwer atmend, richtete sich der Schönauer auf, eilte zum Seeufer, warf sich auf die Knie und stieß die roten Hände in den Wasserschwall. Mühsam erhob er sich und mußte, als er den Steg überschritt, das Geländer fassen. Bei dem ersten Schritt ans Ufer erstarrte ihm der Schreck alle Glieder . . . einer stand vor ihm.
[373] Eine stumme Weile hingen die Augen des Richtmanns und des Hanetzer ineinander, dann sagte der Hanetzer mit heiser klingender Stimme: „Du, Richtmann?“
„Wohl wohl. Guten Weg auf den Abend!“ Der Schönauer wollte vorübergehen.
Da vertrat ihm der andere den Weg. „Schau’ doch, Richtmann, schau’ doch! Einer, der beim Thing gewesen, hat mich merken lassen, Du wärst für die Wazemannsleut’! Mußt Dich aber doch wohl anders besonnen haben, oder hast am End’ gar aus lauter Lieb’ und Freundschaft einem von denen da droben zur letzten Ruh’ verholfen?“
Der Schönauer wankte und stammelnd streckte er die beiden Hände nach den Lippen des Bauern. „Schweig’ … schweig’!“
„So? Gelt? Jetzt soll ich Maul und Wort halten? Aber ich bin ja keiner von den Wortfesten. Das mußt Du doch selber wissen … hast mich ja nicht zum Thing gerufen!“ Ehe der [374] Richtmann noch erwidern konnte, hatte der Hanetzer den Steg überschritten und war im Dunkel des Abends verschwunden ...
Um die gleiche Zeit trat Sigenot mit dem Jungsennen aus der Thür des Fischerhauses, schritt mit ihm über die Hofreut hinunter und öffnete das Thor. „Jetzt geh’ halt, Bub’,“ sagte er und legte die Hände auf die Schultern des Burschen, „und thu’ Dich nicht fürchten. Einer geht mit Dir, bei dem die Hilf’ ist und die Stärk’! Einen weiten Weg mußt laufen, und tief wird der Schnee schon auf den Bergen liegen, bis Du heimkehrst. Aber denk’: an Deinen Füßen hängt unser aller Wohl und Weh! So geh’ halt und zeig’, daß Du der Bub’ bist, für den ich Dich gehalten hab’.“
„Wohl wohl, da wird nichts fehlen!“
„Und halt’ dem Herren, von dem Du Botschaft tragst, so feste Treu’, wie Du allzeit meinem Haus gehalten!“
„Fest wie Eisen! Da soll kommen, was mag!“
Sigenot faßte die Hand des Burschen und trat mit ihm vor das Kreuz. „Mein guter Herre, Du mein Gott! Thu’ mir den Buben hüten, gelt?“
Scheu zog der junge Senn’ das lederne Käpplein von seinem Flachshaar und hob die Augen zum Kreuz, dann schied er von seinem Herrn mit wortlosem Händedruck. Sigenot wollte in den Hag zurückkehren, da sah er die Schwester mit Ruedlieb von der Ache kommen. „Schau’ nur, nicht erwarten hat sie’s können! Lieb’ geht durch geschlossene Thor’ und springt über jeden Hag.“ Lächelnd ging er dem Paar entgegen und streckte die Hände. Doch der Anblick ihrer Gesichter und die Sprache ihrer Augen jagte ihm kalten Schreck in das Herz. Mit scheuer Frage faßte er den Arm der Schwester, aber die Stimme versagte ihr; auch Ruedlieb brachte keinen Laut über die Lippen, er hob nur die Faust und ließ sie fallen, als hielte seine Hand noch das Messer. Keuchend kam der Schönauer unter den Bäumen hervorgesprungen, drängte sie alle in den Hag, warf das Thor zu und legte den Balken ein.
Nun hörte Sigenot, was geschehen war. Der Atem stockte ihm doch als er den Richtmann jammern und klagen hörte, sagte er mit fester Stimme: Rait’ nicht wider Deinen Buben! Ich steh’ zu ihm, er hat’s gethan um meine Schwester. Wär’ ich an seiner Stell’ gewesen – mein Messer wär’ rot geworden wie das seinig’! Laß das Klagen, Richtmann! Alle Klag’ lauft hinter dem Unheil her, wir aber müssen den Vorsprung haben mit der Hilf’.“ Laut rief er: „Wicho!“
Der Knecht kam von der Scheune gelaufen. „Was giebt’s?“
„Wachsende Not! Führ’ die Kinder in Deine Kammer – die Mutter soll nichts erfahren, eh’ wir nicht wissen, was geschehen muß. Dann hol’ den Kohlmann aus der Stub’ und komm mit ihm zur Tenn’!“
Eine Weile später saßen die vier Männer in der Scheune, hinter geschlossenem Thor, durch dessen Fugen nur noch ein matter Dämmerschein des Abends flimmerte. Wicho hielt die Butterlampe auf dem Schoß und wahrte mit hohler Hand das kleine flackernde Licht, dessen rötliche Helle über die bleichen Gesichter zuckte. Der Richtmann erzählte mit schwankender Stimme, wie alles gekommen. Schweigend hörten sie ihn an; doch als der Schönauer von der Begegnung mit dem Hanetzer sprach, stotterte Wicho: „Das ist von allem noch das Leidigst’! Den kenn’ ich! Laßt ihm Herr Waze nur einen einzigen Käs von der Stener nach, so wird er das Maul nicht halten und verkauft uns alle!“
„Und den Kerl hab’ ich so gut verbinden müssen, daß er heut’ schon wieder lauft!“ schalt der Kohlmann. „Aber was jetzt? Morgen müssen sie den Knecht vermissen und die Hatz geht an. Wo wird sie ein End’ haben?“
„Wo mein Elend anfangt!“ klang die tonlose Stimme des Richtmanns. „Sie werden den Blutbann werfen auf mein Haus . . . wie soll ihm mein armer Bub’ entrinnen!“
Sigenot legte ihm die Hand auf die Schulter. „Sei gutes Muts! Ich führ’ ihn zu unserem Herrn hinaus in den Lokiwald . . .“
Der Richtmann schüttelte den Kopf. „Der Weg zur Klaus’ ist meinem Buben verlegt. Ich hab’ geschworen im Thing!“
Die Scheune hallte wieder von Eigels zornigem Gelächter. „Richtmann, Richtmann – merkst Du’s jetzt am eigenen Löffel, was Du für eine Supp’ hast kochen helfen auf dem Totenmann? Wären wir all’ vom Thingfeuer weg zur Klaus’ gezogen, wohin uns das Recht gerufen hat . . . die Wazemannsleut’ hätten ihre Köpf’ gar tief geduckt und ihre Fäng’ wohl eingezogen wie die Katz’ vor dem Igel ... und Dein Bub’ hätt’ heut’ das Messer nicht schwingen müssen für die Ehr’ seiner Liebgesellin. Richtmann! Richtmann! Ich sag’ Dir . . .“
Sigenot unterbrach den Kohlmann: „Laß gut sein, Eigel, mach’ ihm das Herz nicht schwerer noch!“
Der Schönauer strich mit der zitternden Hand über die Stirn. „Ich hab’ gethan, wie ich thun hab’ müssen aus Lieb’ zu meinem Buben. Ein jeder kennt nur die Stund’, in der man schnauft . . . keiner mißt den Tag aus, den die schwarze Mutter Nacht im Schoß tragt. Thu’ das Gute, thu’ das Schlechte, geh’ zur Rechten, geh’ zur Linken . . . keiner weiß, wo der Weg ihn hinführt . . . alles kommt, wie’s mag!“ Stöhnend schlug er die Hände vor das bleiche Gesicht. „Gobl, Gobl! Ich fürcht’, ich muß noch sitzen unter Deinem Apfelbaum!“
„Ich denk’ wohl anders,“ sagte der Fischer und zog ihm die Hände nieder, „aber ich will nicht raiten wider Deine Angst. Wir wollen denken auf Hilf’. Dein Bub’ muß fort, und Du mit ihm!“
„Fort? Mein Haus verlassen? Wer hütet meines Buben Haus, wenn sie kommen?“
„Laß Dein Haus fahren, halt’ Deinen Buben fest!“
Der Richtmann griff mit den Händen ins Leere und nickte vor sich hin. „Fort! Wohin aber? Ueberall wird er ihn finden!“
„So birg’ ihn, wo er ihn am letzten sucht – auf Wazemanns Bannberg! Droben wird Schnee fallen in der heutigen Nacht . . . da hat’s mit dem Gejaid ein End’, und es steigt sobald wohl keiner hinauf. In der verlassenen Albhütt’ hinter dem Eismann habt Ihr ein gutes Weilen. Holz zum Feuer steht nicht weit, und Zehrung laß ich Euch tragen in jeder vierten Nacht. Hätt’ ich die Mutter nicht ... ich selber ging’ mit Euch.“
Die Männer hatten den Kopf geschüttelt zu diesem Rat; nach allem Reden aber fanden sie, daß es der beste war. „Jetzt harret eine Weil’,“ sagte Sigenot, „bis ich mit meiner armen Mutter geredet hab’. Denn ich mein’ schier, das Rötli wird den Buben allein nicht ziehen lassen. Feste Lieb’ hat feste Ketten!“ Er drückte die Fäuste auf seine Brust, als spräche ihm das eigene Herz zu laut, und verließ die Scheune.
Graue Nacht lag über dem Hag, und ein kalter Wind kam von den Bergen niedergezogen. Während Sigenot dem Haus entgegenschritt, blickte er der Richtung zu, die der junge Senn’ genommen. „Lauf’, Bub’, lauf’!“ –
Finster ragte in der Ferne der Untersberg, und wie ein schwarzer See lag ihm der Lokiwald zu Füßen. Aus der offenen Thür der Klause strahlte der Herdschein über die Lichtung. Bruder Wampo schaffte beim Feuer, neben welchem die über Stangen gespreizte Wolfshaut zum Trocknen aufgestellt war. Schweiker saß in einem Winkel, mit hängendem Kopf, die Hände im Schoß. Als er bei seiner Rückkehr Eberwein in der Klause gefunden, war er vor ihm niedergefallen, mit Zähren in den Augen, und hatte den Saum seines Gewandes geküßt. „Herr, Herr! Ich hab’ Dich schlecht gesucht!“ Dann war kein Wort mehr über Schweikers Lippen gekommen. Auch Pater Waldrams Heimkehr rüttelte ihn nicht auf aus seinem dnmpfen Brüten. Bruder Wampo aber brach in hellen Jammer aus bei Waldrams Anblick: kaum trugen ihn die Füße noch; sein Gesicht und seine Hände bluteten, und in Fetzen hing das Gewand von ihm nieder. Eberwein kam aus seiner Zelle, in welcher er den Knaben auf dem eigenen Lager gebettet hatte, und eilte erschrocken auf Waldram zu. Der Mönch aber streckte den dürren Stecken vor und rief mit halb erloschener Stimme: „Du lebst noch? Weiche von mir, Meineidiger, der Du dem Himmel die Treue brachst!“ Eine brennende Röte flog über Eberweins Gesicht, und während Waldram an ihm vorüber in das Kirchlein wankte, stand er und blickte mit irrenden Augen ins Leere. Aus seiner Versunkenheit weckte ihn Bruder Wampos Stimme; als er dem Rufe folgte, fand er Waldram bewußtlos zu Füßen des Kreuzes hingestreckt. Sie trugen ihn zu seinem Lager, und mit zitternden Händen wusch ihm Eberwein das Blut vom Antlitz; dann mußte er für Huze sorgen, der seit Waldrams Heimkehr mit halbgelöstem Verbande lag.
So war die Nacht gekommen. Aus Waldrams Zelle klangen von Zeit zu Zeit die lallenden Worte, mit denen der unruhig Schlummernde in Traum und Fieber redete. Eine Kienfackel erleuchtete die Zelle Eberweins; Huze lag, die gefalteten Hände unter der Wange, und blickte lächelnd, mit glänzenden Augen auf den Mönch, der bei der Fackel auf niederem Holzpflock saß, das Schreibrohr in der Hand, ein Pergamentblatt auf dem Schoß. [375] Eberwein schrieb die Botschaft an den Bayernherzog, welche der Jungsenn’ tragen sollte. Doch häufig stockte ihm die gleitende Feder. Wie hätte seine Hand die drückende Schwere nicht fühlen sollen, die auf seinem Herzen lag, doppelt drückend, da ihm der Trost versagt war, seine Sorge auszusprechen. Wenn er die Brüder nicht entmutigen wollte, mußte er verschweigen, was ihm in Wazemanns Haus widerfahren. Ohne zu wissen, wie auf dem Totenmann das Thing gesprochen, ahnte er, daß nur die Furcht vor Waze alle Thore vor ihm schloß und alle Ohren taub machte für den Hall der Glocke. Böse Tage sah er kommen für seine junge Klause – und unter dem Druck dieser Sorge, bangend und schwankend, hatte er sich entschlossen, die Hilfe seines herzoglichen Freundes anzurufen. Er schrieb – und zögerte nach jedem Wort. Denn jeder Laut seiner Klage erschien ihm wie ein Zweifel an der Gerechtigkeit des Himmels und an Gottes Macht. „Unrecht thust Du, jage den Zweifel und das Bangen aus Deinem Herzen, halte fest an Gott und an Dir selbst!“ so schrie eine Stimme in seiner gemarterten Seele – und dennoch mußte er schreiben. Er sah die Hütten mit den geschlossenen Thoren, hörte Seufzer aus jedem Hag, laute Klage von allen Lippen – und eine andere Stimme in seinem Innern rief: „Nicht mir die Hilfe, nur diesen Armen und Gedrückten!“ Er schrieb und schrieb . . . und zögerte wieder. Zu all dieser Sorge redete noch eine andere. Das stille Pfarrhaus in der Ramsau stieg vor seinen Blicken auf – er hatte das Wort nicht lösen können, das er gegeben, und er wußte: Waldram hatte, als die Brüder nach dem Vermißten suchten, die Richtung gegen die Ramsau genommen! Eine quälende Ahnung beschlich ihn . . . wäre er ledig gewesen der Pflicht, die ihn festhielt in der Klause, er hätte inmitten der finsteren Nacht den Stab gefaßt und wäre ausgezogen, um die Wunde zu schließen, die er wider Willen einem frommen gottesfreudigen Glück geschlagen. Hier hielt ihn eine Pflicht . . . dort zog ihn eine andere! Welche mußte ihm heiliger sein? Er wollte aufspringen und saß doch wie gelähmt; es rieselte ihm heiß und kalt durch alle Glieder; ihm war, als stiegen aus seinem Herzen die quälenden Bilder heraus an die Luft: nebelhaft verschwommen standen Hiltischalk und Hiltidiu vor ihm, mit verschlungenen Händen, mit stummen Lippen und redenden Augen. Er streckte die Arme nach ihnen; da versank ihr Bild in grauer Nacht. Doch ein anderes stieg vor ihm auf, in weißem Mantel und mit wehendem Rothaar – und ob er auch die Hände vor die Augen schlug – er konnte dieses Bild nicht scheuchen.
Erschrocken richtete sich Huze vom Lager auf. „Guter Herre, was ist Dir denn?“ Eberwein ließ Pergament und Schreibrohr fallen, eilte auf den Knaben zu und umschlang ihn mit beiden Armen.
Bruder Wampo trat in die Zelle. „Herr, ein Bursch’ ist draußen, den der Fischer geschickt hat.“
„Laß ihn warten beim Feuer!“ Aufatmend strich Eberwein mit der Hand über das struppige Haar des Knaben. „Du solltest schlafen, Huze!“
„Weißt, ich hab’ Dich halt so viel gern angeschaut. Jetzt mach’ ich aber gleich die Augen zu, wohl wohl!“ Der Bub’ streckte sich und schloß die Lider. Sorglich hüllte ihn Eberwein in die warme Kotze; dann nahm er das Pergament wieder auf und begann zu schreiben.
In der Herdstube saß der Jungsenn’ neben dem Feuer; er hörte nicht, was Bruder Wampo leise jammerte und schwatzte – seine Gedanken weilten im Fischerhaus, an der trauten Stätte, die er so bald nicht wieder sehen sollte. Dort saßen sie wohl alle jetzt beim Herdschein um den steinernen Tisch, mit ernsten Reden und freundlichem Zutrunk. So meinte der junge Senn’; doch die Wirklichkeit zeigte ein anderes Bild. Wohl erfüllte die flackernde Herdflamme die Halle mit ihrem zuckenden Licht und ernste Worte wurden gesprochen; aber niemand dachte des abendlicheu Umtrunks. Wicho, Hilmtrud und Kaganhart standen vor dem Steintisch und beludeu zwei Kraxen mit Kleidungsstücken, mit Gerät und Zehrung. Eigel stand bei der offenen Thür und lauschte hinaus in die Nacht, während der Richtmann auf dem Herdrand saß und wortlos immer wieder mit schwerer Hand das Haar in die Stirne strich. Mutter Mahtilt saß wie versteinert in ihrem Lehnstuhl, die Hände im Schoß, schimmernde Zähren auf ihren bleichen Wangen; mit Schmerz und Sorge hingen ihre Augen an Rötli, welche schluchzend ihren Buben umfangen hielt. Sigenot legte die Hand auf die Schulter des Mädchens. „Hör’ mich an, Schwester! Schau’, mit Weinen ist nichts gethan! Jetzt mußt Du reden. Der arme Bub’ steht unter Blutschuld aus Lieb’ zu Dir. Jetzt sag’ es frei heraus: soll er ziehen allein . . . oder willst stehen bei ihm und aushalten an seiner Seit’ in Not und Gefahr?“
„Alleweil’, alleweil’! Und nimmer lassen von ihm!“ Enger noch klammerten sich Rötlis Arme um den Hals Ruedliebs.
„So geh’, Bub’“ – Sigenots Stimme schwankte – „bitt’ die Mutter um ihr Kind!“
Der Richtmann erhob sich, und während die anderen herbeitraten, fielen Ruedlieb und Rötli vor Mutter Mahtilt nieder. Lallend umschlang sie die Kinder, drückte sie an ihre Brust und neigte das Gesicht auf ihre Häupter; nach einer stummen Weile richtete sie sich auf, streifte einen silbernen Reif von ihrem Finger und reichte ihn Ruedlieb. Der Richtmann zog das Messer und gab es in die Hand des Sohnes. Auf die blanke Klinge legte Ruedlieb den Reif und bot ihn seiner Braut, während Thränen seine Stimme fast erstickten.
„So nimm von meiner Lieb’ und Treu’ den Reif als Pfand;
Den sollft Du tragen an Deiner lieben Hand.
Fest und ohne End’, wie der Reif gewunden,
Ist Treu’ an Treu’ in guter Eh’ gebunden.
Fest muß sie halten in Glück und Freuden,
Hundertmal fester noch in Not und Leiden.
Des müssen wir gedenken in aller Zeit:
Treu’ haben wir gelobt über scharfer Schneid’!“
Während Ruedlieb sprach, hob Mutter Mahtilt eine Staude aus dem Herdwinkel, streifte das dürre Laub ins Feuer, brach zwei Stäbe von der Gerte und warf sie auf die Steine; Seite an Seite kamen sie zu liegen, nach dem Herd gerichtet. Ein freudiges Lächeln glitt über die thränenfeuchten Lippen der stummen Mutter . . . freundlich hatten die Lose für ihres Kindes Glück gesprochen. Sigenot hob die Schwester von der Erde. „Schwesterliebl Deine Mutter hat nimmer Sprach’, Dein Vater weilet, ich weiß nicht, wo. So muß Dir der Bruder das letzte Heimwort sagen. Bist eine brave Tochter und Magd gewesen . . . sei kein schlechtes Weib! So zieh’ halt fort vom Mutterherd . . .“ die Stimme versagte ihm, und unter gepreßtem Schluchzen hing die Schwester an seinem Hals. Es währte lange, bis Sigenot wieder sprechen konnte. Zärtlich streichelte er das zuckende Gesicht des Mädchens und flüsterte: „Ich muß Dir eine trübe Hochzeit rüsten, gelt? Kann Dir kein Veiglein ins Haar legen, Blutblumen müssen Dein Kränzl sein; kann Dir die Kunkel nicht wickeln mit rotem Band. Hast keinen lustigen Brautlauf in lichter Sonn’, über Halden und Blumenklee . . . Dein Brautlauf geht in schiecher Nacht über Blut und Not, über Stein’ und tiefe Gründ’. Aber schau’, rechte Lieb’ hat einen lichten Schein in aller Nacht, und feste Treu’ macht alle Weg’ und Gruben eben. Jetzt thu’ nimmer weinen, Schätzel! Wir müssen ein End’ machen. So komm halt her, Bub’, und nimm Dein Bräutlein! Viel nimmst uns weg, aber halt’ mir nur die Schwester gut, nachher ist alles recht. Und eins versprich mir! Kommt wieder sonnscheinige Zeit, daß Ihr heimkehren dürft und hausen an gutem Herd – versprich mir’s, Bub’: so geh’ in der ersten Stund’ mit Deinem Weib hinaus zum Lok’stein, daß der gute Herr Eure Händ’ ineinanderlegt.“
„Wohl wohl!“ Mehr brachte Ruedlieb nicht über die Lippen.
„So, und jetzt gehet miteinander! Einer, der starke Arm’ hat, wird schauen auf Euch!“
Unter heißen Thränen warf sich Rötli zum Abschied an der Mutter Hals. Der Richtmann legte die Hände auf die Schultern seines Buben, sah ihm in die Augen und rüttelte ihn, sprechen konnte er nicht. Dann kamen die anderen der Reihe nach und drückten Ruedliebs Hand. Sigenot mußte die Schwester aus den Armen der Mutter lösen und führte die Wankende zur Thüre. „Wicho! Schwing’ der Haustochter den Herdbrand.“
Mit feierlichem Ernst zog der Knecht ein flackerndes Scheit aus dem Feuer und trug es vor der scheidenden Braut hinaus in die finstere Nacht. Prasselnd loderte die Flamme im kalt ziehenden Wind. Dreimal umschritt der Knecht die Braut, den Brand über ihrem Haupte schwingend, dann warf er das brennende Scheit auf ihren Weg. Edelrot faßte Ruedliebs Hand und stieß den Brand mit dem Fuß beiseite; sie war gelöst vom elterlichen Herd. Sigenot brachte ihnen die Grießbeile, welche sie nötig hatten auf ihrem Weg, und öffnete vor ihnen das Hagthor. Der Richtmann und Wicho folgten mit den beladenen Kraxen.
„Gieb mir Dein Messer und nimm das meine,“ sagte der Richtmann zum Fischer, „zeig’ es meinen Leuten, und sie hören auf Dein Wort!“ Sie tauschten die Messer.
[376] „Bruder! Bruder!“ stammelte Edelrot und streckte die Arme nach ihm. Er küßte ihren Mund. „Jetzt muß geschieden sein!“ Die Samme brach ihm; hastig löste er sich aus Rütlis Armen, sprang in die Hofreut und schloß das Thor. Schluchzend warf sich Edelrot gegen die Bohlen; doch Ruedlieb umschlang sie, und zitternd hing sie an ihm, der sie unter zärtlichen Worten hinauszog auf den finsteren Weg.
Der Richtmann stand noch und starrte über den schwarzen See hinweg zur Höhe der Falkenwand. An Wazemanns Haus leuchteten alle Fenster. Die Hunde rumorten, und Stimmenlärm klang aus der Halle.
Herr Waze saß bei der Tafel, fünf seiner Söhne um ihn her; er trug wohl noch die kalte Binde um den Kopf, doch hatte er das Grausen vor dem Met schon überwunden. „Wo bleiben die beiden Buben?“ schrie er in zorniger Ungeduld. „Ich hab' zu reden mit Euch. Wir müssen beschließen, was morgen geschehen soll. Sie sollen kommen . . . wo sind sie?“
„Noch alleweil’ sitzen sie über den Spielbrett,“ lachte Rimiger, „einer rauschiger als der andere!“
„Hol’ sie! Und wenn sie nicht kommen wollen . . .“
Da klang Geschrei aus der Kammer, das Klappern des fallenden Spielbretts und das Poltern eines umgeworfenen Sessels. Henning taumelte in den Saal, und Eilbert stürzte hinter ihm her, die zinnerne Metkanne nach ihm schleudernd. Lärmend warfen sich die anderen zwischen die beiden. „Laßt mich, laßt mich!“ lallte Eilbert. „Ich muß ihm an den Hals! Er hat betrogen im Spiel . . . hat mir den Becher gereicht und mit dem Ellbogen einen Stein geschoben!“
„Das lügst Du!“ kreischte Henning. „Komm nur, komm, ich will Dir das Hirmdach dreschen!“
Mit Mühe konnten die Brüder die Berauschten voneinander halten. Recka war auf der Schwelle ihrer Kammer erschienen, hatte sich wieder abgewandt und die Thüre zugeworfen.
In keifendem Zorn schalt Herr Waze auf die Berauschten los. „Laß ihnen den Pfaffen heraufholen!“ lachte Rimiger. „Der soll ihnen eine Predigt halten über Bruderlieb’ und Ehrlichkeit!“
Lautes Gelächter erhob sich und Herr Waze nickte. „Recht hast, Bub’, so hat der Pfaff’ doch einen Zmeck.“ Er löste den Schlüssel von seinem Gürtel. „Hol’ ihn, und will er mucksen, so fahr’ ihm an die Rippen.“
Rimiger und Otloh eilten davon, während Herr Waze wieder sein Schelten begann. Die Stimme wurde ihm heiser, stöhnend griff er nach seinem Kopf, trat zur Tafel und hob die Bitsche. Da stürzte Otloh in den Saal. „Vater, Vater! Die Thür’ war gut geschlossen, aber das Loch ist leer gewesen.“
Herr Waze spuckte den Trunk wieder aus, den er genommen hatte, und starrte den Boten an. Dann schüttelte er den Kopf, riß eine flackernde Kerze vom Lichtreif und sprang zur Thüre. Wie ein Rudel Wölfe rannten die Söhne hinter ihm her, auch Henning und Eilbert, als wären sie jählings nüchtern geworden. Sie erreichten den Kerkerbau. In der offenen Thür des Bußloches stand Rimiger, bleich, und stotterte. „Der Pfaff’ und der Bub’ . . . all’ beid’ sind fort, wie durch die Wänd’ geflogen!“
Herr Waze stieß ihn beiseite und leuchtete in den Raum; doch er sah nur die kahlen Wände und das faule Stroh. „Sein Heiliger,“ lallte er, „sein Heiliger hat ihm geholfen!“ Und das Wunder machte ihn zittern.
Ein dumpfes Rauschen ging um das Haus. War es ein Windstoß, oder war es der Regen der zu fallen begann? Ueber Thal und See, über alle Berge fiel es nieder durch die Nacht in unsichtbaren Strömen. Ein rauher Wind, bald stockend, bald wieder im Wirbel jagend, peitschte den gießenden Regen.
Auf einem Karrenweg, der über den Halden der Schönau am Saum des Bergwaldes hinführte, wanderten die vier Menschen, welche das Fischerhaus verlassen hatten. Wicho schritt voran. Ruedlieb hatte sein Lodenwams abgenommen und das warme Tuch um Rütlis Haupt und Schultern geschlungen; sie schien den Regen nicht zu fühlen, im Schrecken lag sie an Ruedlieb angeschmiegt, der sie hob und stützte bei jeder rauhen Stelle des Weges. Der Schönauer war zurückgeblieben; durch die Finsternis spähte er über die schwarzen Halden hinunter nach seinem Hag und Haus. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, und seufzend wandte er sich ab. „Du mein liebes Heim, schier muß ich fürchten, ich seh’ Dich nimmer wieder!“
Als sie den Schapbacher Forst erreichten, zündete Wicho die Fackel an, die er mitgenommen. Nun hatten sie ein besseres Wandern; sie waren geschützt wider Wind und Regen, doch häufig mußten sie durch Bäche waten, welche den Pfad überrannen. Der Weg begann zu steigen, und eine Stunde ging es bergan. Als sie eine weite Blöße überschritten, hörten sie von den Alben herunter das Gebrüll der Rinder. „Droben muß der Schnee schon fallen,“ meinte der Schönauer, „die Küh’ begehren auf.“
„Wohl wohl,“ nickte Wicho, „morgen wird mancher an den Heimtrieb denken.“ Schweigend stiegen sie weiter. Durch ein langes Waldthal ging der Weg, dann quer über einen steilen Berghang. Da hörten sie aus den Lüflen einen seltsamen Klang, mächtig und doch wie klagend fast ... als wäre eine baumdicke Saite gesprungen. Lauschend standen sie still, aber sie hörten nichts mehr; nur der Regen plätscherte, und rauschend fuhr der Wind durch die Wipfel der Bäume.
„Was muß denn das gewesen sein?“ fragte Wicho. Und der Schönauer sagte langsam: „Ich mein’, es hat ein Berg geschrieen; das hab’ ich einmal gehört als Bub’ . . . selbigsmal hat sich über dem Göhl eine Fragel[4] aufgethan, und eine ganze Wand ist niedergegangen über die schönsten Alben.“
Sie stiegen weiter. Nach einer Weile senkte sich der Pfad und führte hinunter in das stundenlange Thal, zwischen dessen Felswänden der Windacher See gebettet lag. In murrendem Wellengang schwankle das öde unheimliche Wasser. Mit schneidender Kälte blies der Wind, und die Nacht wurde grau, denn Flocken begannen sich in den fallenden Regen zu mischen. Zwei Stunden dauerte die Wanderung am See entlang. Als der Pfad dann wieder stieg und über Steingeländ emporführte, begann der Grund unter den Füßen der Wandernden sich licht zu färben, und bald umhüllte sie gleich einem Schleier das Gewirbel der weißen Flocken.
Spät erwachte über dem Lokiwald der Morgen. Kaum auf Steinwurfweite drang der Blick, alle Luft war grau vom strömenden Regen, schattenhaft zog sich der Waldsaum mit seinen Bäumen um die Rodung her, und während der kalte Wind den Regen durch Thür und Fensterluken in die Klause peitschte, rauschten auf allen Berggehängen ringsumher die angeschwollenen Bäche. Zuweilen klang durch das dichte Gewölk ein dumpfes Rollen von den Höhen nieder – dort oben lösten sich Massen des Gesteins, welche das Erdbeben gelockert hatte und das strömende, in alle Fugen und Risse sich zwängende Wasser ihres letzten Haltes beraubte. Schwieg für kurze Weile der sausende Wind und dämpfte sich das Rauschen des Regens und der Bäche, so tönte bald von hier und bald von dort aus steilem Bergwald nieder das Gebrüll der Rinder, ein verschwommenes Geläut der Schellen und das ferne Geschrei der Hirten, welche unter Gefahr und Not vor dem auf den Alben fallenden Schnee mit ihren Herden in die Thäler flüchteten.
Am Waldsaum der Rodung mischte sich Beilschlag und das Knirschen einer Säge in das Geplätscher des Regens. Eberwein und Schweiker, im Arbeitskleid und triefend vor Nässe, zimmerten die Läden für die Fensterluken und die Thüren für das Kirchlein und die Klause. Sie wechselten nur ab und zu ein paar Worte, welche die Arbeil erforderte. Schweiker führte jeden Hieb, als schlüge er nicht auf wehrlose Blöcke los, sondern in Zorn und Ingrimm auf einen verhaßten Feind. Die von ihm gespaltenen Bohlen fügte Eberwein mit Querlatten und Holznägeln aneinander; rastlos zog er die Säge und schwang den Hammer; von seinem blonden Haarkranz rann das Wasser wie von einer Traufe, und naß klebte ihm der lichte Bart an der Brust. Die schwere Arbeit schien ihm Erquickung und Trost zu sein, denn gesunde Röte brannte auf seinen Wangen und seine Augen blickten ruhig. Und er hatte doch in der Nacht, an dem Lager des Knaben sitzend, kaum für eine Stunde die Lider geschlossen.
Stunden vergingen; gegen Mittag standen die Thüren gezimmert und die Läden gefügt. Noch einmal prüfte Eberwein seine Arbeit, dann legte er den Hammer nieder. „Bedarfst Du meiner Hände noch?“
„Nein, Herr! Mit allem anderen komm’ ich schon allein so weit, daß Thüren und Fenster gut verwahrt sind bis zur Nacht. Vergönn’ Dir ein Stündlein Ruh’!“
„Ruhe?“ Eberwein schüttelte den Kopf. „Ich ende die Arbeit, weil ein Weg mich ruft.“ Er schritt der Klause zu, um das Gewand zu tauschen.
[390] Eberwein ging, sich für den Weg nach der Ramsau zu rüsten. Starr blickte ihm Schweiker nach und murmelte: „Wenn er sich nur wieder verirren thät’ ... nur daß ich ihn suchen und finden könnt’!“ Er strich mit den Händen über Haar und Bart und schleuderte das Wasser von den Fingern, dann hob er die Axt, doch ohne zu schlagen ließ er sie wieder sinken, träumte mit aufgerissenen Augen vor sich hin und stammelte: „So ein Teufelsbraten, wie ich einer bin! So ein schlechter Kerl!“ Wie in Grausen vor sich selber spuckte er aus, packte das Beil und drosch auf einen Baumblock los, daß die Späne flogen. Was er dabei zuwege bringen wollte, das wußte er nicht ... er schlug und schlug, bis der ganze Block in Splitter ging. Dann warf er das Beil zu Boden, blies die Backen auf, hob vier der schweren Fensterläden auf seine Schulter und trug sie dem Kirchlein zu.
Vor der Klause trat ihm Bruder Wampo entgegen, hustend und die Augen reibend; der Herdrauch hatte ihn aus der Stube hinausgebissen. „Bruder, Bruder,“ jammerte er, „die schieche Zeit hebt an! Heraußen gießt es, als käm’ die Sündflut, und drinnen raucht es, als hätt’ die Höll’ sich aufgethan! Da soll man kochen! Und was! Wassersterz mit Bohnenmus! Und zwei Tag’ noch, so hat das auch ein End’! Der Mehlsack schlottert, und das Bohnensäcklein hat den Schwund!“
„Laß mich in Ruh’!“ murrte Schweiker. „Hast ja Fisch’!“
„Fisch’, Fisch’!“ Bruder Wampo verdrehte die vom Herdrauch brennenden Augen. „All’ Tag’ dreimal Fisch’ ... da kriegt einer auf die Läng’ auch genug dran! Käm’ nur bald die gute Hinzula wieder mit ihrem Himmelsbrot ...“
„Schweig’ mir von der Dirn’!“ fuhr Schweiker auf, daß der andere erschrocken vor ihm zurückwich. Die Fensterläden wackelten auf seiner Schulter, während er mit speerlangen Schritten die Thüre des Kirchleins suchte; ein Zittern war ihm in die Arme gekommen, und dicke Tropfen kollerten ihm über die Backen. Das war kein Regenwasser. Als er die Kirche betrat, blickte er scheu an dem stillen Kreuzbild empor und stellte schwer atmend die Läden nieder. In unruhiger Hast begann er zu arbeiten und befestigte an der Balkenmauer die hölzernen Schienen, zwischen denen die Läden laufen sollten. Da verdunkelte sich die Thüre, und aufblickend sah Schweiker auf der Schwelle einen jungen Bauer stehen, dem eine triefende Lodenkotze von den Schultern niederhing. Es war der Hanetzer.
„Was willst Du?“
Neugierig umherspähend trat der Bauer in die Kirche und lachte. „Ich muß mir die Leut’ doch auch ein lützel anschauen, für die der Richtmann heimlichen Weg geht und rote Arbeit macht.“
Schweiker hörte nur das rohe Gelächter, und seine Stirn wurde rot. „Hier ist kein Ort zum Lachen, hier ist ...“ Da sah er, daß der Hanetzer die Lammfellkappe auf dem Kopfe trug. Mit einem Sprunge stand er vor dem Bauer und hob in aufwallendem Zorn den Arm. „Du Schuft! Trittst Du so in Gottes Haus? Ich will Dir Ehrfurcht weisen!“ Und auf des Hanetzers Backe klatschte eine Ohrfeige, so ausgiebig und gewichtig, daß ihr Hall das Kirchlein füllte und der Bauer an die Mauer taumelte. „Das wirst Dir merken für ein andermal!“ sagte Schweiker und atmete auf, als hätte sich all die drückende Gewitterschwüle, welche sein Inneres erfüllte, mit diesem Schlag entladen.
Während der Hanetzer seine fünf locker gewordenen Sinne wieder zusammensuchte, die Lammfellmütze von der Erde raffte und mit heiserem Fluch aus dem Kirchlein wich, klang hinter dem Bruder, der das Hochgefühl seiner guten That genoß, eine bebende Stimme: „Schweiker! Schweiker!“ Eberwein stand vor ihm, in der einen Hand das Grießbeil, in der anderen den schwarzen breitgeränderten Filzhut, wegfertig für die Wanderung nach der Ramsau. Vor dem Blick seines Herrn überkam den Bruder jählings ein Gefühl, als wäre seine That doch nicht so gut und fromm gewesen, wie er meinte.
„Schweiker! Schweiker! Glaubst Du, dieser eine wird wiederkommen, wenn Du die Glocke ziehst und ihn rufst um der Liebe Gottes willen?“
Schweiker verfärbte sich und stotterte. „Mit der Kapp’ ist er eingetreten in den heiligen Raum ... der Unchrist!“
„So? Den Splitter in Deines Bruders Aug’ erkennst Du, aber nicht den Balken in Deinem eigenen Aug’? Hast nicht Du den heiligen Raum noch mehr entweiht? Hat Christus Dich gelehrt, mit Schlägen für sein Reich zu werben? Sagte er in seiner Liebe: Wenn Dein Bruder gefehlt hat, so zürne ihm und schlage nach seiner Wange?“
In Zerknirschung schüttelte Schweiker den dicken Kopf und stammelte: „Nein, Herr! Ich mein’, er hat gesagt: ‚Haut Dich einer hinter’s rechte Ohr, so ...“ Weiter kam er nicht mit diesem Bibelspruch, für den er seine eigene Fassung hatte. Ein Gedanke war ihm in seine langsamen Sinne gefahren, er schoß zur Thür hinaus, und als er den Hanetzer nahe dem Waldsaum erblickte, rannte er ihm mit langen Sprüngen nach. „He, Du! Halt ein lützel!“
Der Hanetzer blickte sich um, und da er den rennenden Mönch gewahrte und von des Bruders schwieliger Hand eine neue Belehrung fürchten mochte, fing er zu laufen an, was ihn seine Füße trugen. Für Schweikers lange Beine aber war der Bauer, der den Tatzenschlag des Bären noch spürte, nicht flink genug. Unter den triefenden Bäumen haschte ihn der Bruder bei der Lodenkotze. Schreiend suchte der Hanetzer sich loszureißen, doch Schweiker hielt fest und keuchte. „Verzeih’ mir, guter Mann, um Christi willen ... und thu’ mir aus Nächstenlieb’ nur grad’ den einzigen Gesallen und gieb mir die Tachtel wieder heim! Hau’ zu, ich wehr’ mich nicht!“ Der Bauer riß Mund und Augen auf; aber Schweiker bat so rührend um die Heimzahlung, daß der Hanetzer auf die Dauer nicht widerstehen konnte; er trat einen Schritt zurück, strich mit den Fingern der rechten Hand über die nasse Lippe und zog aus ... Lachend empfing der Bruder den klatschenden Schlag, nickte dem Bauer dankbar und freundlich zu und rannte nach dem Kirchlein; kopfschüttelnd blickte ihm der Hanetzer nach. „Einen solchen Narren hab’ ich doch all meiner Lebtag’ nicht gesehen! Könnt’ aus mir ein Mus machen mit seinen Fäusten ... und laßt sich hauen!“
Als Schweiker das Kirchlein erreichte, sah er Eberwein auf der Altarstufe sitzen. „Herr, jetzt hab’ ich sie wieder ... er hat sie mir heimgezahlt!“ Es hätte wohl dieser Meldung nicht bedurft, denn deutlich sah man auf Schweikers Wange die fünf Finger des Hanetzers abgezeichnet. „Das ist eine gewesen aus einer gesunden Mutter Hand ... aber ich fürcht’ halt doch, die meinige hat fester gewogen!“
Eberwein mußte lächeln und es war ihm anzusehen, daß ihm bei aller Sorge, die ihn drückte, der Anblick dieses ungeschlachten Menschen wohlthat wie ein warmer Sonnenblick bei trübem Wetter. „Das nenn’ ich flinke Sühne! Ein andermal aber denke der Güte und Duldung, bevor Du schlägst.“
„Wohl wohl, Herr! Aber es giebt halt Menschen, weißt ... da steigt einem die Gall’ auf, man weiß nicht wie!“
„Gegen die Guten gut sein, das ist ja kein Verdienst, mein lieber Bruder.“
„Freilich, freilich. Aber gegen die Schiechen freundlich sein ... das muß halt einer können! Du, freilich, Du kannst es ... bist doch auch gut zu mir, und ich bin doch so ein grauslicher Kerl! Du hast es halt gelernt, das Gutsein!“
„Gelernt? Meinst Du?“ Ein wehmütiges Lächeln glitt um Eberweins Lippen. „Ich will Dir sagen, in welcher Schule. Komm!“ Er faßte Schweikers Hand und zog ihn an seine Seite. Der Regen prasselte auf dem Dach des Kirchleins, und rings um die Balkenmauern plätscherte die Traufe; fuhr ein Windstoß gegen die Wände, so trieb er durch die Fensterluken den Wasserstaub herein und wehte ihn über die beiden, welche dem Altar zu Füßen saßen.
„Nicht wahr, das weißt Du, daß ich nicht Vater noch Mutter habe?“
Schweiker nickte. „Meine Mutter ist eine Alberin gewesen, aber Vater hab’ ich auch keinen. Wird halt ein Senn gewesen sein oder ein Jägerknecht ... ich weiß nicht. Die mich ins Kloster genommen, die haben mir nie geredet davon.“
„Erst wenige Tage war ich alt, als der Fischer vom Eibinsee mich fand, weit von hier, auf der Romstraße bei der Partenkirche, mitten im Wald. In der Grafenburg auf dem Wertofels, unter [391] Eigenleuten bin ich aufgewachsen und ein Bub’ geworden, der auf dem Karwendel die Geißen gehütet hat.“
„Ein Geißhirt!“ Schweiker seufzte und seine träumenden Augen blickten, er wußte selbst wohl nicht, wohin. Selbigsmal mußt Du es aber gut gehabt haben, gelt?“
„Als ich in das Kloster kam, hab’ ich in meiner kleinen Zelle wohl manche stille Zähre vergossen, wenn mein Aug’ die hohen Berge suchte. Aber mir wurde in dem frommen Haus mit jedem Tage froher ums Herz, und ich bin fleißiger Scholar geworden. Die Arbeit war mir Freude, und durfte ich über einem Buche sitzen, so war mir wohl. Nur eines störte das ruhige Gleichmaß meines Lebens: wenn die Väter und Brüder der jüngeren Mönche in das Kloster kamen oder wenn meine Schulgenossen zu hohen Feiertagen heimzogen in das elterliche Haus, das waren bittere Stunden für mich. Dann wurden meine Augen naß, und an heißer Sehnsucht schwoll mein Herz der Mutter zu, die ich nicht kannte, dem Vater, dessen Namen ich nicht nennen konnte. Hundert Gedanken, süß und dennoch schmerzlich, zogen in solcher Stunde durch meine Seele. Wo sollte meine Sehnsucht die Eltern suchen? Waren sie heimisch in jenem Thal, in dem ich gefunden wurde? Oder saßen sie im fernen Land? Hatte eine böse Hand mich ihnen geraubt oder Mißgeschick und Zufall mich von ihrem Herzen gerissen? Beweinten sie mich als verloren und tot oder hofften sie, ihr Kind im Leben noch einmal wiederzusehen? Trugen sie Weh und Schmerzen um mich oder hatten sie Trost gefunden in der Liebe zu Kindern, die ihnen verblieben waren? Hatte ich Brüder? Oder eine Schwester?“ Matte Röte floß über Eberweins Züge, seine feuchten Augen glänzten, und leise bebte seine Stimme. „Eine Schwester! Das hab’ ich oft gedacht und habe ihr trautes Bild mir vorgemalt: jung und hold, gut und liebenswert.“ Er streckte in tiefer Bewegung die Arme, als könnte er mit Händen greifen, was er sah in seinem Herzen.
Offenen Mundes und mit Augen, aus denen dicke Zähren kollerten, hing Schweiker an seines Herrn Antlitz. Es währte eine Weile, bis Eberwein wieder zu sprechen begann: „Zwanzig Jahre zählt’ ich, da ich als jung geweihter Priester aus dem Kloster zog. Doch eh’ ich hinauswanderte in das ferne Land, trieb es mich zum Eibinsee, zum Fischer Ostalar, der mich gefunden. Wohl war der Himmelsherr mein guter Vater geworden, die Kirche meine treue Mutter . . . doch in einem Winkel meines tiefsten Herzens brannte noch immer die Sehnsucht nach den Meinen. Es war eine helle laue Mondnacht, als ich den öden See erreichte, der zwischen schwarzem Wald und schwindelnd hohen Felsen gebettet liegt. In armseliger Hütte fand ich den alten Fischer. Er schlief und ich mußte ihn wecken. Nun saßen wir in der stillen Nacht, Mond und Sterne zu unseren Häupten, vor uns das schwarze regungslose Wasser. Zitternde Hoffnung in meinem Herzen, stellte ich Frage um Frage. Doch er schüttelte den weißen Kopf und sagte: ‚Laß das Fragen sein, ich kann Dir mehr nicht künden, als was Du lang’ schon weißt.‘ Ich merkte aber wohl an seinem Ton, daß er nicht die Wahrheit sprach. Und als ich mit Fragen nicht nachließ, ging er in die Hütte, brachte mir ein wertloses Stück Geschmeide und sagte: ‚Nimm, das hab’ ich nicht weit von dem Platz gefunden, an dem Du gelegen hast .... ob es Dir gehört oder einem anderen, das weiß ich nicht!‘ Mit nassen Augen starrte ich das stumme Rätsel an. Wenn es doch reden könnte! Ach, Schweiker . . . wohl zu taufend Malen seit jener Stunde hat meine ziellose Sehnsucht jene Worte gesprochen: wenn es doch reden könnte! Ist es mein Eigen? Stammt es aus dem Hause der Meinen? Ich weiß es nicht. Seit jener Stunde aber trag’ ich das Kleinod an meinem Herzen; mag es auch so wertlos sein daß es kein Bettler von der Straße nähme ... meinem Herzen macht es der Glaube teuer, daß es ein Glied der gesprungenen Kette ist, die mich an die Meinen knüpfte.“ Eberwein drückte die Hände auf seine Brust, an welcher er das ungelöste Rätsel seiner Herkunft unter der Kutte verwahrt trug, mit dem Zeichen seiner priesterlichen Weihe, dem Kreuz, zusammen an eine Schnur gebunden.
„Es dämmerte der Morgen, als ich den stillen See verließ. Eine Strecke gab mir der alte Fischer das Geleit, und als ich von ihm scheiden wollte, legte er die Hand auf meine Schulter und sprach: ‚Eines noch muß ich Dir sagen! Was ich dem Knaben allzeit verschwiegen hab’, das wird der Mann, der Du geworden bist, wohl hören können!‘ Ach, Schweiker, erschütternde Kunde war es, die ich vernehmen mußte! Nicht weit von der Stelle, an welcher der alte Fischer das wimmernde Kind auf seine Arme gehoben, hatte er den zerfleischten Leichnam eines Weibes gefunden, das Opfer der hauenden Schweine, deren Zähnen wohl auch das wehrlose Kind verfallen wäre, hätte nicht der Schrei des mutigen Mannes sie verscheucht. Wer war dieses Weib? Meine Mutter? Wie der Tag sich scheidet von der Nacht, so drängte ich diesen grauenvollen Gedanken aus meiner Seele. Wer war dieses Weib?“
„Vielleicht Deine Hüterin, Herr?“ fiel Schweiker mit stammelnden Worten ein, „oder ein fahrendes Weib, das Dich gestohlen hat!“
„So dachte auch ich! Denn in meinem Herzen schrie eine Stimme: Deine Mutter lebt . . . suche, suche! Wohin aber meine Schritte wenden? Ich wußte es nicht. Ziellos wanderte ich im grauen Morgen auf der Straße dahin, Feuer in meinem Herzen, einen Wirbel in meiner Seele. Es ging der Wald zu Ende und Felder kamen. Am Rande des Gehölzes sah ich eine arme Frau, die sich schleppte mit einem schweren Reisigbündel, keuchend und seufzend. Was kümmerte mich das fremde Weib und seine Bürde . . . trug ich nicht selbst auf meinem Herzen eine Last, noch drückender und schwerer? Ich eilte an der Armen vorüber, doch das Bild ihrer Mühsal wollte mich nimmer verlassen. Und quälend erwachte ein Gedanke in mir. Du suchst Deine Heimat, schrie es in meiner Seele, und willst in der Ferne suchen? Wer weiß, ob Dir nicht nahe liegt, was Du suchen gehst, näher, als Du ahnen magst. Wer weiß, ob nicht dieses Weib Dir Kunde geben könnte! Und ist Dir dieses Weib denn wirklich eine Fremde? Kannst Du denn wissen, ob sie nicht zu Deiner Sippe gehört, ob nicht Blut von ihrem Blut in Deinen Adern rinnt? Und Du zogst vorüber an ihr und ließest sie seufzen unter Mühsal und Bürde . . . kehr’ um, kehr’ um! So rief es in mir, und ich eilte zurück, hob die Last der Armen auf meine Schulter und trug ihr das schwere Bündel bis zum Hagthor. Sie hatte nicht Antwort auf meine Fragen und wußte von keinem verlorenen Kind; ihr Dank aber hatte warmen Klang; freundlich sahen ihre Augen mich an, und ich zog meiner Wege, als hätt’ ich Trost empfangen, als wäre die Bürde meines Herzens leichter geworden um gute Pfunde. Und sieh, Schweiker: wie mit diesem armen Weibe, so ist es mir von Stund’ an mit jedem Menschen ergangen, den ich schwanken und seufzen sah unter einer Bürde des Lebens. Hilf’, hilf’, Du hilfst den Deinen – rief immer wieder die Stimme in mir, und ich mußte lieben, die ich leiden sah, und konnte jenen nicht zürnen, die mir Uebles thaten. Oft wallte mir das Blut in heißem Zorn, denn mehr als einmal hab’ ich Undank erfahren, wo ich Wohlthat übte, und Spott empfangen, wo ich Liebe gab – aber je heißer mein Zorn erwachte, so lauter rief die Stimme in mir: Vergieb, es könnte Dein Bruder sein, wider den Du stehen willst in Zorn und Streit!“
„Und nie, Herr, nie hast Du ’was erfahren von den Deinen?“
„Ich weiß auch heute nicht mehr von ihnen als in jener Stunde, in der ich den alten Fischer verließ. Und längst schon hab’ ich das Suchen aufgegeben, meine Sehnsucht wurde stiller von Jahr zu Jahr, denn ich meinte, Gottes Willen zu erkennen. Er hat mich berufen zu seinem Dienst und hat mir die Meinen genommen, um meiner Liebe tausend Brüder und Schwestern zu geben.“
„Alle Menschen? Gelt, Herr? Und keiner soll ausgeschieden sein von Deinem Herzen?“
Eberwein schüttelte den Kopf und wollte sprechen. Da kam Bruder Wampo in das Kirchlein und rief: „Ich bitt’ Dich, guter Herr, komm doch ein lützel, der arme Bub’ verlangt nach Dir. Er hat gemeint, er könnt’ schon wieder laufen . . . und jetzt rinnt ihm das Blut unter dem Leinen heraus.“
Eberwein war aufgesprungen. „Wazemann!“ klang es in aufflammendem Zorn von seinen Lippen. „Ja, Schweiker! Dieser einzige von allen, er und seine Söhne . . . sie sollen geschieden sein von meiner Liebe! Ich will diesem Thal ein treuer Hirte sein . . . wie dürft’ ich die Wölfe lieben, die meine Lämmer schlagen!“
„Recht, Herr, recht hast Du!“ fiel Schweiker ein, während dunkle Röte sein Gesicht übergoß. „Und derselbig’ von ihnen, den sie Henning nennen, der soll aufgehoben sein für meine Fäust’!“ Eberwein hörte diese Worte nicht mehr, er hatte mit Wampo die Klause betreten. Schweiker packte den Hammer, begann seine Arbeit wieder und hämmerte drauf los, als fiele jeder Schlag, mit dem er die hölzernen Nägel in die Balken trieb, auf Hennings Schädel. Dazu redete er mit halblauter Stimme: „Wart’ nur! Ich will Nächstenlieb’ üben, rechte und feste Nächstenlieb’! Aber einer ...“ [392] ein krachender Hammerschlag begleitete dieses Wort, „einer soll ausgenommen sein! Wart’ nur! Lauf mir nur über den Weg! Hui!“ Der Hammer fiel, daß die Balken dröhnten. „Spürst den Hieb? Gelt, der hat ausgegeben? Du wirst mir das Dirndl in Ruh’ lassen, Du!“ Jählings verstummte er in seinem Selbstgespräch. Er blickte scheu um sich und nahm die Arbeit wieder auf, doch schon nach kurzer Weile ließ er den Hammer sinken, starrte vor sich hin und murmelte: „Es ist doch Nächstenlieb’! Nur Nächstenlieb’! Kein Bröselein drüber!“ Er nahm einen Laden auf und schob ihn zwischen die festgenagelten Leisten. „Wie mein Herr seine Mutter, so muß ich ja meinen Vater suchen . . . und wer kann’s denn wissen, es könnt’ ja Blut in ihr sein von meines Vaters Blut . . . weil ich ihr doch so gut sein muß, als wär’ sie meine Schwester!“ Er blies die Backen auf und schüttelte bedenklich den Kopf. Der Gedanke, der ihm da gekommen war, schien ihm nicht zu gefallen. Seufzend trat er zu einem anderen Fenster und begann zu hämmern. „Sie ist in Not gewesen, ich bin ihr beigesprungen, aber jetzt muß alles aus sein! Aus und gar!“ Er schlug und klopfte, daß der Hall das Kirchlein füllte. Doch plötzlich hielt er erschrocken inne – durch das Rauschen des Regens hörte er eine schluchzende Mädchenstimme. Der Hammer flog aus seiner Hand, und mit langem Sprunge gewann er die Thür. Mit verblüfften Augen stand er im strömenden Regen und sah vor der Klause ein häßliches Geschöpf zu Eberweins Füßen liegen, ein Bild des Jammers, schluchzend und Worte stammelnd, die er nur halb zu deuten wußte.
Doch Eberwein schien zu verstehen, was dieser Schmerz ihm sagen wollte, und es mußte böse Kunde sein, die er hörte, denn seine Augen blickten entsetzt, und fahle Blässe deckte seine Züge. In Sorgen eilte Schweiker auf ihn zu. „Herr, was ist Dir?“
„Waldram!“ stammelte Eberwein, riß sich los aus den Armen der Magd und stürzte in die Klause.
Während Schweiker die Schluchzende von der Erde hob, hörte er durch das offene Fenster die bebende Stimme seines Herrn: „Waldram! Was thatest Du in der Ramsau?“
„Was meines Amtes war!“ klang mit zorniger Schärfe die Antwort.
„Wo ist Hiltischalk?“ Schweigen folgte, dann hob sich die Stimme Eberweins: „Steh’ mir Rede, ich frage Dich als Dein Herr!“
„Ich gehorche der Kirche, der Du die Treue brachst, nicht Dir! Du bist mein Herr nicht mehr!“
„Darüber rechten wir ein andermal! So frag’ ich Dich jetzt als Mensch. was ist aus Hiltischalk und seinem Weib geworden? Rede!“
„Ich weiß es nicht! Und was fragst Du mich? Bin ich bestellt, Verdammte zu hüten? Frage bei der Hölle an, der sie verfallen waren!“
„Waldram, Waldram! Und Du, Du nennst Dich einen Priester!“
Dumpfe Stille folgte diesen Worten, verstört und bleich erschien Eberwein in der Thür der Klause, hinter ihm Bruder Wampo mit erschrockenem Gesicht. Eberwein faßte die Hand der weinenden Magd. „Folge mir, Mätzel, komm, wir wollen suchen! Komm nur und weine nicht ... wir werden sie finden!“ Und durch den strömenden Regen zog er die Schluchzende dem Wald entgegen.
„Ja sag’ nur, Bruder,“ stotterte Wampo, „was ist denn geschehen?“
„Ich weiß nicht! Eins aber weiß ich: daß ich meinen guten Herrn nimmer allein laß! Ich geh’ mit ihm, und wär’s durch Feuer und Wasser!“ Mit diesen Worten raffte Schweiker einen Stecken auf und rannte den beiden nach, die schon im Wald verschwunden waren.
Immer tiefer senkte sich das gießende Gewölk und hing über dem Thal wie eine weißgraue Decke, Schneefall mischte sich in den vom kalten Wind gepeitschten Regen, doch die Flocken schmolzen, ehe sie zur Erde fielen. In das Rauschen des Regens tönte das Brausen der geschwellten Bäche und das dumpfe Gepolter der Steine, welche die Fluten trieben.
Mittag war vorüber, als Wicho, heimkehrend von seinem nächtlichen Weg, den Schapbacher Forst verließ und die Halden der Schönau erreichte, das Gewand klebte an seinem Leib, und in dicken Fäden rann das Wasser von ihm nieder. Oft mußte er, seinem Wege folgend, durch schmutzig braune Bäche waten, welche von den Berghängen sich niedergossen, die Felder überschwemmten und mit Geröll die Löcher füllten, aus denen sie das fruchtbare Erdreich losgerissen. Kam der Knecht an einem Hag vorüber, so hörte er das Geschrei der Leute, welche das den Hofraum überflutende Wasser zu stauen und abzuleiten suchten. In einem einzigen Gehöft nur herrschte Stille. Kopfschüttelnd blickte Wicho auf die traurige Stätte, die der halb zerfallene Hag umschloß, und auf den Greis, der über den Trümmern der gestürzten Hütte aus morschen Bohlenstücken ein niederes Dächlein schichtete zu seinem Unterschlupf. Der alte Gobl hatte spüren müssen, daß er noch lebte, es hatte ihm der üble Tag das Sitzen unter dem Apfelbaum verleidet, denn rings um den Baum her stand eine gelbe Lache. Aus den Trümmern seiner Hütte, deren wüster Haufe sich gleich einer Insel über das angesammelte Wasser erhob, hatte Gobl einen Heusack hervorgezogen, hatte ihn zu oberst über die Trümmer gelegt und baute nun über diesem Lager das schützende Dächlein.
„Ja Gobl, was ist denn mit Deinem Haus geschehen?“ rief der Knecht. „Hat es der Bidem geworfen?“
Der Alte blickte über die Schulter zurück, und ein müdes Lachen war seine ganze Antwort. Er riß von dem zerfallenen Hausdach ein großes Stück der faulen Moosdecke los und warf es über die kleine Hütte.
„So red’ doch! Kann ich Dir helfen?“
„Geh’ heim und hilf Dir selber!“ brummte der Greis. „Ich mein’ schier, der heutige Tag bringt schieche Zeiten.“ Er kroch in seinen Schlupf und streckte sich auf den Heusack, grämlich blickte er hinaus in den strömenden Regen und murrte: „Schau’ nur, schau’, ich hätt’ gemeint, mich könnt’ der Tod nimmer jagen von meinem Fleckel, und jetzt hat mich ein lützel Näß’ vertrieben! Schau’ nur, schau’, ich hab’ ja gar schon wieder ein Haus!“
Eine Weile noch stand der Knecht, dann ging er seiner Wege. „Der arme Schlucker!“
Als Wicho den Thalwald erreichte, begann für ihn ein übles Wandern; die Ache war ausgetreten und hatte den ganzen Waldgrund in einen Sumpf verwandelt. Von den Gehöften im Untersteiner Forste scholl dem Knecht ein wirres Geschrei entgegen, und als er die Rodung betrat, sah er ein Häuflein Menschen, erregt durcheinanderkreischend, am seicht überschwemmten Ufer der Ache stehen; er erkannte den Untersteiner mit Weib und Kindern, die Winklerbuben, den Kirngasser und Bärenlochner, den Grünsteiner und ein paar andere Bauern der Schönau. Einige Worte, die er verstehen konnte, machten ihn betroffen, hastig wollte er auf einen Seitenpfad einlenken, doch einer der Winklerbuben kam auf ihn zugelaufen, packte ihn am Arm und zerrte ihn zum Ufer: „Da schau’ her! Die Wazemannsknecht’ sind weniger ’worden um einen! Der Bach hat ihn ausgespieen . . . wie ein Ferch den Brocken, der ihm nicht geschmeckt hat.“
Schweigend, mit finsteren Augen, betrachtete Wicho die angeschwemmte Leiche, welche das Wildwasser übel zugerichtet und halb der Kleider beraubt hatte. Die Leute, welche sie umringten, dachten nicht anders, als daß der Knecht ertrunken wäre; zitternd standen die Kinder, und kreischend jammerte die Bäuerin, doch der Untersteiner rüttelte sie am Arm „Hör’ auf, Weib! Wie kannst denn klagen um einen von denen da droben! Und gar um den da! Am letzten Zinstag hat er mir die Faust ins Gesicht geschlagen! Schau’ den Bach an . . . all’ Jahr’ noch hat er mir ein Trumm von meinem Feld gerissen . . . heut’ aber ist er mir lieb worden, heut’ hat er mir die erste Gutthat erwiesen!“
„So red’ doch nicht so laut!“ stotterte das Weib und suchte den Bauer gegen den Hag zu ziehen.
Aus dem Lärm der anderen schrie der Grünsteiner: „Es müßt’ doch einer hinaufsteigen zu Wazemanns Haus und Botschaft tragen!“
„Da könnt’ sich einer schlechten Dank holen!“ fiel Wicho hastig ein.
„Wohl wohl,“ nickte der Kirngasser, „wenn Du gar so gescheit bist, so geh’ halt selber!“ Aber da schüttelte der Grünsteiner den Kopf und schlich davon.
Lautes Gelächter machte die anderen aufblicken, und Wicho erblaßte, als er den Hanetzer gewahrte, der auf dem Heimweg von der Klause aus dem Wald getreten war. „Wo ist denn der Richtmann?“ lachte er. „Da wär’ wieder ein Stückl Arbeit für ihn!“ Mit dem Fuße stieß er nach der Leiche.
Keiner der anderen erbarmte sich des Toten, und dennoch [394] schalteu sie über diese Roheit. Und was hätte der Richtmann mit dem Ertrunkenen zu schaffen?
„Ertrunken? So? Ich mein’ aber schier: der hat keinen Laut mehr gethan noch eh’ er hat Wasser schlucken müssen . . .“
Mit eisernem Griff umklammerte Wicho den Arm des Schwätzers.
„Ach so? Weißt Du auch schon davon? Und ich soll den Schnabel halten, gelt?“ lachte der Hanetzer. „Aber wenn ich schweigen könnt’, hätt’ er mich ja zum Thing gerufen, der gute Richtmann! Jetzt, ja, jetzt soll ich auf einmal wortfest sein! Meintwegen ... so lang’ ich nicht reden muß!“ Er riß sich los und ging seiner Wege. Die Leute schüttelten die Köpfe und sahen sich mit scheuen Augen an. Einer um den andern schlich davon, und Wicho stand einsam bei der Leiche; er streckte die Hände, als wollte er den Toten wieder zurückschleudern in das Wasser, das ihn ausgeworfen; aber ein Grauen faßte ihn, und den Arm vor die Augen drückend, wandte er sich ab.
Keuchenden Laufes erreichte er die Seelände und hörte von weitem schon die Beilschläge, die aus der Hofreut des Fischerhauses klangen. Der See war über die Ufer getreten und reichte bis zum Thor. Sigenot, Eigel, Kaganhart und der alte Senn schlugen neben dem Lugaus die Pfähle, um in doppelter Wand den Hag zu erhöhen; der Regen störte sie nicht bei der Arbeit. Unter dem vorspringenden Hausdach saß Hilmtrud und entblätterte die Buchenruten für das Flechtwerk.
Als Sigenot den Knecht erblickte, sprang er vom Lugaus nieder und riß das Hagthor auf. Wicho nickte nur einen stummen Gruß und schöpfte Atem. Eigel und Kaganhart wollten die Arbeit verlassen, doch Sigenot winkte ihnen zu, daß sie bleiben möchten. „Wie seid Ihr hinaufgekommen?“ fragte er leise.
„Nicht gut, nicht schlecht. Es war ein schiecher Weg durch Nacht und Schnee. Und unter dem Eismann hat der Bidem eine Fragel[5] aufgerissen, klafterbreit ... wir haben sie weit umgehen müssen. Deiner Schwester ist das Steigen hart geworden, aber der Ruedlieb hat sie gestützt und gehoben in rechter Lieb’, und alleweil’ noch, in Not und Müh’, hat sie ihm zugelacht.“
Sigenot atmete auf. „Sie ist in treuer Hut! Wüßt’ ich nur auch die Mutter an sicherem Platz, so hätt’ ich keine Sorg’ mehr. Aber sie will ihren Herd nicht lassen . . .“ seine Blicke suchten das Kreuz, „und will kein rechtes Vertrauen haben zu dem guten starken Helfer.“ Er legte die Hand auf die Schulter des Knechtes. „Den heutigen Nachtweg will ich Dir vergelten. Laß uns festhalten am guten Recht der Klosterleut’ . . . und kehrt die Ruh’ wieder ein, so sollst Du ein freier Mann sein, und ich selber bau’ Dir das Haus, in dem Du sitzen sollst am eigenen Herd.“
Eine brennende Röte flog über das Gesicht des Knechtes, und seine Augen leuchteten; doch er schüttelte den Kopf. „Ich bleib’ bei Dir! Und fortjagen wirst mich nicht!“
Sigenot lächelte. „Wir reden noch drüber, mein’ ich. Jetzt geh’ in Deine Kammer, leg’ trockenes Häs an und laß Dir die Ruh’ gut schmecken!“
„Ruh’, Herr? Ein andermal, aber heut’ nimmer. Blut lauft um, und das Wasser hat einen Schrei wider uns gethan!“ Mit hastigem Flüstern erzählte Wicho, was er im Untersteiner Forst gesehen und gehört.
Sigenot nickte vor sich hin. „Heut’ oder morgen . . . Blut will sein Recht haben! Die Red’, die der Hanetzer gethan, wird umgehen und wachsen, bis ihr Hall hineinschreit in Wazemanns Fenster.“ Mit ernsten Augen blickte er durch den grauen Regen empor zur Höhe der Falkenwand und faßte den Griff des Messers. „Schließ’ hinter mir das Thor, Wicho, ich hol’ die Richtmannsleut’ in meinen Hag!“ Wie er war, ohne Mantel und Kappe, nur mit dem Messer bewaffnet, verließ er die Hofreut.
Als Wicho zum Lugaus kam, umdrängten ihn die Männer in Neugier und Sorge. Er berichtete, was geschehen; der alte Senn brummte ein paar Worte in seinen Bart, Kaganhart stand mit offenem Mund und scheuen Augen, Eigel aber griff zur Arbeit und lachte wie ein junger Bursch, dem der Vater sagt: „Schaff’, Bub’, und bist Du fertig, so geh’ zum Tanz!“ Wicho streifte mit beiden Händen die Nässe von seinem Gewand und faßte Sigenots Beil. Dumpf klangen im Rauschen des Regens die wuchtigen Schläge, mit denen die Männer die schweren Pfähle in den Grund trieben.
Nach einer Weile verließ Kaganhart den Lugaus; er that, als müßte er seinem Weib bei der Arbeit helfen. Aber Hilmtrud sah ihn verwundert an. „Geh’ weiter und schaff’,“ sagte sie, „ich werd’ mit den Ruten schon selber fertig.“ Er schüttelte den Kopf, griff nach einem Ast, und während er die Blätter abstreifte, flüsterte er: „Trudli! Da wird uns der Boden heiß unter den Füßen. Ich mein’, auf ebenem Feld wär’ bald ein besseres Weilen als unter dem Dach da!“
Sie gab keine Antwort, nur ihre funkelnden Augen glitten an ihm auf und nieder; doch als er Wichos Botschaft wiederholte, sprang sie auf und ballte die Fäuste. „Recht so! Geht’s endlich an ein Raiten! Lieber heut’ als morgen!“
„Aber Weib, Weib!“ stotterte er und suchte sie niederzudrücken auf die Hausbank. „So nimm doch Verstand an und laß Dir sagen . . .“
Sie schüttelte ihn von sich ab. „Bist Du auch noch ein Mannsbild? Du? So geh’ doch hinein zum Feuer, Büebli, und koch’ Dir ein Mus ... ich such’ mir derweil einen Prügel aus für den da droben, der soll ihm heiß machen, heißer, als mir gewesen, wie mein Haus in Glut gefallen ist!“ Mit ungestümen Händen wühlte sie in dem Haufen der Aeste und zog einen knorrigen Strunk hervor.
Seufzend kratzte sich Kaganhart hinter den Ohren und schlich zum Lugaus zurück. Unwillig griff er bei der Arbeit zu, und immer glitten seine furchtsamen Augen hinaus zum Falkenstein.
Wie ein grauer Schleier hing der Regen vor Wazemanns Haus. Im Burghof ließ sich kein Laut vernehmen; das Geflügel saß unter den Vorsprüngen der Stalldächer, die Hunde lagen in ihren Hütten, ein Pfau hatte sich in die Vorhalle geflüchtet und putzte die nassen Federn. Nur die Raubtiere, die im Stangenkäfig dem Regen schutzlos preisgegeben waren, trabten in ihrem Verließ auf und nieder, schüttelten die triefenden Felle und knurrten.
Rimiger, der mit Otloh aus der Falkenkammer trat, spähte durch den Regen empor nach den umnebelten Berghöhen. „Willst Du mit?“ fragte er.
„Wohin?“
„Ich steig’ zu Berg. Ich kann’s nimmer mit ansehen, wie der Vater sitzt mit langem Gesicht und Fliegen fangt, statt daß er Fäust’ macht und dreinschlagt.“
„Ich kann’s ihm nicht verdenken,“ meinte Otloh, und seine Stimme hatte scheuen Klang. „Wider einen Heiligen, der geschlossene Thüren aufblast und durch Mauern geht, ist ein übles Streiten.“
Rimiger lachte. „Ich mein’, ich kenn’ den Heiligen, der die Vögel hat fliegen lassen.“
Erschrocken blickte Otloh den Bruder an. „Rimiger!“
„Schweig’! Ich red’ nicht weiter. Ich will unter unserem Dach keinen Streit wecken, von dem ich nicht weiß, welch ein End’ er nimmt. Ich steig’ zu Berg . . . so hab’ ich den Aerger los und muß den Vater nicht sehen, wie er im Teig sitzt! Willst Du mit?“
„Kennst Du des Vaters Spruch nicht: Naß Gejaid hat lützel Freud’?“
„Schau’ hinauf, es lichtet in der Höh’! Droben muß Schnee liegen ... der treibt die guten Böck’ aus dem Gewänd’. Ich mein’, wir werfen ein paar.“
„Meinethalben, so geh’ ich mit.“
Sie suchten ihre Kammer, und eine Weile später verließen sie, um gegen den König Eismann aufzusteigen, durch die hintere Mauerpforte den Burghof, in dicke Kotzen gehüllt, die Bogen und Federeisen in ledernen Scheiden verwahrt. Als der Knecht, der die Pforte geöffnet, hinter ihnen die schwere Thüre zuwarf, erschienen, wie von diesem Lärm gerufen, Henning und Eilbert in der Vorhalle.
„Ist der Knecht heimgekommen?“ rief Henning mit halblauter Stimme über die Freitreppe herunter.
Der Gefragte schüttelte den Kopf und sagte, daß die Brüder zu Berg gestiegen wären. Henning nagte an seinem Schnurrbart und ballte die Fäuste. „Ich kann mir anderes nimmer denken ... er hat zu viel gewagt und ist dem Fischer in die Händ’ gefallen.“
„Dann ist er Fischfutter worden!“ lachte Eilbert.
„Da hilft kein Schweigen mehr, jetzt müssen wir es dem Vater sagen.“
Eilbert zuckte die Achseln. „Mit dem ist heut’ ein schlechtes Reden, ich verbrenn’ mir das Maul nicht.“ Und gähnend trat er ins Haus.
Wie grauer Dunst füllte das Zwielicht des Regentages die [395] Herrenstube. Ueberall lag Gerät umher, als hätt’ es eine zornige Hand durcheinander geworfen, und auf dem Spanbett waren die Polster und Decken zerknüllt. Bei einem der Fenster saß Herr Waze mit aufgestütztem Arm, das blaurote Gesicht auf die Fäuste gestützt, ins Leere stierend. Neben dem Sessel stand eine zinnerne Kanne auf dem Boden, dicke Mettropfen hingen an Wazes grauem Bart, und sein verwüstetes Gewand war übel anzusehen.
Henning trat auf ihn zu. „Vater . . .“
„Ruh’ will ich haben!“ schrie Herr Waze und sprang auf; dabei stieß er die Kanne um, daß der Met über die Dielen rann. Zornig schleuderte er sie mit dem Fuß von sich, durchmaß die Stube und warf sich auf das Spanbett. Eilbert, der hinter dem Ofen saß, lachte vor sich hin, und Henning stand unschlüssig, was er thun sollte. Nach einer Weile ging er zum Bett, packte seinen Vater am Arm und rief, als hätte er einen Tauben vor sich: „Hör’ oder hör’ nicht . . . aber sagen muß ich Dir’s: der Fischer hat uns einen Knecht geworfen!“
Da schoß Herr Waze in die Höhe, als wäre Feuer auf seinem Lager, und in wilder Freude schrie er: „Bub’, das ist gute Botschaft! Mag der Knecht hin sein ... aber jetzt hab’ ich doch einen, an dem ich meine Gall’ auslassen kann! Wart’, Fischer, wart’! Ich will mir Sühn’ holen für meinen Knecht! Das ist Recht und Gesetz, da kann sich auch der Pfaff und sein Heiliger nicht dagegen stellen . . . das ist Recht und Gesetz, daß ich Buß’ verlang’ für meinen Knecht! Den Blutbann über das Fischerhaus! Red’, Bub’, red’ – wie war’s mit dem Knecht?“ Seine Freude erhielt einen Dämpfer, als er hörte, was Henning zu sagen wußte. Aber seine Lebensgeister waren aufgerüttelt; das bekam als erster Henning zu fühlen über den die Schimpfworte niedergingen wie draußen über das Dach der Regen. Dann kam Eilbert an die Reihe, welchem Henning die Schuld gab, daß der Vater nicht am Morgen schon von der Sache erfahren hätte. „Hätt’ ich’s am Morgen gehört, so hätt’ ich jetzt schon den Beweis in meiner Hand!“ schrie Herr Waze, daß die Thüren zitterten vom Hall seiner Stimme. „Aber ich muß ihn habeu, noch eh’ der Tag vergeht! Rimiger! Wo ist Rimiger? Her mit ihm!“ Als er hörte, daß Rimiger mit Otloh zur Jagd gezogen wäre, schlug er in schäumendem Zorn die Fäuste auf den Tisch. „Der einzig’, auf den ich mich verlassen kann! Und der lauft davon, jetzt, wo ich ihn brauch’! Jahr aus und ein liegt mir das ganze Rudel an der Schüssel . . . und brauch’ ich einen, so geht der Gauch seine eigenen Weg’!“
Weder Henning noch Eilbert noch einer der drei anderen Brüder, die das Geschrei aus der Kammer gerufen hatte, wagte ein Wort zu erwidern. Herr Waze, dem der Atem ausgegangen, warf sich auf einen Stuhl und schob die Fäuste über den Tisch. Mit heiseren Lauten sprach er vor sich hin: „Der Knecht ist weg und abgethan, sonst wär’ er heimgekehrt! Wer hat ihn geworfen? Wer sonst als der Fischer? Er muß es gethan haben, er muß! Ich will ihn haben! Ich will! Aber ich muß den Rechtweg gehen ... ich spür’ eine Faust im Genick, die keiner sieht!“ Schwer atmend schielte er nach dem Kreuz, das an der Mauer hing. Lange schwieg er. Endlich erhob er sich, schnallte den Ledergurt an seiner Hüfte fester, riß einen Wildfänger von der Wand und schob ihn in das Gehäng des Gürtels. „Henning!“
„Ja, Vater.“
„Nimm zwei Knecht’ und zieh’ gegen den Untersteiner Forst. Eilbert und Gerold . . . gegen die Grünsteiner Halden. Sindel mit Hartwig und einem Knecht . . . gegen die Schönau. Haltet Umfrag’ nach dem verlorenen Mann, und findet ihr einen, der nur ein einzig Wort wider den Fischer zu reden weiß, so schafft mir den Zeugen her in mein Haus! Bei dem Fischer halt’ ich selber Anfrag’. Also weiter!“
Die Brüder verließen die Stube. Sindel, der als letzter ging, hörte noch die Frage: „Wo ist Recka?“
„Ich weiß’ nicht!“
Herr Waze ging auf Reckas Kammer zu und wollte eintreten; doch von innen war der Riegel vorgeschoben. „Mach’ auf!“ schrie er und stieß mit dem Fuß an die Thüre. Recka öffnete. Mit einem Antlitz, fast so bleich wie das weiße Gewand, das sie trug, stand sie auf der Schwelle und sah den Vater an.
„Was sperrst Du Dich ein vor mir?“
„Nicht vor Dir! Vor jedem! Ich will allein sein, wenn ich Heimgart halt’ mit meiner Mutter.“
Zornig lachte Herr Waze; doch sein Lachen erstickte, als er in Reckas Hand den zerbrochenen Beinreif sah, den er erkannte, obwohl er ihn nicht mehr gesehen hatte seit Frau Frideruns letzten Tagen. Er wich zurück, und fahle Blässe rann über sein Gesicht. „Wie kommst Du zu dem verwünschten Knochen?“
„Ich hab’ gekramt in meiner Mutter Geschmeid’ und hab’ wieder sinnen müssen, warum meine Mutter wohl geweint hat, so oft ich das Bein in ihrer Hand gesehen hab’.“
„Das ist kein Kram für Dich, her damit!“ keuchte Herr Waze und streckte die Hand.
Mit gefurchten Brauen trat Recka zurück. „Du bist mein Vater! Nimm mir, was ich hab’ von Dir, und wär’s das Leben! Doch was ich hab’ von meiner Mutter, das halt’ ich!“ Sie legte die Hand mit dem Bein an ihre Brust.
Wazes Lippen verzerrten sich, und mit funkelnden Augen maß er die Tochter; doch er konnte ihren Blick nicht ertragen und wandte sich wortlos ab. Die Thüre schloß sich, und er hörte den Riegel klirren, während er der Vorhalle zuschritt. Vor der Schwelle blieb er zögernd stehen und murmelte: „Ich sollt’ nicht gehen heut’ . . . ich hab’ das Bein vor meinem Weg gesehen!“ Da hörte er das Wiehern und den Hufschlag seines Pferdes, das ein Knecht vor die Freitreppe führte. Er schüttelte sich und wischte mit der Hand über die Stirne. Der Wind peitschte ihm den Regen ins Gesicht, als er über die Stufen niederstieg, auf denen das Wasser rann.
Die Brüder hatten den Burghof schon verlassen. Als sie über den in einen Bach verwandelten Reitweg niederstiegen, hörten sie von der Seelände schreiende Stimmen und Rindergebrüll. „Sein Vieh ist von den Alben heimgekehrt,“ lachte Henning, „zu guter Zeit für uns! Er soll für den Knecht ein Wehrgeld zahlen, das ihn mehr noch kostet als den letzten Kuhschweif!“
Unweit der Achenbrücke trennten sich die Brüder. Henning folgte mit den beiden Knechten dem Lauf des Wassers . . .
Um die gleiche Zeit stand Sigenot in der Stube des Richtmanns, um ihn her das Gesinde, die beiden Mägde bleich und zitternd, die vier Knechte mit ernsten Gesichtern. Sie hatten erfahren, was in der Nacht geschehen war und daß dem Haus ihres Herrn der Blutbann drohe. Sorgende Furcht hatte sie befallen, doch Sigenots Anblick und seine Ruhe gab ihnen Hoffnung und Zuversicht, und willig legten sie die Hände zum Treugelöbnis in seine Rechte. Rasch vollzog sich alle nötige Arbeit. Von den Vorräten, die sich im Hause fanden, wurden zwei Kraxen beladen, welche die Mägde tragen sollten; denn Sigenot meinte: „Wir Männerleut’ brauchen freie Händ’ auf dem heutigen Weg.“ Die paar Stücklein Vieh, welche in Heimweide standen, um den Bedarf an Milch für das Haus zu decken, wurden im nachbarlichen Gehöft des Köppeleckers untergebracht und sollten nach Einbruch der Dunkelheit zum Fischerhaus getrieben werden. Der heimkehrenden Almenherde des Richtmanns war Sigenot auf dem Weg begegnet und hatte sie nach seinem Hag gewiesen. An Haus ünd Ställen wurden alle Thüren vernagelt und verpflöckt, dann nahmen die Mägde die Kraxen auf, die Knechte verteilten unter sich, was sie im Haus an Waffen und Aexten gefunden, und so verließen sie die Hofreut. Sie sprachen kein Wort, aber der zottige Hund, der ihnen voransprang, bellte lustig – er war der einzige, dem der Auszug Freude machte. Sigenot schloß von innen das Thor, legte die Sperrbalken ein und schwang sich auf den Hag. Eh’ er niedersprang, glitten seine Augen über das stille Gehöft. „Der starke Herr soll Dich schützen, Du verlassener Herd, und soll Dich wahren für Deine Leut’ und meine gute Schwester!“
Unter strömendem Regen wanderten sie über die sumpfigen Aecker. Als sie am Hag des Köppeleckers vorüberkamen, huschte der Bauer aus dem Thor und flüsterte dem Fischer zu: „Such’ anderen Weg! Die Wazemannsleut’ gehen um in der Schönau . . . beim Waldhauser sind sie gewesen, und zuletzt hab’ ich sie beim Hag der Hanetzerbuben gesehen.“
Sigenot nickte vor sich hin, als käme ihm diese Botschaft nicht unerwartet, und nahm den Weg mit seinen Leuten thalwärts gegen die Ache. So hatte er wohl die Begegnung mit Sindel und Hartwig vermieden, welche in der Schönau nach dem Vermißten forschten; doch im Thal der Ache traf er mit Henning zusammen, dessen beide Knechte die von einer Kotze bedeckte Leiche auf den Speerhölzern getragen brachten, bis über die Knöchel in dem gelben Wasser watend, das die Ache über ihre Ufer goß.
[409] Als Sigenot, mit seinen Leuten über den von welken Büschen bewachsenen Hang niedersteigend, in der Talsohle Henning und seine Genossen gewahrte, hieß er die Mägde voranschreiten und flüsterte den Knechten zu: „Schweiget, wenn er uns anruft. Muß geredet sein, so red’ ich allein!“ Auf einen Speerwurf waren die Wazemannsleute hinter ihm, als er, den Zug der Seinen schließend, den überschwemmten Thalweg erreichte. Da klang schon die Stimme Hennings. „Zeit lassen, Fischer!“
Sigenot blickte über die Schulter zurück und schritt weiter.
„Steh, Fischer! Oder hast Du Angst in den Füßen?“
Sigenot verhielt den Schritt und wandte sich; auch die Knechte des Richtmanns blieben stehen, während die Mägde ihren Gang beschleunigten. Henning und die beiden Knechte mit ihrer stillen Last kamen näher.
„Was willst Du von mir?“ fragte Sigenot.
„Schau’ her, was wir gefunden haben!“ Henning riß die Kotze von der Leiche. „Kennst Du den Mann?“
„Wohl, Henning! Es ist Dein Knecht, den Du auf Weg’ geschickt hast, für die Dein eigener Mut nicht gereicht hat.“
Henning lachte heiser. „Sieh’ doch! Wie gut Du weißt, welchen Weg mein Knecht gegangen ist in seiner letzten Nacht! Da wundert mich nimmer, daß Dein Fischknecht, wie ich gehört hab’, gar so erschrocken gethan hat beim Untersteiner Hag.“
„Wenn Du Dich nimmer wunderst … was fragst Du noch?“
„Ist Dir vielleicht um die Antwort bang? Ich mein’ schier, man könnt’ von Dir erfragen, wer meinen Knecht erschlagen hat.“
Sigenot schwieg.
„Bleibt Dir die Red’ in der Gurgel stecken? So red’ Dich doch aus auf Deinen Knecht … sag’ doch. der Wicho hat’s gethan!“
Um einen Schritt trat Sigenot näher. „Die Wahrheit will ich Dir hehlen … und lügen kann ich nicht. Denk’ Dir: ich hab’s gethan, so brauchst Du nicht weiter zu fragen!“
„Er hat gestanden,“ schrie Henning seinen Knechten zu, „faßt ihn, mein Vater will es!“
Die Knechte ließen die Leiche in die Pfütze gleiten, um ihre Speere frei zu bekommen, doch als sie sahen, daß Sigenot einem seiner Leute die Axt entriß, blickten sie zögernd auf Henning.
„Es wird sich hart machen mit dem Fassen!“ rief Sigenot, dessen klingende Stimme das dumpfe Rauschen der vorüberschießenden Ache hell übertönte. „Deine Helfer, Henning, fürcht’ ich nicht. Und Du? Du zählst ja nicht! Du hast ja nur Mut, wenn Du [410] den Pfeil werfen kannst aus dickem Busch oder den Stein lösen auf sicherem Gewänd’.“
In bleicher Wut riß Henning das Messer vom Gürtel und schwang es zum Wurf, erschrocken fiel ihm einer der Knechte in den Arm, Henning wollte sich losreißen, auf dem durchweichten Boden glitten ihm die Füße aus; er taumelte und fiel, kollerte über die Leiche, und ehe die erschrockenen Knechte ihn zu haschen vermochten, hatte er in dem über das Ufer getretenen Wasser den Grund verloren und verschwand mit gurgelndem Schrei in den Wirbeln der Ache. Kreischend und ratlos standen die Knechte, aber Sigenot hatte schon die Axt von sich geschleudert, in jagender Eile rannte er durch das anspritzende Wasser am Ufer dahin, und als er in einem schäumenden Wirbel zwischen Felsblöcken Hennings Arm auftauchen sah, sprang er mit weitem Satz in die Wellen. Den Treibenden am Genick fassend, schwang sich der Fischer, der auf dem Grund der Ache jeden Stein und jede Untiefe kannte, auf einen von den Wellen überspülten Block. Und ehe die schreienden Knechte noch zur Stelle kamen, hatte Sigenot mit dem Geretteten schon das jenseitige Ufer gewonnen. Halb von Sinnen taumelte Henning zu Boden, als der Fischer ihn aus seinen Händen ließ.
Sigenot schüttelte das Wasser von sich und schöpfte Atem. Ein müdes Lächeln huschte über seine Lippen. „Sag’, Henning, denkst Du noch der Wort’, die Du in jener Sturmnacht Deiner Schwester zugerufen, weil sie in meinem Geleit den Heimweg gefunden hat? Jetzt nimm die Wort’ zurück. Schäm’ Dich, Henning, bist Blut von Wazes Blut und mußt Dir helfen lassen von einem, wie ich bin!“ Er wandte sich ab und schritt unter den Bäumen am Ufer entlang.
Wilder Lärm füllte die Hofreut des Fischerhauses. Mit heiseren Stimmen schrien die Almerinnen und laut brüllten die Rinder, welche scheu umherrannten, die Umfriedung des Gärtleins niederdrückten und nach allen Richtungen ihre Wege nahmen, die einen auf der Suche nach dem Stall, die anderen nach einem Ausweg. Die Männer mußten die Arbeit verlassen und den Dirnen zu Hilfe kommen. Nur schwer gelang es, die Rinder Sigenots von der Herde des Richtmanns zu scheiden und im Stall zu bergen. Die Scheune, so geräumig sie war, vermochte die fremde Herde nicht zu fassen. Man mußte an die Errichtung eines Schuppens denken, um den noch übrigen Tieren Schutz vor dem strömenden Regen zu bieten. Während die Männer Pfähle und Bohlen herbeischleppten, hörte Wicho laute Schläge am Hagthor. „Da kommt der Herr mit guter Hilf’!“ rief er und eilte, um zu öffnen.
„Schau’ erst über den Hag, eh’ Du aufthust!“ mahnte Eigel.
Wicho stieg auf den Lugaus und warf einen Blick nach der Lände, erschrocken fuhr er zurück. Herr Waze zu Roß und zwei Knechte mit Sauspeeren hielten vor dem Thor.
„Was ziehst Du den Kopf zurück?“ rief Herr Waze. „kennst Du mich nicht?“
Wicho winkte den Männern in der Hofreut, doch sie hatten die Stimme vor dem Hag bereits erkannt, Eigel und der alte Senn faßten ihre Aexte und rannten zum Thor. Hilmtrud, über deren Gesicht ein jähes Erblassen ging, wollte ihnen folgen, aber Kaganhart packte sein Weib am Arm und stotterte: „So bleib’ doch; bleib’ ... wir müssen nicht überall dabei sein!“
Wicho hatte die Arme über das erhöhte Flechtwerk des Hags gelegt und auf Wazemanns Frage die Antwort gegeben: „Wohl wohl, Herr, ich kenn’ Dich schon.“
„So rühr’ Dich! Siehst Du nicht, daß ich Einlaß will?“
„Wohl wohl, das seh’ ich!“ nickte Wicho, ohne von der Stelle zu weichen.
Herrn Wazes Stirne wurde rot. „Du Schuft! Thu’ mir das Thor auf, oder Du sollst für die Säumnis zahlen!“
„Schuft? He, Du!“ rief Wicho einem der Wazemannsleute zu. „Hörst du nicht, Dein Herr hat Dich gerufen! Mich kann er ja nicht gemeint haben, denn ich heiß’ Wicho! Tummel’ Dich und zeig’ ihm den Heimweg ... es macht grob Wetter heut’ ... schau’ nur, das Wasser lauft ihm ja schon beim Stiefel heraus.“
Herr Waze ritt dicht an den Hag heran und hob die Augen mit stechendem Blick zu Wicho. „Ruf’ mir Deinen Herrn!“
„Mein Herr ist im Haus und kann nicht kommen,“ entgegnete Wicho und ließ keinen Blick von der Hand des Spisars, denn er sah, daß Herr Waze an dem Riemen nestelte, mit welchem der kurze Jagdspeer an den Sattel gefesselt war.
„Nicht kommen? Warum nicht?“
„Er hat ein neues Häs an, und das hat heiklige Farben, die den Regen schlecht vertragen! Da müßt Ihr wohl ...“ Wicho verstummte, denn er sah seinen Herrn mit des Richtmanns Leuten auf der Lände erscheinen. Mit langen Sprüngen stürzte er zum Haus, riß den fünfzackigen Näbiger von der Wand, eilte über den Hügel hinunter und keuchte. „Das Thor auf!“
Als Herr Waze den Fischer erblickte, öffnete sich schon der Hag, und Wicho stellte sich mit Eigel und dem Altsenn an Sigenots Seite, während die zwei Mägde des Richtmanns mit ihren Kraxen in das Thor flüchteten.
Ueber Wazemanns Lippen huschte ein dünnes Lächeln, er hatte rasch die Fäuste gezählt, welche wider ihn und seine beiden Knechte waren, und merkte wohl, daß für Zorn und Gewalt nicht die rechte Stunde wäre. Mit einem stummen Wink hieß er seine Knechte zurücktreten und rief den Fischer an. „Du mußt ein übles Gewissen haben, denn ich seh’, Du rufst mehr Leut’ um Dich her, als Du füttern kannst an Deinem Tisch!“
Sigenot wollte Antwort geben, doch Eigel kam ihm zuvor und schrie: „Wenn Du meinst, ein gutes Gewissen müßt’ allein stehen ... warum denn hat man Dich im Gadem noch niemals ohne Knecht’ gesehen! Aber steck Dich hinter all’ Deine Knecht’ ... es wird doch eine nach Dir greifen! Schau’ Dich um, sie steht schon hinter Dir und hebt die Fäust’!“
Herr Waze warf einen scheuen Blick über die Schulter, doch er sah nur seine Knechte. „Was will der Narr?“
„So schau’ sie doch an! Oder kennst Du die Salmued nimmer ...“
Sigenot legte die Hand auf Eigels Arm und zog ihn zurück; ruhig fragte er: „Herr Waze, was wollt Ihr bei meinem Haus?“
Langsam wandte der Spisar die funkelnden Augen von dem Kohlmann und sah den Fischer an. „Die Neugier hat mich hergetrieben. Ich möcht’ wohl wissen, warum Dein Hag Dir auf einmal zu nieder scheint, daß Du ihn höhen und festen mußt?“
„Es steht der Winter vor meinem Thor, der Schnee wird steigen und die Wölf’ haben hohen Sprung.“
„So? Und Du fürchtest die Wölf’?“
„Nein, Herr, aber man hütet sich vor ihnen.“
„So? Dann laß Deinen Hag nur gehörig wachsen, eh’ sie springen. Und eine andere Frag’ noch hab’ ich an Dich. Mir fehlt ein Knecht, weißt Du mir keine Kund’ von ihm?“
„Wohl, Herr! Vor kurzer Weil’ erst hab’ ich ihn gesehen. Reitet nur heim ... Euer Henning bringt ihn mit seinen Knechten getragen auf dem Speerholz.“
„Wer hat ihn erschlagen?“ schrillte die Stimme Wazes. „Du?“
„Ob ich’s gethan hab’, wird sich weisen im Gericht.“
„Du wirst Dich stellen?“ fuhr es hastig über die Lippen des Spisars, und seine Augen schossen einen Blitz.
„Ja, Herr! Aber nicht in Eurem Haus, sondern vor dem Sitz der Klosterleut’, die nach Recht die Herren sind im Gadem. Ich hab’ mein Leben und Haus in ihre Hand gelegt. Schauet her, Herr Waze ...“ er deutete nach dem Kreuz, „da steht ihr Herrenzeichen vor meinem Hag!“
Herr Waze würgte an einem Wort, doch es wollte ihm nicht von der Zunge; kalkige Blässe bedeckte sein Gesicht, und der Zügel schwankte in seiner zitternden Faust. Sigenot wandte sich zu den Seinen. „Geht ins Haus, Ihr Leut’, wir wollen das Thor schließen ... denn ich mein’, Herr Waze und ich, wir haben zu End’ geredet.“ Zögernd folgten die Leute dem Geheiß des Fischers, der die Hofreut als der letzte betrat.
Wie versteinert saß Herr Waze im Sattel, doch als die Thorflügel sich schlossen, reckte er die Faust und knirschte: „Auf morgen, Fischer!“ Er warf das Pferd herum und ritt am Hag entlang. Da sah er Hilmtrud auf dem Lugaus stehen, sie hielt mit der einen Hand den Knüttel umfaßt und stieß mit der anderen ihren Mann zurück, der sie vom Hag hinwegreißen wollte.
„Du?“ lachte Herr Waze. „Hast Du Dich auch zu ihm gesellt? Gieb acht ... Dir soll in des Fischers Haus noch heißer werden als unter Deinem eigenen Dach!“
Erbleichend taumelte Hilmtrud, als hätte ein Faustschlag ihr Gesicht getroffen. „Mordbrenner, Mordbrenner!“ kreischte sie wie von Sinnen und wollte den Knüttel schleudern. Schreiend klammerte sich Kaganhart an ihren Arm, aber sie riß sich los und schwang sich [411] über den Hag; der Länge nach stürzte sie in die Pfütze, raffte sich auf – „Mordbrenner!“ keuchte sie, und während Kaganhart mit jammerndem Gezeter zum Hagthor eilte, rannte sie mit geschwungenem Knüttel dem Spisar nach. Unter den Bäumen, nahe der Achenbrücke, erreichte sie ihn, faßte das Roß am Schweif und schlug. Herr Waze hatte den Jagdspeer vom Sattel gerissen und fing den Streich auf, der nun mit Wucht auf den Rücken des Pferdes fiel. Das Tier schlug aus; stöhnend taumelte Hilmtrud, vom Huf am Arm getroffen, ließ den Knüttel sinken, und gleich einer Wahnsinnigen sprang sie an dem Spisar hinauf, die eine Hand um seinen bewehrten Arm, die andere an seine Hüfte klammernd. „Mein Haus ... Du Mordbrenner ... gieb mir mein Haus wieder!“ Sie riß und zerrte, daß Herr Waze im Sattel wankte. Die Knechte sprangen ihm zu Hilfe, während vom Thor her die Rufe der näher eilenden Männer klangen.
„Macht mich ledig von der Katz’!“ schrie Herr Waze, der auf dem scheuenden Pferd nur mühsam noch den Halt bewahrte.
„Mein Haus ... mein Haus ...“ keuchte Hilmtrud, und während sie, am Spisar hängend, vom Pferde geschleift wurde, riß sie den Wildfänger von Wazemanns Gürtel. „Wart’, Du Mordbrenner ... jetzt raiten wir, Du sollst mir zahlen ...“ Da erloschen ihre Worte in röchelndem Laut; einer der Knechte hatte ihr den Jagdspeer in den Rücken gestoßen; den blanken Stahl noch in der geschwungenen Faust, stürzte sie blutend auf den überschwemmten Grund, und über sie hinweg gingen die Hufe des Pferdes. Als Sigenot mit den Seinen zwischen den Bäumen herbeisprang, verschwand Herr Waze schon jenseit der Achenbrücke, und seine Knechte warfen sich in das bergende Gebüsch.
„Trudli, Trudli!^ jammerte Kaganhart und streckte die Arme; da sah er auf dem Rücken des Weibes, das mit dem Gesicht auf der Erde lag, den sprudelnden Blutquell. „Wazemann!“ Im Rauschen des Regens weckte sein gellender Schrei das Echo an der Falkenwand. Einen Augenblick stand er mit aschfarbenem Gesicht, vom Entsetzen wie versteinert; dann riß er die Axt aus Eigels Hand und stürzte über die Achenbrücke dem Reitweg zu. „Wazemann!“ schrie er und starrte nach allen Seiten, doch öde lag der triefende Wald um ihn her, und grau verschleierte der Regen die Höhe des leeren Pfades. Jähes Schluchzen erschütterte seine Brust, und seiner zitternden Hand entfiel die Axt. Zwei von des Richtmanns Knechten kamen ihm nachgeeilt; sie mußten ihn stützen und führen, denn seine Knie schlotterten, und bei jedem Schritte drohte er niederzusinken. Sein Schluchzen wurde zu lautem Weinen und Jammern, als er sah, wie Sigenot das todwunde Weib auf die Arme hob und zum Hause trug. Der Fischer brachte die Sterbende in Wichos Kammer; dort legte er sie auf das Heubett und löste den blanken Stahl aus den krampfhaft geschlossenen Fingern.
Während die Männer und Dirnen sich in das enge Stüblein drängten, das schon im Zwielicht des sinkenden Abends lag, fiel Kaganhart vor dem Lager auf die Knie.
„Sag’, Herr,^ flüsterte Wicho, „was soll denn geschehen mit ihr?“
„Da ist nimmer Hilf’,“ erwiederte Sigenot mit schwankender Stimme, „der Stoß ist tief ins Leben gegangen.“ Er trat zum Lager und suchte den Verzweifelten aufzurichten.
Mit den Fäusten stieß ihn Kaganhart von sich. „Du! Du bist schuld an allem! Hättest Du uns nicht hergezerrt in Dein Bluthaus, so thät’ sie noch leben! Du! Du bist schuld an allem ...“
„Hör’, Bauer,“ unterbrach ihn Wicho zornig, „das ist übler Dank ...“
Sigenot schob den Unwilligen beiseite. „Laß’ ihn schelten, ich kann ihm nicht unrecht geben. Ich hab’ sein Weib unter mein Dach und in meinen Schutz gerufen – schau’ her ...“ er deutete auf Hilmtrud, „so viel ist mein Schutz noch wert!“ Die Stimme schlug ihm um, und seine Augen wurden feucht. „So will ich keinen mehr halten bei mir ... ein jeder von Euch kann gehen, wie er mag. Ich halt’ Euch Treu’, aber keiner braucht sie mir zu bieten!“ Einen Blick noch warf er auf das sterbende Weib und verließ die Kammer.
Draußen stand er im strömenden Regen, und der kalte Wind wehte ihm die triefenden Haarsträhne in das bleiche Gesicht. Seine Augen suchten den Falkenstein und Wazes Haus. „Recka! Recka!“ schrie es in seiner Seele, „in derselbigen Stund’, in der ich Dich gehalten hab’ an meinem Herzen, hat meine Not begonnen! Wie das Laub von einem kranken Baum, so ist die Kraft von mir gefallen. Hätt’ ich nicht allweil’ denken müssen an Dich ... es wär’ Deinem Bruder Henning nimmer Zeit geblieben, den Knecht in meiner Schwester Weg zu schicken, Dein Vater Waze hätt’ nimmer die Stund’ erlebt, in der das arme Weib verbluten muß! Ich hab’s ja gewußt: ich soll keine frohe Stund’ nimmer haben im Leben, seit ich untreu worden bin an meinem eigenen Blut!“ Er strich mit dem Arm über die Stirne und trat ins Haus. In der Halle saß der Kohlmann auf dem Herdrand zu Mutter Mahtilts Füßen. Mit steinernen Zügen ruhte sie in ihrem Sessel und hob nur die Augen, als Sigenot in der Thür erschien. Er ging auf die Mutter zu und legte den Arm um ihre Schulter.
„Wie geht’s ihr?“ fragte Eigel.
„Schlecht.“
„Und nimmer Hilf’?“
Sigenot schüttelte den Kopf. Da klang das schrille Lachen seiner Mutter, und zu ihm aufblickend, streckte sie die zitternde Hand und deutete durch das Fenster nach dem Kreuz. Sigenot wandte sich ab und drückte den Arm über die Augen.
„Fischer!“ Der Kohlmann sprang auf, ein Scheit in der Hand. „Du, der einzige Mann im Gadem – laß nur Du den Mut nicht sinken! Halt’ fest an Dir selber! Und sag’, was soll geschehen jetzt?“
„Frag’ die andern ... es geht nicht um mich allein!“
Das zornige Lachen des Kohlmanns hallte zwischen den Wänden. „Ging’s nach meinem Willen, ich wüßt’ schon, was ich thät’! Ich möcht’ die Händ’ eintauchen in der Hilmtrud Blut und umlaufen im Gadem ... und einem jeden möcht’ ich die blutigen Finger hinstrecken vor die Nas’ und schreien: jetzt riech’, Bauer ... Blutschmack hat die Supp’, die Ihr gekocht habt auf dem Totenmann!“ Er warf das Scheit in das Herdfeuer und verließ die Stube. Als er Wichos Kammer erreichte, sah er die Leute um das Lager gedrängt und hörte Kaganharts Stimme: „Schauet nur, sie thut die Augen auf!“
„So lupf’ ihr doch den Kopf,“ stammelte Heilwig, „siehst denn nicht ... sie möcht’ in die Höh’.“
„Ja, Trudli, ja, komm nur, komm, ich thu’ Dich heben!“ Kaganhart schob den Arm unter das schwere Haupt seines Weibes.
Seufzend richtete Hilmtrud sich auf und fuhr mit den Fingern über das Gesicht, als hingen ihr Haare in die Augen, die Blicke waren verschwommen, nur langsam schien sie die Leute vor ihrem Lager zu erkennen, zuletzt ihren Mann. Eine Weile hingen ihre Augen an ihm, dann rührten sich flüsternd die bleichen Lippen: „Hartli? ... Bin ich allein hin? ... Oder hat er auch seinen Treff?“
„Freilich, freilich!“ schluchzte der Bauer, der mit dieser Lüge seinem Weib eine Wohlthat zu erweisen meinte.
Tief atmete Hilmtrud, und ein mattes Lächeln huschte um ihre Lippen. Sie schloß die Augen, als wäre sie müde und möchte schlafen nach schwerer Arbeit. Schwerfällig winkte sie mit der Hand. „Leut’ ... geht hinaus!“ Sie thaten ihr den Willen; als sich die Kammer geleert hatte, rückte Hilmtrud ihre Wange an das zuckende Haupt des Bauern und streichelte ihm das nasse Haar. „Hartli ... ich hab’ Dich lieb gehabt!“
„Wohl wohl, Trudli ... schau’, ich Dich auch ... und fest!“
„Thust mir verzeihen?“
„Freilich, Trudli, freilich!“ Er weinte zu diesen Worten wie ein Kind. „All’ die unguten Reden, alle, die mir gegeben hast, alle ... hast es ja allweil’ gut gemeint!“
Sie schüttelte den Kopf. „Die mein’ ich nicht ... da sind wir allweil’ auf gleich gewesen. Ich mein’ ’was anderes ... unser Haus ... ich, Hartli, ich bin schuld ...“ Zitternde Schwäche befiel sie, und ein roter Tropfen sickerte von ihren Lippen.
Kaganhart hörte auf zu schluchzen und starrte in das Gesicht seines Weibes.
„Ich bin schuld ... ich hab’s ihm verraten, Hartli, von der Thingnacht ...“
„All’ Ihr guten Mächt’!“ Erschrocken schlug der Bauer die Hände ineinander. „Ja Weib, ja wie hast denn so ’was thun können!“ Er fuhr sich in die Haare. „Und ich hab’ schiech geredet wider ihn im Thing!“
„Drum hat er Feuer geworfen in unser Haus ... der Mordbrenner!“ Sie ballte die Fäuste.
„Ja Weib! Ja Weib!“ jammerte der Bauer. „Unser Haus! Ja wie hast denn so ’was thun können!“
„Er hat mich auf der Straß’ gestellt ...“
[412] „Ja muß man denn da gleich alles ausreden?“
Unwillig hob sich die Stimme des Weibes. „Hast ja Du auch nicht geschwiegen ... und bist doch ein Mannsbild!“
„So? So? Hast Du es nicht aus mir herausgedruckt mit Schelten und Streiten?“
„Hättst mich streiten lassen, Du Lapp ... “
„Ja! Weil bei Dir schon einer aufkommt, Du ungute Dingin Du!“
„Den schau’ an! Schelten will er auch noch! Schwören kann er, schwören ... aber den Schwur halten? Wie die Henn’ das Gackern!“
„So ein Weib! Ja hör’ nur einer das Weib an! Im letzten Schnaufer noch muß sie raiten und raffeln!“
„Raffeln? Wer raffelt? Wart’, die Raffel zahl’ ich Dir heim ...“
Draußen vor der Thüre standen die Leute und hörten mit hellem Staunen die kreischenden Stimmen aus der Kammer. „Es muß ihr doch nicht gar so schlecht sein,“ stotterte Heilwig, „sie zanket ja schon wieder.“
Wicho öffnete die Thür, und hinter ihm drängten sich die anderen in das Stübchen. Auf dem Heubett sahen sie Hilmtrud halb aufgerichtet knien, mit den Händen in der Luft, doch kraftlos fielen ihr in der nächsten Sekunde die Arme nieder, und stöhnend sank sie über das Heu. Erschrocken sprangen die Leute zum Lager, und stotternd streckte Kaganhart die Arme nach seinem Weib. Noch einmal suchte Hilmtrud sich aufzurichten. „Hartli, mein guter Hartli ...“ klang es seufzend von ihren Lippen, dann fiel sie zurück, und ihre Glieder streckten sich.
„Trudli! Trudli! Ja was ist Dir denn? So red’ doch!“ jammerte der Bauer.
Da erkannte er den Tod im Antlitz seines Weibes.
„All’ Ihr guten Mächt’!“ schrie er und warf sich mit bitterlichem Schluchzen über den Leichnam.
Vom Bergwald herüber, durch das Rauschen des strömenden Regens, klang das Geläut einer heimkehrenden Herde, und ein Hüterbub’ jauchzte zum Hall der Schellen, als wäre Sonnenschein und Frühling über ihm, nicht gießendes Gewölk und sinkender Winter.
Auf dem Herd der Klause saß Bruder Wampo in trüben Sorgen. Er hatte ein Feuer angeschürt, um sich zu wärmen und die nassen Gewandstücke zu trocknen. Während er mit kummervollen Mienen vor sich hin grübelte, knisterte die Flamme, und aus der Zelle nebenan klang die psalmierende Stimme Waldrams. Bruder Wampo hörte sie nicht, er war versunken in seinen Schmerz. Vor kurzer Weile hatte er die Vorräte in der Kammer gemustert und hatte das Mehlsäcklein durchweicht gefunden von dem Regenwasser, das der Wind durch die offene Fensterluke hereingetrieben. Das Mehl war unbrauchbar geworden, und auch die Hälfte der Bohnen war verdorben. Der karge Rest, den Bruder Wampo gerettet hatte, reichte kaum für die Mahlzeiten des kommenden Tages. Und war die letzte Bohne verzehrt, was dann? Mancherlei waghalsige Pläne kreuzten sich in seinem runden Köpflein, und schließlich fiel ihm der wilde Immstock ein. Honig! Das wäre wohl kein Futter für den Hunger, aber doch ein süßer Trost für die Zunge, so meinte Bruder Wampo.
Hurtig eilte er zur Thür und spähte hinaus. Es rieselte in Fäden, und Schnee fiel zwischen dem Regen, aber die Nässe hätte den Bruder nicht abgeschreckt ... wäre nur der Abend nicht so nah’ gewesen! Seit dem letzten Abenteuer empfand er ein gelindes Grauen, so oft er an den dunklen Bergwald dachte. Das hinderte aber nicht, daß ihm beim Gedanken an den Honig das Wasser im Mund zusammenlief. „Ich muß ihn holen! Ich muß!“
Er lief zum Herd, knüpfte einen hölzernen Napf an den Gürtel und barg ein Bündel Kienspäne in der Kutte, um sie vor dem Regen zu schützen. Einen Blick noch warf er in Eberweins Zelle, nickte freundlich lächelnd dem Knaben zu, der auf dem Lager ruhte, und eilte davon.
Huze hatte sich aufgerichtet, denn er war der Meinung, daß der Bruder käme, um mit ihm zu plaudern. Als er ihn verschwinden sah, streckte er sich wieder auf das Moos und schob die Hände unter die Wange. Draußen plätscherte die Traufe, und durch die Holzwand klang dumpf die Stimme Waldrams. Der Knabe schlief ein, und lächelnd rührle er im Traum die Lippen; er flüsterte den Ruf, mit dem er die Geißen zu locken pflegte, und lispelte den Namen des kleinen Dirnleins im Schapbacher Wald . . .
Nach einer Weile fuhr er aus dem Schlummer auf und lauschte erschrocken. Er hörte eine gellende Stimme schreien: „Weiche von mir! Denn sieh’, ich bin gewaffnet wider Dich mit Gottes Schild! Reiße mir Wunden, brenne mein Fleisch, doch meine Seele will ich retten aus Deinen Klauen! Unlerliegen sollst Du! Den Fuß will ich setzen auf Deinen Nacken! Nieder mit Dir! Nieder!“ Und klatschende Schläge fielen.
„Zu Hilf’! Zu Hilf’! Sie morden den Herrn! Zu Hilf’!“ schrie Huze in Schreck und Angst. Seiner wunden Füße vergessend, sprang er vom Lager, brach in die Knie, raffte sich wieder auf, und Eberweins Beil ergreifend, schleppte er sich hinkend zur Zelle des Paters, den er von einem Mörder überfallen wähnte. Mit erhobenem Beil erreichte er die Thüre. Da sah er Waldram auf der Erde knien, in der Hand die schwirrende Geißel, mit halb entblößtem, von Blut überronnenem Körper.
„All’ Ihr Gutholden ... er ist närrisch worden!“ kreischte der Knabe; Entsetzen faßte ihn, das Beil entfiel seiner Hand, und schreiend flüchtete er aus der Klause. Jeden Schritt, den er that, empfand er mit stechendem Schmerz, aber die zitternde Angst vor dem Wahnsinn, den er gesehen, trieb ihn weiter. Er hielt nicht inne, als er den Wald erreichte. Mit klunkernden Füßen, stöhnend bei jedem Schritt, schleppte er sich zwischen den Bäumen dahin. Bald hörte er im nahen Thal die Ramsauer Ache rauschen, doch eh’ er sie erreichte, verließen ihn die Kräfte, und halb bewußtlos sank er zu Boden –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – –Läutende Schellen näherten sich im Thal, Kühe zogen vorüber, und erregle Stimmen ließen sich vernehmen.
„Hör’ auf! Hör’ auf! Wie soll man denn so ’was glauben können! So ’was!“ klang eine Männerstimme. Und eine Dirne kreischte. „So frag’ den Hüterbuben! Der hat’s auch gesehen!“
„Wohl wohl,“ fiel die Stimme eines Knaben ein, „wie ein Lampl[6] ist das Untier vor ihm gestanden und hat ihm die Hand geleckt und ist ihm nachgelaufen wie ein Hundl.“
„Gelt! Gelt! Jetzt hörst es! Hätt’ ich’s nicht selber gesehen, meiner Lebtag’ hätt’ ich das Wunder nimmer glauben mögen!“
„Das muß man dem Richtmann sagen, dem Richtmann!“ schrie die Männerstimme. „Gegen Gottesleut’ die so ’was können . . . gegen solche Leut’ trau’ ich mich nimmer feind sein! Geschworen oder nicht ... ich thu’ von morgen an ...“ Im Rauschen der Ache und des Regens erstickte die sich entfernende Stimme.
„Leut’! Leut’!“ So hatte Huze ein um das andere Mal mit schluchzenden Lauten gerufen, doch niemand hörte ihn. Das Geläut der Schellen klang ferner und verstummte, um nach einer Weile jenseit der Ache auf bewaldetem Hang wieder laut zu werden.
Die kleine Herde zog dem Gehöft des Urstallers entgegen, nahe vorüber am zerfallenen Hag des alten Gobl. Der Greis, der unter seinem Dächlein auf dem Heusack kauerte, hörte den Schellenklang und die kreischenden Stimmen. Er hob den Kopf und lachte. „Ziehet heim ins Thal oder steiget zu Berg’ ... es gehen doch alle Weg’ dem gleichen Fleckl zu.“ Nickend saß er, hielt die Knie mit den Armen umschlungen und blickte hinaus in den grauen Regen. Trübe Dämmerung fiel über die Halden, und der Abend kam. Je tiefer das Dunkel sank, desto leiser wurde das Rieseln um die Hütte her, bis es ganz verstummte. Der alte Gobl streckte die Hand durch die Luke hinaus, leicht und kalt fiel es auf seine Finger ... es waren Flocken.
Laute Stimmen näherten sich. Ein paar Männer, von einem Haufen schreiender Weiber umgeben, eilten am Hag vorüber. Der Greis hörte sie von einem Wunder schreien, das im Lokiwald geschehen wäre. Was er vernahm, störte seine Ruhe nicht. Gähnend streckte er sich auf den Heusack und schloß die Augen, doch er fröstelte und konnte den Schlaf nicht finden. Einmal war es ihm, als klänge durch die stille Nacht ein wimmernder Ruf. Lauschend saß er, schüttelte den Kopf und streckte sich wieder. Näher klang der matte Ruf, und nach einer Weile hörte der Greis ein schmerzvolles Stöhnen. Er kroch vor die Hütte, sah beim Hagthor auf der Erde einen schwarzen Klumpen sich bewegen und rief: „Du Bröckl Elend dort! Wer bist? Was willst von mir?“ Ein klagender Wehlaut war die Antwort. Der Alte lachte. „Schau’ nur, schau’, jetzt sucht gar einer noch Hilf’ beim Gobl! Oder muß Elend [414] zum Elend laufen wie Wasser zum Wasser?“ Er stieg uber die Trümmer seines Hauses nieder und watete durch die Pfützen zum Hagthor. Neben dem Pfosten sah er einen Buben liegen, faßte ihn beim Arm und rüttelte ihn. „He, Du! Was ist denn mit Dir?“ Doch keine Antwort kam. „So red’ doch! Wer bist Du denn?“ Der Knabe blieb stumm, und sein Arm, den der Alte aus den Händen ließ, fiel schwer herab. „Er muß dämlig sein!“ murmelte Gobl und beugte sich über den Knaben; in der Finsternis vermochte er das Gesicht nicht zu erkennen. „So komm halt ... morgen werden Deine Leut’ schon schreien nach Dir!“ Mit seinen müden Kräften hob er den Bewußtlosen auf und schleppte ihn unter das Dächlein. Als er merkte, daß der Knabe vor Frost und Nässe zitterte, riß er den Heusack auf und höhlte für den stillen Kameraden ein warmes Nest. Dann saß er im Dunkel an seiner Seite, und immer wieder griff er mit der Hand ins Heu, um zu fühlen, ob der Frierende auch warm würde.
Einmal lachte er hell auf. „Schau’ nur, schau’ ... mein Haus hat wieder Leut’, und sorgen thu’ ich mich auch schon drum!“ Bald hörte er den stillen Schläfer in tiefen Zügen atmen, und ein feuchtwarmer Dunst begann aus dem Heu zu quellen. Dem Greise wurden die Lider schwer; neben dem Haupt des Knaben legte er den müden Kopf aufs Heu und fiel in Schlnmmer . . .
Still lag die Nacht um das Dächlein und um die Trümmer des zerfallenen Hauses her, der Wind hatte sich gelegt, lautlos fiel der Schnee, und nur leise murmelte zuweilen das auf der Erde verrinnende Wasser. Fern draußen aber auf den Halden der Schönau war es lebendig in allen Gehöften, Leute eilten von Hag zu Hag, schreiende Stimmen klangen, und Feuerschein leuchtete aus offenen Thüren.
Auf dem Karrenweg, der von des Richtmanns Hag thalwärts gegen die Ache führte, wanderte ein Einsamer hastigen Ganges, die lodernde Fackel in der Hand; es war einer von des Richtmanns Knechten, und sein Weg ging dem Fischerhaus entgegen. Als er die Achenbrücke erreichte, löschte er die Fackel aus und spähte durch die Nacht hinaus gegen den Falkenstein. In rötlicher Helle hob sich Wazemanns Haus aus dem Dunkel, als stünden brennende Pechpfannen im Burghof. „Was die da droben schaffen in der Nacht, das wird uns heiß machen am Tag!“ murmelte der Knecht und begann zu laufen. Beim Hag des Fischerhauses angelangt, pochte er leise, worauf das Thor sich lautlos öffnete, um hinter ihm sich wieder zu schließen. „Was bringst Du?“ klang die flüsternde Stimme des Kohlmanns.
„Ich mein’, wir könnten Hilf’ kriegen mit dem Morgen.“
„Hilf’? Woher?“
„In der Schönau sind alle Leut’ lebendig ... mit Laufen und Schreien tragen sie die Red’ um’ einer von den Gottesleuten hätt’ ein Wunder gethan im Lokiwald. Die Urstaller Dirn’ hat mit ihrem Hüterbuben abgetrieben von der Alben und wie sie nicht weit von der Klaus’ durchs Holz gezogen sind, da haben auf einmal die Rinder ein wüstes Brüllen angefangen und sind scheu geworden und davongesaust, als hätt’ man ihnen Feuer an die Schwänz’ gehängt. Die Dirn’ und der Bub’ stehen nur allweil’ und schauen . . . und da sehen sie einen Gottesmann und sehen, wie ein Bär auf ihn zuspringt. Aber der Gottesmann . . . ich weiß nicht, hat er eins von seinen heiligen Bannzeichen gemacht, oder hat er einen baumstarken Bärensegen gerufen . . . kurz und gut, ich sag’ Dir: der Bub’ und die Dirn’ haben gesehen, daß der Bär auf einmal vor dem Gottesmann gestanden ist, so zahm wie ein Lampl, und hat ihm die Händ’ geleckt und ist ihm wie ein Hundl nachgelaufen bis zur Klaus’. Der Bub’ sagt noch, das Untir hätt’ dem Gottesmann im Maul ’was nachgetragen . . . ich glaub’, er hat gesagt: ein Körbl ... aber das leugnet die Dirn’, das will sie nimmer gesehen haben.“
„Und das glauben die Leut’?“ stotterte der Kohlmann.
„Wohl wohl! Es muß doch ’was dran sein! Der Bub’ und die Dirn’ schwören ja Stein und Bein. Bei der Ramsauer Ache, wo sie ihr Vieh wieder gefunden haben, ist ihnen der Schmied von Ilsank in den Weg gelaufen. Dem haben sie gleich alles erzählt . . . und der Schmied ist der erst’ gewesen, der geschrieen hat: er traut sich nimmer feind sein wider die Gottesleut’. Mit der Dirn’ ist er umgelaufen von einem Hag zum andern, und da kannst Dir denken, wie die Leut’ lebendig worden sind! Das wär’ freilich nicht schlecht, wenn man den Bärensegen lernen könnt’ von den Gottesleuten . . . da hätt’ das Vieh gute Zeit, und es wär’ ein leichtes Hausen auf der Alben. Und schau’, ich mein’ halt auch wie die Schönauer Leut’: wer so stark ist wider die Untier’, der müßt’ auch aufkommen gegen die Wazemannsbuben. Die haben heut’ in der Schönau wieder schieche Arbeit gemacht . . . den Hanetzer haben sie schier krumm geschlagen, bis er ihnen genug geredet hat, und von ihm weg sind sie zu unserem Hag gezogen, der Köppelecker hat’s gesehen, wie sie das Thor eingeschlagen haben und alle Thüren aufgebrochen.“
„Komm, das muß der Fischer hören!“ rief Eigel und zog den Knecht hinter sich her in das Haus. Als sie eingetreten waren, schloß sich die Thür, und an den Fensterluken wurden die Läden vorgeschoben.
Nur aus Wichos Kammer strahlte nach rötliches Licht. Ein flackerndes Spanfeuer erleuchtete den kleinen Raum. Neben Hilmtruds Totenlager saß Kaganhart auf der Erde und murmelte die Klage, während er von den Fingern der Leiche die Nägel schnitt. Bei jedem Nagelspänlein, welches niederfiel, nannte er unter Thränen eine gute Eigenschaft seines Weibes. Der unsichtbare Geselle, der gekommen war, um die Hilmtrud einzuführen in sein dunkles Reich, hörte so viel des Lobes, daß er glauben mußte, er hätte dem Leben niemals ein besseres Weib entrissen ...
Das war nicht die einzige Totenklage, welche gehalten wurde in dieser Nacht. In stundenweiter Ferne vom Fischerhaus, im Kirchhof der Ramsau, klang eine schluchzende Stimme. Finster stand das Kirchlein, denn das „ewige Licht“, dessen Lampe Hiltischalk an jedem Morgen mit frischem Oel gefüllt, war ausgebrannt, und finster lag auch das Haus mit seinem kalten Herd. Nur die Dächer, auf denen der fallende Schnee schon zu haften begann, schimmerten grau in der Nacht. In das dumpfe Rauschen der Ache mischte sich die Klage der Magd. Laut weinend irrte Mätzel in Haus und Hof umher, unter der Linde fiel sie auf die Steinbank nieder und barg ihr Gesicht in den Händen . . .
Im Thal der Ache, fern am Waldsaum, wo der Karrenweg zwischen die Bäume lenkte, gaukelte der Schein einer Fackel. Schweiker trug sie, der mit Eberwein den Heimweg suchte. Bei jeder schlechten Stelle des Pfades senkte er die Flamme, um den Weg vor den Füßen seines Herrn besser zu erleuchten, zuckend fiel der Fackelschein über das bleiche verstörte Antlitz Eberweins, das um Jahre gealtert schien. Schweigend wanderten die beiden, während der fallende Schnee auf der nassen Erde zerschmolz, blieb er an ihren Kleidern haften, ihre Arme und Schultern wurden weiß.
Als Schweiker wieder einmal aufblickte in Eberweins Gesicht, sah er seine Lippen zucken und seine Augen in Thränen schwimmen. „Ja Herr, ja guter Herr,“ stammelte er, „wie magst Dich denn so viel kränken! Schau’ nur, wie alt sie gewesen sind! Mit jedem nächsten Stündl dem Tod verfallen! Und schau’, man kann noch allweil’ nicht sicher wissen, ob sie nicht doch noch leben! Wenn’s aber schon so wär’, daß sie einen schiechen Tritt gethan haben und hinuntergefallen sind . . . schau’, so sind sie bei den guten Heiligen im Himmel.“
Stöhnend, als wäre ihm jedes dieser Worte eine Qual, streckte Eberwein die Hände gegen Schweikers Lippen und winkte ihm, zu schweigen. Sie wanderten weiter, immer langsamer wurden Eberweins Schritte, denn seine Kräfte waren erschöpft.
Fast Uebermenschliches hatte er geleistet, seit er mit Schweiker und Mätzel bei der Ache den alten Runot mit seinen Söhnen und anderen Männern der Ramsau auf der Suche nach dem verschwundenen Paar getroffen. Als Eberwein hörte, was bei Waldrams Ankunft vor dem Kirchlein in der Ramsau geschehen, stand er bleich und wortlos wie vor einem Unheil, bei dem es nicht Rat noch Hilfe giebt. Schreiend riß die Magd an seinem Gewand, und mit schmähenden Worten hoben die Männer ihre Fäuste gegen ihn. Unter der finsteren Gewalt, mit welcher Waldram sie gefesselt, hatten sie den Greis verlassen . . . jetzt schrien sie nach ihm wie nach einem Vater, den sie verloren, und sahen in Eberwein und Schweiker nur die Gesellen jenes anderen, der sie zu Waisen gemacht. In hellem Zorn wollte Schweiker die Schmäher zur Ruhe weisen, doch Eberwein wehrte es ihm. „Schweige! Laß ihrem Groll und Jammer sein Recht! Waldram hat gesät, und wir müssen ernten. Könnt’ ich, was geschehen, mit meinem Leben ändern, ich gäb’ es gern dahin!“
Diese Worte und der tiefe Kümmer, der aus der Stimme des Mönches und aus seinen Augen redete, machte die Schreier verstummen. Wohl folgten sie zuerst nur zögernd den Weisungen [415] Eberweins, doch immer williger gehorchten sie, je mehr sie den schmerzvollen Eifer erkannten, mit welchem Eberwein nach dem Weg der Verschwundeuen zu forschen begann. Auf durchweichter Erde fanden sie die halb verwaschenen Spuren, welche zur Höhe der Windach führten. Da meinten sie, daß Hiltischalk und Hiltidin sich zu den Almen am Windachersee geflüchtet hätten, denn die Almerin, welche dort oben hauste, war eine Blutsverwandte der Greisin. Doch die Dirne, welche ihre Herde zu Thal trieb, begegnete den Suchenden und wußte keine Antwort. Man forschte weiter und fand das weiße Häubchen der Greisin, zertreten und mit Schmutz bedeckt, fand am Absturz der Felsen den zerwühlten Rasen und sah in der Schlucht der Windach, an einer vorspringenden Steinschrofe, einen Fetzen des schwarzen Gewandes flattern. Von der Stelle führte keine Spur gegen den höheren Weg, keine Spur zurück ins Thal. Bleicher Schreck befiel die Männer, während das jammernde Geschrei der Magd von den Felsen hallte. Hier war nicht Hoffnung mehr, nicht Hilfe! Dennoch wagte Eberwein das Aeußerste. Ob es ihm auch die anderen mit Gewalt zu wehren suchten, ob auch Schweiker mit beiden Armen ihn umklammerte ... er riß sich los und wagte mit Gefahr seines Lebens den Niederstieg, bis das schießende Wasser und die glatten Felsen ihm den Weg versperrten. Als er mit erschöpften Kräften wieder am Rand der Schlucht erschien und die Arme, die sich ihm entgegenstreckten, ihn emporrissen auf festen Grund, waren seine Züge verwandelt zu einem Anblick des Entsetzens.
Scheu trat der alle Runot vor ihm zurück, und den Arm seines Aeltesten fassend, flüsterte er: „Schau’ das Gesicht an, Bub’! Das hab’ ich schon einmal gesehen ... so hat Herr Waze geschaut am selbigen Tag, an dem man Frau Friderun gefunden hat unter der Rabenwand!“
Mühsam atmend, in sich versunken, ruhte Eberwein auf dem Stein, zu dem ihn Schweiker geführt. Er hörte nicht den Jammer der Magd, nicht die Reden der Männer um ihn her, er sah nicht die Sorge Schweikers und sah nicht, was stumm aus den Augen der anderen redete: daß er sie alle, die vor kurzem noch die Fäuste wider ihn gehoben, in dieser Stunde für sich geworben hatte zu treuen Freunden. kein Laut kam über seine bleichen Lippen. Als Schweiler und Runot seine Arme faßten, um ihn aufzurichten, ließ er sich führen. Er hatte kein Auge für den Weg, sein Blick ging verloren ins Leere. Zuweilen, während des Niederstieges, verhielt er seufzend die Schritte und schloß die Lider, denn immer wieder stand vor seinen Augen, was er in der Tiefe der Schlucht an den Felsen geschaut: die blutige Spur des Weges, den Hiltischalk und Hiltidiu genommen.
Auch jetzt, da er in finsterer Nacht mit Schweiker den Heimweg suchte unter fallendem Schnee, zwischen Gestein und triefenden Bäumen, stand er immer wieder und bedeckte die Augen mit der Hand. Immer schwerer wurden seine Schritte, wankend sein Gang. Wollte Schweiker ihn stützen, so wies er ihn stumm von sich.
Mühsam war der Anstieg durch den Lokiwald, denn Eberwein vermochte sich kaum mehr aufrecht zu erhalten. Endlich gewannen sie den Waldsaum, und Schweiker hätte jauchzen mögen, als er in der Finsternis das weiße Dächlein liegen sah. Doch vor der Klause hob er verwundert die Fackel: er fand die Thüre mit Balken und Pflöcken verrammelt. Rasch aber wußte er freien Weg zu schaffen; es polterten die Balken, die er beiseite schleuderte, und seine rufende Stimme klang, doch es rührte sich nichts in der Klause und niemand trat den Heimkehrenden entgegen; in der Stube, die er leer fand, steckte er über dem erkalteten Herd die Fackel in den Ring. Als er sah, daß Eberwein zur Zelle des Paters wankte, sprang er ihm in den Weg und stammelte. „Ich bitt’ Dich, guter Herr, schau’, ich bitt’ Dich, nur heut’ red’ nimmer mit ihm! Nur heut’ nimmer!“
In der finsteren Zelle knarrten die Stangen des Lagers, Schritte klangen, und Waldram erschien auf der Schwelle, das Antlitz von gespenstiger Blässe, die Augen brennend wie im Fieber. An Eberwein vorüber blickte er auf Schweiker. „Wehrest Du ihn ab von mir, da Du weißt, daß er mein Auge zu fürchten hat?“
Da stürzte Eberwein auf ihn zu und faßte ihn mit zuckenden Händen an der Brust. „Waldram! Gieb mir diese Menschen wieder . . . meine besten, die ich hatte!“ Seine Stimme erstickte.
Es kostete dem Pater nur geringe Mühe, den Entkräfteten von sich abzuschütteln. „Weiche von mir! Du hast mit diesem Wort das Urteil über Dich gesprochen! Zwischen Dir und mir sollen Berge und Meere liegen!“
„Ja, Waldram, ja ...“ nur wie ein Hauch klang Eberweins Stimme, „hohe Berge ... tiefe Meere ...“ Schwer stützte er sich auf Schweiker, der ihn unter stammelnden Worten in die Zelle führte, in welche die Fackel einen matten Schimmer warf. Eberwein sah das leere Lager und blickte suchend umher ... die Sprache versagte ihm. Schweiker verstand den Blick. „Thu’ Dich nicht sorgen, guter Herr ... der Bruder wird den Buben in unsere Kammer geführt haben, damit Du ruhen kannst in der heutigen Nacht!“
Stumm nickte Eberwein und ließ sich auf den Rand des Lagers sinken. Ohne Wehren duldete er, daß ihm Schweiker das triefende Gewand mit trockenem Kleid vertauschte, das Moos zu weichem Polster aufschüttelte und die zitternden Glieder mit wärmender Kotze bedeckte. Als ihm Schweiker einen Becher brachte, schlürfte er den Trunk in tiefen Zügen, ohne zu merken, was er trank. Der Bruder atmete erleichtert auf, als der Becher geleert war bis auf den letzten Tropfen des Meßweins. Er steckte eine frische Fackel in Brand, und dann saß er neben dem Lager, regungslos. Eberwein stöhnte und murmelte im Halbschlaf, doch immer tiefer wurde sein Atem, und es währte nicht lange, so lag er in bleiernem Schlummer.
Auf den Zehen schlich Schweiker aus der Zelle, steckte einen Span in Brand, löschte die Fackel aus und trat in seine Kammer. Schnuppernd hob er die Nase – zwischen den vier Wänden roch es nach Wachs und Honig, als wäre die Zelle ein Immenstand. Auf dem einen Bett lag Bruder Wampo wie ein Klotz, mit hängenden Armen. Seine ganze Kutte, von der Brust bis nieder zum Saum, war fleckig, als hätte man sie durch einen Honigtiegel gezogen. Kopfschüttelnd stand Schweiker und betrachtete den Schnarchenden. Da sah er, daß das andere Lager leer war. Er rüttelte den Schläfer, doch Bruder Wampo wollte nicht erwachen. An den Armen zog ihn Schweiker in die Höhe. „He, Bruder! Wo ist denn der Bub’?“
„Der Bär ... der Bär ...“ lallte Wampo, riß die Augen auf und fuchtelte mit den Händen, zwischen deren Fingern der Honig klebrige Fäden spann.
„Ich frag’, wo der Bub’ ist!“ brummte Schweiker, der den Bären auf sich bezog.
„Der Bub’? Pater Waldram . . . Waldram . . .“ Dem Bruder fielen die Augen wieder zu, und lallend sank er auf die Wolfshaut zurück.
Schweiker gab sich zufrieden, er hatte verstanden, daß Huze bei Pater Waldram in der Zelle wäre. Seufzend blies er das Spanlicht aus, warf die nasse Kutte ab und wühlte sich ins Moos.
Tiefe Stille war in der Klause. Um die Mauern her versiegte die Traufe, und lautlos fiel der Schnee in schweigender Nacht ...
In Wazemanns Burghof, den die Pechpfannen erleuchteten, unterbrachen die Knechte ihre Arbeit und lauschten.
„Was ist denn nur das schon wieder gewesen?“ fragte einer. Und ein zweiter stotterte. „Ich mein’, es hat der Boden gebidmet.“ Ein dritter schüttelte den Kopf. „Ich hab’ nichts gespürt . . . nur den Rumpler hab’ ich gehört. Es muß wo eine schwere Lahn gegangen sein.“
„Eine Lahne? So, meinst? Eine Lahn?“ murmelte ein grauköpfiger Alter. „Ich sag’ Euch, Leut’, mir grauset schon die ganzen Tag’ her! Wie ich noch ein kleiner Bub’ gewesen bin, ist vom Göhl eine ganze Wand niedergebrochen und hat die schönsten Alben zugedeckt. Selbigsmal ist alles g’rad’ so gewesen wie die letzten Tag’ her. Ich sag’ Euch, Leut’: es ist ’was ledig worden im Gesteinet ... es muß ’was kommen!“
„Laß kommen, was mag! Uns trifft’s nicht!“ lachte einer der jüngeren Knechte. „Und schlagt’s ein paar Bauernköpf’ zu Mus . . . was liegt denn dran? Die wachsen ja wieder nach wie der Schimmel am Käs’.“ Die anderen lachten und nahmen die Arbeit wieder auf. „Thut nicht so laut,“ mahnte der Alte, „die Herrenleut’ schlafen . . . und ein Toter liegt auch im Haus.“
„Laß ihn liegen! Morgen auf die Nacht soll er sein Erbmahl haben, zu dem der Fischer die Ferchen giebt und der Richtmann den Met. Pech her! Dem Fischer soll heiß werden, daß er Blut schwitzt!“ Lachend tauchte der Knecht den fertig gewundenen Hanfkranz in das zerlassene Pech.
[416] Der Alte schüttelte den Kopf. „Wenn der Fischer den Richtmann gutwillig herausgiebt, hat die ganze Sach’ ein End’!“ Er redete nach, was er in der Herrenstube erlauscht hatte.
Seit dem Abend wußte Herr Waze, daß er die Sühne für den erschlagenen Knecht nicht von Sigenot, sondern von dem Richtmann zu fordern hatte. Wohl blieb es ihm ein Rätsel, was den Mann, der im Thing wider die Klosterleute und für den Spisar gesprochen, zu dieser Gewaltthat getrieben hatte, doch die Aussage, die der Hanetzer gethan, sprach zu deutlich. Und hatten nicht die Knechte, welche den Richtmann greifen sollten, seinen Hag verlassen und alle Thüren versperrt gefunden? Wohin er mit seinen Leuten geflüchtet wäre, diese Frage war nach Wazes Meinung leicht gelöst: in den Hag des Fischers. Mit dem Morgen wollte er den Schuldigen fordern; er hoffte, daß ihm Sigenot diese Forderung verweigern möchte, und fürchtete zugleich, daß der Fischer sie erfüllen könnte. „Er muß sich ja denken, daß ich dem Richtmann nicht zu hart ans Fleisch geh’ ... ich bin doch der Narr nicht, daß ich die beste Milchkuh’ niederschlag’, die ich hab’ in meinem Land! Und giebt er ihn heraus ... was thu’ ich dann? Den Fischer will ich, den Fischer! Und hab’ kein Recht mehr wider ihn!“
Recht! In all seinem Leben hatte Herr Waze dieses Wort nicht so oft im Munde geführt als seit der Stunde, in welcher er das Bußloch leer gefunden. Seine gährende Wut drängte nach einem wilden Ausbruch, doch die abergläubische Furcht, die ihn jäh befallen, war um seine Kraft und seine Sinne gelegt wie ein eiserner Reif. Den Zwiespalt, der in ihm tobte, löste der Met. Schwer trunken sank er in später Nacht auf das Spanbett und schnarchte mit offenem Mund, während draußen im grell erleuchteten Burghof die Knechte unter den vorspringenden Dächern der Ställe saßen, die Pechkränze flochten, das Kienholz für die Fackeln schliffen und die Reisigbündel fertigten, welche den Hag des Fischers in Asche legen sollten.
Noch ehe der Morgen graute, versiegte der Fall der Flocken. Weiß schimmerten im Zwielicht der weichenden Nacht alle Dächer um den Burghof her, und der steigende Bergwald war mit Schnee behangen. In den Lüften wallte das Gewölk, die grauen Massen teilten sich, und durch die Klüfte der ziehenden Nebel schimmerten mit sanftem Glanz die erlöschenden Sterne nieder.
Das Schneelicht warf einen matten Dämmerschein in die Herrenstube. Da wurde Herr Waze geweckt. Stöhnend richtete er sich vom Spanbett auf und hörte einen Hahnenschrei. „Verfluchtes Vieh! Hab’ ich denn keinen Morgen Ruh’ vor Dir!“ Aber da merkte er, daß nicht der Hahn ihn geweckt. „Auf, auf!“ klang die Stimme Hennings, der vor dem Lager seines Vaters stand und ihn am Arme rüttelte.
Mit stumpfem Blick hob Herr Waze die Augen. „Was soll’s? Was willst Du?“
„Fragen will ich, ob ein Heiliger, der in der Nacht durch Mauern geht, die Weiber weckt,“ rief Henning mit heiserem Lachen, während seine Brüder lärmend aus ihren Stuben kamen. „Fragen will ich, ob ein Heiliger, der doch fliegen kann, über Treppen steigen muß und durch die Zeugkammer schleichen.“
„Treppen . . . Zeugkammer ...“ stotterte Herr Waze. „Was soll der Unsinn?“
„Unsinn? So frag’ die Knecht’ ... ich mein’ schier, sie wissen, wer der Heilige gewesen ist, der dem Pfaffen alle Thüren aufgethan.“
„Einer vom Gesind’ muß es gewesen sein!“ kreischte Eilbert aus dem Lärm der Brüder.
Herr Waze griff sich an die Stirne, schüttelte den Kopf und tastete nach der Hüfte, als trüge er am Gürtel noch den Schlüsssel verwahrt. Henning packte ihn an der Brust und rüttelte ihn. „Schlafst Du noch allweil’? Wach’ auf, wach’ auf und hör’ mich an! Jetzt gerad’ ... ich bin aufgewacht und hab’ am Fenster den Laden aufgezogen ... da hab’ ich die alte Hex’, die Ulla, im Hof gesehen. Sie hat den Knechten die Schüssel mit der Morgensupp’ zugetragen und ist gestanden und hat geredet mit ihnen ... vom selbigen Wunder, von Deinem Heiligen! Sie wär’ aus dem Schlaf gekommen in selbiger Nacht und hätt’ gehört, als gingen Leut’ an der Thür’ vorbei, bloßfüßig über die Trepp’ hinauf, gegen die Zeugkammer ...“
Weiter kam Henning nicht. Herr Waze war aufgesprungen und hatte ihn mit der Faust von sich gestoßen. Halb bekleidet, wie er sich vom Lager erhoben, stürzte er gegen die Halle; doch als ihm auf der Schwelle die Kälte an die nackten Beine fuhr, hielt er inne und griff mit zuckenden Händen in die Luft. „Das Weibsbild her! Das Weibsbild her!“
Henning und Sindel eilten aus der Stube und in den Unterstock des Hauses, als sie an Ullas Kammer die Thür aufrissen, saß die alte Magd bei der Fensterluke, durch welche ein trüber Schein des erwachenden Morgens fiel. Henning und Sindel packten sie mit groben Fäusten und rissen sie mit fort. Unter der Thür der Herrenstube stürzte Herr Waze ihr entgegen, völlig angekleidet, mit dem Fänger umgürtet. Vor Wut der Sprache kaum mächtig, packte er die Magd und zerrte sie über die Schwelle. „Geschwiegen hast Du, geschwiegen! Bis heut’! Warum denn, warum? Red’, sag’ ich ... wie war’s in jener Nacht? Red’, oder ich lös’ Dir die Zung!“ Herr Waze wollte nach ihr greifen, doch eine Hand faßte seinen Arm. Recka, von dem Lärm aus ihrer Kammer gerufen, stand vor ihm, die Haare gelöst, im weißen Schlafgewand. „Was hat die Magd Dir gethan, Vater?“ fragte sie mit bebender Stimme. Wirr durcheinander schreiend, gaben die Brüder Antwort, und Herr Waze kreischte: „Soll ich mich viel um das Weibsbild kümmern, wo es hergeht um alles, was ich hab’ und bin? Tag und Nacht bin ich gelegen wie gebunden an Händen und Füßen! Bei jedem Schnaufer hat mich das Grausen vor dem Wunder geschüttelt, an das ich glauben hab’ müssen! Und das Weibsbild hat gehört in der Nacht, wie der Pfaff mit seinem Helfer davon ist, und hat geschwiegen! Geschwiegen!“ Er streckte die Fäuste nach der Magd. „Red’, sag’ ich, red’ ...“
Da trat ihm Recka in den Weg. Mühsam bekämpfte Erregung sprach aus jedem Zug ihres bleichen Gesichtes, sie schien zu wissen, daß sie eine böse Stunde über sich beschwor, aber sie sah die zitternde Angst der alten Magd und konnte nicht schweigen. „Willst Du wissen, wer den Priester aus Deinem Haus geleitet hat, so frage mich!“
In Schreck und Zorn, fast wie ein einziger Schrei, klang Reckas Name von den Lippen der Brüder, nur Henning lachte. „Das hätt’ ich mir denken müssen!“
Mit geballten Fäusten trat Herr Waze vor seine Tochter hin. „Dirn’!“ keuchte er. „Dirn’!“
Stolz richtete das Mädchen sich auf. „Ich habe den Gast an meiner Hand unter Dach geführt ... wenn er Euch nicht heilig war, er ist es mir gewesen!“
„Dirn’! Soll das heißen, daß Du den Schlüssel von meinem Gurt gelöst, während ich im Rausch gelegen, daß Du dem Pfaffen und dem Buben Schloß und Thüren aufgethan?“
„Ja, Vater!“
Da traf ein Faustschlag ihre Wange. Als hätten die Brüder nur gewartet auf solch ein Zeichen, stürzten sie unter Geschrei und zornigen Flüchen auf die Schwester zu, rissen ihr das Gewand von der Schulter und schlugen, wohin sie trafen. Mit stöhnendem Laut, wie eine Bärin die Hunde von sich abschüttelt, machte Recka sich frei, und zum Spanbett springend, faßte sie den Jagdspeer ihres Vaters und schwang das Eisen gegen Henning, der ihr am nächsten stand. Schreiend wichen die Brüder zurück, und jeder suchte nach einer Waffe. Herr Waze aber schrie: „Was lauft Ihr nach Wehr und Eisen? Ich mein’, ich zwing’ sie noch mit der leeren Hand!“ Er sprang auf Recka zu und streckte die Hand, um den Speer zu greifen, doch als er den Blick ihrer Augen sah, trat er scheu zurück. Hochaufgerichtet stand sie vor ihm, in dem leichenblassen Antlitz das rote Mal, das der Schlag seiner Faust entzündet. „Stoß zu, so stoß doch zu!“ rief er mit heiserem Lachen. „Mich plagt die Neugier, wieviel ein Kind zuweg bringt wider den Vater. Stoß zu. Hast ja den Feind, den ich eingesponnen, aus meinem Netz gerissen, hast ja das gute Pfand, das ich gehalten, aus meiner Hand geschlagen! Stoß zu. Es ist ja nicht Deines Vaters Blut, das Du schauen wirst! Du bist ja mein Kind nicht, du Wechselbalg! Stoß zu! Stoß zu!“
Reckas Finger öffneten sich, und klirrend fiel die Waffe zu Boden. Mit zitternden Händen raffte sie die Haarsträhne und die Fetzen ihres Gewandes über die entblößten Schultern, und mit verlorenem Blick den Vater und die Brüder streifend, schritt sie taumelnden Ganges zur Thür der Halle.
[429] Henning sprang seiner Schwester in den Weg, und schmähend umringten sie die Brüder. „Wohin willst Du?“ Wortlos stand sie, und schreiend wiederholte Henning seine Frage. „Wohin willst Du?“
„Meine Heimat suchen!“ erwiderte Recka mit dumpfer Stimme. „Ich find’ sie wohl bei meiner Mutter!“
„Oder näher noch! Beim Fischer! Gelt, es möcht’ Dir taugen bei ihm? Weg von der Thür ... Du bleibst!“
„So gieb ihr den Weg doch frei!“ klang Eilberts Stimme aus dem Geschrei der Brüder. „Lieber sitzt sie mit am Tisch des Fischers als mit uns vor der gleichen Schüssel. Gieb ihr den Weg doch frei ... er wird ja lachen, wenn sie kommt.“
„Ich sag’, sie bleibt!“ schrie Henning und schleuderte die Schwester von der Thür zurück. „Sie bleibt, so lange des Fischers Haus noch steht. Oder soll sie es halten mit ihm ... wider uns?“
Taumelnd unter dem Stoß, welchen Henning ihr versetzte, war Recka neben dem Tisch auf einen Sessel gefallen. Sie versuchte nicht, sich wieder aufzurichten, zitternd an allen Gliedern saß sie und hielt das Gesicht mit den Händen bedeckt. Henning trat zu ihr und schüttelte sie am Arm. Doch Herr Waze, der das Haupt bedeckt und einen Mantel umgeworfen hatte, schob ihn zurück. „Jetzt macht ein End’ mit dem Geschrei! Kehr’ ich heim zur Nacht, so will ich raiten mit ihr. Jetzt aber haben wir Besseres zu schaffen! Fort mit Euch! Die Wehr’ an jeden Gurt, den Sattel auf jedes Roß! Wir reiten!“
„Wohin, Vater, wohin?“ schrien die Brüder durcheinander.
„Das fragt Ihr noch?“ Herr Waze lachte. Hell und scharf klang seine Stimme, sein ganzes Wesen war verwandelt, und die Faust, die er hob, schien wie aus Erz gegossen. „Den Vogel fang’ ich wieder ein, dem Euere Schwester den Käfig aufgethan! Jetzt weiß ich: hätt’ ihm nicht die Dirn’ geholfen ... er hätt’ wohl lang’ gewartet auf einen Heiligen! Jetzt wird er laufen wollen und Klag’ tragen zum Herzog oder zum Reich. Ich will ihm den Weg verlegen ... und wie der Würfel fallt, so mag er fallen. Jetzt weiß ich: ich hab’ nur Menschen wider mich, ich bin auf meine gute Kraft gestellt, und so lang’ ich noch eine Faust hab’, schlag’ ich zu! Der Salzburger soll lachen zu der Arbeit, die ich mach’. Was steht Ihr noch all’weil’? Fort mit Euch! Fort!“
Während die Brüder lärmend in ihre Stuben eilten, hob Herr Waze den Jagdspeer von der Erde, stieß die alte Magd mit einem Fußtritt aus seinem Weg und blieb vor Recka stehen. „Dirn’! Schier mein’ ich, ich müßt’ Dir noch danken für das Wort, das Du heut’ geredet hast. Es hat mir den Nebel aus dem Hirn geblasen und hat mir die Knochen zu Eisen gemacht!“ Er puffte mit der Faust an Reckas Schulter, und lachend schritt er in die Halle hinaus.
Ueber dem Burghof lag schon der weiße Morgen. Eintönig rauschten in aller Runde die Bäche, kein Lufthauch rührte sich, und wolkenlos dehnte sich der Himmel über die mit silberigem Schnee behangenen Berge, deren höchste Zinnen im rosigen Glanz erschimmerten. Immer tiefer glitt auf den Bergspitzen der rote Glanz, und wachsende Helle goß sich über den Himmel aus; zuweilen [430] drangen dumpfe Geräusche von den fernen Höhen nieder, und in dem weißen Schnee der steilen Gehänge erschienen dunkle Striche: die Furchen fallender Blöcke, die Gassen der Lawinen ...
Um diese Morgenstunde saß der alte Gobl neben dem Dächlein, das er über den Trümmern seines Hauses errichtet hatte. Schwer atmend strich er mit der Hand über die Stirn, streifte mit irrem Blick die kleine Hütte und lachte. Im ersten Grau des Tages hatte er den Gast erkannt, den die Nacht ihm zugeführt.
Unter dem Dächlein raschelte das Heu, und zitternd klang die Stimme des Knaben. „Gobl-Aehni! Gobl-Aehni!“ Zornig schüttelte der Greis den Kopf und drückte die Fäuste über die Ohren.
Eine Weile war Stille, dann wieder klang in der Hütte der wimmernde Ruf. „Gobl-Aehni! ... Gobl-Aehni!“ und erstickte in leisem Schluchzen. Der Alte sprang auf, als möchte er dem Laut dieser Stimme entfliehen. Doch jeder Schritt war ihm eine Mühsal, in allen Gliedern lag ihm die Kälte der Nacht. Mitten in der Hofreut blieb er stehen, und ob er wollte oder nicht, seine Augen suchten die Hütte. „Es muß ihn ja der Hunger plagen,“ murmelte er, „mir krachen ja selber alle Rippen!“ Ein Zittern befiel die Hände des Alten. Durch die Pfützen watend, eilte er zum Apfelbaum und suchte im Schlamm nach den gefallenen Früchten, nur wenige fand er, und die waren faul. Er spähte in das halb entblätterte Gezweig. Drei Aepfel sah er noch hängen und schüttelte an dem Baum, bis auch der letzte fiel. Er hob sie von der Erde und säuberte sie an seiner Kotze. Zwei Aepfel warf er unter das Dächlein, den dritten behielt er ünd hob ihn an die Lippen, doch er ließ ihn wieder sinken, und nach kurzem Zögern warf er ihn den andern nach. „So nimm’ halt ... mehr hab’ ich nimmer!“ Seufzend ließ er sich auf die Trümmer nieder und nahm den weißen Kopf zwischen die Fäuste.
Der rote Frühglanz fiel auf die Felsgehänge des Untersberges, als Bruder Schweiker im kurzen Arbeitskittel aus der Thür der Klause trat. Eberwein lag noch in tiefem Schlaf – und daß auch Bruder Wampo noch schlummerte, konnte man hören. Nur Waldram wachte; aus dem Kirchlein quoll der eintönige Klang seiner betenden Stimme. Schweiker stand und blickte mit großen Augen umher: die weite Rodung war ein grauer Sumpf, und bis zum Fuß der Berggehänge reichte der Schnee hernieder. „Ja schau’ nur einer! Ist denn das auch noch eine Gegend!“ stotterte er. „Vor zwei Tag’ noch Sommer, und heut’ springt uns der Winter in die Fenster! Jetzt heißt’s aber schaffen und die Pfähl’ schlagen zum Hag!“ Er suchte die Axt und fand sie mit Rost bedeckt auf der Stelle liegen, an welcher er sie am verwichenen Mittag aus der Hand geworfen. „Freilich, von denen zwei da drinnen hat sie keiner aufgehoben!“ brummte er. „Unheil stiften der ein’ und fressen der ander’ ... sonst können sie alle zwei nichts!“ Er schulterte die Axt und wollte zum Waldsaum schreiten.
Da hörte er ein leises Stimmlein seinen Namen rufen, wie jäher Schreck fuhr es ihm in alle Glieder, und krebsrot färbte sich sein Gesicht. Ein paar Sprünge machte er, als wäre die Hölle hinter ihm, dann blieb er stehen und blickte langsam über die Schulter. Bei der Klause stand die Hirtin, das weiße Tüchlein um den Kopf, am Arm den schwer beladenen Weidenkorb. Mit glücklichem verlegenen Lächeln blickte sie zu Schweiker auf, welcher zögernd näherkam. Nicht die Stimme, die ihn gerufen, und nicht die fromme Gabe, sondern das Staunen zog ihn näher. Wie eine graue Raupe in den bunten Schmetterling, so hatte Hinzula sich verwandelt. Ein brennend rotes Röcklein floß um ihren schlanken Leib, und unter dem grün gefärbten Mieder aus Lammfell quoll das säuberlich gebleichte Hanftuchkittelchen hervor, dessen faltige Aermel mit grellfarbiger Wolle gesäumt waren. Sie stellte den Korb zu Boden und lüftete den Deckel.
„Schau’ her, was ich gebracht hab’!“
Er sah den Korb nicht, seine Augen hingen an der Hirtin. Eine Weile schwieg sie, als aber der Bruder die Sprache nicht finden wollte, lispelte sie: „Was sagst: wie die Berg’ ausschauen! Heut’ in der Nacht hat’s Rot über Rot gegeben auf den Alben. Der Vater und die Mutter sind lange vor Tag schon aufgestiegen, wohl wohl, und wie ich so allein gelegen bin, da ist mir die Zeit gar lang geworden ... und schau’, so hab’ ich halt ein lützel ’was ins Körbl gethan und bin heruntergelaufen. Du! Sell droben bei uns, da liegt der Schnee aber schiech!“ Sie hob ein wenig das Röcklein und lugte auf ihre Schuhe und Strümpfe, an denen der Schnee in halbzerflossenen Klumpen hing; auch der Saum ihres Kleides war schwer von Nässe.
„Ja, Kindl, wie hast denn einen solchen Weg thun können!“ stotterte Schweiker in Vorwurf und Sorge. „Ja sag’ nur, bist denn schon wieder völlig gesundet?“
Sie sah ihn mit glänzenden Augen an, griff nach der verbundenen Stirn und lachte. „Ein lützel Brummen thut mir das Köpfl schon noch! Aber das wird schon aufhören! Gelt?“
Er streckte die Hand und zog sie wieder zurück, schweigend stand er, mit finsterem Blick, und da er die Lippen aufeinanderdrückte, als müßte er sich gewaltsam zum Schweigen zwingen, blies ihm der Atem laut durch die Nase. Und immer größer wurden seine Augen und rollten wie zwei Räder im Lauf. Verwundert blickte Hinzula zu ihm auf.
„Ja was hast denn? Warum thust denn so zornig?“ stammelte sie und griff nach dem Korb. „So schau’ doch her . . . und nimm . . .“
„Leg’ das Zeug’ nur vor die Thür hin . . . da wird’s der ander’ schon finden!“ platzte Schweiker los mit einer Stimme, so heiser und krächzend, als wäre ihm eine Fliege in den Hals geraten. „Ich will nichts haben davon! Kein Bröckl rühr’ ich an! Ueberhaupt ... es muß ein End’ haben! Ein End’! So oder so! Und schaffen muß ich auch! Wohl wohl! Ich kann nicht daherstehen und plauschen!“ Er warf die Axt über die Schulter, drehte dem Mädchen den Rücken und schritt zum Waldsaum.
Zitternd stand die Hirtin, mit kreideblassem Gesicht, und blickte ihm nach, ihre Lippen zuckten und Thränen kugelten ihr über die Wangen. Als sie sah, daß Schweiker die Arbeit begann, nahm sie den Korb auf, schüttete seinen Inhalt vor die Thür der Klause und schlich in entgegengesetzter Richtung den Bäumen zu.
Während sie schluchzend den Wald betrat, klang in der Klause Bruder Wampos jammernde Stimme. Schweiker horchte auf und lief herbei. „Ja was ist denn schon wieder?“ brummte er und sprang über den kleinen Berg von Butter, Brot und Käse hinweg, den Hinzula vor der Schwelle abgeladen. Wampos Klagetöne kamen aus der Vorratskammer, als Schweiker auf die Schwelle trat, sah er den Bruder in seiner von Honig glitzernden Kutte auf der Erde knien und verzweifelt die Hände ringen.
„Schau’ nur, ja schau’ nur das Unglück an . . . das Aergst’, was noch geschehen hätt’ können!“
„Aber so red’ doch, was ist denn los?“
„Der ganze Meßwein ist ausgeronnen in der Nacht!“
Schweiler erschrak und wurde rot – er hatte in der Eile, als er den Trank für Eberwein geholt, den Hahn zu schließen vergessen. Mit den Fingern klopfte er das Fäßlein ab, von oben bis unten ... es hatte hohlen Klang. Und doch begriff er die Sache nicht, auf dem festgestampften Lehmgrnnd konnte der Wein nicht in die Erde sickern, die ganze Kammer hätte überschwemmt sein müssen, aber auf dem Boden stand nur eine kleine Lache. „Es muß doch noch ’was im Fäßl sein! Das ist doch meiner Lebtag’ nicht der ganze Wein! Die paar Kännlein für die Meß’ all’ Tag’ . . . sonst hat ja doch keiner davon genommen! Es müßt’ doch das Fäßl über die Hälft’ noch voll sein!“
Jetzt wurde Bruder Wampo rot bis über die Ohren. Aber statt seine heimlichen Sünden zu bekennen, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte: „Ja sag’ nur, Bruder, sag’, was thun wir denn jetzt? Kein Tröpfl Wein mehr! Kein Tröpfl! Jetzt dürfen wir gleich zusperren und Amen sagen, jetzt hat alles ein End’ . . . oder die Welt geht unter! So eine Gegend, wie das ist!“ Unter Senfzen und Schelten begann er alles Mißgeschick und Unheil aufzuzählen, welches ihm und den Brüdern von der ersten Stunde an im Gadem widerfahren. „Und gestern,“ schloß er, „was mir gestern schon wieder geschehen ist, das weißt Du noch gar nicht! Ich sag’ Dir, die Haar’ möchten einem zu Berg stehen!“
Schweiker schielte nach Wampos Glatze.
Seufzend strich der Bruder mit der Hand über einen der schimmernden Honigflecken auf seiner Brust und roch an den Fingern. „So ein Honig, wie das gewesen wär’ ... süß wie [431] die Seligkeit und duftig wie ein Blümelgarten! Da, riech’ nur!“ Er hob die Hand. In sprudelnden Worten erzählte er von dem wilden Immenstock, den er im Wald gefunden, und von dem Wege, den er am verwichenen Abend gethan, um den Honig auszuheben.
„Ich hab’ den Baum leicht wieder gefunden. So ’was merk’ ich mir schon. Aber wie ich dort steh’ vor dem Baum, bin ich völlig erschrocken, denn auf und auf ist die ganze Rind’ verkratzt gewesen, als wär’ einer mit Nägelschuh’ ’dran auf und nieder gestiegen. Um aller Heiligen willen, hat’s geschrieen in mir, es wird mir doch kein anderer über den Immstock gekommen sein! Aber wie ich hinaufschau’, seh’ ich die Immen klumpenweis’ am verstopften Einflug hängen. Da hat noch keiner hingerührt, hab’ ich mir gedacht und hab’ lachen müssen vor lauter Freud’. Jetzt freilich ...“ Bruder Wampo schnitt eine jammernde Grimasse und nahm sein Köpflein in beide Hände, als säß’ es ihm nach dem überstandenen Schreck noch immer nicht richtig auf den Schultern, „jetzt freilich weiß ich, wer meinen Immstock heimgesucht hat!“
„Wer denn?“
„Wirst schon sehen, wart’ nur ein’ Weil’!“ Bruder Wampo schöpfte Atem und blies die Backen auf. „Also, daß ich erzähl’ ... ich hab’ gleich an einem Stecken den Kienspan angezunden und hab’ die Immen abgebrannt vom Loch. Nachher bin ich hinaufgestiegen ... es hat ein lützel Beißen gekostet! Wie ich droben gesessen bin auf dem Ast, hab’ ich mich schön langsam ausgeschnauft und hab’ mir aus Reisern ein Dachl über dem Kopf gemacht, weil mir der Regen über den Buckel geronnen ist, als thät’ man aus dem Schaffl gießen. Nachher hab’ ich den Holztiegel vom Gurt genommen und hab’ angefangen.“ Er schnaufte und fuhr mit der Zunge über die Finger. „Ich sag’ Dir, Bruder, der ganze Baum ist hohl gewesen, kein Sumserlein hat sich mehr im Stock gerührt, und wie ich hineingreif’, spür’ ich, daß eine Waben neben der andern hängt, dick und fett. Einen Schnalzer hab’ ich mit der Zung’ gethan vor lichter Freud’ und hab’ geschafft, daß ich schwitzen hab’ müssen. Eine Waben um die ander’ hab’ ich gehoben und hab’ den Honig ausgedruckt, daß der Tiegel bald übergelaufen wär’! Aber wie ich in der besten Arbeit bin ... Bruder, da hör’ ich auf einmal unter mir ein Tappen und Kraspeln. Wer kommt denn da? denk’ ich und schaue hinunter ... aber ich hab’ gemeint, es fallt mir vor lauter Schreck die Zung’ in den Hals!“
„Ja warum denn?“
„Unter mir, denk’, Bruder, unter mir steht ein Endstrumm Bär, ein Kerl wie ein Ochs, und schaut so schief herauf zu mir, als möcht’ er sagen: gehst herunter oder nicht!“
„Ich mein’ aber schier, Du bist droben geblieben?“ fiel Schweiker ein, halb in Sorge und halb erheitert, er sah ja den Bruder heil und gerettet vor sich auf der Erde sitzen.
„Droben geblieben? Wohl wohl, aber gar nicht lang’!“ Immer flinker sprudelte Wampos Rede, jede Empfindung, die er bei dem Abenteuer durchlebt, malte sich in seinem beweglichen Gesicht, und seine Hände arbeiteten so hastig, daß er zwanzig Finger zu haben schien. „Ich hab’ Dir Augen gemacht, Augen, Bruder ... und all’weil’ hab’ ich hinuntergeschaut auf das wüste Vieh wie die arme Seel’ auf den Teufel, der mit dem Hackl kommt. Ich weiß nicht, hat’s einen Schnaufer lang gedauert oder eine Ewigkeit ... aber nicht weg ist er gegangen und einen Brummer nach dem andern hat er gethan. Ausgeschaut hat er, ausgeschaut! Das ganze Fell verzaust, als hätt’ man ihm die Haar’ schüppelweis’ aus dem Pelz gerissen. Den ganzen Grind hat er voll blutiger Schrammen gehabt, und um alle vier Tatzen herum ist er schäbig gewesen, als hätt’ er schon einmal merken müssen, was Schlingen sind! Und so steht er und brummt herauf zu mir ... und auf einmal hebt er sich in die Höh’ und packt den Baum an!“
„O Du gütiger Himmel!“ stotterte Schweiker. „Was hast Du denn da gethan?“
Bruder Wampo mußte schlucken, um die Sprache wieder zu finden; der Atem war ihm ausgegangen. „Was ich gethan hab’? Das weiß ich heut’ selber nimmer! Ich weiß nur noch, es hat jählings unter mir einen Krach gethan, der Ast ist wurzweg vom Baum gebrochen, und mit mir ist’s hinuntergegangen wie ein Sauser. Aufgefallen bin ich ... Bruder! ... das hat einen Plumpser gemacht, als hätt’ der Bidem ein Trumm Stein vom Berg geworfen! Aber hinfallen und aufspringen, das ist eins gewesen. Alle Heiligen und Gottes Gerechtigkeit hab’ ich angerufen, hab’ meinen Honigtiegel festgehalten, als wär’ meine Seel’ drin, und hab’ ein Laufen angefangen, ein Laufen, Bruder, daß nur meine Füß’ so geflogen sind! Und wie ich lauf’ und lauf’, hör’ ich auf einmal Küh’ brüllen im Wald und hör’ Leut’ schreien – ich schau’ mich um, und da lauft der Bär hinter mir nach, und wo ich ein Tröpfl Honig verschüttet hab’, macht er mit der Zung’ einen Schlecker über den Boden ... ich will wieder rennen, aber meine Kräft’ haben ausgelassen, und auf die letzt’ bin ich dagestanden wie angewachsen und hab’ geschnackelt an Händen und Füßen ...“
„Ja warum hast denn nicht um Hilf’ geschrieen, wenn doch Leut’ in der Näh’ gewesen sind?“
„Hilf’ schreien! Hilf’ schreien! So ’was!“ schalt Bruder Wampo in hellem Aerger. „Schrei’ Du um Hilf’, wenn Dir kein Schnaufer mehr aus dem Hals will! Und eh’ ich mich recht besonnen hab’, ist ja der Bär schon dagewesen ...“
Erschrocken schlug Schweiker die Hände zusammen. „Er hat Dich doch um Gotteswillen nicht angepackt?“
„Angepackt? Ja, schön! Bei den Füßen hat er zu schlecken angefangen und hat an mir heraufgeschleckt, bis er zum Tiegel gekommen ist! Ein ganzes Loch hat er mir aus der Kutt’ gefressen ... da schau’ her!“
Schweiker brach in helles Gelächter aus, während Bruder Wampo den fransig ausgeknusperten Saum der Kutte hob.
„Jetzt ist mir die Sach’ aber doch zu dick geworden! Was ich geschrieen und gebetet hab’, weiß ich nimmer ... aber ich hab’ den Honigtiegel gehoben und hab’ ihn dem wüsten Vieh auf den Schädel gehauen, daß es nur so gescheppert hat! Mit all zwei Tatzen hat der Bär den Hafen gepackt und ist hineingefahren mit der Schnauz’ ... ich aber hab’ wieder zu laufen angefangen, bin halbtot zur Klaus’ gekommen und hab’ in meiner Angst vor die Thür hingeworfen, was mir in die Händ’ geraten ist! Der Schnaufer ist mir ausgegangen ... wie ein Stückl Holz bin ich hingefallen übers Bett und hab’ keinen Rührer mehr gethan.“
Schweiker lachte, daß ihm die Thränen kamen, doch plötzlich verstummte er. Eberwein stand auf der Schwelle. Bruder Wampos jammernde Stimme hatte ihn geweckt, und durch die offenen Thüren hatte er jedes Wort vernommen, aber das wunderliche Abenteuer konnte ihn nicht lächeln machen. Wie mit scharfem Griffel war ihm die stumme Sprache schmerzvoller Bitternis in das Antlitz geschrieben, seine Züge waren müde und bleich, und dunkle Ringe lagen um seine brennenden Augen.
„Guter Herr!“ stammelte Schweiker bei Eberweins Anblick in Schreck und Sorge, während Bruder Wampo sich scheu erhob und mit dem Aermel die Honigflecken auf seiner Brust zu verwischen suchte. Schweiker streckte die Hände nach seinem Herrn, doch Eberwein wies ihn von sich. „Wo ist der Knabe?“
„Der Bub’? Ich weiß nicht,“ stotterte Wampo.
Schweiker faßte den Bruder am Arm.
„Aber Du hast mir doch in der Nacht gesagt, er wär’ beim Pater in der Zell’!“
„Ich? In der Nacht? Sterben will ich ... aber davon weiß ich kein Wörtl! Seit dem Abend hab’ ich den Buben mit keinem Aug’ mehr gesehen.“
Sie eilten in Waldrams Zelle und fanden sie leer; auf der Erde lag die Geißel, blutfleckig an Griff und Strängen. Mit bebender Stimme rief Eberwein den Namen des Knaben. Während sie nach dem Kirchlein eilten, fiel draußen vor der Klause eine schwere Masse mit dumpfem Klatsch zu Boden. Der nasse Schnee, der auf dem steilen Dach gelegen, war in Bewegung geraten und hatte im Niederfallen die Gabe der Hirtin verschüttet ...
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Goldleuchtend, in jedem hängenden Tropfen hellen Schimmer weckend, lag die Morgensonne über allen Wäldern. Das welke Laub hatte flammende Farben, als wäre es in Brand geraten, und von den weißen Bergen ging ein Glanz aus, der die Augen blendete. Strahlend stand die Sonne am reinen Himmel, ihr Licht verstreuend in verschwenderischer Fülle, sogar die Schatten, welche sie warf, erschienen nicht wie Dunkel, sondern wie bläulicher Rauch, hinter welchem Feuer leuchtete.
Auf der Höhe des Falkensteines füllte wirrer Lärm den Burghof. Die gewappneten Knechte beluden sich mit den Pechkränzen [432] und Reisigbündeln, die Mägde trugen die Metkannen um, und Herr Waze stand mit fünf Söhnen am Fuß der Freitreppe, der Pferde harrend, die man aus den Ställen führte. Einer der Knechte ließ am Thor die Brücke nieder, und als sie gefallen war, erhob sich Ulla, die alte Magd, aus einem Winkel, in dem sie auf das Fallen der Brücke gelauert hatte. Lautlos huschte sie zum Thor hinaus, und niemand achtete ihres Weges.
Schon wollte Herr Waze den Fuß in den Bügel setzen, da dröhnten schwere Schläge an der Mauerpforte, welche gegen die Bergseite führte. Man lief und öffnete. Bis über die Hüften mit Schnee behangen, trat Rimiger in den Burghof. Dunkle Zornröte schlug über Wazes Stirn, als er den Sohn erblickte, und böser Willkomm schien ihm auf der Zunge zu liegen. Doch Rimiger schnitt ihm die Rede ab mit dem keuchenden Ruf: „Vater, Dein Wort und Verbot ist Wind geworden im Gadem! Auf Deinem Bannberg hausen Leut’ . . .“ er lachte heiser, „und kochen sich das Mus am Feuer!“
„Laß sie kochen!“ schrie Henning. „Wir haben andere Sorg’!“
Herr Waze hatte das Roß von sich geschoben und war auf Rimiger zugetreten. „Leut’ auf meinem Bannberg?“
„Hinter dem Eismann droben, auf der öden Albhütt’! Und rat’ nur: wer! Der Richtmann mit seinem Buben und Sigenots Schwester!“
„Das Rötli?“ klang Eilberts Stimme aus dem Lärm der anderen. Der schrille Hall dieses Namens flog in die Herrenstube und weckte die Tochter Wazes aus ihrem starren Brüten. Langsam hob sie das bleiche Gesicht, atmete tief und lauschte. Sie hörte das wirre Geschrei, zornige Worte ihres Vaters, dann in lautloser Stille die Stimme Rimigers: „Schon wie wir über die erste Schneid’ gestiegen sind, noch hell am gestrigen Tag’, haben wir Schnee gehabt. Da ist kein Weg mehr über die Wänd’ gewesen. Otloh wär’ am liebsten heimgekehrt, aber ich hab’ ihn gehalten, denn ich hab’ mir gute Jagd versprochen vom Morgen. Das Fahlwild, das hinter dem Eismann steht, ist mir im Sinn gelegen. So sind wir über die Alben aus und hinuntergestiegen gegen den Windacher See. Noch eh’ wir im Seethal ans End’ gekommen sind, ist der Abend eingefallen. Otloh wär’ gern in der Albhütt’ am See geblieben, aber ich hab’ gemeint, wir sollten noch aufsteigen bis zur Oedhütt’ und droben nächten. Die Hütt’ liegt ja kaum einen Pfeilschuß von dem Wechsel, über den das Fahlwild niederzieht, wenn Schnee gefallen. Da hätten wir gute Rast gehabt und am Morgen leichten Weg. Also gut, wir steigen weiter und kommen in schneeheller Nacht zur Hütt’. Schon von weitem ist mir immer gewesen, als käm’ aus der Hütt’ ein Lichtschein. Und richtig, wie ich näher komm’, geht vom Dach der Rauch auf, und ich hör’ im Feuer das Holz krachen! Wilddieb’! Das ist das erst’ gewesen, was ich denken hab’ müssen! Aber wie ich näher schleich’, hör’ ich aus der verschlossenen Hütt’ die Stimm’ einer Dirn’. Und die Stimm’ kenn’ ich!“ Hennings Lachen unterbrach die fliegenden Worte Rimigers. „Und gleich darauf hör’ ich eine zweite Stimm’, den Richtmann! Und eine dritte noch: seinen Buben! Und rat’, was ich gehört hab’ aus ihrem Reden! Vater! Sie haben Dir einen Knecht erschlagen, weil er die Fischerdirn’ hat fassen wollen . . .“
Die Stimme Rimigers ging wieder unter in Geschrei. Starr lauschte Recka. Abgerissene Worte drangen an ihr Ohr, sie hörte, wie Rimiger von seinem Heimweg berichtete, und hörte ihn sagen, daß Otloh in sicherem Versteck zurückgeblieben, um die Hütte im Auge zu halten.
„Rühr’ Dich, Vater, und hinauf!“ schrie Henning. „Hinauf! Oder willst Du zum Gespött werden im Gadem und stillsitzen, wenn Dir das Bauernpack Dein Fahlwild scheucht? Der Fischer hütet seinen Hag . . . die Kutten hüten ihre Klaus’ ... die bleiben Dir all’weil’ noch! Hinauf, Vater, hinauf!“
Aus dem Lärm, der diesen Worten folgte, hob sich schrill die Stimme Wazes. „Vier Knecht’ mit uns! Die Hetzhund’ an die Riemen! Und nehmt die Knöchel mit, Ihr Buben: als Einsatz geb’ ich Euch die Dirn’!“
Tumult und Gelächter, Pferdegetrappel und das Gebell der Hunde füllte den Burghof. Im öden Herrensaal stand Recka, zitternd an allen Gliedern. Ein mattes Lächeln ging über ihre bleichen Lippen, ihre Gestalt streckte sich und die Finger schlossen sich zu Fäusten. „Rötli! Auf Tod und Leben . . . ich halt’ Dir meine Treu’!“
Fliegenden Schrittes eilte sie in ihre Kammer, und während sie sich rüstete wie zu Ritt und Jagd, ging ein Schreien und Rennen durch alle Räume des Hauses. die Knechte liefen nach den Schneereifen und Grießbeilen. Als Recka den Wildfänger um ihre Hüfte gürtete, wurde an ihrer Kammer die Thüre aufgerissen. Henning erschien auf der Schwelle, maß die Schwester mit spöttischem Blick und lachte. Ohne ein Wort zu sprechen, trat er wieder zurück, warf die Thüre zu – und draußen klirrte der Riegel.
Recka war gefangen. Sie lächelte nur – und koppelte den Köcher an ihren Gürtel. An jedem Pfeil, den sie im Köcher verwahrte, prüfte sie die Fiederung, den Schaft und die Spitze, den Eibenbogen nahm sie auf den Rücken und faßte den Jagdspeer. Nun stand sie und lauschte. Im Burghof dämpfte sich der Lärm, und als der Hufschlag der Pferde und das Gekläff der Meute gegen die Bergseite hin verklang, eilte Recka zum Fenster und schwang sich auf die Brüstung. Sie sah nicht, daß von dem wankenden Tischlein der kleine Schrein mit dem Geschmeid ihrer Mutter zu Boden stürzte ... sie sprang.
Auf den Dielen zersplitterte der Schrein, die goldenen Schaumünzen, die silbernen Ketten, die Ringe und Spangen fielen klirrend durcheinander, und aus dem schimmernden Geschmeide hüpfte der halbe Beinreif der Salmued heraus und kollerte über den Estrich gegen die Thüre.
Auf dem Lugaus des Fischerhauses stand Wicho mit dem Kohlmann; sie lauschten dem Gekläff der Meute, welches hinter Wazemanns Haus im Bergwald verklang. „Ich mein’, sie kommen!“ flüsterte Eigel.
Wicho schüttelte den Kopf. „Die Hund’ läuten gegen die Berg’ hin. Wir haben heut’ noch Ruh’, sie ziehen ins Gejaid!“
„Gieb acht, dahinter steckt ein Schlich! Sorglos will er uns machen und schickt die lauten Hund’ zu Berg ... und eh’ wir uns umschauen, ist er da und brennt ein Loch in den Hag! Ich schaff’, solang’ noch Zeit ist!“ Er griff nach einem der Rutenbündel, die auf dem Lugaus aufgeschichtet lagen. Wicho trat zu ihm, und schweigend begannen sie die Arbeit. Rute um Rute flochten sie um die frischgeschlagenen Pfähle, und immer höher wuchs unter ihren Händen die hölzerne Mauer. Ein dünnes Lachen machte sie aufblicken. Unter dem Hag stand Ulla. „Ihr Narren übereinander!“ rief sie mit verzerrten Lippen. „Was schaffet Ihr und schwitzet? Fürchtet Ihr den da droben? Narrenleut’! Narrenleut’! Meint Ihr, der selb’ da droben hätt’ Zeit für Euch?“ Ihr Lachen hob sich mit schrillem Klang. „Der muß ja raufen mit seinem Fluch!“
„Meiner Seel’, das Weibsbild ist närrisch!“ lachte der Kohlmann.
„Sie ist aus Wazemanns Haus!“ flüsterte Wicho ihm zu.
Mit starrem Blick hingen Ullas Augen an dem Kohlmann, und ihre welke zitternde Hand streckte sich gegen ihn. „Du! Weißbartiger! Bist nicht Du derselbig’, dem die Salmued lieb gewesen?“
Dem Kohlmann fielen die Ruten aus der Hand, und ein Blick des Hasses sprühte aus seinen Augen. „Weib, ich sag’ Dir, wahr’ Deine Zung’!“
Ulla lachte. „Hast nie gesucht nach Deiner Dirn’? Freilich, einen weiten Weg hättst laufen müssen! Wenn der Tandelmann mit seinem Karren wieder kommt, so frag’ ihn doch, wo Deine Dirn’ geblieben ist. Zahl’ ihn gut oder greif’ ihm an die Gurgel! Wer weiß, vielleicht hörst von ihm die gleiche Boachaft, die er dem da droben gebracht hat: die wilden Säu’ sind über die Salmued und ihr Kind gekommen! Gelacht hat der da droben, Kohlmann, gelacht, und hat gemeint, jetzt hätt’ er Ruh’ vor ihr! Aber schau’ hinauf zu ihm ... die Tote hat wieder heimgefunden und hauset unter seinem Dach!“
„Eigel! Eigel!“ stammelte Wicho und hielt mit beiden Armen den Kohlmann fest, der über den Hag auf die Lände springen wollte. Vom Hall der Stimmen gerufen, eilte Sigenot zum Lugaus.
„Du Narr! Was schlägst denn umeinander mit Händ’ und Füßen?“ kreischte die Magd. „Bleib’ hocken in aller Ruh’ ... die Salmued wird schon allein noch fertig mit ihm! Sie rührt [434] die Fäust’ in seinem Haus und schlagt auf alles, was lebig ist! Ihr Fluch geht um! Frau Friderun ist hin ... und die anderen müssen ihr nach.“
„Frau Friderun!“ keuchte der Kohlmann, von Wichos Armen umklammert. „Frau Friderun? So? Der Salmued Fluch hätt’ sie erschlagen? Meinst? So lauf’ hinauf und sag’ ihm: der Kohlmann ist’s gewesen, der auf dem Steig in der Rabenwand die Mausfall’ aufgestellt hat! Sag’s ihm! Und sag’ auch gleich: ihm selber war’s vermeint! Sein Weib ist eingegangen in die Fall’ statt seiner! Ich hab’ gelacht dazu, sag’s ihm, gelacht! Sein Weib für meine Dirn’ ...“
„Eigel!“ Mit eisernem Griff umspannte Sigenot den Arm des Kohlmanns. „Unschnldig Blut an Deiner Hand! Und Du, Du hast gesessen an meinem Tisch und hast geweilt in meinem Haus! Wicho! Das Hagthor auf. Ich hab’ kein Dach für einen ...“
Da klang es von der Ache her mit gellendem Ruf: „Sigenot! Sigenot!“ Und jagende Hufschläge kamen näher. Unter heiserem Gelächter riß sich der Kohlmann von der Hand des Fischers los, welcher lauschend stand, mit erstarrtem Antlitz. „Sigenot! Sigenot!“ klang es unter den Bäumen.
Mit beiden Händen griff Eigel nach seiner Stirn. „Ja steht denn mein Kopf noch?“ Er starrte den Fischer an. „Ja giebt’s denn in der Welt noch einen, wie der ist! Die Untreu’ lauft ihm davon, das Wasser rinnt ihm schon ins Maul ... und er stoßt auch die Treu’ noch aus seinem Hag!“
„Sigenot! Sigenot!“ schrillte die Stimme Reckas. Auf schäumendem Roß kam sie unter den Bäumen hervorgejagt. „Deine Schwester in Not! Meine Brüder steigen zu Berg und suchen die Oedhütt’ hinter dem Eismann!“
Sigenot taumelte, als brächen ihm die Knie. Mit zuckenden Händen griff er ins Leere. „Wicho! Mein Eisen!“ Da sah er auf dem Lugaus eine Axt vor seinen Füßen liegen; er faßte sie und schwang sich über den Hag auf die Lände.
Fahle Blässe deckte sein Gesicht, und mit brennendem Blick hingen seine Augen an der Tochter Wazes. „Recka! Deine Botschaft ist mein Leben wert! Eins noch sag’ mir: wo geht Deiner Brüder Weg?“
„Gegen den Windacher See! Sie reiten!“ erwiderte Recka tonlos, mit kämpfendem Atem. „Spring’ auf zu mir! Mein Roß hat Kraft und wird uns tragen alle beid’ ... wir holen sie ein!“
Sigenot wehrte mit der Hand. Er wußte besseren Weg: über den See und durch die Schluchten hinter dem Eismann empor. Ein gefährlicher Pfad, doppelt gefährlich an solchem Tag, unter hängendem Schnee und drohenden Lawinen – doch um die Hälfte näher als der sichere Weg, den Waze und seine Söhne genommen.
Wicho hatte das Hagthor aufgerissen, und Ulla aus seinem Weg stoßend, sprang er auf den Fischer zu, bleich und stammelnd: „Herr ... Herr ...“
Sigenot schob ihn von sich. „Bleib’, Wicho! Jetzt hilft nur einer noch!“ Seine Augen streiften das Kreuz, und seine Stimme bebte. „Bleib’ und denk’ meiner armen Mutter!“ Einen Blick noch warf er über Hag und Haus, dann eilte er zum Ufer, stieß den Einbaum in das Wasser, warf das Beil in den Nachen und sprang ihm nach.
„Sigenot!“ rief Recka; doch der Fischer hörte sie nicht, er tauchte schon das Ruder und legte sich auf die Stange. Da ließ sich Recka aus dem Sattel gleiten, und durch die Untiefe watend, erreichte sie den abstoßenden Einbaum und schwang sich in den Nachen. Dem Fischer stockte das Ruder, und flammende Röte schlug ihm ins Gesicht.
„Fahr’ zu. Deine Schwester in Not! Ich steh’ zu Dir!“
„Recka!“
Das Ruder rauschte, und von wuchtigen Schlägen getrieben, schoß der Einbaum über die stille Flut.
Die Männer am Ufer standen wie versteinert. Eigel war der erste, welcher Worte fand. „Wicho,“ rief er,. „schick’ den Altsenn und den Knecht in die Schönau und laß sie schreien vor jedem Hag: Not, Not über Not! Ich lauf’ zum Lok’wald und such’ den Herrn!“ Er eilte davon.
Kichernd stand die alte Magd und streckte die Hand gegen den See. „Schauet! So schauet nur hin, was die Salmued schafft! Die Schwester wider die Brüder und für den Fischer, dem derselb’ da droben den Vater erschlagen! Blut wider Blut ... so will’s die Salmued haben!“
Wicho sprang auf Ulla zu und packte sie mit beiden Fäusten. „Den Vater erschlagen? Wer?“
Sie lachte. „Die Alfen, gelt, die Alfen haben Sigenots Vater, den Gelfrat, in den See gezogen? Freilich, die Alfen, ich hab’s ja selber gesehen! Und zehn auf einmal sind über ihn gekommen ... grad’ so viel’, als der da droben Finger an den Händen hat. Spring’ doch hinunter in den See und such’ den Gelfrat ... ich mein’, es steckt ihm der Pfeil noch im Hals, den derselb’ da droben von der Mauer geworfen hat, wie er den Fischer in Sturm und Not hat hängen sehen an der Falkenwand! Zu stark ist ihm der Gelfrat geworden, zu stark ... da hat der ander’ zeigen müssen, daß er stärker ist! Aber laß nur gut sein! Noch stärker als er, mein’ ich, noch stärker ist die Salmued. Sie rührt die Fäust’ und wirft das Fluchbein um. Frau Friderun ist hin! Eins ums ander’! Ich hüt’ mich, daß ich die nächste bin!“ Lachend stieß sie den Knecht von sich, dem alle Kraft aus den Fäusten geschwunden war, und humpelte am Hag entlang den Bäumen zu. Am Waldsaum wandte sie noch einmal das verzerrte Gesicht und hob die Hand gegen Wazemanns Haus ...
Hinter den weißen Bergen tauchte die Sonne empor und leuchtende Strahlen fielen über den See. Schimmer und Glanz lag ausgegossen über den weiten Felsenkessel, über die spiegelglatte Flut und all die steilen Gehänge. In der wachsenden Wärme tauchten die bunten Farben des welken Bergwalds unter dem weichenden Schnee hervor, ein Flimmern und Blitzen überall, und wo die Sonne den nassen Waldgrund fand, kräuselten dünne Nebel sich empor, schwebten langsam in die Höhe und zerrannen spurlos in den blauen Lüften. Funkelnd wie Silber stürzten von allen Wänden die Gießbäche nieder, und ihr Rauschen füllte den gewaltigen Felsenkessel wie mit dem eintönigen Gesang einer machtvollen Stimme. So laut war diese Stimme, daß aus den Lüften auch kein leiser Ton herniederdrang, wenn auf dem höheren Gewänd der Schnee sich löste und die Steine über den Bergwald stürzten.
Schon war der Einbaum dem steilen Ufer nahe, dem er entgegensteuerte. Da rann ein Zittern über das Wasser, als wäre jählings ein Windstoß auf den See gefallen. Doch es rührte sich kein Hauch in den Lüften. Rings an den Ufern entlang blitzte ein weißer Schaumstreif auf, und während die kleinen Wellen sachte sich wieder glätteten, lief über das steile schwindelnd hohe Gewänd des König Eismann eine weiß zerstiebende Wolke nieder, als hätte die Riesin des Berges ihren Schleier in die Tiefe flattern lassen.
Sigenot und Recka sahen nicht, was rings um sie geschah. Still hingen ihre Blicke ineinander.
Als der Einbaum an das Ufer stieß, atmeten sie beide auf wie im Erwachen. Recka sprang zuerst ans Land. Sigenot folgte, stieß den Beilschaft hinter den Gurt und schleifte den Einbaum auf das Kiesbett, welches der rauschend niederstürzende Wildbach aufgelagert hatte. Seitwärts vom Geklüft des Baches führte ein Jägersteig zur Höhe. Sigenot wollte den Aufstieg beginnen, doch er zögerte. Scheu glitten seine Augen über die Tochter Wazes, dann zum Einbaum.
„Recka! Es ist böser Weg, den ich beginn’. Kehr’ um!“
„Er führt zu meiner Gesellin, der ich Treu’ geschworen! Steig’ an!“
„Der Weg führt wider Deine Brüder!“
Reckas Augen blitzten und ihre Lippen zuckten. „Deine Schwester in Not! Steig’ an!“
Wortlos wandte Sigenot sich ab und begann den mühsamen Pfad emporzuklimmen. Rascher und rascher stieg er, daß sein Atem keuchend ging. Und immer blieb Recka dicht hinter ihm, als wäre eines Mannes Kraft in ihren Gliedern. Noch ehe sie die Höhe der bewaldeten Wand erreichten, begann der Schnee. Sigenot verließ den Pfad und sagte: „Steig’ voran! Es könnt’ Dich der Schnee überwerfen, der sich löst unter meinem Fuß!“ Recka nickte und stieg an ihm vorüber. Ehe Sigenot ihr folgte, warf er einen Blick über den See hinaus ins weite Thal. Tief unter ihm lag in der Ferne sein Haus und Hag, winzig wie ein Spielzeug. Zwei feinen weißen Strichen gleich hob sich das in der Sonne schimmernde Kreuz von der dunklen Erde ab. Sigenot atmete auf und eilte bergan, als hätte dieser Blick ihm [435] Hoffnung und neue Kraft gegeben. Er fürchtete nicht mehr um die Schwester ... er wußte, daß er sie retten würde. War doch Einer. .mit. ihm, Einer, stärker als tausend Arme in Wehr und Eisen! Wer sonst als dieser Eine hatte ihm die treue Gesellin geschickt, die ihm feind gewesen bis zur Stunde, die ihm freund geworden um der Schwester willen! Mit raschen Sprüngen holte er Recka ein, und heiße Röte schlug bei ihrem Anblick über seine Wangen ...
Um die gleiche Stunde geschah es, daß Wicho, der mit dem Schwerte seines Herrn bewaffnet vor dem Fischerhaus die Wache hielt, den sorgenden Blick zum Kreuz erhob und murmelte: „Jetzt muß er weisen, ob er gar so stark ist, wie die da draußen sagen!“ Das Eisen im Arm, schritt er zum Lugaus und spähte über den Weg, der von der Ache kam. Er harrte des Sennen und des Knechtes, die er nach Eigels Rat in die Schönau gesandt.
Doch die beiden dachten nicht der Heimkehr. Beim Hag des Richtmanns standen sie in einem Haufen schreiender Männer und Weiber, die sich um Ulla drängten. Mit kreischendem Hohn weckte die Magd in den Männern die Erinnerung an jede Unbill, die Herr Waze ihnen zugefügt, in den Weibern das Gedenken an jede Schmach, die ihnen gedroht oder die sie erlitten von Wazemanns Söhnen. Lachend zog Ulla weiter und suchte sich neue Lauscher, während hinter ihr der schreiende Haufe blieb. Wirr klangen die heiseren Stimmen durcheinander, einer schürte die Wut des anderen, sie hoben die geballten Fäuste und schrien laut am Tage, was zu anderer Zeit kaum einer im stillen zu denken gewagt. Und über alles Geschrei hinaus hob sich noch die Stimme des Hanetzer, der in seinem verschwollenen Gesicht die blauen und grünen Male der Faustschläge trug, die er von Sindel und Hartwig beim Verhör empfangen. Fast mit den gleichen Worten wie damals auf der Reginalbe vor dem in Schlingen liegenden Bären schrie er auch jetzt. „Raitet! Raitet! Was thun wir ihm an? Ihm und seinen Buben!“
„Raitet, Mannerleut’, raitet!“ schrillte eine Weiberstimme. „Und thut, was Fäust’ vermögen! Soll geschehen, was mag ... ich weiß, was ich thu’: ich lauf’ zum Lok’wald, auf der Stell’, ich geh’ zu den Gottesleuten!“ Um die Schreiende drängten sich mit lautem Zuruf alle anderen Weiber, und der kreischende Haufe wälzte sich über die Halden und wuchs bei jedem Hag.
Bruder Wampos „Wunder“ und der Salmued Fluch, den die verstörte Magd als zweites Wort auf den Lippen geführt: diese zwei Dinge übten stärkeren Zug auf diese Menschen aus als die Botschaft der ewigen Liebe und der fromme Ruf der Glocke, den sie seit Tagen mit verschlossenen Ohren hörten – und tiefere Macht als die schreiende Not des Nächsten und die mahnende Stimme des Rechtes, welche Sigenot im Thing erhoben! Jetzt freilich, als sie durch die reine sonnige Morgenluft vom Lokiwald die Glocke tönen hörten, fiel es in ihre Gemüter wie Raserei, und schreiend rannten sie dem Hall entgegen.
Die Glocke klang. Sanft schwoll ihre freundliche Stimme über die stillen Wälder hin und brach sich an den weißen Bergen. Auch ein Einsamer hörte sie, der in atemloser Hast von der Ache durch den Lokiwald emporeilte über den steilen Hang: der Kohlmann. Geradeswegs eilte er der Klause zu, welche durch die Bäume schimmerte. Als er die Rodung erreichte, hörte er Beilschläge; Bruder Schweiker zimmerte am Waldsaum die Pfähle für den Hag. Der Kohlmann sprang zur Klause, auf der Thürschwelle saß Bruder Wampo in der Sonne und schabte mit einem Holzspan die Honigflecken von seiner Kutte.
„He, Du, wo ist Dein Herr?“
Mit verdrießlichen Augen blickte Wampo auf. „Herr? Welcher?“
„Der Flachsbartige! Der mit den guten Augen!“
„Der ist fort vor einer Weil’!“
Eigel erschrak. „Fort? Wohin?“
„In die Ramsau!“
„Welchen Weg hat er genommen?“
„Sell hinunter!“ Und Bruder Wampo deutete mit dem Arm.
Ohne Wort und Gruß eilte der Kohlmann davon, in wenigen Augenblicken war er im Wald verschwunden. Er folgte der Richtung, welche der Bruder ihm angezeigt. Auf kotigem Pfad fand er die frische Trittspur einer Sandale. „Herr! Herr!“ schrie er mit keuchender Stimme, doch keine Antwort kam. Er eilte weiter, und immer wieder fand er die Spur des Weges, den Eberwein genommen. Als er das Thal der Ache erreichte und gegen die Halden der Strub sich wenden wollte, scholl ihm von dem waldigen Hang, welcher jenseit der Ache sich erhob, ein Gewirr von heiseren Stimmen entgegen. Zwischen den Bäumen tauchte eine Schar kreischender Weiber auf, über dreißig an der Zahl, nur wenige Männer unter ihnen: der Hanetzer, die Winklerbuben, der Waldhauser und Urstaller, der Schmied von Ilsank – und der Köppelecker, welcher dem zur Klause eilenden Haufen begegnet war und sich ihm angeschlossen hatte.
Eigel blieb stehen; er lachte und seine Augen funkelten, als er aus dem hallenden Geschrei vernahm, wohin der Weg dieser Menschen ging. „Ihr lauft mir gut in den Weg! Nur her zu mir! Ich will Euch Feuer in die Strohköpf’ werfen!“
Das weißbärtige Kinn auf den Stecken gelegt, so stand er und harrte. Als sie kamen, rief er sie an. „Wohin, Leut’?“
„Zum Lok’wald! Zu den Gottesmännern!“ schrien ihm die wirren Stimmen entgegen.
Er lachte hell auf. „Zum Lok’wald? Zu den Gottesmännern? So?“ Wieder lachte er. „Laufet nur zu. Ich mein’ aber schier, Ihr werdet schieche Köpf’ machen zu dem Gruß, der bei der Klaus’ auf Euch wartet!“
Wilder Lärm erhob sich, der Hanetzer packte den Kohlmann an der Brust, doch der Köppelecker stieß ihn zurück und schrie: „Red’, Eigel, red’! Was hast im Sinn?“
„Reden? Mit Euch?“ Die Augen des Kohlmanns glitten hinauf gegen den König Eismann, dann warf er einen wägenden Blick über die kleine Zahl der Männer und ihre waffenlosen Fäuste; er schüttelte den Kopf, als müßte er einen Gedanken, der in ihm aufgetaucht, von sich abwehren. „Reden? Mit Euch? Wozu denn sollt’ bei Euch das Reden noch helfen? Ihr habt ja noch all’weil’ saure Milch im Leib! Noch all’weil’ kein Blut!“ Zu greller Schärfe hob sich seine Stimme. „In der Ramsan aber hausen noch Mannerleut’! Zu denen geh’ ich! Zu denen sag’ ich: Herr Waze ist mit seinen Buben zu Berg gestiegen, sein Haus steht leer und wär’ so leicht zu werfen wie ein Strohdach. Und haben die Füchs’ erst ihren Bau verloren, so bleibt für die Jagdhund’ leichte Hatz’!“ Die Augen des Alten sprühten, und der Stecken zitterte in seiner Faust. „Das will ich den Mannerleuten in der Ramsau sagen, und ich mein’ schier, daß ich weiß, was ich zur Antwort hör’. Merket auf, Ihr Milchblüter ... ich mein’, es giebt noch ’was zu schauen, ’vor der Tag ein End’ hat! Und kommt nur morgen zur Klaus’, wenn die Ramsauer ihren Dank holen von den Gottesleuten!“ Lachend schritt er davon.
Tobendes Geschrei erhob sich hinter ihm, und das Kreischen der Weiber mischte sich mit den heiseren Stimmen der Männer. Im raschen Weiterschreiten lauschte der Kohlmann, und jedes Wort, das aus dem Lärm an seine Ohren schlug, weckte in seinem Gesicht den Ausdruck wilder Freude. Noch eh’ er den Waldsaum erreichte, sah er den schreienden Haufen über die Ache zurückweichen, und von dem Hang hernieder, das Kreischen der Weiber übertönend, klangen die Stimmen des Köppelecker und des Schmiedes von Ilsank:
„Zu Wazemanns Haus! Was die Ramsauer können, bringen wir auch noch fertig! Feuer in das Fuchsloch!“
Eigels Blicke suchten die weißen Schneefelder des König Eismann; er hob die Faust und schüttelte den dürren Stecken. „Holt Dich und Deine Buben auch keine wehrende Hand mehr ein auf Deinem heutigen Weg ... kehr’ wieder heim, und Du findest einen Gruß vom selbigen, dem Du die Salmued genommen!“ Jenseit der Ache, auf der Höhe des Hanges, verhallte der Lärm in dichtem Gehölz. „Meinem Fluch sind Füß’ gewachsen ... gieb acht, Herr Waze, er lauft Dir in die Stub’!“ Eilenden Sehrittes folgte Eigel dem Pfad.
Bei einer Furt, welche an seichter Stelle durch die Ache zog, fand er wieder die Trittspuren Eberweins. Sie führten zum Gehöft des Schapbachers. Vor dem Hagthor sah er eine Dirne und rief sie an: „Ist nicht ein Gottesmann vorbeigekommen? Ein Flachsbartiger?“
„Wohl wohl! Der ist bei uns gewesen und hat am Thor gelärmt, bis ihm der Bauer aufgethan hat. Nach dem Huzebuben hat er gefragt und ist weiter gezogen gegen die Windach zu.“
Der Kohlmann eilte davon. Durch dichtes Gehölz führte sein Weg, und schon von weitem hörte er das dumpfe Rauschen des hoch angewachsenen Wildwassers. Als er die Lichtung gewann, [436] sah er den Mönch über das Felsenufer der Windach aufwärts steigen. „Herr, Herr!“ schrie er, doch das Rauschen der Gewässer verschlang den Ruf. Er klomm über den steilen Hang empor, und als er den Mönch erreichte, griff er nach seiner Kutte. Eberwein wandte das Gesicht. Wie vor dem Anblick eines Gespenstes fuhr der Kohlmann zurück und starrte auf die bleichen Züge, die der Schmerz verwandelt hatte, wie das Erlöschen der Sonne den freundlichen Tag verwandelt in dunklen Schatten. Doch was den Greis in seiner innersten Seele erregte, war nicht der Kummer allein, der aus Eberweins Antlitz sprach. Unter lallenden Worten streckte er die Hände. Eberwein verstand ihn nicht; er faßte den Arm des Kohlmanns und zog ihn vom Ufer hinweg gegen den Waldsaum. „Eigel! Es steht auf Deinem Gesicht zu lesen ... Du bringst mir üble Botschaft!“
Der Kohlmann begann zu sprechen: von dem erschlagenen Knecht, von Ruedlieb und Rötli, von ihrer Flucht mit dem Richtmann, von aller Not im Fischerhaus, vom Auszug der Wazemannssöhne und von Sigenots Bergfahrt – doch er schien nicht zu wissen, was er sprach. Wie gebannt hingen seine Blicke an den Zügen des Mönches. Immer wieder strich er mit der Hand über seine Stirn, als möchte er seine Gedanken zur Ruhe bringen und festhalten, was verworren vor ihm aufstieg und wieder versank in die Dämmerung vergangener Zeiten ...
Eberwein rüttelte den Arm des Kohlmanns. „Solche Botschaft bringst Du,“ rief er mit bebender Stimme, „und stehst vor mir wie auf steinernen Füßen? Auf! Und führe mich! Oder hast Du Furcht ... so weise mir den Weg zum Eismann und bleibe!“
„Furcht?“ Eigel erwachte. „Furcht? Soll geschehen mit mir, was mag ... eh’ ich hin bin, bleibt mir wohl noch Zeit zu einem Streich! Und der soll ausgeben!“ Noch einmal streiften seine Augen das Gesicht des Mönches. Schwer atmend schüttelte er den Kopf und an Eberwein vorüber eilte er quer durch den Wald einem Pfad entgegen.
Als vor Eberwein und Eigel im Wald sich eine Gasse öffnete, griff der Kohlmann erschrocken nach dem Arm des Mönches. „Herr! Sell schaü’ hinauf!“ Und mit dem Stecken deutete er nach der fernen Höhe.
Wie ein weißer Silberguß ging der Fall der Windach über die Felsen nieder, so reich an Wasser wie auch sonst nach schwerem Regen, doch dem Fall zur Seite hatte der See, aus dem sie strömte, sich einen zweiten Ausfluß durch die Felsen gebrochen: in der Steinmauer klaffte eine Spalte, durch welche ein mächtiger Wasserstrahl gleich der blitzenden Klinge eines riesigen Krummschwertes in weitem Bogen mit zischendem Brausen hinausschoß in die Luft, um die Tiefe unter ihm, alle Felsblöcke, Bäume und Moosgehänge, mit wirbelndem Wasser zu überschütten.
„So schau’ nur,“ stammelte Eigel, „der Bidem hat eine Fragel in die Wand gerissen!“
Doch Eberwein hörte nicht. „Was stehst Du? Wir haben Eile!“ Er schwang sich über einen Felsblock, der den Pfad versperrte, und stieg zwischen den Bäumen empor, während Eigel ihm keuchend zu folgen suchte.
Die Sonne stand in Mittagshöhe, als Herr Waze mit seinem Geleit sich dem Ende des Windacher Seethals näherte. Nur kümmerlicher Baumwuchs deckte zwischen dem See und den steilen Wänden das steinige, von zahllosen Schluchten durchrissene Gehäng. Und dennoch bot das öde unfruchtbare Felsthal einen freundlichen Anblick, denn die Sonne übergoß es mit ihrem Glanz; sogar der See und seine sonst so finstere Flut war in ein schimmerndes Bild verwandelt: leuchtend spiegelte das regungslose Wasser den Silberglanz der beschneiten Höhen und das lichte Blau des Himmels.
Lautlose Ruhe herrschte ringsumher auf allen Bergen, hoch im Gewände war das Poltern der fallenden Steine verstummt, und nirgends verriet mehr eine aufstäubende Schneewolke den Sturz einer Lawine. War der Aufruhr, welcher die Natür befallen hatte, zum Schweigen gebracht? Oder sammelten die dunklen Gewalten nur Kraft und Atem zu neuer Empörung?
Wie eine dumpfe Stimme, fern aus dem stundenlangen Thal herauf, klang in die den See umlagernde Stille das seltsame Rauschen der Windach. Herr Waze und seine Söhne, die unter lachenden Reden auf schmalem Pfad am Seeufer dahinritten, achteten der dunklen Mahnung nicht, welche hinter ihnen tönte. Nur die Knechte, die, dem Zug der Rosse folgend, die ungestümen Hunde an den Riemen führten, blieben zuweilen stehen, blickten lauschend nach rückwärts und schüttelten die Köpfe.
Als der See zu Ende ging und der Wald begann, stiegen die Reiter aus dem Sattel. Zwei Knechte übernahmen die Hunde, denen die ledernen Zwingen an die Schnauzen gelegt wurden, um sie stumm zu machen, und während die beiden anderen Knechte zur Bewachung der angekoppelten Pferde am Seeufer zurückblieben, begann Herr Waze mit seinem Geleit den Anstieg über den waldigen Hang.
Als der Wald ein Ende nahm und die verschneiten Halden begannen, hörten die Steigenden leisen Steinfall aus der Höhe. Ueber weißem Grat erschien ein Rudel Gemsen. Schwarz hoben sich die zierlichen Gestalten der Tiere vom Schneegrund ab, und immer neue Köpfe tauchten über den Grat empor. Eine Weile standen die Gemsen regungslos und äugten gegen die höheren Wände des König Eismann. Dann plötzlich begannen sie thalwärts zu flüchten, in dicht gedrängter Schar. Gleich einer schwarzbraunen ins Gleiten geratenen Erdscholle kam das Rudel über den steilen Schneehang niedergefahren. Die Hunde, welche das Wild erspäht hatten, zerrten an den Riemen und winselten unter dem Leder, das ihre Schnauzen schloß. Mitten auf dem Hang hielten die Gemsen inne in der Flucht und äugten auf den Trupp der Leute nieder. Aber nur wenige Augenblicke standen sie, dann wieder begannen sie, ohne die Richtung zu ändern, ihre wilde Flucht, und das Thal auf geradem Wege suchend, stoben sie nah an Wazemann und seinen Leuten vorüber, als wäre in ihnen nicht die Angst vor Menschen und Hunden, sondern andere Furcht. Herr Waze blickte dem verschwindenden Rudel nach und schüttelte den Kopf. „Das versteh’ ich nicht ...“
Henning lachte. „Hinter dem Eismann hausen Leut’ und schüren Feuer in der Oedhütt’ ... und Du verstehst nicht, was die Gemsen laufen macht! Wart’ nur: wie sie Dir die Gemsen scheuchen, so treiben sie Dir auf Deinem Bannberg auch noch das Fahlwild aus!“
„Eher schlag’ ich ihnen die Köpf’ in Scherben!“ fuhr Herr Waze auf, dem sein Fahlwild über alles ging.
„Ich seh’ den Otloh!“ fiel Rimiger ein. „Dort oben hockt er und späht über den Grat hinunter nach der Oedhütt’!“
„Hinauf!“ Ansteigend stieß Herr Waze den Eisenstachel des Grießbeils auf eine Felsplatte, sie brach entzwei, und die Splitter stoben auseinander, als hätte ein Zauber den festen Stein in sprödes Glas verwandelt. Das gewahrten die Knechte, welche hinter dem Spisar die winselnden Hunde führten. Einer von ihnen stieß mit dem Schuh an eine Scholle des zerborstenen Gesteins, und da flogen ihm die Splitter bis an die Brust empor und ins Gesicht. „He, Du,“ rief er seinen Gesellen an, „schau’ nur, was für ein närrischer Stein das ist!“ Er wollte zu Boden greifen, doch die Hunde rissen ihn vorwärts. Unter der Stelle, die der Knecht verlassen hatte, ließ sich ein mattes Knirschen vernehmen. Langsam hoben sich die Brocken des zertrümmerten Steines aus dem Grund hervor, es bildete sich im Boden ein Riß, welcher schleichend in die Breite wuchs, und ein schwarzer Erdwulst legte sich wie zäher Teig über den Schnee heraus ...
Herr Waze und seine Söhne stiegen höher und höher. Sie wunderten sich, daß Otloh, der sie doch lange schon gewahrt haben mußte, so still und regungslos dort oben saß. „Der Bub’ muß heißes Blut haben,“ meinte Sindel, „sonst möcht’ er sich wohl rühren im Schnee und die Arm’ schlagen!“
„Er wird die Hütt’ nicht aus den Augen lassen,“ sagte Rimiger.
Henning lachte. „Jetzt laufen sie uns wohl nimmer davon! Schauet nur: der Rauch steigt aus dem Albenthal über den Grat herauf ... sie kochen ihr Mahl.“
„Die Supp’ soll ihnen versalzen werden!“ keuchte Herr Waze, dem schon der Atem zu Ende ging. Und zu kurzer Rast auf das Grießbeil sich stützend, spähte er nach den dünnen bläulichen Wölklein, welche sich über den weißen Grat emporkräuselten in die klaren sonnigen Lüfte.
[459] Hinter jenem Grat, auf dessen Höhe Otloh so still und regungslos die Wache hielt, senkte sich der überschneite Steingrund zu einer weiten Mulde. Gute Weide war es, welche hier der tiefliegende Schnee bedeckte; denn ehe Herr Waze, um seinem Fahlwild Ruhe und reiche Aesung zu sichern, die Gehänge des König Eismann mit seinem Bann umhegte, hatte dieses Bergthal als die beste Albe des Gadems und der Ramsau gegolten. Aus jener Zeit noch stammte die Hütte, die sich inmitten des kesselförmigen Thals erhob. Der Schnee, welcher über das Dach gefallen, war hinweggeschmolzen, und durch die Balken quoll der Rauch des Feuers, das auf der Herdstatt brannte. Sein zitternder Schein beleuchtete ein stilles Glück, das zwischen diesen morschen Balken ein Heim in der Oede gefunden und nach allen Schrecken der vergangenen Tage, bei aller Gefahr und Sorge, von der es bedroht war, so freundlich blühte wie die Bergrose im Schnee und von so reiner Helle war wie ein Stern in dunkler Nacht. Rötlis geschickte Hände hatten dem unwirtlichen Raum ein fast trauliches Ansehen verliehen. Nun stand sie vor dem Herd, das liebliche, nur etwas schmal und bleich gewordene Gesichtchen vom rötlichen Feuerschein überstrahlt, und behütete als junges Hausmütterchen mit sorgendem Eifer die Pfanne. Freilich wurde ihre Achtsamkeit gar oft gestört; doch ehe sie noch schmollen konnte, schloß ihr schon ein warmer Mund die Lippen. Dann lehnte sie wohl das Köpfchen an Ruedliebs Brust, und während er sie umschlungen hielt mit festem Arm, blickten sie schweigend in die züngelnden Flammen und träumten von kommender Zeit, von dem traulichen Herd, der ihrer wartete im Thal. Einmal seufzte Rötli aus tiefem Herzen.
„Schätzli, was ist Dir?“ fragte Ruedlieb und strich mit der Hand über ihr Braunhaar.
Sie hob die feuchten Augen. „Was meinst wohl, wie es meiner Mutter geht und meinem Bruder?“
„Gut! Wie denn anders! Dein Bruder steht wie ein Baum; an den trauen sich die Maulwürf’ nimmer an! Uns hat er in sichere Hut geschickt, und sich selber weiß er zu wahren!“
„Aber wenn die Wazemannsleut’ ...“ Rötli konnte nicht weiter sprechen, denn zum besten Trost hatte ihr Ruedlieb mit den [460] Lippen den Mund geschlossen. Dieser stille Trost hatte so lange Dauer, daß der Brei in der Pfanne in verdächtiges Brodeln geriet. Erschrocken löste Rötli sich aus den Armen, die sie umschlungen hielten, und stammelte: „So, schön, jetzt hätt’ ich schier noch unser Mahl verbrennen lassen! Geh’ nur flink und ruf’ den Vater, daß wir mahlzeiten miteinander!“
Ruedlieb eilte zur Thür, doch vor der Schwelle blieb er stehen, blickte in lachender Freude auf sein Weib zurück und hatte sein helles Wohlgefallen an dem ernsten Eifer, mit welchem Edelrot beim Feuer schaltete. Draußen vor der Thüre saß der Richtmann auf einem Steinblock. Vor Stunden schon hatte er die Hütte verlassen, denn er wollte das stille Glück seiner Kinder nicht durch den Anblick der Sorge verkümmern, die aus seinen bleichen vergrämten Zügen redete. Er hatte die ganze Nacht hindurch kein Auge geschlossen und nur immer dem Murren der Lawinen gelauscht und dem Gepolter der Steine, welche von den Wänden niedergingen und ihren Weg an der Hütte vorübernahmen. Auch sonst noch hatte er in der unheimlichen Nacht gar seltsame Geräusche und Stimmen vernommen, die er nicht zu deuten wußte und die ihn mit banger Angst erfüllten.
Nun saß er schon seit Stunden einsam vor der Hütte und spähte mit forschenden Blicken empor zum steilen Gipfel des König Eismann. Da klang von der Hüttenthür die Stimme Ruedliebs: „Komm, Vater! Das Rötli hat uns aufgekocht, wir wollen gute Mahlzeit halten!“
Schwer seufzend wandte der Schönauer das bleiche Gesicht und winkte den Sohn herbei. Als Ruedlieb kam, faßte ihn der Vater bei der Hand und flüsterte. „Ich hab’ vor der lieben Dirn’ nicht reden mögen, aber jetzt hör’ mich an, Liebli: wir müssen fort auf die Nacht! Mir grauset! Der Berg ist nimmer sicher!“
Ruedlieb erschrak. „Meinst, Herr Waze hätt’ erfahren ...?“
Der Richtmann schüttelte den Kopf. „Ich fürcht’ den Berg.“
„Die Stein’ und Lahnen?“ Ruedlieb lächelte schon wieder. „So schau’ doch auf! Es ist ja wieder sonnscheinige Zeit, und der Schnee liegt still und fest.“
„Ich kenn’ die Berg’, Liebli, ich bin älter als Du. Aber ich mein’ schier, es müßt’ ’was kommen, was ich selber noch nie gesehen hab’. Alles ist lebendig in der Rund’, und zur Nachtzeit hab’ ich die Steinalfen schreien hören wie in Schmerz und Not. Mir grauset, Bub’! Der Bidem steckt im Berg wie die Scheermaus unter dem Traidfeld. Wir haben wohl gute Ruh’ vor Wazemanns Leut’ ... aber ich mein’ schier, der Berg möcht’ Fäust’ kriegen und schlagen nach uns. Wir müssen fort zur Nacht! Sag’s der lieben Dirn’ ... sie hört’s von Dir leichter. Die Nacht ist lang und reicht wohl aus, daß wir durch die Ramsau flüchten und das Haller Thal gewinnen.“
Aus der Hütte klang Rötlis helle Stimme: „Aber so kommt doch!“ Mit einem Sprunge war Ruedlieb bei der Thüre. Als der Richtmann ihm folgen wollte, hörte er von der Höhe des weißen Grates einen Laut. Betroffen lauschte er. War es eine menschliche Stimme gewesen? Oder der winselnde Laut eines Hundes? „Ich muß es wissen!“ murmelte er, von banger Ahnung erfüllt. Mit der einen Hand fühlte er, ob er das Messer am Gürtel trüge, mit der anderen faßte er einen der schweren Latschenäste, die vor der Hütte lagen, und eilte gegen den Hang.
„Vater! So komm doch!“ mahnte in der Hütte die Stimme Ruedliebs.
„Ich komm’ gleich! Esset nur derweil’! Mir schmeckt der Brei so lieber, wenn er verkühlet hat.“ Die Worte des Richtmanns klangen rauh und heiser. Er atmete schwer, und mit irrem Blick wandte er noch einmal die Augen nach der Hütte. „Liebli ...“ Wie ein Seufzer glitt ihm der Name seines Buben von den Lippen. Dann richtete er sich auf, seine bleichen Züge verschärften sich, mit funkelnden Augen spähte er nach der Höhe und begann durch den klebrigen Schnee emporzuwaten. Als er nach schwerer Mühe den Grat erreichte, stand er vor Entsetzen wie versteinert. Auf blutgetränktem Schnee, mit zerschmettertem Hinterkopf, lag eine Leiche vor ihm, deren starre Totenhand noch den Eibenbogen umklammert hielt: Otloh, Wazemanns Jüngster. Ein stürzender Fels, dessen Weg eine tiefe Furche im Schnee bezeichnete, war über ihn hinweggegangen. Mit verstörtem Blick hing der Richtmann an dem blutigen Bild; er faßte nicht, was er sah, und griff sich an die Stirne. Da hörte er vom jenseitigen Hang herauf die Stimmen der Wazemannsleute und das Gewinsel der Hunde, einen Schritt noch that er – dann sah er sie kommen. Auf die Weite eines Pfeilwurfs waren sie unter ihm. Sie hatten ihn schon erblickt und auch erkannt – das verriet ihm ihr Geschrei und der Pfeilschaft, welcher nahe vor seinen Füßen im Schnee versank. Einen Augenblick stand er ratlos, mit verzerrtem Gesicht und zitternd an allen Gliedern. Dann jählings faßte er die Leiche, schleifte sie über den Grat hinaus und gab ihr einen Stoß, daß sie über den steilen Hang hinunter und den Emporsteigenden entgegenrollte, von Schnee überwirbelt, umprasselt von nachstürzendem Geröll.
„Berget Eueren Toten ... ich wahr’ die Meinen, so lang sie noch leben!“ Er sprang über den Grat zurück, und das Messer aus der Scheide reißend, stand er und schickte einen gellenden Notschrei hinunter in das stille Bergthal. Der hallende Ruf weckte das Echo an allen Wänden. Es rieselte der Schnee, Steine rollten, und überall in den Felsen schrie es, als wären zwanzig Stimmen mit einmal lebendig geworden in der Oede.
Ruedlieb und Edelrot kamen aus der Hütte gesprungen. Von der Höhe des Grates sahen sie den Vater herabeilen und wußten nicht, was sie denken sollten.
Da schrillte von der Höhe der Ruf des Richtmanns. „Laufet! Laufet! Hinter mir die Wazemannsleut’!“
Rötli erblaßte und ihre Knie wankten; auch aus Ruedliebs Wangen jagte der jähe Schreck alles Blut, doch seine Hand griff nach dem Messer. Gestalten tauchten über den Grat empor. Herr Waze, Henning, Rimiger und Sindel, und hinter ihnen die Knechte mit den Hunden. Zitternd klammerte sich Edelrot an Ruedliebs Brust und barg an seiner Schulter das von Angst und Entsetzen verstörte Gesicht. „Der Unfirm ... und seine Hund’ ...“
„Laß ihn kommen!“ Ruedlieb richtete sich auf. „Solang’ ich noch Arm’ hab’, soll Dir nimmer geschehen, wie dem Rösli geschehen ist, aus deren Blut die Albenros’ gewachsen. Leben sollst Du ... oder ich sterb’ mit Dir!“ Ein paar Schritte riß er die Wankende durch den Schnee mit sich fort, dann wieder stand er und rief mit tonloser Stimme: „Vater! Komm!“
Der Richtmann hörte wohl den Ruf seines Buben, ein Schwanken ging über alle seine Glieder, dann blieb er plötzlich stehen, in der Linken den Latschenast, in der Rechten das blanke Messer zum Wurf bereit, die brennenden Augen nach der Höhe gerichtet. Den Söhnen und Knechten voran überklomm Herr Waze den verschneiten Grat. Sein Gewand und seine Hände waren rot vom Blute Otlohs, dessen rollende Leiche er aufgefangen. Er hatte den Hut verloren, und seine dünnen Haarsträhne klebten an dem schweißtriefenden Gesicht, dessen Züge verzerrt waren, daß sie nicht mehr dem Abbild eines Menschen glichen, sondern der Fratze eines verwundeten Raubtiers, das sich zum Sprunge duckt. Heiser kreischte seine Stimme: „Dort steht er, dort, der mir den Sohn erschlagen! Faßt ihn! Ich will ihn haben! Lebendig!“
Rimiger und Sindel sprangen über den Schneehang nieder und auf den Richtmann zu. Henning aber hob den Bogen und spannte die Sehne. Da flog das Messer des Richtmanns, und mit lautem Wehschrei ließ Henning die Waffe sinken – das Messer hatte seinen Arm durchbohrt.
„Die Hund’ von den Riemen!“ schrie Herr Waze in schäumender Wut. „Die Hund’ über ihn!“
Die Knechte lösten die Fesseln, und gleich einem Bündel abgeschnellter Pfeile schossen die heulenden Rüden thalwärts.
Da rann unter dumpfem Knirschen ein Zittern durch den Felsgrund, das verschneite Steinfeld hob sich langsam wie die Brust eines atmenden Riesen, ringsumher aus dem weiten Berghang stäubten kleine Schneewolken auf, und durch die Lüfte ging ein Murren – wie fernes Echo klang es und dennoch wie ein naher Laut, dicht vor den Ohren der Lauschenden.
Herr Waze auf dem Grat, Rimiger und Sindel, Henning mit dem blutenden Arm, die beiden Knechte, die verstummten Hunde und der Richtmann, der sich schon wieder zur Flucht gewendet hatte ... sie alle standen jählings wie versteinert, wie angewachsen auf der Scholle, welche sie trug. Hinter dem Grat hatte Eilbert, der die Leiche Otlohs in den Armen gehalten, den blutigen Körper fallen lassen, und die beiden Brüder, welche vor dem Erschlagenen auf den Knien im Schnee gelegen, waren aufgesprungen mit schreckensbleichen Gesichtern. Irrenden Blickes starrten sie umher – sie alle fühlten die Nähe einer dunklen grauenhaften Gefahr. Von welcher Seite aber drohte sie? In den Lüften oder im Grund der Felsen? In der Höhe oder im Thal? Diese Ungewißheit mehrte noch das Bangen und Entsetzen. Von Hennings Lippen löste sich der [462] erste Laut. Und als hätte dieses kreischende Lallen jäh erwachter Todesfurcht die anderen aus ihrer Betäubung aufgeschreckt, so erhob sich plötzlich ein wirres Angstgeschrei in die von dumpfem Gesumm erfüllten Lüfte.
Von Wand zu Wand hin rollte das Echo dieser Stimmen – und ein verworrener Laut noch drang hinunter in die Bergschlucht, durch welche Sigenot und Recka den Weg zur Oedhütte suchten, erschöpft, mit keuchendem Atem, bis über die Hüften mit Schnee behangen. Aufhorchend faßte Wazes Tochter den Arm des Fischers. „Ich höre Stimmen ... sie schreien um Hilf’!“
Sigenot riß das Beil aus seinem Gürtel und lauschte; er hörte nur ein leises Murren in ferner Höhe und schüttelte den Kopf. „Hinter dem Eismann geht ein Lahn!“ Um dem zähen Schnee zu entrinnen, kämpfte er sich auf den steilen Berghang zu, auf dessen dünner beschneitem Gestein er festeren Weg zu finden hoffte. Recka blieb hinter ihm zurück, umklammert vom nassen Schnee, in den sie halb versank. Als Sigenot ihre Mühsal gewahrte, zögerte er und streckte die Hand nach ihr. Doch sie rief ihm mit bebender Stimme zu: „Sorg’ Dich nimmer um mich! Deine Schwester in Not! Ich folg’ Dir!“
Er wandte sich ah, begann zu klimmen und schwang sich von Stein zu Stein. Nun machte die Bergschlucht eine Wendung, und zwischen halbverdorrten Zirben fand Sigenot leichteren Pfad. Doch jählings stockte ihm der Fuß, denn er sah vor sich den gähnenden Absturz einer Felskluft, welche zu beiden Seiten von den steilen Wänden niederlief, an der einen Felswand eine finstere Höhle bildete und die Bergschlucht quer durchriß, zu tief und steil für den Niederstieg, zu breit für jeden Sprung. Mit verstörten Augen starrte Sigenot in die Tiefe, die sich vor ihm geöffnet. Es war nicht das erste Mal, daß er auf diesem Wege zum König Eismann emporstieg – doch er kannte diese Spalte nicht, ihre Wände waren gelb wie frisch gebrochenes Gestein. Als verließe ihn beim Anblick dieser Schranke seine letzte Kraft, so stützte er sich mit zitternder Hand an den Stamm einer Zirbe.
Recka holte ihn ein: „Was stehst Du?“
„Unser Weg hat ein End’! Schau’ her – der Bidem hat eine Fragel vor uns aufgerissen.“
„Schlag’ die Zirbe nieder, sie schafft uns einen Steg!“
Noch hatte Recka nicht ausgesprochen, da schwang der Fischer schon das Beil und alle Kraft schien ihm wiedergekehrt. Recka wankte zur Höhle, die sich neben der Zirbe in die Felswand senkte, und ließ sich auf einen Steinblock fallen.
Sigenot führte Schlag um Schlag und jeder Hieb machte den Stamm der Zirbe erbeben und hallte von den Wänden. Dumpfe Geräusche quollen von der Höhe des König Eismann nieder, Steine fielen, und über allen Felsen rieselte und glitt der Schnee, als wären die steilen Gehänge belebt von tausend und abertausend weißen winzigen Tierchen ...
Recka griff nach ihrem Bogen, und als sie gewahrte, daß die Sehne sich von der Feuchtigkeit des Schnees gelockert hatte, legte sie, um den Strang zu spannen, eine Schlinge über die Bogenkerbe; dann nahm sie den Köcher in ihren Schoß. Ein leises Aechzen ging unter Sigenots Schlägen durch den erzitternden Baum, und Recka hob die Augen. „Der Gipfel neigt sich schon ... schlag’ zu!“ Sie ließ die Pfeile halb aus dem Köcher gleiten. „Einen hab’ ich verloren im Schnee.“ Ueber ihre bleichen Lippen ging ein irres Lächeln. „Aber wenn es zum ärgsten kommen soll ... sieben Schäft’ noch hat mein Köcher, ich mein’, sie reichen!“ Im letzten Wort klang ihre Stimme schrill wie eine springende Saite.
„Recka!“ stammelte Sigenot, und der Schwung des Beiles stockte in seinen Händen.
„Schlag’ zu. Deine Schwester in Not! Der Baum muß fallen!“ Wieder krachten die Schläge, und schon begann der Wipfel zu schwanken. Recka saß wie mit versteinertem Antlitz, doch ihre Augen flammten. Und mit schmalen Lippen raunte sie vor sich hin: „Wie Feuer brennt in meinem Gesicht das Mal von meines Vaters Faust! Jeder Schlag der Brüder liegt wie Glut auf meinem Leib! Zeit meines Lebens haben sie Schmach und Ekel um mich her gehäuft, daß mir zu Mut’ war in ihrem Haus wie dem kranken Falken im Geiernest – und nach solchem Leben diese letzte Stund’! Sie haben mich geschlagen und geschmäht wie der Bauer im Metrausch seine Magd.“ Bebend an allen Gliedern sprang sie auf und schüttelte das Haar in den Nacken. „Ich bin gelöst von ihrem Haus! Haß wider Haß ... und Lieb’ um Lieb’! Mir sind nur noch zwei Ding’ im Leben heilig: meine Mutter, die mir lieb gewesen, und die Treu’ für Deine Schwester, die mir hold geworden ...“
Da verstummte der Beilschlag, und ächzend neigte sich die Zirbe. Reckas Blick begegnete den Augen Sigenots; sie senkte das Antlitz, zwei helle Tropfen fielen von ihren Wimpern, und ihre Stimme schwankte. „Für Deine Schwester will ich stehen und frag’ nicht, wider wen! Ich thu’, was ich muß ... und sollt’ ich drum im Leben auch nimmer Herd und Heimat haben!“
Unter dem stürzenden Baum hinweg war Sigenot auf Recka zugesprungen. „Nimmer Herd und Heimat?“ Fast versagte ihm die Stimme. „So magst Du reden, derweil ich noch leb’? Du? Und nimmer Herd und Heimat? Recka!“ Er streckte die Arme und wie ein Taumel überkam es ihn. Zitternd stand die Tochter Wazes, sie wollte sprechen, doch die Worte erloschen ihr auf den Lippen; es zuckte und kämpfte in ihrem Antlitz, und über ihre bleichen Lippen fiel es wie rosiger Sonnenglanz.
Auge in Auge standen sie, und mehr als alle Sprache hätte reden können, sagte dieser stumme Blick, der den Inhalt zweier Leben erschöpfte. Wie Feuer zu Feuer fliegt, so trieb es diese beiden zueinander. Hatte Sigenot die Geliebte an sich gerissen ... hatte Recka sich an seine Brust geworfen? Sie lagen Herz an Herz, umschlangen sich mit pressenden Armen wie in jener Sturmnacht auf dem See und in dürstendem Kusse fanden sich ihre Lippen.
Krachend fiel die Zirbe und warf ihren Stamm und ihr Gezweige über die gähnende Kluft.
War das dumpfe Brausen, welches durch die Lüfte ging, ein Echo ihres Falles? Hatte ihr Sturz die schlafenden Riesen im Gestein geweckt und sie gelöst aus tausendjährigem Bann? Wie das Rauschen eines nahenden Sturmes quoll es hernieder aus unsichtbarer Höhe, wuchs zu mächtigem Gerassel und fand ein donnerndes Echo an den gegenüberliegenden Wänden ...
Recka und Sigenot erwachten aus ihrer taumelnden Wonne und blickten um sich her mit traumverlorenen Augen. Es zitterte die Erde unter ihren Füßen, ein sausender Luftstrom peitschte ihnen Gewand und Haar, ächzend bogen sich die hundertjährigen Zirben, und brüllende Stimmen füllten die Bergschlucht. Reckas Augen glitten zur Höhe und jäh erblaßte ihr Gesicht. Sie sah das Verderben über die Felsen niederstürmen: eine weiße Riesenwolke, von braunem Rauch umflattert. Von ihren Lippen löste sich ein gellender Schrei, und die Angst des Todes sprach aus ihren erstarrten Zügen; doch nicht das eigene Leben war es, um welches sie bangte ...
„Recka!“ stammelte Sigenot und wollte die Geliebte mit den Armen schützend umschlingen, wollte sie decken mit seinem eigenen Leib. Doch sie, den einzigen Schutz erkennend, auf den in dieser stürzenden Not noch eine Hoffnung zu setzen war, stieß den geliebten Mann mit aller Wucht ihrer wilden Kraft dem Berghang zu, daß er rücklings in die Höhle taumelte. Mit hellem Aufschrei wollte sie ihm folgen, aber da fiel es schon wie weiße Sturzflut auf sie nieder, und die Steine prasselten.
Stöhnend hatte Sigenot sich aufgerafft, einen Schritt noch that er, wie durch weiße fließende Schleier sah er noch Reckas Haupt, ihr wehendes Rothaar und die winkenden Arme, hörte aus allem Donner und Toben noch ihren jauchzenden Ruf: „Ich liebe Dich!“ ... dann brach es vor ihm nieder mit schwarzer Nacht.
Die stürzenden Massen erfüllten die ganze Breite der Schlucht, und von allen Wänden lösten sich neue Lawinen. – –
Hoch über dem Albenthal, dessen Hütte Herr Waze und seine Söhne, der Richtmann und die Knechte in jagender Flucht zu erreichen suchten, geriet der ganze Berghang in rinnende Bewegung. Aus dem aufdampfenden Schneegewölk flogen braune Punkte hervor, erst wie springende Kiesel erscheinend, doch schon im nächsten Augenblick als mächtige Felsblöcke; in weitem Bogen wurden sie über steile Wände hinausgeworfen oder liefen wie kreisende Scheiben mit Windesschnelle über die Gehänge nieder, um jählings in tausend Splitter auseinanderzufahren.
Die Kräfte der Fliehenden gingen zu Ende, und schon rollte die sich dunkel färbende Lawinenwolke gegen das Albenthal. Knatternd fiel ein Regen von Steinen über den Grat hernieder, und lauter noch als das Kreischen der Angst erhob sich das Wehgeschrei der vom Steinschlag Getroffenen. Wen nicht eine springende Scholle zu Boden warf, der stürzte, da ihm der beißende Staub, aus Schnee und Sand gemischt, die Augen fast erblinden machte. Stöhnend rafften die Gestürzten sich wieder auf und suchten Rettung in neuer Flucht. Keiner hörte das Wehgeschrei, welches neben oder hinter ihm [463] erscholl, halb erstickt von dem die Lüfte erfüllenden Toben. Keiner dachte des anderen, jeder nur an das eigene Leben. Der Bruder kannte nicht mehr den Bruder, der Sohn den Vater nicht, und für die Knechte gab es keinen Herrn. Wer zu Boden lag, griff mit zuckenden Händen nach jedem Fliehenden, dessen Weg an ihm vorüberführte – und wer eine klammerude Hand an seinem Leibe fühlte, stieß mit den Füßen, riß und zerrte, bis er sich frei gemacht.
Immer dichter fielen die Steine, und die Stimmen der Lüfte und der brechenden Felsen verschmolzen sich zu schwebendem Gedröhn.
Allen Fliehenden voran war der Richtmann schon der Hütte nahegekommen, als eine springende Steinscholle seinen Schenkel traf. Stöhnend brach er zu Boden, wollte sich wieder aufraffen, doch die zerschmetterten Knochen versagten den Dienst. Er wußte, daß er verloren war – und wie nach einem bösen Sturmtag unter dem fernen Gewölk einher noch eine letzte schöne Röte der sinkenden Sonne schimmert, so sah der Sterbende vor seinen Augen als leuchtendes Bild, was seinem Leben teuer gewesen. „Liebli, mein guter Bub’! Mein Haus und Herd!“ Er schluchzte laut und bedeckte mit zitternden Händen das Gesicht.
Da tönte aus dem jammernden Geschrei, das auf dem halb schon überschütteten Hang sich noch vernehmen ließ, eine keuchende Stimme an des Richtmanns Ohr. „Der Heilige ... der Heilige hinter mir ... und sie lassen mich allein ... die Söhn’ den Vater ... die verfluchte Brut ...“ Ein Wehlaut unterbrach die röchelnden Worte. „Helfet! Helfet! Her zu Eurem Herrn, Ihr ungetreuen Knecht’!“ Mit heiserem Schrei erlosch die Stimme, und durch den Schleier des wirbelnden Staubes, durch den Hagel der Steine sah der Richtmann einen Klumpen Leben sich nähern, ein Lächeln des befriedigten Hasses überzuckte sein fahles Antlitz, er hob sich auf das unverletzte Knie und faßte die schwere Scholle, die ihn getroffen.
„Helfet, Helfet!“ klang es wieder in winselnder Angst. „Du gütiger Himmelsherr, so schau’ doch nieder auf meine Reu’ und hab’ Erbarmen! Ihr guten Heiligen, nehmet alles, was ich hab’, den ganzen Gadem, mein Roß und meinen Weißfalk ... höret, Ihr Heiligen, ich gelob’s ... ich laß’ Euer Kloster bauen aus festem Stein ... nur helfet, helfet ...“ Der Jammernde stürzte, rollte vor des Richtmanns Füße und versuchte sich wieder aufzurichten; die Kotze des Bauern geriet ihm unter die tappenden Hände, er klammerte sich an, zerrte sich in die Höhe und kreischte: „Helfet ... helfet ... ich zahl’ mit Gold und Spangen ...“
„Ich thu’s umsonst!“ klang mit heiserem Gelächter die Antwort, und die Faust des Richtmanns mit der schweren Scholle fiel. Ein gurgelnder Laut, ein starrer Blick noch in das Gesicht des Bauern, und Herr Waze überschlug sich auf dem steilen Hang, das zerschmetterte Haupt von Blut überronnen ...
Mit Getöse stürzten die dichten Massen des niederfahrenden Gesteins über den Grat einher, und eine mächtige Staubwolke, dem Sturz der Felsen vorangleitend, verhüllte den Todeskampf der wenigen, die noch lebten. Schon sausten die ersten Blöcke gegen die Hütte im Thal und brachen die morschen Balken. Springende Steine fuhren über das Schneefeld hin und flogen vorüber an dem flüchtenden Paar, das mit letzter Kraft durch den angewehten Schnee sich weiterkämpfte. Von blindem Grauen befallen, hatte Ruedlieb die Geliebte mit sich fortgerissen, des Weges nicht achtend, den er nahm. Nun stand er zitternd und starrte über die steile Felswand, welche sich niedersenkte zum Windacher See; sein irrender Blick sah in der Tiefe das weite Wasser, am Ufer zwei rennende Menschen und Pferde in rasender Flucht. Vor ihm der Abgrund, hinter ihm der stürzende Tod, der ihm den Vater schon genommen – da gab es nimmer Weg noch Rettung! Wohl versuchte er noch die Flucht am Rande der Felsen hin, doch Rötlis Kräfte waren zu Ende, und lautlos sank sie an Ruedliebs Seite in den Schnee. Schluchzend griff er nach ihr, riß sie empor an seine Brust und hielt die Taumelnde umschlungen. „Jetzt holt der Bid, was ihm verfallen ist!“ Er drückte die Lippen auf Rötlis Haar und schloß die Augen, den Tod erwartend, der unter Donner und Tosen auf springenden Felsen geritten kam. Wie ein grauenvolles Ungetüm schoß die den Sturz verhüllende Wolke über den Hang hernieder; aus ihrem Dunkel wurden mächtige Blöcke hervorgewirbelt wie Asche aus einem Schlot und ihr voran, gleich dem Brausen eines gewaltigen Sturmes, jagte die vom Sturz der Felsen angestaute Luft. Der sausende Windstrom faßte das Dach der halb zertrümmerten Hütte und wehte die Balken davon wie leichte Schindeln, die im Schnee versunkenen Latschenbüsche blies er von der Erde weg, und als er die beiden Menschen erreichte, die sich zitternd umschlungen hielten, ergriff er sie und trug sie wie auf unsichtbaren Händen in weitem Fluge über den Abgrund hinaus, daß ihnen Atem und Bewußtsein schwand ...
Unter dem donnernden Widerhall, welcher rings im weiten Thal über alle Wände rollte, stürzten die Massen der gebrochenen und zu Geröll zerschmetterten Felsen in den Windacher See, dessen aufgewühlte Fluten haushoch über die Ufer schwankten. Mit dröhnendem Klang zerbarst die Felswand über den Schluchten der Windach, und der aus seiner tausendjährigen Haft befreite See ergoß sich mit tosendem Rauschen über das Thal.
Eberwein und Eigel, welche dem Ausfluß der Windach nahe waren, sahen die Felswand auseinanderfallen und das Wasser kommen. Mit bleichen Gesichtern standen sie und gedachten erst der eigenen Rettung, als die niederbrausenden Fluten schon die Schlucht der Windach in ihrer ganzen Breite füllten und brüllend näherschossen. „Wahr’ Dich, Herr!“ stammelte Eigel, faßte den Arm des Mönches und riß ihn gegen den Berghang. Keuchend klommen sie zwischen den Bäumen empor, um dem Weg der fallenden Gewässer zu entrinnen. Schon hatten sie gesicherten Grund erreicht – da wich unter einem Tritt des Kohlmanns die Moosdecke, er stürzte und kam auf dem vom Regen durchweichten Hang ins Gleiten.
„Barmherziger Gott!“ schrie Eberwein und sprang, der eigenen Gefahr nicht achtend, auf den Stürzenden zu. Doch es brausten schon die Fluten heran, und eine über den Hang emporspülende Welle erfaßte den Greis und schleuderte ihn an einen Baum. Lautlos kollerte Eigel über das Netz der Wurzeln, aber ehe das schießende Wasser ihn verschlingen konnte, hielt ihn Eberwein schon umkiammert mit beiden Armen, von einer springenden Welle übergossen, gewann er mit seiner Last den sicheren Grund und bettete das Haupt des Kohlmanns in seinem Schoß. Da sah er, daß von Eigels Schläfe das Blut in dicken Tropfen durch die grauen Haare sickerte ... es war ein Sterbender, den er gerettet.
Kaum eines Wortes mächtig, beugte sich Eberwein über den Kohlmann und nestelte am Hals aus seiner Kntte eine Schnur hervor, an welcher ein Kreuzlein hing. Er wollte das heilige Zeichen dem Sterbenden zum Kusse bieten. „Der Gott der Liebe wird Dir gnädig sein ... blick’ auf zu ihm!“ Da lief ein Zittern über die Glieder des Greises, seine Augen wurden starr, er kämpfte, als wollte er sich erheben, als möchte er sprechen, und faßte mit gierigem Griff – nicht das Kreuz – sondern die seltsame Reliquie, welche mit dem heiligen Zeichen an die gleiche Schnur gebunden war: die Hälfte eines entzweigesprungenen Beinreifs, braun vor Alter, mit halb verwischten Runenzeichen. „Salmued!“ Dieses eine Wort nur rang sich von den Lippen des Sterbenden, und das Brausen der thalwärts stürzenden Gewässer verschlang den zitternden Laut. Eigels knöcherne Finger, die den Reif umklammert hielten, zuckten wie im Krampf, und seine Glieder streckten sich. Ein umflorter Blick noch suchte die Augen des Mönches, und flüsternd hauchte der erbleichende Mund: „Die gute Zeit ...“
Eberwein verstand den letzten Seufzer dieses erlöschenden Lebens nicht. Er sah die Augen des Greises brechen, drückte mit zitternden Armen den Erlösten an sich und küßte die kalte Stirne. Er wollte beten, doch die Worte versagten ihm. Tosend rauschten zu seinen Füßen in endlos wachsendem Schwall die entfesselten Fluten vorüber, den Wald und die Felsen brechend, die Zerstörung niederwälzend auf bewohnte Stätten. Vor seinen irrenden Blicken erschien das weite Thal der Ramsau, er sah die einsame Kirche und das verödete Pfarrhaus, die stillen Hütten rings umher und ihre Menschen. Er sah im Geiste schon die Dächer stürzen und hörte das Angstgeschrei der bedrohten Geschöpfe. Zitterndes Grauen befiel ihn, und aus seinem gemarterten Herzen rang sich der bange Aufschrei. „Gott der Liebe! Wo bist Du?“
Nur der Donner über den Bergen, nur das Rauschen und Toben der stürzenden Fluten gab die Antwort ...
Wie von den bleichen Lippen des Mönches, so flog in dieser Stunde der Vernichtung auch aus der Seele eines anderen in Zweifel und Jammer ein Gebet zum Himmel auf. Hinter dem König Eismann, in der schwarzen Finsternis der verschütteten Höhle, taumelte Sigenot zwischen den erzitternden Felsen umher und schrie. „Du Starker, Du! Ich hab’ gehalten zu Dir! Jetzt halt’ zu mir! Jetzt thu’ mir den Weg auf! Laß mich zu ihr! [464] Zu ihr!“ Doch seine schreiende Stimme erstickte der dumpfe Donner, der ihn umrollte. In Qual und Verzweiflung riß er mit den Händen am Gestein und zerrte an dem wirren, von Schnee und Geröll durchsetzten Astwerk, welches den Ausgang der Höhle verschloß. Da begann der Steingrund unter seinen Füßen sich zu bewegen gleich einer Wiege, und aus der Tiefe des Berges kam ein Klang, der mit Messerschärfe in Sigenots Ohren fuhr. Jähe Helle fiel ihm in die Augen, und langsam wichen vor ihm die Felsen auseinander wie die Flügel eines Thores. Aufschreiend that er einen Sprung ins Freie, doch eh’ er noch wußte, wo er stand und wohin er sich wenden sollte, verging ihm Hören und Sehen. Eine Schneewelle hob ihn empor, spülte ihn aufwärts gegen die höhere Schlucht, und während er zwischen Gestein und Schnee bewußtlos lag, fuhr ein Riß, bei der die Schlucht durchquerenden Spalte beginnend, über die kahlen Felsen hinauf, und die vom Stock des Berges losgetrennte Steinwand neigte sich vornüber. Donnernd stürzten die gewaltigen Massen über den See. Ihr Fall zerteilte die Flut, zwei weiße Wassermauern hoben sich turmhoch auseinander, und während die eine zur Linken in den Kessel der Berge rollte, wälzte sich die andere zur Rechten gegen das Thal der Ache. Mit Schäumen und Brausen wuchs und stieg die laufende Mauer noch, je mehr das Seethal sich verengte, und auf ihrem Wege spülte die riesige Welle den Wald vom Berghang weg wie einen Haufen Späne ...
Im Fischerhause hatten sie den Donner des fallenden Gesteins vernommen. Sie sahen über dem Kessel des Weitsees eine Wolke dampfen und hörten das Sausen und Rauschen des kommenden Wassers. Die Magd stand vor der Hausthür und rang die Hände, bleich und zitternd kam Kaganhart, die Leiche seines Weibes verlassend, aus der Kammer des Knechtes gerannt, und Wicho stand auf dem Lugaus, mit verstörtem Gesicht, die Finger in das Haar geklammert. Immer näher kam das Toben und Brausen; ein sausender Wind, weißen Schaum in die Lüfte peitschend, flog über den See einher, und die turmhohe rollende Wassermauer tauchte um die Falkenwand, auf der einen Seite den steigenden Bergwald mit Fluten überschüttend, auf der anderen Seite ihre Springwellen emporschleudernd bis zu der um Wazemanns Haus gezogenen Ringmauer.
Das Geschrei der Mägde und die heulenden Stimmen der gefangenen Raubtiere tönten vom Falkenstein hernieder, während Heilwig und Kaganhart in rasender Hast über die Lände gegen den waidigen Berghang flüchteten. Wicho sprang vom Lugaus nieder und stürzte in das Haus. „Mutter Mahtilt! Mutter Mahtilt!“ Schrill klang seine Stimme; doch andere Worte brachte er nicht mehr über die Lippen, er lallte nur und deutete mit den Armen. Starr sah ihm das bleiche Gesicht der Greisin entgegen. Er wollte sie umschlingen, aber sie wehrte sich und lachte, mit beiden Händen sich anklammernd an die Lehnen ihres Sessels. Gewaltsam riß er sie empor und hob sie auf die Arme, und während er keuchend mit seiner Last die Thüre suchte, streckte Mutter Mahalt unter gellendem Gelächter noch die Hände nach dem Herd. Wohl erreichte Wicho das Freie. Doch über die Lände wälzte sich schon, doppelt so hoch als der Hügel mit dem Haus des Fischers, der bransende Wasserberg heran, mächtige Felsblöcke wie leichte Kiesel vor sich herschwemmend und einen Wust von gebrochenen Bäumen ausschleudernd nach allen Seiten.
Wichos Knie versagten, zitternd stand er und klammerte die Arme um die Mutter seines Herrn, während in das Brausen der stürzenden Flut das Gebrüll der Rinder sich machte, die zwischen den Wänden ihres Stalles die Nähe einer Gefahr erkannten. Kalkige Blässe deckte das Gesicht des Knechtes, doch über Mutter Mahtilts bleiche Züge ging es wie ein Leuchten. Sie hob die Arme, und mit heller Stimme klang es von ihren Lippen. „Gelfrat! Gelfrat!“ Die Nähe des Todes hatte ihre stumme Zunge gelöst. Noch einmal rief sie den Namen des geliebten Mannes, den ihr der See genommen, und streckte die Hände den anrauschenden Wellen entgegen. Brausend stürzte sich die Wassermauer über den Hügel hin – ein Krachen und Dröhnen von brechendem Gebälk – und die tobende Flut verschlang, was Sigenots Hag umschlossen hatte.
Immer weiter wälzte sich die zerstörende Riesenwelle, und ihr Rauschen quoll über das Thal hinaus und fand das Ohr der Menschen, welche in bleichem Schreck aus ihren Hütten rannten. Thal auf und nieder flog das Gespenst der Furcht und faßte alle Gemüter. Aus der stundenlangen Waldschlucht hervor, in welcher die Schmiede des Ilsankers lag, bis zu den Halden der Strub hin hörte man schon das ferne Brausen der Gewässer, welche die Ramsau überschwemmten. An den Wänden des Untersberges erwachte ein summendes Echo, während vom König Eismann über den Gadem einher ein leises Brummen, bald stockend, bald wieder anschwellend, bis zum Lokiwald durch die Lüfte quoll.
Bruder Wampo trat aus der Klause und blickte nach allen Seiten. Schweiker, das Beil in der Hand, kam zögernd vom Waldsaum herangeschritten.
„Was ist denn schon wieder?“ fragte Wampo. „Hörst denn nicht?“
„Wohl wohl!“ nickte Schweiker und blieb lauschend stehen. „Es kann doch kein Unwetter aufziehen! Ist ja der ganze Himmel blau!“ Bruder Wampo verstummte, denn er sah, daß Pater Waldram aus der Kirche trat, gegürtet und mit dem Stab in der Hand. Erst machte der Bruder erstaunte Augen, dann eilte er auf den Pater zu. „Herr?“ Waldram wandte das Gesicht; seine Züge waren bleich wie das Antlitz eines Toten, doch gleich zwei Flammen brannten seine Augen; was aus ihnen leuchtete, war wie das lodernde Feuer im Blick des Kriegers, der den Ruf zur Schlacht vernommen. Der Bruder fühlte die flammende Kraft dieses Blickes, und scheu vor dem Pater zurücktretend, fragte er: „Herr, wohin gehst Du?“
„Wohin die Stimme Gottes ruft! Leget Ihr anderen die Hände in den Schoß und sehet zu, wie des Herrn Zorn die Berge stürzt ... ich aber folge seinem Ruf, denn meine Stunde kam!“ Weit ausholend mit dem Stabe, schritt er dahin, vom Sonnenglanz des zur Neige sich wendenden Tages umwoben.
Die Brüder standen schweigend, und einer suchte den Blick des anderen. Als Waldram unter den Bäumen verschwunden war, atmeten sie auf, und Bruder Wampo schüttelte den Kopf. „Er könnt’ einem Angst machen!“ Ein Schauer rüttelte ihn, und hastig bekreuzte er Gesicht und Brust; dann wieder lauschte er dem fernen Murren und dem summenden Echo.
Schweiker hatte die Hand über die Augen gedeckt und spähte in die Weite. „Schaü’ doch einmal ... ich weiß nicht, was ich seh’ da draußen. Ueber den Schönsee ziehen Nebel her ... aber sie schauen sich braun und grauslich an.“
Kaum hatte Bruder Wampo in die Ferne geblickt, da schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. „O Gottes Wunder! Zu Wazemanns Bannberg schau’ hinauf ... der Heidenkönig Eismann ist christlich worden und schlägt ein Kreuz!“
Auf den silberweißen, in heller Sonne glänzenden Schneegehängen des steil in die blauen Lüfte ragenden Bergriesen erschienen zwei dunkle, schräg sich kreuzende Striche. Noch ein Augenblick der Ruhe – und vor den entsetzten Sinnen der beiden Brüder vollzog sich ein Zerstörungswerk, gewaltig und furchtbar. Immer dunkler, in die Breite wachsend, erschienen auf dem hochliegenden Schneegehäng des König Eismann die quer durcheinander laufenden Rinnen. Während über ihnen der Gipfel des Berges noch sein unverändertes Bild bewahrte, überwälzte sich unterhalb dieser gleitenden Risse der Schnee auf weite Flächen, und aus dem zerfetzten weißen Kleide tauchte die nackte graue Brust des steinernen Riesen hervor. Zugleich auf allen Seiten begann ein Spalten und Auseinanderklaffen, ein Brechen und Stürzen des gewaltigen Felsenhauptes. Es schien, als wären die finsteren Mächte, welche Jahrtausende lang in diesem Gestein geschlummert, jählings zum Leben erwacht, als hätten sie sich verbündet zu einer unerhörten That. Mit rasender Schnelle stürmten sie dem Thal entgegen; nur wenige Augenblicke, und auf dem weiten Unterstock des fallenden Berges waren lange Thäler zugeschüttet und über ihnen neue Felsenhügel aufgeworfen, über welche hinweg die stürmende Todesjagd der ungeheuren Massen thalwärts ging. Die ganze Höhe war verwandelt in ein wirbelndes Chaos, und immer trüber verhüllte sich der rasende Wechsel all der schaudervollen Bilder; denn wie auf einer Brandstätt der aus Thür und Fensterhöhlen strömende Rauch zu dicker Schwade über dem Dach sich sammelt, so flossen die von den auseinanderfahrenden Trümmerströmen aufdampfenden Staubwirbel zu einer ungeheuren Wolke ineinander, deren züngelnde Ränder im Schein der Sonne mit Flammenröte sich färbten, während den finsteren Kern des rollenden Ungetüms ein fahles Leuchten durchlief wie von zuckenden Blitzen.
Nun kam es über den weiten Gadem zum Lokiwald gezogen – erst wie ein dumpfes Tönen nur, darauf ein Aechzen und ohrzerreißendes Knirschen, ein Knattern und Gerassel, das zu Krachen und Sausen wuchs, zu dröhnendem Donner. Unter dem Sturmwind, welcher einherflog über den Gadem, beugten sich alle Wälder, [465] es brachen die Bäume, und der jagende Wind trug aus dem Thal das Angstgeschrei der Menschen bis zur Klause. Schweiker und Wampo, welche auf den Knien lagen, mit erhobenen Händen und in lautem Gebet, vernahmen aus dem Thal eine Männerstimme wie das Gebrüll eines Stieres: „Es kommt der Berg! Laufet! Laufet! Es kommt der Berg.“ Die Brüder sprangen auf, betäubt und wie von Sinnen.
„Das jüngste Gericht! Das End’ der Welt! O guter Herre, sei gnädig dem armen Sünder!“ lallte Bruder Wampo, ins schlammige Moos gedrückt.
Schweiker taumelte und seine verstörten Augen suchten die Gehänge des Göhl. Eine Staubwolke sah er niedergleiten über die Wände, und ihre Straße ging den Halden zu. „Hinzula!“ Und wie ein Hirsch, der schon den Pfeil des Jägers nach seinem Herzen fliegen sieht, sprang Schweiker über die Lichtung hin, dem gebrochenen Wald entgegen.
„Bruder, ach, Bruder, verlaß mich nicht! Wir wollen selbander zum Himmel fahren!“ kreischte Wampo; er raffte sich auf und begann, dem schon Verschwundenen folgend, mit schlotternden Knien die Flucht, Gebete lallend und strauchelnd bei jedem Sprung.
Durch das schöne Thal hin schritt der Tod, Hand in Hand mit seiner Schwester, der Zerstörung. Auf jeder Stelle weilten sie und waren allgegenwärtig an allen Ecken. Auf den Fluren der Ramsau schritten sie den brausenden Fluten voran, welche die Häuser brachen und die wehrlosen Menschen verschlangen … auf den Halden im Gadem folgte ihrem Fuß das stürzende Gestein und der alles erstickende Schutt des gebrochenen Berges. Hoch über dem Falkenstein, an einer scharfkantigen Bergrippe, teilte sich der sausende Wust der mit zahllosen zersplitterten Bäumen durchmischten Trümmer, und während der eine Strom zum Schönsee niederfuhr, jagte der andere gegen die Halden der Schönau. Wazemanns Haus blieb unversehrt; nur verirrte Steinschläge prasselten über Dach und Mauern, und die gleitende Staubwolke hüllte Haus und Hof in schwärzliches Dunkel. Der Hag des Grünsteiners, mit Menschen und Vieh, und das Gehöft der Hanetzer Buben fielen als die ersten Opfer; Hütte um Hütte verschwand in der rollenden Wolke, und ihrem Wege voran ging ein Gewirbel von Dachteilen, Balken, Heu, Getreidegarben, und wie fliegende Boten des Verderbens sausten ihr einzelne Felsen voraus, alles zermalmend, was sie trafen auf ihrem Pfad.
Auf freier Halde stand eine Schar betäubter Menschen, unter ihnen der Hanetzer, der Schmied von Ilsank und der Köppelecker. Der stürzende Berg hatte sie aufgehalten auf dem Wege zu Wazemanns Haus. Als sie nach lähmendem Schreck ihrer Sinne und Glieder wieder mächtig wurden, begannen sie zu fliehen wie ein Rudel verscheuchten Wildes; sie wandten sich bald zur Rechten und bald zur Linken, standen und starrten umher und flohen wieder. Von allen Hütten kamen die Flüchtenden, die einen mit armseliger Habe beladen, die anderen ihre Kinder schleifend. Die Ermatteten, denen die Glieder versagten, warfen sich mit dem Gesicht zu Boden, stumpf das Ende erwartend. Andere sanken auf die Knie und begannen mit erhobenen Armen zu beten – sie lallten und wußten nicht, was sie beteten, und wußten nicht, zu wem. Die Stunde der höchsten Not und der Hauch des Todes, den sie schon fühlten auf ihren bleichen Wangen, trieben mit Gewalt in ihre zitternden Herzen den Glauben: es müsse doch einer sein, welcher stark sei wider alle Not, auch stark noch wider stürzende Berge. Und während sie lallten in Todesangst und nicht wußten, wo sie diesen Einen suchen sollten, hörten sie durch den Hagel des Gesteins und durch die Schleier des dampfenden Staubes eine klingende Stimme: „Heran zu mir! Ihr alle, nach denen der Tod die Hände streckt! Heran zu mir! Bei mir ist Gott! Bei mir der Himmel und die Hilfe! Heran zu mir!“ Sie lauschten mit [466] Zittern, sie sprangen auf, sie streckten die Arme, und schluchzend rannten sie, um den Gott zu suchen, bei dem die Hilfe wäre.
Hinter Waldrams Schritten wuchs die Schar. Zitternd nach allen Seiten starrend, begannen sie die Worte nachzureden, die er mit hallender Stimme betete. Und je länger sie sahen, wie dieser Mönch, durch keine Gefahr beirrt, leuchtenden Auges jedem Unheil entgegenschritt, desto mehr befiel es die Herzen dieser Menschen wie ein Rausch der Hoffnung; immer lauter wurden ihre Stimmen, und die lallenden Gebete hoben sich zu trunkenem Geschrei. Häuser stürzten, und sie sahen es nicht – Menschen fielen, und über die zerschmetterten Körper schritten die Verzückten hinweg ...
Immer dünner wurde der Hagel des Gesteins, und schwächer rollte schon über den Bergen das donnernde Echo. Nur vereinzelte Blöcke kamen noch aus der Höhe und schwangen sich in weiten Sprüngen über den zermalmten Schutt. Ein Fels, wie ein Haus so groß, wälzte sich durch den Hag des Richtmanns und drückte die leeren Ställe nieder, schon hatte der Lauf des Blockes sich gemindert, doch auf geneigter Halde kam er wieder ins Rollen. Gegen die Trümmerstätte, die einst das Hans des alten Gobl getragen, nahm er seinen Weg.
Vor dem zerfallenen Dächlein saß der Alte; mit den dürren Armen hielt er auf seinem Schoß den zitternden Knaben umschlungen, der das Gesicht in Gobls zerlumpte Kotze vergrub. Als der Sturz begonnen, hatte der Greis den schlummernden Buben vom Heusack aufgerissen, um mit ihm zu flüchten; doch nach wenigen Schritten schon hatte die Last seine mürben Knie niedergedrückt. „Jetzt, Büebli, jetzt kommt er, auf den ich wart’!“ Doch er fand bei diesen Worten nicht mehr das alte Lachen. Seine Stimme schwankte, und mit Kopf und Armen deckte er das Haupt des Knaben, als der steinerne Hagel durch die Lüfte ging. Da löste sich der wirbelnde Staub und das Gedröhn der Berge begann zu verstummen. Gobl atmete auf und streichelte mit zitternder Hand das Haar des Knaben. „Schnauf’, Büebli, schnauf’ ... die Berg’ haben ausgerumpelt, und all’weil leben wir noch!“
Da tauchte über sinkenden Büschen jener Felsblock auf wie ein steinernes Ungetüm; doch die Kraft seines Laufes war schon gebrochen; kollernd wälzte er sich über die faulen Reste des Hags, zerquetschte den Apfelbaum und hob sich noch ein letztes Mal auf die Kante – fiel er, so lag die Trümmerstätte des Hauses mit den beiden Menschen unter ihm begraben. Schreiend hatte Gobl sich aufgerafft, und da er die Kraft nicht mehr besaß, den Knaben zu tragen, versetzte er ihm einen Stoß, daß Huze seitwärts niederrollte über die schiefen Balken und Moosfladen des zerfallenen Daches. Unter der Wucht des Stoßes kam der Alte selbst zu Fall und kollerte dem Vlock entgegen. Schon fiel der Block – da wich unter seiner Last die durchweichte Erde, im Fallen drehte sich der Fels und, halb in den Grund versinkend, legte er sich seitwärts nieder. Dicht neben Gobl drückte sich eine Kante des Blockes in den Boden und zog die Kotze des Greises mit sich hinunter. Der Alte riß und zerrte wie ein junger Hund, der zum erstenmal die Schlinge des Riemens an seinem Halse spürt, dabei keuchte er den regungslosen Felsblock an: „He, Du! Hast mich selber übrig gelassen, so laß auch meinen Kittel aus!“ Doch der Stein hielt fest. Gobl mußte aus den Aermeln schlüpfen und den Rock im Stiche lassen. Da hinkte und kroch ihm schon der Bub’ entgegen. „Gobl-Aehni! Gobl-Aehni!“
„Büebli! Mein gntes Büebli Du!“ Mit den Armen umschlang der Greis den Knaben und herzte ihn unter Lachen und Weinen.
„Gelt, Aehni, gelt, der gute Vater im Himmel hat geholfen?“ schluchzte der Bub’.
„Wohl wohl!“ Die nassen Augen des Greises suchten den hinter dampfendem Staub verdeckten Himmel. „Es muß doch ein Guter und Starker sein, der sell da droben!“ Er drückte den Knaben an sich, während ihm die Zähren in den Bart rollten ....
Auf den Bergen war es still geworden; nur in Zwischenräumen ließ sich von den Höhen hernieder noch dumpfes Gepolter vernehmen, welches das Rauschen der Gewässer übertönte. Ein unruhig wechselnder Wind trieb die Staubwolken und wo der braune Schleier auseinanderriß, enthüllte er Bild um Bild der grauenvollen Zerstörung. Doch was die Ueberlebenden auch immer an Unheil gewahren konnten – der wehende Staub und das sinkende Licht des Tages waren barmherzig und verhüllten den Blick ins Weite: es erwachte in den Menschen keine Ahnung der ganzen Vernichtung, welche über das Thal und seine Bewohner gefallen war. Allmählich nur erholten sich die Geretteten aus ihrer Betäubung und lähmenden Todesangst. Geschrei ertönte auf allen Seiten, herzzerreißendes Klagen, nur selten ein Ruf der Freude und ein Jauchzen des Wiedersehens. Auf freier halb von Geröll übergossener Halde lag Waldram auf den Knien, die Arme zum Himmel gestreckt, die Augen in Verzückung leuchtend, und betete mit hallender Stimme. Aber die Schar, die ihn umdrängte, wurde immer kleiner. Jeden trieb es, nach den Menschen zu suchen, die ihm teuer waren, jeden zog es zu seinem Haus und Herd. Ein wirres Laufen und Rennen begann, und einer schrie den anderen an: „Hast meinen Vater nicht gesehen, mein Weib, meine Kinder? Steht mein Haus noch oder liegt’s?“ Sie rannten und suchten, und mancher war, welcher suchte und nimmer finden konnte. Je näher sich die Schönau gegen den Stock des König Eismann hinzog, desto furchtbarer zeigte sich das Bild der Zerstörung, desto lauter schallten die Klagen der den Schutt Durchirrenden. Mit kalkweißem Gesicht kletterte der Hanetzer über die Felstrümmer, die Stätte suchend, auf welcher sein Haus gestanden. Er fand sie nicht; doch seine Brüder kamen, die sich durch Flucht gerettet. Er hatte keinen Blick für sie, kein Ohr für ihren Jammer. Mit verzerrtem Antlitz stand er und starrte durch den wehenden Staub empor zur Höhe der Falkenwand, von welcher Wazemanns Haus über gebrochene Wipfel niederblickte. „Das meinig’ liegt ... und das seinig’ steht noch all’weil!“ keuchte er, faßte die Brüder am Arm und schüttelte sie. „Mir nach! Nimmer leben will ich ... oder sein Haus muß fallen!“ Er riß einen zermalmten Holzstrunk aus dem Schutt und stürzte dem nächsten Gehöft entgegen, dessen Haus in Trümmern lag, mit rauchenden Balken; das Herdfeuer hatte das zerschmetterte Dach entzündet, und vor dem glostenden Haufen stand der junge Bauer mit seinem Weib in wortlosem Jammer. Der Hanetzer packte ihn an der Brust. „Liegt das Deinig’ auch? So schau’ hinauf: das seinig’ steht noch! Aber nimmer leben will ich, oder es muß sein Haus noch fallen vor der Nacht!“ Mit glasigen Augen stierte ihn der Bauer an; sein Weib aber riß aus dem Trümmerhaufen einen glühenden Storren hervor, schwang ihn durch die Luft, daß die Flamme erwachte, und kreischte: „Brauchst Feuer?“
Mit heiserem Gelächter faßte der Hanetzer den Brand und eilte den anderen voran. Von einer Trümmerstätte zur nächsten trug er die lodernde Flamme und den Schrei seiner Wut; es wuchs der Trupp, Männer und Weiber gesellten sich zu ihm, ünd über die Schutthügel stürmte der Haufe gegen Wazemanns Haus empor. Die heiße Lust, den alten Haß zu kühlen, überfiel sie wie ein Labsal in ihrem Jammer, wie eine Betäubung ihres Schmerzes ...
Die kreischenden Stimmen mischten sich mit dem dumpfen Rauschen, welches von der zur Ramsau führenden Waldschlucht ausging und mit wachsendem Hall über den weiten Gadem tönte.
Schon waren die Halden der Strub überschwemmt von dem brausend dahinschießenden Wasser; entwurzelte Bäume, Hausgerät und behauene Balken trieben auf den schlammigen Wellen. Tosend nahmen sie durch das Thal hin ihren Weg, und aus allem Rauschen tönte das hohle Gepolter der Felsblöcke, welche sie rollten auf ihrem Grund. Den weiten Lokiwald umkreiste die Flut und vereinigte sich mit den hochgestiegenen Wellen der aus dem Schönsee kommenden Ache. Schon war die Stätte überschwemmt, auf welcher die Brüder in jener ersten Nacht gelagert hatten, und mit Toben strömten die Gewässer in das enge Waldthal ein das hinausführte zur fernen Salzaburg ...
Weit draußen in der Waldschlucht tönte eine jammernde Stimme: „Bruder Schweiker! Bruder Schweiker!“ Erschöpft und atemlos, von Todesangst in allen Knochen geschüttelt, suchte Wampo zwischen Gestein und Büschen den Weg, auf welchem, wie er meinte, Bruder Schweiker geflohen wäre. „Bruder Schweiker! Bruder Schweiker!“ klang der schluchzende Ruf, den das näher und näher tönende Brausen schon halb übertäubte. „Schweiker, Schweiker! Ja hörst denn nicht? Bist Du denn auch noch ein Bruder nach Christi Wort? Schweiker! Schweiker!“
So bang der Rufende auch lauschen mochte, er hörte keine Antwort; stöhnend und unter Stoßgebeten kämpfte er sich weiter durch das wirre Gestrüpp, dann wieder stand er zitternd und starrte mit entsetzten Augen rückwärts über das Thal. Er hörte das dumpfe Rauschen und sah über das welke Laub der Büsche graue Buckel auf- und niedertauchen gleich springenden Mäusen. Und bevor in seinem wirren Kopf noch ein Gedanke erwachen konnte, waren die kleinen Mäuse schon gewachsen und schossen [467] durch das brechende Gebüsch einher mit klotzigen Rücken. Da kam dem Bruder in seiner blinden Betäubung und schlotternden Angst nichts anderes zu Sinn als jenes Abenteuer des ersten Tages. „Allmächtiger Gott! Hinter mir die wilden Säu’!“ So kreischte er und begann zu springen. Der neue Schreck verlieh ihm neue Kräfte, und mit schlagenden Armen warf er sich durch die Büsche, während hinter ihm ein Brechen und Rauschen sich näherte, als hätten in dem engen Waldthal sich die Wildschweinherden aller Welt gesammelt. Schon ging dem Bruder der Atem aus, als er nah’ vor sich einen die Büsche überragenden Felsblock gewahrte. Schreiend faßte er das niederhängende Gezweig, gab sich einen verzweifelten Schwung und erreichte glücklich eine Stufe des Blockes. Doch als er die Hände streckte, um die Höhe des Felsens zu erklettern, fuhr ihm etwas zwischen die Beine, naß und kalt – und das war kein wildes Ferkel. „Schweiker!“ keuchte der Bruder noch, dann flog er mit einem Purzelbaum über den Block hinweg. Doch er fiel nicht hart; schon hatten unter ihm die schießenden Fluten den Fels umrauscht, eine hohe Welle fing ihn auf, und von der gebauschten Kutte wie von einem Luftsack über Wasser gehalten, segelte Bruder Wampo mit jagender Eile durch das Waldthal hin. Hätte er auch den schnellsten Renner aus des Kaisers Stall zwischen den Knien gehabt, er hätte der „schiechen Gegend“ nicht flinker entrinnen können.
Wohl verging ihm Hören und Sehen vor Todesangst, aber dennoch behielt er so viel Bewußtsein, um zum erstenmal in seinem Leben dem Himmel aus ehrlichem Herzen für das wohlgemessene Bröcklein Fett zu danken, das ihm eine allgütige Vorsicht zwischen Haut und Knochen gelegt. Er konnte nicht sinken! Und als er trotz dieses beruhigenden Trostes in verzweifelter Angst zu zappeln und um sich zu schlagen begann, daß die Luftblasen aus der Kutte wichen und das Wasser ihn umgurgelte bis zum Hals, da fegte ihn eine aus der Flut einhergaukelnde Tanne mit ihrem dichten Gezweig aus den Wellen heraus, als wäre sein rundes Erdengewicht nur ein Flöcklein Wolle. Triefend und zitternd, mit unglaublicher Schnelligkeit klomm er über die schwimmenden Aeste empor, ünd als er sich in den Zweigen eingenistet hatte, erquickte ihn ein schüchterner Atemzug der Hoffnung. Er hielt sich an die Zweige festgeklammert und regte sich nicht; nur manchmal versuchte er mit bleichen Lippen einen Ruf. „Schweiker ... Schweiker ...“ Der Laut ging unter im Gebraus der Wellen. Aber hätte Bruder Wampo in seiner Kehle auch die Stimme eines Riesen getragen – es hätte der Ruf doch nimmer Schweikers Ohr erreicht.
Hoch über dem Thal, das die tobenden Fluten füllten, keuchte Schweiker im halb zerstörten Bergwald über den steilen Hang empor. Sein Atem war wie ein Röcheln, und in dicken Tropfen rann ihm der Schweiß über das Gesicht, auf dessen fahlen Wangen rote Flecken brannten. Taumelnden Schrittes, mit zitternden Händen jeden Halt erfassend, gewann er den Waldsaum. Auf der freien Halde, auf welcher sonst kein Stein gelegen, gewahrte er mächtige Felsblöcke, grauen Schnee und zerstreutes Geröll – und über der Halde sah er wohl des Greinwalders Hag, von Lücken klaffend, doch hinter dem Hag kein Haus und Dach. Mit dumpfem Schrei warf er die Arme in die Luft und begann von neuem zu rennen. Als er wankend das Thor erreichte, sah er den Balkenwust, zu welchem das Haus zerfallen war. Die Bäuerin lag auf den Knien, hielt das Gesicht mit den Händen bedeckt und schluchzte, während der Bauer einen Dachsparren vom Trümmerhaufen hinwegzuzerren versuchte und mit jammernder Stimme immer wieder den Namen seines Kindes schrie. Schweiker stand wie gelähmt; dann plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper, er spuckte in die Hände, stürzte auf die Trümmer des Hauses zu und faßte einen Balken. Mit schier übermenschlicher Kraft hob er das schwere Holz und warf es zur Seite – und so löste er Sparren um Sparren vom Haufen des Gebälks. Als der Bauer und sein Weib den Bruder solche Riesenarbeit leisten sahen, verstummte ihr Jammer, schweigend griffen sie zu, und jeden Balken, den Schweiker hinter sich warf, schleiften sie von der Stelle, um Raum zu schaffen für den nächsten. Schon zeigte sich im Wust der Trümmer eine dunkle Höhlung. Zitternd beugte sich Schweiker vor und keuchte: „Hinzula? Lebst noch?“
„Wohl wohl!“ klang aus dem Gebälk und Schutt hervor das matte Stimmlein der Hirtin.
Unter Schluchzen und Lachen griff Schweiker nach einem Balken und hob ihn achtsam, damit nur ja kein Splitter und kein Bröselein des Schuttes sich bewegen möchte. Dabei sprach er mit Worten rührender Zärtlichkeit in die dunkle Grube hinunter und mahnte die Verschüttete, tapfer auszuhalten und kein Fingerlein zu rühren. „Ich helf’ Dir schon, wohl wohl, thu’ Dich nur nimmer bangen!“
„Mir banget nimmer ... ich seh’ Dich ja schon!“ klang es matt unter den Balken hervor.
Schweiker schluckte, und die Zähren tropften ihm über den Bart. Er hob die Balken, daß ihm an Hals und Schläfen die Adern zu dicken Striemen schwollen, und grub mit den Händen im Schutt, daß ihm alle Nägel brachen. Schon konnte er das bleiche Gesichtchen der Hirtin erkennen, welche mit zuckendem Lächeln zu ihm aufblickte. Aufrecht stehend war sie bis an den Hals zwischen Schutt und Balken eingemauert. Je näher Schweiker der Verschütteten kam, desto emsiger flogen seine Hände ... und endlich hatte er sie herausgeschält, so daß er sie mit den Armen umschlingen konnte und emporheben aus dem zerfallenden Schutt. Er hielt sie an seine Brust gedrückt und taumelte über die Balken nieder auf ebenen Grund. Seine Knie trugen ihn nicht länger. Er sank zu Boden, und auf der Erde sitzend, umklammerte er auf seinem Schoß die Hirtin mit zitternden Armen und bedeckte unter zärtlichem Stammeln ihr Haar, ihre Augen und ihren Mund mit heißen Küssen. Hinzula regte sich kaum, erst nach einer Weile konnte sie die gequetschten Glieder rühren und bewegen ... und da schlug sie die Arme um Schweikers Hals, daß ihm die Stimme erlosch.
Die beiden hielten sich umschlungen, als wollten sie nimmer und nimmer voneinander lassen, als hätte die Erde und der Himmel keine Macht mehr, die mit dem Kitt der höchsten Todesangst und tiefsten Lebensfreude gebundenen Herzen wieder zu lösen. Doch als die wortlose Seligkeit der beiden gar kein Ende nehmen wollte, stieß die Bäuerin den Ellbogen an den Arm ihres Mannes und murrte: „Alles, was recht ist ... aber jetzt könnt’ er uns die Dirn’ doch auch ein lützel hergeben. Ich möcht’ ihr doch auch wieder in die Augen schauen. Geh’, red’ mit ihm!“
„Reden? So?“ Der Greinwalder kratzte sich hinter dem Ohr. „Wenn ich ein Wörtl sag’, das ihm nicht taugt ... der Kerl haut ja gleich zu! Red’ selber mit ihm! Ich kann’s schon noch erwarten, und merken thu’ ich auch, daß ihr nichts geschehen ist: sie busselt ja, als hätt’ sie aller Lebtag’ nichts anderes getrieben! Schau’ nur hin und lus’ ... es schmatzget nur so!“
Der Bauer wandte sich zu den Trümmern seines Hauses; die Augen wurden ihm naß, und er seufzte. Als könnte er den wüsten Anblick nicht länger ertragen, so kehrte er sich ab, und seine Blicke suchten das ferne Thal. „Weib! Sell schau’ hinunter!“ stammelte er entsetzt über die Verwüstung, die seinen Blicken sich bot. „Mir grauset völlig!“
„Und sell schau’ hin, zum Schönsee hinaus!“ stotterte das Weib und deutete in die Ferne. „Zu allem steinigen Elend auch noch Feuersnot!“
Ueber dem Falkenstein loderte eine hohe Feuergarbe. „Wazemanns Haus!“ schrie der Greinwalder, und in seinen Augen funkelte die Freude des Hasses. „Da trag’ ich auch noch ein Scheit zur Glut!“ Er zerrte einen zersplitterten Sparren aus dem Trümmerhaufen seines Hauses und eilte thalwärts, doch kreischend lief ihm die Bäuerin nach und hielt ihn an der Kotze zurück.
Schweiker erwachte aus seiner trunkenen Seligkeit. Wie ein Träumender blickte er rings umher, atmete tief und stammelte: „Wie ist mir denn? Ja sag’ nur, liebe Dirn’, wie ist mir denn?“
„Gut halt! Wie mir!“ lispelte Hinzula, ohne das Köpfchen von Schweikers Brust zu heben.
Er streichelte mit zitternden Händen ihr Haar. „Vor einem Stündl noch ist Todesangst und Not in mir gewesen. Und jetzt ist mir Leib und Seel’ so voller Süßigkeit und Freud’, als könnt’ über mich in aller Lebenszeit nimmer Sorg’ und Herzeleid kommen ... schau’, liebe Dirn’, mir ist ja völlig, als hätt’ ich Himmelsbrot gegessen ...“ Und wieder hing er an den Lippen der Hirtin.
Als der Bauer mit seinem Weib zurückkehrte und den Sparren, den er davongetragen, wieder zum Haufen warf, ließ Schweiker das Mädchen aus seinen Armen. Flink erhob er sich und reckte die Glieder. „Komm, Vater Greinwalder, jetzt müssen wir bauen! Die gute Dirn’ braucht eine Ruhstatt für die Nacht!“ Der Bauer nickte nur; und während die Bäuerin nun endlich ihr gerettetes Kind umhalsen und herzen konnte, begannen die beiden Männer schon die Arbeit.
Im Dämmerlicht des Abends irrte Eberwein am Ufer der die Ramsau überschwemmenden Seeflut auf und nieder. Mit gemartertem Herzen hatte er die Leiche des Kohlmanns verlassen. Durfte er thatlose Wache bei einem Entseelten halten, da er auf brechenden Bergen und im überfluteten Thal die Lebenden in Gefahr und Nöten wußte? Doch wohin sich wenden? Nach der Höhe? Der Schwester Sigenots, dem Richtmann und seinem Sohn zu Hilfe? Jetzt, da ihm der Führer genommen war? Wie sollte er die Wege finden, die er nie betreten! In brennender Qual erkannte er, daß jeder Schritt zur Höhe nutzlos wäre. Und so eilte er dem bedrohten Thal entgegen, der körperlichen Schmerzen nicht achtend, die der ungefüge Weg ihm bereitete. Als fern im Gadem der Sturz des König Eismann niederging, spürte Eberwein das Zittern und Wanken des Grundes; doch das ohrbetäubende Brausen der Gewässer, welche ihm zur Linken gegen die Thäler stürzten, übertönte das dumpfe Gedröhn und seinen Wiederhall. Eberwein konnte nicht wissen, nicht ahnen, was in der Ferne geschah – und dennoch umklammerte ihm ein dunkles Grauen die Seele und machte seinen Herzschlag stocken. Quälende Angst beflügelte seine Schritte, und als er dem Thal sich näherte, sah er schon die gestürzten Bäume und zwischen allen Gehängen die breit ergossene Flut, die ihm jeden Weg zu den bewohnten Stätten versperrte. Ein heißer Aufschrei löste sich von seinen Lippen. Seine Herde fiel, und er, der Hirte, mußte thatlos stehen, und seiner Ohnmacht Teil war nur ein schreiendes Gebet, das keinen Gott und keinen Himmel fand, der es erhören wollte. Zitternd bedeckte er das Gesicht mit den Händen. Dann wieder irrte er am Rand der strömenden Fluten entlang, getrieben von der Hoffnung, daß ein Hügel sich finden ließe, ein über den Weg der Wellen hinausgebauter Fels, von welchem er das andere Ufer springend erreichen könnte. Doch je weiter er thalwärts kam, desto breiter dehnte sich das Wasser, und seine suchenden Blicke fanden nicht Fels noch Steg, nur treibenden Wust von Trümmern und gaukelndes Hansgerät, das die schlammigen Wellen entführten.
Erschöpft ließ er sich auf einen Felsblock nieder, und seine verstörten Augen suchten in der Ferne den von braunem Rauch umschleierten Lokiwald. „Waldram! Ich schaue Deinen Gott!“ Schwer seufzend erhob er sich und taumelte am Rand der Fluten entlang. Er sah nicht, wohin er ging, und hörte das Gebraus der Wellen nicht mehr. Einmal hielt er inne, zitternd an allen Gliedern, und schlug die Hände vor das Gesicht. „Hiltischalk! Hiltischalk! Steig’ auf aus Deiner Tiefe, Du Christ der Christen ... reiche mir den Himmel, der in Deinem Herzen wohnte, zeige mir den Gott, an den Du glaubtest!“ Und wieder schwankte er weiter. Er merkte nicht, daß ein Mensch am Rande des Wassers ihm entgegenirrte. Es war der Schmied von Ilsank. Als er den Mönch gewahrte, befiel ihn jäher Schreck, und mit zuckenden Händen griff er nach dem Hals. Es schien, als wollte er fliehen und brächte den Fuß nicht von der Stelle. Zögernd breitete er die Arme aus, stürzte auf Eberwein zu, fiel vor ihm auf die Knie und umklammerte die Füße des Mönches. „Verzeih’! Verzeih’! Ich hab’ geschworen wider Euch auf dem Totenmann! Ich hab’ meinen Hag verschlossen vor Dir! Mein Haus ist hin, mein Weib und Kind! Sieh meine Reu’ und laß mich leben!“
Mit verlorenen Blicken starrte Eberwein auf den zitternden Mann. Er hörte die Worte und verstand sie nicht – er sah nur den Zug des Leidens in dem bleichen Gesicht und streifte mit der Hand über das Haupt des Knienden. „Harte Straf’ ist über uns gekommen!“ stammelte der Mann, dem noch die Todesangst der vergangenen Stunde in allen Gliedern bebte. „Der ganze Gadem liegt verschüttet unter dem Eismann den Dein starker Himmelsherr im Zorn auf uns geworfen hat!“
Eberwein erschrak nicht mehr. Nur ein dumpfes Stöhnen quoll aus seiner Brust. Er löste die Arme des Mannes von seinem Leib und wollte an ihm vorüberschreiten. Da sah er in der trüben Helle des Abends ein kleines Fahrzeug auf den grünen Wellen gleiten – gleich einem winzigen Einbaum war es anzusehen. „Eine Wieg’, Herr,“ stammelte der Schmied, „und in der Wieg’ ein lebiges Kind!“
[478] „Es soll nicht sterben!“ klang es mit gellender Stimme von Eberweins Lippen.
Erschrocken streckte der Schmied die Arme, doch er konnte die verzweifelte That des Mönches nicht mehr hindern. Mit mächtigem Sprung hatte sich Eberwein auf ein im Wasser treibendes Dach geschwungen, mit dem zweiten Sprung gewann er eine schwimmende Tanne, lief auf ihrem Stamm entlang und stürzte sich in die Wellen. All seine letzte Kraft erschöpfend, erreichte er die Wiege und hörte das weinende Stimmlein des Kindes. Von den reißenden Wellen fortgetrieben und wider sie ankämpfend mit erlöschender Kraft, stieß er die Wiege vor sich her und dem anderen Ufer zu. Je weiter ihn die Fluteu thalwärts trugen, desto mehr erlosch die dämmerige Helle vor seinen Augen, denn ein trüber Rauch begann sich über das Wasser und seine Ufer zu legen. Während er mit der einen Hand die Wellen zu teilen suchte, hielt er mit der anderen die Wiege fest – und plötzlich fühlte er Grund unter seinen Füßen. Keuchend richtete er sich auf, riß das schreiende Kind an sich, das mit nackten Aermlein seinen Hals umklammerte, und von den schäumenden Wellen bis an die Brust umspült, gewann er das Ufer. Schwankend stieg er noch eine Strecke über den waldigen Hang empor, dann sank er entkräftet zu Boden, und es schwand ihm das Bewußtsein.
Finster senkte sich die Nacht über den Besinnungslosen und über die weiten Stätten der Verheerung. Nirgends leuchtete die Flamme eines Herdes, und rings um alle Hütten, welche der Zerstörung entgangen waren, lag dumpfes Schweigen gebreitet. Nur die flutenden Gewässer rauschten, und in Zwischenräumen tönte von den Bergen ein kurzes dumpfes Gepolter nieder.
Auf einer einzigen Stätte nur war es laut und lebendig in der Nacht, und rings um sie her verscheuchte eine lodernde Flammensäule das Dunkel. Der rote Schein, welcher ausging von Wazemanns brennendem Haus, leuchtete weit empor über den verschütteten Bergwald und nieder auf den rauschenden See und die verödete Lände. Zuckende Lichter fielen durch das offene Thor hinaus auf den von Geröll und zersplitterten Bäumen übersäten Weg, auf dem die Leiche eines erschlagenen Menschen lag, das gelbe Wams von Blut überronnen – es war einer der Wazemannsknechte, der sich am Windacher See auf ein lediges Roß geschwungen hatte und dem stürzenden Felsen entronnen war. Von Grausen gejagt und beim Anblick der Verwüstung im Gadem von neuem Schreck befallen, hatte er den Weg nach seines Herrn Haus gesucht. Das lahm gewordene Roß am Zügel führend, war er bei sinkendem Dunkel über die Trümmerfelder emporgeklettert, während aus Wazemanns Haus schon die Flammen schlugen. Als er dem offenen Thor sich näherte, kam ein kreischender Haufe ihm entgegen, Männer und Weiber – der Hanetzer mit seiner Schar. Sie hatten das Haus verödet gefunden, verlassen von den Knechten und Mägden, welche bei Beginn des Bergsturzes geflohen waren. Beim Anblick der Pechkränze und Reisigbündel, welche im Burghof umherlagen, hatte der Hanetzer geschrien. „Schauet, Ihr Leut’, Herr Waze selber hat uns Zeug geliefert zu flinkem Feuer!“ Auf alle Dächer, in alle Thüren und Fenster waren die brennenden Kränze geflogen, und mit johlendem Geschrei begrüßte der Haufe die erwachenden Flammen. Aber bei aller Wut, die sie erfüllte, bei allem Haß, der in ihnen gährte, fürchteten sie doch die Heimkehr des Spisars und seiner Söhne. Zuerst begannen die Weiber zu laufen, und die Männer folgten ihnen. Als der Trupp sich durch das Thor hinausdrängte, kam jener Knecht mit seinem Roß.
Im sinkenden Dunkel, das die Flammen erst halb zerstreuten, hielt der Knecht den fliehenden Haufen für das Gesinde des Hauses, und keuchend schrie er ihnen die Botschaft zu: „Not über uns! Der Herr liegt unter seinem Berg, all’ seine Buben sind erschlagen!“ Ein kurzes Schweigen – als konnte solche Botschaft von diesen Menschen nicht begriffen werden im ersten Atemzug und Hören – dann jählings ein Geschrei, nicht wie von menschlichen Stimmen, sondern wie aus den Kehlen gequälter Tiere, deren Käfig, darin sie durch Jahr und Tag alle Marter gelitten, mit einem Schlag zerbrochen wird. „Such’ Deinen Herrn wieder,“ brüllte der Hanetzer und raffte einen Buchenast von der Erde, „wir lassen ihn grüßen!“ Krachend fiel das schwere Holz auf die Stirne des von Entsetzen gelähmten Knechtes, und lautlos brach der Mann zusammen, während das scheue Roß über den Weg hinaus in die Tiefe sprang.
Wie vom Wahnsinn der Freude befallen, unter jauchzendem Geschrei, wandten sich die Männer und Weiber in den schon taghell erleuchteten Burghof zurück, und ihr furchtlos gewordener Haß berauschte sich in einer Orgie der Zerstörung. Sie rissen den Stangenkäfig nieder und erschlugen die Raubtiere, welche dem Spisar zu Spiel und Kurzweil gedient. In der Vorhalle fanden sie die Saufänger und Jagdspeere und erstachen im Zwinger die Hunde, welche die letzte Bergfahrt ihres Herrn nicht geteilt. An den brennenden Ställen erbrachen sie die Thüren und metzelten die gemästeten Rinder nieder, köpften die Ziegen und Schafe und erwürgten das Geflügel. In den Kellerhöhlen zerschlugen sie die Metfässer und vernichteten, was sie an Vorrat aufgespeichert fanden. Mit keinem Gedanken dachten sie, daß sie Gut zerstörten, das sie selbst von ihrem Schweiß gesteuert und gezinst ... im Rausch der Wut und des Hasses erschien ihnen alles und jedes zwischen diesen Mauern wie ein Teil des Mannes, der das Mark aus ihren Knochen gezogen und das Blut aus ihren Adern gepreßt. Die wachsenden Flammen nicht scheuend, drangen sie in alle Kammern des Hauses, zerschlugen die Sessel und Tische, brachen die Waffen entzwei, zerschmetterten alles Gerät und rissen in Fetzen, was an Gewand in ihre wühlenden Hände fiel. Die Trümmer und Scherben und was der Vernichtung widerstand, warfen sie durch die Fenster in den Burghof und hielten in solcher Zerstörung nicht eher inne, als bis die fallende Glut des Gebälks sie aus dem brennenden Hause trieb.
Nur einer zögerte noch. In Reckas Kammer hatte der Hanetzer das über die Dielen zerstreute Geschmeid gefunden, und die Habsucht war in ihm erwacht. Im Burghof schrieen seine Brüder. „Heraus, heraus oder das Dach geht nieder über Dich!“ Doch er hörte die warnenden Stimmen nicht. Halb erstickt vom wallenden Rauch und fast versengt von der schwelenden Hitze, kroch er auf den Bohlen umher, tastete nach den Spangen, Ketten und Ringen und raffte in seine Kotze, was er fand. Jetzt griff er nur die leeren Dielen noch und wollte sich schon erheben, da fühlte er ein letztes Stücklein – es wog nicht schwer wie Gold und Silber, doch war es anzufühlen wie die Hälfte einer Spange. Er warf sie in die geschürzte Kotze und aus der Kammer flüchtend, faßte er nach einem Jagdspeer – denn was er gewonnen, wollte er auch bewahren. Während er sich durch die von Rauch und Flammen erfüllte Herrenstube kämpfte, verstummte jählings im Burghof das wirre Geschrei, und eine Stimme tönte in bebendem Zorn: „Die Berge erschütterte mein Gott und Herr, um seine Stärke zu weisen vor Euerem bangenden Blick! Die Geschosse seiner Felsen warf er auf die Brust der Sünder und Verstockten! Unter ewigen Hügeln begrub er seine Feinde und löschte ihr flackerndes Leben wie der Sturm das Licht! Eure Hütten brach er und deckte mit Gestein die Halden und Euren Schweiß! Und Ihr erkennt seine Größe nicht? Ihr lieget nicht auf den Knien in Zerknirschung und Gebet? Ihr schlaget nicht an die Brust und schreiet: Du Starker, sei uns gnädig!“ Zur Buße ruft Euch der zürnende Himmel – was aber sind Eure Werke? Mord, Raub und Brand!“
Taumelnd hatte der Hanetzer die Vorhalle erreicht, schüttelte die Funken von seinem Leib und rang nach Atem. Als er schwankend die Stufen betrat, tönte ihm mit schneidendem Klang jene Stimme entgegen: „Nieder den Raub aus Deinen verfluchten Händen!“ Vom zuckenden Schein der Flamme erleuchtet, stand vor ihm die hagere Gestalt eines Mönches, mit bleichem Antlitz und brennenden Augen, in erhobener Faust den Stab. „Nieder den Raub!“
„Was mein ist, wahr’ ich!“ murrte der Bauer mit noch halb erstickter Stimme.
„Gott befiehlt es!“ Der fallende Stab des Mönches traf den Arm des Bauern, daß die geschürzte Kotze sich öffnete und das blinkende Geschmeid über die Stufen rollte.
Von den Lippen des Hanetzer zischte ein Fluch, es zuckte der Speer in seiner Faust – und Waldram taumelte mit durchbohrter Brust. Die Männer erblaßten, die Weiber schrieen und erschrocken streckten sich zwanzig Hände, um den Sinkenden aufzufangen; doch Waldram bedurfte keiner Stütze. Hoch aufgerichtet stand er, nur der Stab war ihm entfallen. Mit der einen Hand die quellende Wunde deckend, mit der anderen zum Himmel weisend, hob er die Augen mit einem Blick, vor welchem der Mörder scheu zurückwich in die brennende Halle. Und ohne Zorn, in feierlichem Ernste, klangen die Worte des Mönches: „Du sendest mich zu meinem Gott und ich möchte Dir danken! Doch meine Wunde muß reden wider Dich vor des Richters Thron, denn geweihtes Blut hast Du vergossen! Bete, Sünder! Bereue!“
[479] Ein dumpfes Krachen, ein Aufschrei aus allen Kehlen, ein stürzendes Gewirbel von Flammen, Rauch und Funken – und über der Stelle, die vor einem Atemzug den Mörder noch getragen, lag der glühende Trümmerhaufen, zu welchem Wazemanns Haus zerfallen war.
„Zu spät Deine Reue!“ stammelte der Mönch wie in heißem Erbarmen und sank zurück.
Sie fingen ihn auf, sie trugen ihn aus der Nähe der Glut und schleppten Kotzen und Felle herbei, um den Sterbenden weich zu betten. Doch Waldram wälzte sich auf die kahle Erde. „Mein Erlöser ist nicht auf weichen Fellen gestorben, auf hartem Holz! Leget ein Scheit unter meinen Rücken!“ Sie thaten ihm den Willen – und er lächelte wie ein Müder auf weichem Pfühl. Seine Hände suchten das Kreuz am Gürtel und das heilige Zeichen an die Wange schmiegend, lag er ausgestreckt und sang mit erlöschender Stimme den Ambrosianischen Lobgesang. Lautlose Stille war um ihn her, die bangen Blicke der Männer und Weiber hingen an seinen Augen, die in Verklärung leuchteten. Mit mattem Stammeln endete er das Lied, und als könnte er den seligen Augenblick des Todes nicht erwarten, so hob er sich mit zitternden Kräften auf die Knie, entblößte seine Wunde und hauchte lächelnd: „Was zauderst Du, meine Seele . . . fürchte Dich nicht, der Weg zu Deinem Heil steht offen!“ Reichlicher strömte sein Blut, die brechenden Augen noch emporgerichtet zu den verschleierten Sternen, fiel er zurück und seufzte.
Rings um den Toten lagen sie alle auf den Knien, und in das Rauschen der versinkenden Flammen mischte sich das Schluchzen der Frauen; die Männer knieten bleich und wortlos. Die wilden Herzen, welche der Lebende wohl nie gewonnen hätte, erschütterte dieser gottesfreudige Tod bis tief ins Innerste. Eines der Weiber küßte die Sohlen des Toten und schluchzte: „Hebet ihn auf, Ihr Mannerleut’, traget ihn zu seinem heiligen Haus!“ Die Männer folgten dem Wort, und während im Ring der verödeten Mauern die letzten Flammen in Glut und Asche sanken, stieg durch die Nacht ein stiller Zug über die Trümmerfelder nieder ins Thal, umgaukelt vom Lichtschein zweier Fackeln.
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In der gleichen Stunde, in welcher Waldram den letzten Seufzer that, war Eherwein das Bewußtsein zurückgekehrt. Das Weinen des Kindes war der erste Laut, den er vernahm – und da füllte kein anderer Gedanke sein erwachendes Leben, kein anderes Bangen mehr seine Seele als nur noch die Sorge für dieses zitternde Geschöpfchen, das an seinen Hals geklammert hing und andere Sprache noch nicht hatte als Lallen und Thränen. Mit beiden Armen hielt er an seiner Brust das Kind umfangen – und ihm war, als hätte er das ganze Leben seiner Thäler dem Verderben abgerungen, als trüge er mit diesem Kind die neu ersprossende Zukunft seines zerstörten Landes auf den Armen und am Herzen. Mühsam mußte er in der dunklen Nacht zwischen einem Wirrsal gestürzter Bäume jeden Schritt seines Weges erkämpfen. Er wußte nicht, wo er sich befand; rings um ihn her zerstörter Wald, nirgends ein Lichtschein, kein Zeichen des Lebens. Er schrie mit allem Aufgebot der Stimme, doch alles blieb still in der Nacht. Endlich erreichte er eine freie Stätte und erkannte mit Freude und zugleich mit Schreck die Rodung, auf welcher die Klause stand. Vor seinen spähenden Blicken tauchte ein schwarzer Klumpen aus der Nacht: die ihres Daches beraubte Klause. Wankend erreichte er die Herdstube, in welcher die Kohlen noch unter der Asche glommen. Er schrie die Namen der Brüder, doch keine Antwort ertönte; er eilte von Zelle zu Zelle und fürchtete bei jedem Schritt, auf eine Leiche zu stoßen. Er fand kein Leben zwischen den öden Balken, doch auch kein Zeichen des Todes, und wie tröstende Hoffnung erwachte in ihm der Gedanke, daß die Brüder dem Verderben entgangen und ausgezogen wären, um Hilfe zu bringen, wo Hilfe noch möglich war. Zitternd trat er in seine Zelle zurück, streifte dem Kinde das nasse Kittelein ab und hüllte das schauernde Körperchen in die Decken seines Lagers. Dann saß er im Dunkel neben dem Kinde, dessen winzige Händlein einen seiner Finger umklammert hielten. Er konnte seinen Pflegling nicht sehen, so finster war es um ihn her; nur den leisen Druck der unruhigen Fingerchen spürte er und hörte von Zeit zu Zeit jenes stockende halbe Schluchzen, wie es nach überstandenem Schreck und Schmerz noch aus einer Kindesbrust sich ringt, wenn die Zähren schon gestillt sind. Die Händchen des Kindes begannen sich zu wärmen, immer ruhiger wurde sein Atem, und nach einer Weile entschlief es.
Eberwein saß in sich versunken, regungslos, erfüllt von wirrer Qual und kreisenden Gedanken, bis die kleinere Not des Lebens die größere seines Herzens übertäubte. Es fror ihn in der triefenden Kutte, all seine Glieder waren wie zerschlagen, und der Hunger mahnte. Seufzend erhob er sich, entzündete eine Fackel, tauschte das Gewand und suchte nach Speise. Nur ein Häuflein roher Bohnen fand er, trug eine Hand voll zum Lager des Kindes und zernagte die trockenen Kerne. Alles that er wie im Schlaf.
Der Schein der Fackel fiel über den Schemel, auf welchem das Heilige Buch lag. Eberweins Augen hingen an ihm mit verlorenem Blick. Dann plötzlich ergriff er das Buch, schlug es auf und begann mit murmelnder Stimme zu lesen, wie Hiob in Vorwurf rechtete mit seinem Gott. Doch bald erlosch ihm die Stimme wieder. Das Buch auf dem Schoße, saß er regungslos, mit schlaff hängenden Armen, und starrte ins Leere. Mit leisem Hauche strich der Nachtwind in die Zelle und legte die Blätter des Buches um. Als Eberwein die Augen senkte, lag ein Lied des Jesaia vor ihm aufgeschlagen, und sein Blick fiel auf die Worte: „Es mögen die Berge weichen und die Felsen stürzen, doch meine Gnade soll nimmer weichen von Dir und der Bund meiner Liebe nicht zerbrechen, spricht der Herr, Dein Erbarmer.“ Ein heißer Schauer rann ihm durch Leib und Seele. „Der Herr, Dein Erbarmer?“ Als möchte er sich gewaltsam aus dem Streit der Seele reißen, so sprang er auf, drückte die Fäuste an seine Stirn und stammelte: „Denke nicht über Gott, denn Dein Hirn ist Staub . . . fühl’ ihn, wenn es Dein Herz vermag, und hoffe!“
Der Hall seiner Stimme hatte den Schlaf des Kindes gestört. Durch das zarte Körperchen fuhr es wie jäher Schreck. Es zappelte mit Händen und Füßen und schlug die Augen auf – sie waren blau und glänzten. Das Mäulchen verzog sich, als wollt’ es weinen. In Sorge beugte sich Eberwein über das Lager, und da richteten sich die Augen des Kindes auf sein Antlitz, groß und scheu. Dann glitt wie traulicher Sonnenschein ein Lächeln über das runde Gesichtlein, und lallend griff das Kind – es hatte wohl einen flachsbärtigen Vater – mit beiden Händen in den Bart des Mönches. Diese süße Zärtlichkeit und der reine Glanz dieser unschuldsvollen Kinderaugen erweckte in Eberweins Seele ein Gefühl, so heiß und überwältigend, wie es der Sinkende wohl empfinden mag, den im Gebraus der Wellen die starken Arme des Retters umschlingen. „Herr! Herr! Nicht dem Greuel dieses Tages . . . ich glaube dem Wunder dieser Augen! Deine Liebe redet zu mir – ich fühle sie!“ Vor Freude weinend schloß er das kleine zappelnde Stücklein Leben an seine Brust und küßte in heißer Inbrunst die warmen Lippen des Kindes.
Der Morgen graute. Hoch über den starrenden Ruinen des König Eismann stand am erbleichenden Himmel noch der zur Sichel schrumpfende Mond. Sein Schimmer, halb gebrochen durch das fahle Grau des erwachenden Tages, umwebte die neu entstandenen Zinnen und überspann die mit Eisblöcken und Felsenklötzen wirr besäten Trümmerstätten. Lautlose Stille lag über dem steinernen Leichenfeld. Nur zuweilen, auf den tieferen Schuttgehängen, klang das leise Kollern kleiner Steine – das vor dem Sturz entflohene Fahlwild und die verscheuchten Gemsen stiegen schon wieder zu Berg, und ruhelos klommen die Tiere im zertrümmerten Gestein nmher, ihre Heimstände und die gewohnten Aesungsplätze suchend. So fest wie in den Menschen des Hochlands wohnt auch in den Tieren der Berge das treue Hängen an der rauhen Scholle, auf der sie geboren wurden. Die höchste Gefahr nur macht sie fliehen – Felsen stürzen und begraben die liebe Stätte – kaum hat sich der Staub verzogen, so kehren die Entflohenen schon wieder zurück, um das neue Lager über den Trümmern zu wählen, die das alte bedecken. Und wie an der alten, so hangen sie wieder an der neuen Wohnstatt mit treuem ungebrochenem Vertrauen.
Neben dem sachten Geriesel des Schuttes, der sich unter den Tritten des ziehenden Wildes löste, neben diesem schüchternen Zeichen des wiederkehrenden Lebens unterbrach die Stille noch ein anderer Laut: ein Klirren wie vom Schritt eines eisenbeschlagenen Schuhes. Im Gewirr der Felsblöcke irrte ein Mensch umher, bald [480] verschwindend in schwarzem Schatten, bald wieder auftauchend im grauen Zwielicht. Mühselig, schwer und langsam war sein Gang. Als er die Kuppe eines Trümmerhügels erreichte, stand er bewegungslos und starrte im Dämmerschein über das weite Schuttfeld, unter welchem die Oedhütte mit dem ganzen Albenthal begraben lag. Von seinen Lippen rang sich ein Schrei, der Laut eines Namens, heiser und keuchend klang der Ruf und verhallte in der Satile. „Rötli! Rötli!“ Keine Antwort kam, nichts regte sich zwischen den Trümmern. Lange stand der Einsame, an einen Felsblock gelehnt, als vermöchte er sich ohne Stütze nicht aufrecht zu erhalten. Immer wieder schrie er den Namen, immer wieder strich er mit den Händen über die Augen, als möchte er gewaltsam seine Blicke sehend machen für das Leben, das er suchte und nimmer fand. Schwer atmend wandte er sich endlich ab und stieg der Tiefe zu, aus welcher er gekommen. Dann wieder kehrte er zurück, stand und wandte sich von neuem – als wären zwei Gewalten in ihm, von denen die eine ihn festhielt an der Stätte, während die andere ihn niederzog in die Tiefe der verschütteten Schlucht.
Schon begann das fahle Grau über den Felsen sich zu lichten, und immer tiefer stieg der Einsame zwischen den Wänden. Lange stand er vor einer Fläche grau bestäubten Schnees, in welchem sich eine weiße Mulde zeigte, als hatte hier, während der Staub gefallen, durch lange Stunden ein Mensch gelegen. Einen Steinwurf tiefer zog sich eine Felsspalte quer durch die Schlucht, halb verschüttet, und aus Geröll und Schnee ragte der Wipfel einer Zirbe hervor. Langsam glitten die Augen des Mannes über das grüne Gezweig, über eine weit geöffnete Höhle, über die kahle Bruchfläche des Berges und über die wirrem Massen der zerschlagenen Felsen, welche die tiefer ziehende Schlucht erfüllten. Ein dumpfes Stöhnen erschütterte seine Brust, und schwankend betrat er das Gewirr der Trümmer. Während er tiefer und tiefer stieg, haftete sein brennender Blick an jeder Scholle des Gesteins, an jeden Felsblock rührten seine zitternden Hände, als möchte er ihn heben und von der Stelle rücken, scheu und zögernd setzte er den Fuß, als fürchtete er die Erde zu drücken, als ware ihm jeder Schritt eine Qual und namenlose Marter. Ein steiler Abbruch sperrte ihm den Weg, in der Tiefe gewahrte er den See, mit regungslosem Wasser, doch von Schaum bedeckt, so weiß wie Milch; der erstarrte Schuttstrom lag vom Fuß der Felsen hinweg wie ein graues Eiland weit in die Flut hinausgebaut – als hätten die Dämonen des Gesteins dem stolzen Mädchenherzen, das sie zerdrückt im ersten Jauchzen seines Glückes, einen ewig dauernden Leichenhügel errichten wollen, gewaltiger, als noch je ein Hügel über dem Grab eines gefallenen Helden sich erhob.
Zitternd, mit vorgebeugtem Antlitz, stand der Einsame am Rand der Felsen und starrte in die Tiefe. Röchelnd ging sein Atem, in seinen Zügen wühlte der Schmerz, doch seine rotgeränderten, vom Staub entzündeten Augen hatten keine Thränen. „Ich hab’s berufen . . . jetzt liegen zwischen ihr und mir die Berg’!“ Er streckte die Arme ins Leere, und des Todes nicht achtend, der ihm drohte, begann er den Niederstieg. Wohin er trat, löste sich das Geröll und der graue Schnee. Immer tiefer stieg er und hatte fast den Grund erreicht, als eine Platte mit ihm ins Gleiten kam. Rasselnd trug ihn das steinerne Fahrzeug und landete ihn auf der Böschung des Schuttes. Mit heiserem Lachen richtete er sich auf, klomm über das Geröll empor und faßte das harte Gestein des Berges wie die Brust eines Feindes. „Mein alles hast Du genommen! Nur mich nicht! Warum denn? Oder wär’ ich für den Tod zu schlecht?“ Er wankte, und das Gesicht mit den blutig zerschundenen Händen bedeckend, sank er zu Boden.
Schon fiel das Frühlicht mit rosigem Schein über alle Höhen, als er mühsam sich erhob und hinausblickte über den weißen See. „Mutter! Mutter! Wie kehr’ ich Dir wieder heim! Was sag’ ich, wenn Dein Aug’ mich fragt ...?“
Der neuentstandenen Felswand folgend, begann er über das Schuttfeld niederzusteigen. Als er den Saum der grauen Halde erreichte, wandte er noch einmal die Blicke. Seine ganze Gewalt erzitterte, und ohne Thränen schluchzend, umklammerte er einen Steinblock und drückte das Antlitz an den kalten Fels, als hielte er umschlungen, was unter dem Schutt begraben lag.
Wie ein Träumender taumelte er davon. Ohne zu wissen, was er that, suchte er die Stelle, an welcher der Einbaum gelegen – sie war verändert, verschwunden mit dem Kahn. Doch über den See war eine Brücke gebaut; eine Felswand, welche tiefer im Kessel niedergebrochen, hatte ihren Trümmerhaufen bis zum andern Ufer geworfen und einen kleineren See vom Weitsee losgetrennt, wie eine Stunde des Unheils und der Not das Kind von der Brust der Mutter reißt. Ueber diese Brücke, welche noch keines Menschen Fuß betreten hatte, ging der Weg des Einsamen, dann am Ufer entlang und heimwärts über das Waldgehäng, welches bis zur Hohe eines Pfeilwurfs kahlgeschwemmt war von den aufgebäumten Fluten; die gebrochenen Stämme schwammen im See und streckten ihr Gezweig aus dem weißen Schaum.
Schon fiel das helle Licht des Morgens in den Kessel, doch die bunten Farben der herbstlichen Bäume wollten nicht erwachen. Wie versteinert war der Bergwald anzusehen unter dem grauen Kleid, mit welchem der dicke Staub alle Bäume und allen Grund überzogen hatte. Stumpf glitten die Blicke des einsamen Wanderers über die trüben Bilder seines Weges. Er sah in ferner Höhe das veränderte Gesicht des gebrochenen Berges und erkannte am jenseitigen Ufer auf allem Felsgehäng die Straßen, welche die Schuttströme genommen hatten, er sah den Falkenstein, doch über ihm kein Dach mehr, keinen Giebel und keine gefensterte Mauer – nur dünne Rauchsäulen, welche langsam in die Höhe wirbelten und in der Luft zerflossen. Er sah in der Ferne die zunächst liegenden Halden der Schönau, ohne Wald, ohne Hütten, einer grauen Wüste gleich. Er sah, wie auf dem See das schwimmende Bild der Trümmer sich verwandelte: zwischen die gebrochenen Fichten und Buchen mischten sich entwurzelte Fruchtbäume, Gebälk und Bohlen, die Reste eines Daches, zerschlagenes Hausgerät, eine Hundehütte und Immenkörbe, Gewandstücke und hölzernes Geschirr – und manchmal tauchte nah dem Ufer aus dem sacht schwankenden Schaum ein brauner Fleck hervor: die schwimmende Leiche eines Rindes.
Das alles sah er – und über seinen Weg auch, der zu Ende ging, lagen die Zeugen der Verwüstung ausgestreut: Gerätstücke, die sein Auge erkennen mußte, eine behauene Steinplatte, die dem Dach seiner Herdstube glich, und lange Fetzen eines Fischernetzes. Das alles sah er. Doch keine Frage erwachte in ihm, er suchte nach keiner Antwort. Seine betäubten Sinne schienen unempfänglich für neuen Schreck, sein gebrochenes Herz nicht fähig mehr eines neuen größeren Schmerzes. Als er die letzte Waldhöhe erreichte und die Lände mit dem verwüsteten Hügel zu seinen Füßen lag, griff er nur mit den Händen an Stirn und Augen und starrte umher, langsam das entstellte Gesicht nach allen Seiten wendend. Kein Hag und Lugaus mehr, kein Haus und Stall. Verschwunden der Immenstand, das Gärtlein und der Brunnenstock. Nur einzelne Balken und Fetzen des Haggeflechtes lagen zerstreut umher, zerschmettertes Hausgerät und Rinderleichen füllten alle Pfützen der Lände. Die Eichen waren gebrochen und ihre Kronen davongeschwemmt, nur ein einziges dünnes Bäumlein hatte dem Schwall der Fluten widerstanden, und auf dem kahl gewaschenen Hügel selbst war nur der Baumstrunk noch geblieben, der die steinerne Tischplatte getragen, und ein mit Schlamm bedeckter Rest des gemauerten Herdes. Doch auf der Stelle, an welcher das Hagthor gestanden, erhob sich noch das Kreuz, nur gelockert in seinem Halt, zerfetzt an allen Rändern und bis über das Querholz hinauf mit grauem Schlamm behangen.
Zwischen den Stümpfen der gebrochenen Eichen kauerte Heilwig, die Magd des Fischers. Als sie den Kommenden gewahrte, sprang sie auf und eilte ihm entgegen. Sie wollte ihren schreienden Jammer beginnen, doch der Anblick des Mannes lähmte ihre Zunge. Das Gewand verwüstet und mit Staub bedeckt, an Händen, Armen und Knien zerschunden und blutig, das Antlitz fahl und entstellt, die Augen fieberhaft brennend und von roten Ringen umzogen, eisgrau an Bart und Haaren – so stand er vor den entsetzten Blicken der Magd. War es ihr Herr? War es Sigenot, der Fischer? Oder ein gespenstiges Schreckbild, das sie zu ängstigen kam nach allem Greuel, den sie überstanden hatte? „Heilwig . . . wo ist die Mutter?“ Auch seine Stimme war verwandelt und klang ihr ins Ohr wie fremder Laut. „Wo ist die Mutter?“
Sie konnte nicht sprechen, nur deuten. Lange starrte er sie an, dann sank ihm das Kinn auf die Brust, und schwer atmend strich er mit den Händen über das Haar: „Mein Glück und meine Schwester, mein Haus und Hof ... und auch die Mutter noch!“
Zögernd schritt ihm die Magd voran und immer nach einigen Schritten wartete sie, ob er auch käme. Bei den Stümpfen der Eichen blieb sie stehen, die hundertjährigen Stämme waren über den Wurzeln abgedreht und Sigenots Baum an der letzten Kerbe [481] gebrochen; dem einzig noch stehenden Bäumlein zu Füßen lagen die beiden Leichen. Mutter Mahtilt, noch umklammert von den Armen des entseelten Knechtes. Sigenot wankte und griff, um sich zu stützen, nach seinem gebrochenen Baum. Seine irrenden Blicke suchten das Kreuz, dann streckte er die Hände nach dem Knecht: „Der ist treu gewesen … und ich kann’s ihm nimmer lohnen!“
Heilwig mußte ihm helfen, die starren Arme Wichos zu lösen, der die Mutter seines Herrn nicht lassen wollte. Während die Magd mit stammelnden Worten erzählte, was sie erlebt und erfahren, hielt Sigenot die Leiche der Mutter in den Armen und hing mit verlorenem Blick an den bleichen Zügen, die dem Antlitz einer Schlummernden glichen. Nur einmal hob er die Augen – aus dem zerschlagenen Schilf des Ufers hatte eine jammernde Stimme sein Ohr getroffen.
„Der Kaganhart, der arme Hascher,“ schluchzte die Magd, „er muß die Hilmtrud suchen … das Wasser hat sie davongetragen mit dem Haus.“
„Not über allem, was lebt!“ Sigenot drückte das stille Haupt der Mutter an die Brust und streichelte ihr feuchtes Haar. „Mütterlein, Dir ist wohl! Komm … ich will Dich zum Vater bringen!“
[482] Er bettete die Tote im Schoß der Magd; dann stieg er zur Lände nieder, schleppte die zerstreuten Balken ans Ufer und flocht sie mit Ruten zu einem Floß; alle Reste seiner Netze sammelte er und füllte sie mit schweren Steinen.
Nun holte er die Mutter; als er sie auf die Arme gehoben hatte, haftete sein Blick an der Leiche des Knechtes. „Willst auch mit, Wicho? Freilich, so treu wie im Leben, so treu im Tod! Wart’ nur ein lützel, mein guter Wicho ... ich hol’ Dich gleich! Sollst von Deiner Herrin nicht lassen müssen.“ Sigenots Stimme brach, wankend stieg er mit seiner Last über den Hügel nieder und kehrte nach einer Weile zurück.
Zitternd fragte die Magd. „Herr? Soll ich mit Dir fahren?“
Er schüttelte den Kopf und trug den treuen Knecht zum Floß. Dem grauen Fährmann des Todes gleich, stand er auf dem schwankenden Fahrzeug und trieb es mit langer Stange durch den Trümmerwust, der den See bedeckte. Hinter der Insel sah ihn die Magd verschwinden. Sie stand am Ufer, erfüllt von kaltem Grauen und banger Sorge. Lange Zeit verging. Einmal hörte sie aus dem See heraus den verschwommenen Hall einer Stimme. War es ein Wehschrei? War es der letzte schluchzende Gruß, den der Sohn seiner Mutter bot? Dann wieder Schweigen – nur hinter dem Hügel das dumpfe Rauschen der Ache.
Lange harrte die Magd. In wachsender Sorge lief sie zur Stätte des verschwundenen Hauses empor, um weiteren Ausblick über den See zu finden. Endlich sah sie das entlastete Fahrzeug mit seinem Fährmann aus dem zerwühlten Schilf der Insel hervortauchen. Mit müden Stößen, tief gebeugt, trieb Sigenot die Balken dem Ufer zu. Als sie an die Lände stießen, löste sich das Band der Ruten, und von dem zerfallenden Fahrzeug schwang Sigenot mit der Stange sich ans Ufer. Schwer atmend richtete er sich auf und ließ die Stange fallen. Die kalkweißen Züge seines Gesichtes waren wie versteinert; langsam hob er die Arme, und seine Fäuste ballend, blickte er mit brennenden Augen über die öde Stätte der Verwüstung. Die bleichen Lippen rührten sich, als vermöchte er nur mühsam die Sprache zu finden ... dann quoll es aus seiner keuchenden Brust, Wort um Wort: „Jetzt hab’ ich ausgesorgt um Mutter und Schwester ... jetzt banget mich nimmer um Glück und Lieb’ ... jetzt steh’ ich allein für mich ... jetzt will ich raiten mit allen, die mir gelogen haben und die Treu’ gebrochen!“
Erschrocken wich die Magd vor ihm zurück, denn sie dachte des Augenblicks, in dem sie vor dem rollenden Wasser geflohen war und in verzweifelter Todesfurcht das Haus und seine Herrin treulos verlassen hatte.
Durch die trüben Pfützen, über alle Trümmer hinweg, schritt er dem Kreuz entgegen, während die Magd entfloh. Mit geballten Fäusten stand er vor dem grauen Balken und sprach ihn an, als hätte er einen Feind vor sich, der ihn hören, mit dem er rechten könnte in Worten. „Ich hab’ gehangen an Dir in Treu’ und Glauben! Mein Alles hab’ ich gestellt auf Deine Händ’. Derweil Dir alle feind gewesen, hab’ ich mein Knie gebeugt, hab’ meine Freiheit hingelegt vor Deine Füß’ und hab’ gerufen zu Dir: Mein guter Herre, Du mein Gott! ... Und Du? Und Du? Ich will nicht raiten mit Dir um meine Mutter: sie hat nicht gerufen, nicht gefragt nach Dir – wer Treu’ nicht giebt, kann Treu’ auch nimmer heischen. Ich darf nicht raiten um mein Glück: ich selber hab’s verrufen und geschmäht und hab’ das Wasser und die Berg’ geworfen zwischen meine Lieb’ und mich. Ich rait’ nicht um dieselbig’, die den Tod gefunden in der Lieb’ zu mir ...“ Der Klang seiner Stimme riß, und mühsam rang er nach Worten. „Sie hätt’ verdient, zu leben ... stark und mutig ist sie gewesen, rechtlich an Sinn und Herz, schön und lichtscheinig wie die Sonn’ am Tag, und treu ... treu ... so, wie Du untreu bist! Aber sie ist ihres Vaters Blut gewesen ... und Wazemanns Haus hat wider Dich gestanden. Haß wider Haß, das muß ich gelten lassen! Aber hörst nicht, Du ... es heißt auch. Treu’ um Treu’!“ Mit beiden Fäusten faßte er den Stamm des Kreuzes und rüttelte an dem Holz. „So sag’ mir, Du ... sag’ mir, wo die Schwester ist! Auf ihr hat nimmer Fehl und Schuld gelegen! Wie das Lamm vor dem Schäfer ist sie gestanden vor Dir und hat vertraut auf Deine Hut! Hat gehoffet auf Dich in gläubiger Treu’! Und Du? Und Du? Stark bist Du, stärker als tausend Männer in Wehr und Eisen! Kannst ja die Berg’ werfen und die tiefsten Wasser heben! – und das einzig’ schuldlose Leben hast nicht lösen mögen aus der Not! Wo ist denn Deine Treu’, von der mir derselbig’ im Lokiwald gelogen hat? So red’ doch: wo ist denn Deine Treu’? Hast gar kein Wort? So red’ doch, red' ... wir raiten miteinander! Und wenn Du meinst, daß fallen muß, was treu und schuldlos ist ... so sag’ ich Dir: es soll auch nimmer stehen, was ich untreu find’!“ Mit erhobenen Armen, mit der ganzen Wucht seines Körpers warf er sich gegen den Balken. In der Erde knirschten die Pflöcke, der Grund begann sich zu heben und langsam neigte sich das Kreuz. Fast lautlos fiel es auf den mit Schlamm bedeckten Hang des Hügels.
Unter tiefem Atemzug drückte Sigenot die zitternden Fäuste auf seine Brust, als wäre ihm wohler geworden, als hätte in seinem Herzen ein Tropfen Balsam den Schmerz der klaffenden Wunde gelindert. „Du liegst! Und jetzt zu Deinem Knecht im Lokiwald!“ Er wandte sich gegen die Ache. Doch wenige Schritte nur that er, dann stand er wie gelähmt, an Leib und Seele befallen von allen Schauern eines Schrecks, so jeden Nerv durchzuckend und so furchtbar, wie er ihn auch in der Stunde nicht empfunden hatte, als die Berge stürzten und den Tod durch die Lüfte warfen, als die Erde sich öffnete und alles Leben verschlang. Mit entgeisterten Augen sah er, was ihm erscheinen mußte wie ein Wunder, welches der starke Gott in diesem Augenblick gewirkt, um an dem Zweifler, der mit ihm gerechtet, auch seine Treue zu erweisen. Von der Ache her, zwischen dem verwüsteten Hügel und dem Wirrsal der Trümmer und gestürzten Bäume, kam langsamen Schrittes ein junges Paar gegangen, zwei stille blasse Menschenkinder, welche zu wandeln schienen wie im Traum. Wange an Wange gelehnt, hielten sie sich umschlungen, als müßte eines das andere stützen. Sigenots Hände griffen ins Leere. Er sah die Schwester und wandte die Augen von ihr – er sah das liegende Kreuz und streckte die Arme. Was er fühlte, erschütterte ihn an Herz und Gliedern wie ein Sturm den Baum. Stöhnend schlug er die Fäuste an seine Brust. „Ich ... ich ... ich selber bin der Untreu’!“ Und mit einem herzzerreißenden Schrei warf er sich über die Balken des Kreuzes ...
Hinter den Bergen der Reginalbe stieg die Sonne empor. Weithin über das verwüstete Thal, in welchem die sinkenden Bäche schon leiser rauschten, flutete der warme Glanz. In den mit Schlamm bedeckten und versumpften Gründen der Thäler weckte die steigende Wärme den Nebel wie nach schwerem Regen. Ueberall kräuselten sich die weißen Wölklein über den Wust der Trümmer empor, von der Sonne durchleuchtet – wie Bilder menschlicher Hoffnung, welche nach aller Nacht und Kälte des Lebens doch immer wieder die Heimstatt des Lichtes und der Wärme sucht.
Aus dem Thal der Ramsauer Ache, in welchem der breite Strom der Gewässer schon gesunken war und zu versiegen begann, dampften die zarten Nebel langsam über den Lokiwald. Zwischen den gebrochenen Bäumen suchte Eberwein einen Ausweg nach den Halden der Strub, das schlummernde Kind auf seinen Armen. Jeden Schritt mußte er mühsam erkämpfen. Die rastlose Sorge, mit welcher er das Gesichtchen des Kindes vor dem schlagenden Gezweig und den stachligen Aesten zu bewahren suchte, erfüllte ihn so sehr, daß die Bilder all seines anderen Kummers nur verschwommen in ihm auftauchten, obwohl die Zerstörung rings um seine Füße gebreitet lag. Tote Vögel sah er im Gezweige hängen, und an Wildleichen führte sein Weg vorüber. Unter einem mächtigen Baumstamm lag ein erschlagener Bär mit zerzaustem Fell und gebrochenen Zähnen im klaffenden Gebiß – der braune Honigfreund, welcher mitgeholfen an Bruder Wampos „Wunder“.
Der Wald und seine Trümmer gingen zu Ende, und eine menschliche Stimme schlug an Eberweins Ohr. Er schrie, begann zu laufen und erreichte das Thal der Ramsauer Ache. Der erste Blick, den er über die verschlammten Gehänge warf, weckte in ihm wieder alle Greuel des vergangenen Tages. Am Rande des tief gesunkenen Wassers näherten sich zwei Menschen, welche im Schlamm nach verlorenem Gut zu suchen schienen, ein Greis und ein Weib mit gelösten Haaren. Eberwein rief die beiden an, und kaum hatte das Weib ihn gewahrt, so kam es schon mit gellendem Freudenschrei und gestreckten Händen auf ihn zugerannt, riß ihm das Kind aus den Armen und eilte mit ihrem wiedergefundenen Kleinod davon – wie in wahnsinniger Angst, als wäre Eberwein nicht der Retter, sondern der Räuber des Kindes.
Der Alte blieb stehen, Zähren auf den runzligen Wangen, und blickte dem fliehenden Weibe nach. Eberwein erkannte ihn; es war ein Ramsauer Bauer, der mit dem alten Runot zur Windach [483] gekommen war, um nach Hiltischalk und Hiltidiu zu suchen. „Herr?“ fragte der Greis mit müder Stimme. „Hast Du das Kind aus der Flut gehoben? So mußt Du der Mutter auch verzeihen, daß sie den Dank vergessen hat. Drei Kinder hat ihr das Wasser genommen ... und nur ein einziges hat sie lebend wiedergefunden. Die anderen zwei, die liegen sell draußen im Schapbacher Wald ...“
Während Eberwein schweigend stand, von tiefer Bewegung erfüllt, sprach der Alte mit langsamen Worten von der Verwüstung, welche die jäh erscheinende Sturzflut im Thal der Ramsau angerichtet. „An die zwanzig Häuser liegen, das Pfarrhaus auch, und die Kirch’ dazu ... und viel Leut’, Herr, viel Leut’ gehen ab. Mein ältester Bub’ ist auch dabei, sein Weib und alle fünf Kinder ... sieben Leut’ auf einmal!“ Die Stimme des Alten zitterte. „Da käm’ ich wohl nimmer drüber weg, wenn ich nicht sagen müßt wie Bruder Hiltischalk: giebt der liebe Gott mit der einen Hand, so wird er wohl mit der anderen auch nehmen dürfen! Wohl wohl ... ich hab’ um den frommen Bruder recht getrauert, aber schau, Herr, dem hat’s der liebe Gott gar gut vermeint, daß er ihn die heutige Not hat nimmer schauen lassen! ... Jetzt muß ich aber gehen – schau’ nur, wie die unsinnige Mutter noch allweil rennt ... sie wird doch an keinen Baum hinlaufen! Am End’ fallt sie gar noch mit dem Kind in eine Grub’!“ Mit lauter Stimme rief er: „He, Du! So halt’ doch ein lützel!“ und eilte, so schnell ihn seine alten Knie trugen, dem Weibe nach.
Eberwein stand mit nassen Augen. „Bruder Hiltischalk! Wo Dein verlorenes Grab auch immer liegen mag, unter Fluten oder Felsen, es verlanget nach keinem Kreuzlein und ehrenden Zeichen! Im Herzen dieses Christen sah ich Dein Denkmal stehen!“
Weit über das Thal her, von den grauen Halden der Schönau, tönte ein Gewirr von Stimmen. Freudig erschrocken lauschte Eberwein. „Dort leben noch Menschen!“ In Hast stieg er nieder über das schlammige Gehäng. Seine Augen spähten nach einer Stelle, an welcher er den sinkenden Strom der Gewässer übersetzen könnte. Ueber Felsblöcke und angestaute Bäume springend, gewann er das andere Ufer und eilte über den Waldhang empor, daß ihm der Atem fast verging. Zwischen verwüsteten Büschen sah er schon die steinernen Schollen liegen, welche wie Hagel aus den Lüften gefallen. Seine Schritte beflügelnd, erreichte er einen zerstörten Hag, in dessen Mitte ein Felsblock lag, von der Größe eines Hauses; doch er hörte keinen Laut des Jammers, nur den Hall eines emsig schlagenden Beils und eine freudige Knabenstimme: „Ja schau’ doch, Gobl-Aehni, schau’, da kommt der Herr, der gute Herr!“
Die Schläge verstummten nicht, als hätte der fleißig Schaffende kein Ohr. Durch eine Lücke des Hages sah Eberwein den Greis bei der Arbeit stehen: nackten Leibes, die Hüfte von einem Lumpen umwunden, schwang er das Beil mit der Kraft und dem Eifer eines Jünglings. Nicht weit von dem Alten, beim zerfallenen Hagthor, saß Huze in der warmen Sonne, die wunden Füße von grauen Fetzen klumpig umwickelt. Und an der Seite des Knaben kauerte, lächelnd und stillvergnügt, das kleine Dirnlein aus dem Schapbacher Wald. Beim Anblick des Mönches richtete Huze sich auf und versuchte in heller Freude ein paar hinkende Schritte; doch Eberwein eilte dem Knaben entgegen und umschlang ihn, keines Wortes mächtig. „Gelt, Herre, gelt?“ lächelte der Bub’ zu ihm auf. „Was sagst: was der liebe Vater im Himmel alles an mir gethan hat! Schau’ nur den Aehni an! Wie er schaffet an unserem neuen Haus! Du! Wie der mich lieb hat! Und alles, alles hat der Vater sell droben gemacht! So gut, wie der ist, so gut ist keiner mehr!“
Eberwein konnte sich der Thränen nicht erwehren. „Mein Kind! Ich danke Dir für dieses Wort!“
Mit großen Augen schaute der Bub’ ihn an. „Danken! Ja warum denn, Herre? Es ist ja Dein eigen Wort! Hast es mich ja selber gelehret, in Wazemanns Bußloch: so gut wie der Vater im Himmel, so gut ist keiner mehr!“
„So gut ist keiner mehr!“ klang es leise von den Lippen des Mönches, während seine Blicke über alles Elend schweiften, das ihn umgab, und hinausirrten über die verwüsteten Halden. Tief atmend strich er mit den Händen über das struppige Haar des Knaben, sah ihm in die leuchtenden Augen und flüsterte: „Werdet wie die Kinder!“
Das Beil in der Faust, kam der alte Gobl zum Thor. „Ich grüß’ Dich, Herr! Und schau’, ich sag’s gleich selber. Du hast recht gehabt! Mein Apfelbaum ist hin, nacket steh’ ich da ... aber all’weil’ freut mich das Leben wieder!“ Er faßte die Hand des Knaben, der ihm mit mühseligen Schrittlein entgegenhumpelte, und zog ihn zärtlich an sich. „Was sagst, Herr, wie der Bub’ sich macht! Und so viel gleicht er meiner lieben Dirn’ ... die ganzen Augen hat er von ihr, und ich mein’ wohl, das gute Herzl auch!“ Er hob das Kinn des Knaben und lachte ihn an. In stummer Bewegung blickte Eberwein auf diese beiden Menschen: das Alter in nackter Not, die Jugend in Schmerz und Wunden – und dennoch in den Augen beider die lachende Freude des Lebens.
Dumpfe Stimmen, von einem Windhauch über die Halden hergetragen, unterbrachen die Stille. Lauschend hob Eberwein den Kopf und strich mit der Hand über die verträumten Augen.
„Lus’ nur, Herr!“ sagte der Greis, und seine Stimme wurde scheu und leise. „Es haben nicht alle Leut’ den schiechen Tag so gut überstanden wie mein Bub’ und ich. Die Leut’ sind gefallen wie die Fliegen im Frost. Sell drüben schleppen sie die Toten auf ein Häufl ... einer von Deinen Gottesleuten ist auch dabei.“
Was der Alte noch weiter sagte, hörte Eberwein nicht mehr. Bleich bis in die Lippen, hatte er sich abgewandt und eilte dem verschwommenen Hall der Stimmen entgegen. Immer näher klang das Gesumm der Stimmen, und endlich gewahrte er auf freiem Feld einen schwärzlichen Menschenhaufen. Langsam glitten die Gestalten durcheinander, die einen gingen, andere kamen paarweis’ und trugen auf Stangen eine regungslose Last herbei.
Die Leute erblickten den Mönch, und das dumpfe Gesumm der Stimmen erlosch. In der dunklen Schar sah Eberwein plötzlich all’ die weißen Gesichter. Einige Männer und Weiber schienen willens, ihm entgegenzulaufen; auf halbem Weg aber hielteu sie inne und standen regungslos. Auch Eberweins Schritte stockten: ihn befiel die Ahnung dessen, was er sehen sollte. Doch nur einen Augenblick versagten ihm die Kräfte. Bleich, mit kämpfendem Atem, eilte er den Harrenden entgegen. Kein lautes Wort vernahm er, kaum einen schluchzenden Laut. Doch hundert Arme streckten sich ihm entgegen in flehendem Jammer, als wäre bei ihm die Hilfe, bei ihm der Trost. Hundert Augen, gerötet von Staub und Weinen, hingen an seinen Lippen, als könnte ein einziges Wort des gottgeweihten Mannes alle Schmerzen lösen. Die Männer faßten nach seinen Händen, die Weiber griffen nach seinem Kleid und hoben ihm ihre Kinder entgegen, als läge im Blick seiner Augen die Kraft, zu feien wider alle Not und Gefahr.
Wortlos, erschüttert in jedem Nerv seines Lebens, stand Eberwein inmitten dieses namenlosen Jammers – zum erstenmal im Kreise seiner Gemeinde!
[494] Wie anders hatte Eberwein die Stunde sich gedacht, da er zum erstenmal im Kreise seiner Gemeinde stehen würde! So schön, so reich an Hoffnungen und Plänen! Als den verheißungsvollen Anfang einer guten Zeit! Nun war die ersehnte Stunde gekommen – und er stand inmitten dieser tiefgebeugten, nach Trost und Hilfe bangenden Menschen wie ein Hausvater, der von weiter Reise zurückkehrt, freudiger Sehnsucht voll, und unter seinem Dach den Tod und alles Elend findet. Wie sollte er trösten, da er doch selbst des Trostes bedürftig war wie ein Dürstender des Trankes. Sprechen konnte er nicht – er drückte nur hier eine zitternde Hand, blickte mit heißem Erbarmen in ein brennendes Auge, streichelte dort ein gebeugtes Haupt, schloß einen Wankenden in seine Arme, drückte ein Kind an seine Brust und gab es der Mutter zurück, während ihm die Thränen über das bleiche Antlitz rannen.
Und so gab er Trost, ohne daß er es wußte: der Schmerz hat seine Sinne, und diese Menschen empfanden es wie einen warmen Lichtstrahl in ihrem dunklen Jammer, daß einer unter ihnen weilte, der es gut mit ihnen meinte wie ein treuer lange erprobter Freund – sie fühlten, daß all sein Erbarmen, alle Liebe seines Herzens ihr Eigen war. Ihre Stimmen lösten sich aus dem stummen Bann, ihr Schluchzen wurde laut, und eine Greisin faßte den Arm des Mönches, brach ihm eine Gasse, und auf die Toten deutend, weinte sie: „Schau’, guter Herr, schau’ ... da liegen sie auf der Erd’ ... um Deinen heiligen Bruder her!“
Im ersten Entsetzen deckte Eberwein den Arm über seine Augen. Auf einer Bahre aus Buchenästen ruhte Waldram, die gebrochenen Augen noch offen, das schwarze Kleid übergossen von geronnenem Blut. Und um ihn her im Kreis eine stille Gesellschaft, Männer, Weiber und Kinder, Leiche neben Leiche, sie alle geschmückt mit der roten Blume ihres erloschenen Lebens.
Zitternd, das Antlitz von fahler Blässe bedeckt, stand Eberwein vor dieser wüsten Orgie des Todes. Seine verstörten Augen suchten den Himmel, und mit bleichen Lippen stammelte er: „Wir müssen glauben ... oder verzweifeln!“ Wankend schritt er zwischen den Leichen auf die Bahre Waldrams zu und schloß dem Toten mit bebender Hand die Lider. „Vergieb mir, wenn ich Dir Unrecht that im Leben!“ Seine Blicke irrten über die Gesichter der Lebenden, er suchte nach einem Trost, den er spenden könnte, und wußte kein Wort zu finden. Worte? Er fühlte, hier gab es nur einen Trost noch: die helfende That! Schwer atmend richtete er sich auf und stand inmitten der Leichen, als wäre er selbst noch eben auf der blutgetränkten Erde gelegen und hätte sich, wie durch ein Wunder, starren Leibes erhoben.
Scheu näherte sich der Köppelecker. „Herr, laß Dir sagen, wie der heilige Mann gestorben ist ...“
Eberwein wehrte mit der Hand. „Er ist ein Toter unter Toten ... wir wollen der Lebenden gedenken!“ Einen letzten Blick noch warf er auf die Bahre Waldrams, dann schritt er aus dem Ring der Leichen hervor und strich mit der Hand über das Haar der Greisin, die ihn geführt. „Mütterlein, sammle die Kinder und führe sie zu einem sicheren Hag – Tod und Wunden sind kein Anblick für Kinderaugen.“ Dem Köppelecker befahl er: „Wähle die Knaben aus, welche bei Kräften sind und die Wege kennen. Sie sollen Botschaft tragen zu den entlegenen Gehöften, zu allen Hochbauern auf dem Göhl und Untersberg und die Männer zur Hilfe rufen. Ihr Frauen und Mädchen! Brechet Aeste und flechtet sie mit Stangen zu festen Bahren!“ Er sandte sie zu einem nahen Gehölz, damit ihnen das gräßliche Bild der Leichen entzogen wäre. Zwölf bejahrte Männer wählte er; sie sollten die Toten zur Klause tragen und vor dem Kirchlein niederlegen. Dann hob er einen Spaten von der Erde. „Ihr anderen Männer alle! Zu mir!“
Jedem wies er einen Teil der Arbeit zu, keiner sollte müßig stehen, keinem die Zeit verbleiben, stumpf zu versinken in Schmerz und Jammer. Es gab keinen Widerspruch, sie alle gehorchten jedem Wort und Wink. Keiner fragte: gilt die Hilfe mir? Gilt sie dem Nachbar? Die gemeinsame Not hatte sie mit eisernem Band aneinander geschmiedet wie zu einem einzigen Wesen, das nur einen Schmerz und Verlust empfand und um all’ die Leichen weinte wie um einen Toten.
Eberwein teilte die Männer in Gruppen, gab jeder Gruppe einen Führer, den er mit prüfendem Blick erwählte, und sandte die Häuflein nach verschiedener Richtung aus, während er selbst mit wenigen Männern zu den Stätten eilte, auf welchen die Zerstörung am übelsten gewaltet hatte. Er kam zu einem Haus, welches bis zum Giebel unter dünn gemahlenem Schutt begraben lag; nur ein Teil des verschobenen Daches mit wirr in die Luft starrenden Balken war noch zu sehen. Als Eberwein über die Böschung emporklomm, um durch die Lücken des Daches einen Weg ins Innere des Hauses zu suchen, sah er etwas im Schutt sich bewegen gleich einem Wurm. Er begann mit den Händen zu graben und zog ein Knäblein hervor; es lebte und war unversehrt an allen Gliedern, nur das Mäulchen und die Augen waren mit Schlamm verklebt. Als ihm das Gesichtchen mit Wasser überspült wurde, begann es zu niesen, schob mit dem roten Zünglein die Erde über die Lippen hinaus ... und lächelte.
Diese erste Rettung belebte die Männer, streifte den letzten Rest des lähmenden Bannes von ihnen und spornte sie zu heißem Eifer. Einer von ihnen eilte mit dem Kind dem Gehölze zu, in welchem die Frauen bei der Arbeit waren. Die Mutter des Kindes fand sich nicht unter ihnen – eine Schwester nur. Weinend und lachend umklammerte sie das Bürschlein und gab es dem Mann zurück. „Trag’s nur hin, wo die anderen sind ... ich muß schaffen, oder der gute Herr könnt’ zürnen!“
Als der Mann den Hag erreichte, in welchem die Kinder versammelt waren, sah er die Kleinen dicht gedrängt um die Greisin sitzen, welche mit zitternder Stimme erzählte: „So hauset er zu tiefst im Untersberg, und derweil er schlaft, wachst ihm der lange Bart um den steinernen Tisch herum. All’ hundert Jahr’ nur wacht er einmal auf ... und wenn er im Wachen den ersten Schnaufer thut und hebt das einschichtig’ Aug’, so geht ein Rumpler durch alle Berg’ und überall fallen die Steiner ...“
„Gelt? So wie gestern?“ fragte ein blasses Dirnlein scheu und beklommen.
„Wohl wohl! So wie gestern! Und da thun sich die Felsen vor ihm auf, und lichtscheinig steigt er aus dem Berg heraus ... überall geht er um im Thal, und wo er einkehrt, bringt er die gute Zeit!“
Sagentrost und Wunderglaube! Zwei Blumen im steinigen Garten des Lebens! Sie sprossen auf dem Boden gewaltiger Ereignisse wie Blüten nach schwerem Gewitterregen und senken ihre Wurzeln in die Herzen des Volkes, wie das Immergrün sich einnistet in die Fugen des Gesteins.
In der gleichen Stunde, in welcher die Kinder atemlos den Worten der Greisin lauschten, saßen fern am Ufer des Schönsees drei bleiche Menschen dem neu errichteten Kreuz zu Füßen. Doch nicht auf der Lände erhob sich das heilige Zeichen, sondern auf der Höhe des leeren Hügels, zwischen den mit Schlamm bedeckten Resten des Herdes. Die verschlungenen Hände auf die Knie gestreckt, vorgebeugten Hauptes, saß Sigenot zwischen Ruedlieb und Edelrot, auf deren blassen Wangen noch die Spur der Thränen schimmerte, welche sie um die Mutter geweint. Nicht mit schreiendem Jammer hatte sie die Kunde gehört, mit wortlosem Schmerz, der es als tröstende Wohlthat empfand, daß er die entseelten Reste des geliebten Wesens nicht mehr schauen sollte. So stand das Bild der Mutter vor der trauernden Seele des Kindes noch lebend, warm und beseelt, die treuen Augen glänzend von aller Zärtlichkeit jener nächtlichen Scheidestunde, in welcher Mutter Mahtilt den letzten Kuß auf die Lippen ihres Kindes gedrückt.
Mit nassen Augen blickte Rötli empor in das leuchtende Blau des Morgens, und während sie in schwärmerischem Schmerze das verklärte Bild der Mutter sah, durchzitterte ihre Seele das traumhafte Nachempfinden ihrer wundersamen Rettung. Ruedlieb erzählte. Mit stockenden Worten schilderte er den letzten Morgen, den sie in der Oedhütte verbracht, die Sorgen des Vaters und den Beginn der furchtbaren Ereignisse bis zu dem Augenblick, in welchem er Edelrot mit sich fortgerissen und den Vater unter grauem Rauch [495] und hagelndem Gestein verschwinden sah. „Seine Lieb’ zu mir hat ihm den Tod gebracht!“ Die Stimme versagte ihm, und mit zitternden Händen bedeckte er das Gesicht. Schweigend legte Sigenot den Arm um die Schulter des Weinenden.
„Ich hab’ schon nimmer schnaufen können,“ fiel Rötli mit leisen Worten ein, als spräche sie im Traum, „doch wie ich den Liebli sagen hör’: ‚jetzt kommt der Bid‘ ... da hab’ ich noch einmal aufgeschaut in Schreck und Grausen. Berghoch ist eine schwarze Wand auf uns zugelaufen, und die Todesangst hat geschrieen in mir: Mein guter Herre, Du mein Gott!“
Sigenot nickte. „Und er ist gekommen, den Du gerufen hast in Treu’ und Glauben!“
„Gekommen ist er!“ Mit schimmernden Augen blickte Edelrot ins Leere, und ein Schauer rann durch ihre Glieder. „Auf einmal ist er dagestanden vor uns, großmächtig anzuschauen, und einen grauen Mantel hat er gehabt, wie ein Wald so breit. Sein Schnaufer hat uns angeblasen wie ein Sturm, und derweil mir die Sinn’ verloschen sind, hat er den Mantel um uns hergeschlagen und hat uns aufgehoben in die Lüft’. Ich hab’ nimmer Aug’ und Ohr gehabt, aber einwendig in mir ist alles licht und hell gewesen. Ich hab’ gemeint, ich schlaf’ und hätt’ einen feuerfarbigen Traum ... und gewesen ist mir, als thät’ ich auf lauter Daunen liegen und wär’ selber so leicht wie ein winziges Federlein. So süß und wohl ist mir ums Herz geworden, ich weiß nicht, wie, und nur das einzig’ hab’ ich noch gespürt: ich fall’ und fall’ ...“ Tief atmend verstummte Edelrot und strich mit den Händen über das Gesicht. „Wie lang’s gedauert hat, das weiß ich nimmer. Ich hab’ nur auf einmal gemerkt, daß ich leb’ und daß ich mich rühren kann. Die Augen hab’ ich aufgethan, aber um mich her ist alles schwarz gewesen. Und überall ein Rauschen und Sausen, als wär’ ich mitten drin in einem wilden Bach. Schmerzen hab’ ich gespürt in allen Gliedern und hab’ gemerkt, daß ich auf lauter Steiner lieg’. Erst hab’ ich mich aufgesetzt, und wie ich das Greifen anfang’, spür’ ich ein Gesicht und spür’ eine Hand, die sich rührt. Da geht’s mir völlig heiß durch Leib und Seel’ ... ‚Liebli? Bist Du’s oder nicht?‘ frag’ ich und hör’ ihn sagen: ‚Wohl wohl, Schätzli! Ja lebst denn noch?‘ Gesehen hab’ ich ihn nicht, aber seine Stimm’ ist ’s gewesen, und laut weinen hab’ ich müssen. Ich streck’ die Arm’ nach ihm, und da hat er mich schon genommen und hat mich gehalset ... und all’weil’ sind wir gesessen, ich weiß nicht, wie lang’! All’weil’ leichter ist mir geworden, und ich frag’: ‚Weißt nicht, wo wir sind?‘ Der Liebli sagt: ‚Beim Bid in aller Tief’!‘ Aber ich hab’ den Kopf geschüttelt: ‚Wir leben ja doch ... und der uns gehoben hat, ist nimmer der Bid gewesen, ein anderer, Liebli, ein anderer!‘ Drauf sind wir all’ zwei still gewesen und haben um und um geschaut in der Nacht ... all’weil’ haben wir niesen und husten müssen und die Augen sind mir gewesen wie Feuer. Um und um haben wir die schwarzen Berg’ gesehen und haben weit aus der Tief’ herauf ein fürchtiges Rauschen gehört! Auf einmal ruft der Liebli: ‚Wir liegen im Windacher See, mitten drin!‘ Ich hab’ kein Wasser greifen können, aber der Liebli sagt: ‚Wohl wohl, ich spür’ die Näss’, wir müssen auf einem Wasen liegen, der übers Wasser schaut! Ja sag’ nur, sag’, wie sind wir denn von der Oedhütt’ in den See gekommen?‘ Da geht ihm die Red’ aus, völlig zitterig springt er auf und hat aus tiefster Seel’ ein Schreien angehoben: ‚Vater! Vater!‘ Aber alles ist still gewesen ... nur in der Tief’ drunt’ hat’s gerauschet!“
Ein beklommener Seufzer unterbrach die leisen Worte, und in das Schweigen, welches die drei Menschen umfing, tönte das dumpfe Rauschen der Ache. „In Angst und Herzleid sind wir gesessen die ganze Nacht und all’ zwei haben wir uns sagen müssen: sell droben ist nimmer Leben und Hilf’, die Berg’ sind gefallen, und haushoch müssen die Felsen liegen. Und wie der Mondschein aufgestiegen ist und der Tag gegrauet hat, haben wir den Eismann nimmer gesehen ... Droben über dem Albenthal und der Oedhütt’ ist’s gelegen wie ein steiniges Feld, lauter Blöck’ und rauhe Köpf’ ... und herunten im Thal, überall um uns her, ist alles ein Gries und Schlamm gewesen. Keinen See mehr hast gesehen, nur braune Lachen um und um, und in dem trüben Wasser hat’s gewimmelt von Hechten und Ferchen. Wir haben uns scheu aneinander angedrückt, und derweil um unsere Füß’ her die Fisch’ gesprungen sind, haben wir den Heimweg gesucht auf schlammigem Grund, über dem vor Tag und Nacht das Wasser noch gestanden ist, tief wie ein Brunnen.“
Sigenot erhob sich, und aufblickend zum Kreuz, zog er die Geretteten an seine Brust. „Der Euch hinausgetragen über fallende Berg’, hat auch den Weg für Euch gebrochen durch See und Flut. Gegen die Guten ist er gut, gegen die Treuen ist er treu ... schauet auf zu ihm und danket seiner Lieb’! Und jetzt kommet, Ihr guten Kinder, ich will Euch heimführen zu Eurem Herd!“ Sigenot faßte Ruedliebs Hand und die Hand der Schwester, während sie über den Hügel niederstiegen, stockte ihm der Fuß. „Schau’, Rötli, noch all’weil’ steht Dein junges Bäuml! ... Gelt, Ruedlieb? Wenn der Winter die Erd’ gefrieren macht, so heb’ das Bäuml mit allen Wurzen aus und trag’s hinüber in Deinen Hag! Sell hat es guten Boden!“
Ruedlieb nickte nur, und seine Lippen zuckten. In stillem Schmerz und mit nassen Augen nahmen sie Abschied von der verwüsteten Stätte, welche so viel des Glücks getragen, doch mehr noch an Not erfahren hatte. Jeden der ausgestreuten Balken, jedes Stücklein des zertrümmerten Hausgerätes streifte noch ihr Auge, und der letzte Blick irrte hinaus über den weißen See, in dessen Tiefe Mutter Mahtilt das weite Grab ihres Mannes teilte. Schwere Thränen rannen über Sigenots bleiche Wangen. „Wicho, mein guter Wicho! Hüt’ mir den Vater und die Mutter in Treu’!“ Sacht schwankten die von weißem Schaum bedeckten Wellen gegen das Ufer, und wie leises Flüstern ging es durch das zerschlagene Schilf, in welchem einzelne Halme sich schon wieder aufzurichten begannen.
Langsam schritten die drei Menschen der Ache zu. Als sie die von den langgestreckten Schuttströmen durchzogenen Halden der Schönau erreichten, sahen sie überall um die Trümmerstätten die Männer bei der Arbeit. Mitten in einem Häuflein der Schaffenden erkannte Sigenot eine Gestalt im schwarzen Gewand; Eberwein war es, und rastlos schwang er die Picke.
Während Ruedlieb und Rötli, in träumendem Schauer über die Stätten der Verwüstung blickend, ihrem Wege folgten, blieb Sigenot stehen. Es zog ihn zu Eberwein. Tief atmend murmelte er: „Nur noch den einzigen Weg für mich ... und ich komm’, Herr, ich komm’!“ Er folgte den beiden, und als er sie erreichte, drängte er mit stammelnden Worten: „Eilet, Kinder, die Zeit ist teuer!“
Sie schritten rascher aus. Ueberall gewahrten sie die Bahrenträger mil ihren stillen Lasten. Nirgends ein hastiges Rennen, nirgends Geschrei und laute Rufe, überall dumpfe Ruhe. Frauen gingen an ihnen vorüber, thränenlos und still. Kein Gruß wurde getauscht, kein Wort gewechselt, ein stummer Blick nur war alle Zwiesprach’, welche die sich Begegnenden führten – dieser eine Blick aber redete tausend Worte des Jammers. Als Ruedlieb dem väterlichen Hag sich näherte, begann er so heftig zu zittern, daß Sigenot ihn stützen mußte. Sie brauchten das Hagthor nicht zu öffnen, es war zerschlagen; die Hofreut leer, kein Knecht und keine Magd zu sehen, kein Rind und kein Geflügel; die Ställe lagen niedergedrückt, aber die Immen summten emsig, als möchten sie die letzten Tage des Herbstes doppelt fleißig benutzen, um die von Wazemanns Knechten geleerten Körbe mit Vorrat für den Winter zu füllen. Das Haus stand unversehrt, nur einzelne Löcher klaften im Moosdach, und unruhig flatterten die Tauben um den Giebel. Schweigend betraten Ruedlieb und Rötli den Flur, dessen Thür sie erbrochen fanden. Sigenot war ihnen vorangegangen in die Stube und zündete auf dem Herd ein Feuer an.
Die feuchten Aeste prasselten, und nur mühsam erwachten die Flammen in dem qualmenden Rauch. Doch es währte nicht lange, so hatte der Rauch sich verzogen, und das Feuer loderte in reiner Helle. Ruedlieb und Rötli standen noch immer unter der Thür.
„Schauet, Kinder, wie schön die Herdflamm’ brennt!“ sagte Sigenot mit schwankender Stimme. „So wahret halt das heilige Feuer in Treu’ und Lieb’, und der gütige Herr sell droben wird Euer Leben hagen wider Gefahr und Not!“
Laut schluchzend hielten Ruedlieb und Edelrot sich umfangen, und in ihren heiß erquellenden Kummer mischte sich ein erstes schüchternes Gefühl der Freude, eine Ahnung kommenden Glücks. Lange hingen Sigenots Augen an dem weinenden Paar. Als er sich schweigend zur Thür wandte, eilten sie ihm erschrocken nach. Doch er löste seine Hände. „Lasset mich! Denn ich hab’ einen Weg, der nimmer Aufschub leidet.“
„Not liegt über allen Wegen!“ stammelte Ruedlieb. „Wohin denn willst Du?“
„Wohin ich muß!“ Seine ganze Gestalt erzitterte, und [496] seufzend neigte er das ergraute Haupt. „Ich hab’ meinem guten Herrn die Treu’ gebrochen ... ich bin kein Freier mehr, ich muß mein Leben in Knechtschaft geben!“
Sie verstanden ihn nicht; aber sie fühlten, daß er ein Wort des Abschieds zu ihnen gesprochen, und klammerten sich an seine Arme. Dumpf schluchzend umfing er die Schwester, küßte ihren Mund, ihre nassen Augen und stürzte davon. Ueber die verschütteten Felder ging sein Weg, der Stätte zu, an welcher Eberwein bei der Arbeit war. Die Männer, welche an der Seite des Mönches schafften, erblickten den Fischer und riefen seinen Namen. In freudigem Schreck ließ Eberwein die Picke fallen und eilte mit ausgebreiteten Armen dem Kommenden entgegen. Doch bis ins Herz erschrak er bei Sigenots verwandeltem Anblick. „Allmächtiger Himmel! Sigenot!“
Mit hängenden Armen, das Antlitz geneigt, stand der Fischer vor ihm. „Herr! Heut’ komm’ ich mit einer Bitt’!“
„Rede!“ stammelte Eberwein.
Sigenot rang nach Worten; dann jählings stürzte er vor dem Mönch auf die Knie und umklammerte ihn mit zitternden Armen. „Herr! Gefallen ist von mir, was meinem Leben lieb gewesen. Nimm mich auf in Deine Hut ... ein Gottesmann will ich werden ... und gut sein will ich, derweil ich leiden muß!“
Keines Wortes mächtig zog Eberwein den Knienden zu sich empor, der das Antlitz in fassungslosem Schmerz an der Brust des Mönches vergraben hielt. Schon traten die anderen zurück und sahen, wie Eberwein den wankenden Mann zu einer gestürzten Eiche führte. Dort saßen die beiden, und es währte lange, bis Sigenot zu sprechen vermochte. Nur mühsam lösten sich die Worte von seinen bleichen Lippen. Als er vom Tod der Wazemannstochter erzählte, verhüllte Eberwein das Gesicht.
„Der Schnee hat sie gefaßt, die Felsen sind über sie hergefallen, und ihre letzte Red’ noch ist gewesen: Ich hab’ Dich lieb!“ Sigenots Stimme brach, und wie leblos saß er.
Eberwein ließ die Hände sinken. „Dieses stolze schöne Leben ... erloschen und tot!“ Langsam wandte er das Gesicht, und mit feucht schimmernden Augen den See und seine Berge suchend, flüsterte er: „Der Toten darf ich gedenken ... wie einer Schwester, die mir starb!“ Er legte den Arm um Sigenots Schulter und zog ihn an sich, als wäre diese stnmme Zärtlichkeit der einzige Trost, den er zu spenden wüßte.
„Herr!“ stammelte der Fischer. „Sei nicht so gut zu mir ... eh’ Du nicht alles gehört hast!“ In heiseren Lauten erzählte er, was geschehen war nach seiner Heimkehr. „So hab’ ich geraitet mit ihm und hab’ das Kreuz gepackt und hab’s geworfen! Und jetzt, Herr ... ich hab’ mein Rötli zu ihrem Herd geführt und bin gelöst von allen Sorgen – jetzt will ich büßen, was ich gethan hab’. Gottes treuer Knecht will ich sein und all mein Leben lang helfen, sein Kreuz errichten, das ich geworfen hab’! Oder sag’, Herr ... hab’ ich in meinem Leid so schwer gesündigt, daß ich nimmer sühnen kann und daß Du mir zürnen mußt?“
„Dir zürnen? Ich?“ Eberwein sprang auf, das Antlitz von heißer Röte übergossen. „Dir zürnen? Komm, Sigenot, [497] wir wollen Gott und den Himmel suchen als treue Brüder! Wir haben gesündigt, doch unsere ganze Schuld ist, daß wir Menschen sind. Wir leben in Drang und Not, wir suchen nach Gott, und der Zweifel ist unser Los – doch in vollem Zweifel unser einziger Trost, all unsere Hoffnung nur wieder der Glaube!“
Von der Trümmerstätte kam einer der Männer gelaufen. „Herr, Herr! Wir haben ein Weib unter den Balken stöhnen hören!“
„Komm, Sigenot, zu Gottes Dienst!“
Eberwein eilte dem zerschmetterten Haus entgegen, und ihm voran stürzte Sigenot den Trümmern zu. er bedurfte keiner Picke – mit der Schulter wälzte er die Felsen, mit den eisernen Armen hob er die Balken. Als die anderen aus der Gasse, die er gebrochen, das gerettete Weib emporhoben, stand er seitwärts und wischte den Schweiß von der Stirn.
„Wohin jetzt, Herr?“
„Zum nächsten Haus!“ erwiderte Eberwein.
Seite an Seite waren sie rastlos thätig, bis der Abend kam. Bei Feuerschein wurde die Arbeit fortgesetzt, und erst gegen Mitternacht vergönnten sich die schwer Ermüdeten ein paar Stunden der Ruhe. Die Männer, deren Hütten noch standen, kehrten heim, während die Obdachlosen mit Eberwein und Sigenot unter freiem Himmel nächteten. Ein Moosfetzen, von einem zerschlagenen Dach gelöst, war ihr Kissen. Eberwein lag schlaflos und dachte seiner Brüder. Ueberall hatte er nach ihnen gefragt, doch niemand wußte von den Verschwundenen; mit trauerndem Herzen mußte er sie verloren geben.
Am folgenden Morgen wählte Eberwein aus den Männern, welche von entlegenen Gehöften zur Hilfeleistung kamen, zwei Häuflein; das eine sollte mit Sigenot zum Schönsee ziehen, um nach Reckas Leiche zu suchen. Sigenot wehrte mit der Hand, wortlos und zitternd – und dennoch ließ er die Führung keinem anderen. Als er gebeugten Hauptes davonschritt, blickte ihm Eberwein mit feuchten Augen nach. „Geh’ und suche … ob es Dir auch das Herz zerfleischt! Besser diese letzte Qual als in kommenden Jahren der nagende unsagbare Vorwurf, daß Du nicht das Aeußerste versuchtest … und wär’ es auch nur, um ihres Todes gewiß zu sein!“
Mit den anderen Männern wollte Eberwein zur Stätte hinter dem König Eismann ziehen, auf welcher die Oedhütte gestanden. Da hörte er den ersten Widerspruch. Wohl ging der Haß dieser Männer wider den ungerechten Bedrücker nicht über den Tod hinaus. Fast war Herr Waze mit den Seinen schon vergessen – in solchen Tagen des Unheils lebt man die Augenblicke aus, da werden die Stunden zu Jahren und das Alte erlischt unter dem Schwall des Neuen wie Lampenschein in der flutenden Helle eines Blitzes. Doch wie sie ein Wunder Gottes in jeder unbegreiflichen Rettung erkannten, so sahen sie in diesem furchtbaren Untergang eines ganzen Hauses auch den Zorn des Himmels und sein Strafgericht. „Frommer Herr! Zieh’ nicht aus wider Deinen Gott! Sell droben ist nimmer Leben! Schau’ hinauf! Versteinert steht Herr Waze mit seinen Buben in der Höh’, versteinert für ewige Zeiten!“ Um die Männer seinem Willen gefügig zu machen, [498] mußte sie Eberwein an den Richtmann erinnern. Nun gehorchten sie und stiegen mit ihm zu Berge. Sie fanden nur die gebrochenen Felsen, keine Spur des Lebens mehr, das unter ihnen begraben lag. Ein einziges Balkenstück der verschwundenen Oedhütte entdeckten sie: die abgetretene Thürschwelle. Sie gab der öden Trümmerstätte für kommende Zeiten ihren Namen: „Trischibl“.[7]
Bei sinkendem Abend kam Sigenot mit seiner Schar durch die verschüttete Schlucht vom Schönsee emporgestiegen und traf mit dem anderen Häuflein zusammen. Mit fragendem Blick sah ihm Eberwein entgegen. Sigenot schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
Ehe sie die Heimkehr begannen, standen sie lange und blickten nieder über den stundenweiten Grund des verschwundenen Windachersees und maßen mit staunenden Augen die Höhe der Felswand, über welche der „Starke im grauen Mantel“ den Ruedlieb und das Rötli gefahrlos niedergetragen hatte in die sichere Tiefe. Als die Männer anfingen, das Wunder in lauten Worten zu preisen, ging Eberwein mit raschen Schritten dem Abstieg zu.
In später Nacht erreichte er mit Sigenot das Thal der Ramsau. Die Männer waren auf dem Grnnd des ausgeronnenen Sees zurückgeblieben und sammelten auf Eberweins Geheiß bei Fackelschein die Fische, von denen alle stehenden Lachen wimmelten. Das gab für die Bedürftigen reichliche Nahrung auf Tage und Wochen.
Am folgenden Morgen waren alle Pfade belebt, die aus der Ramsau, aus dem Gadem und von den Gehöften der Hochbauern zum Lokiwald führten. Doch kein Ruf wurde laut, auch kein Gespräch begonnen, wenn zwei oder mehrere auf gleichem Weg zusammentrafen. Still und in sich versunken schritt ein jeder dem Ziel entgegen. Als der erste Sonnenschein über die Rodung fiel, herrschte noch tiefes Schweigen rings um die Klause. Müden Ganges schritten die Greise auf und nieder, welche die Leichenwache gehalten und in den Nächten lodernde Feuer geschürt hatten, um die Wölfe zu verscheuchen. Zuweilen blieben sie stehen, die Hände auf dem Rücken, und blickten in eine der drei mächtigen Gruben nieder, in deren Tiefe auf einem Rost von Balken die stillen Schläfer lagen, einer neben dem anderen, weit über hundert an der Zahl, fast der vierte Teil aller Lebenden, die den Morgen des Unglückstages gesehen hatten. Im größten der Gräber, das die Männer barg, ruhte Waldram inmitten der anderen, der Bekenner neben dem Zweifler, der Hörige neben dem Freien, die Bauern in der blutbefleckten Kotze neben den Wazemannsknechten im gelben Wams – sie alle waren Brüder im Tod geworden und vertrugen sich gut miteinander. Im Grabe der Weiber lag auch die alte Ulla. Ein Stein hatte den Nacken der Magd getroffen. Sie war nicht schnell genug gelaufen, um dem „Fluch der Salmued“ zu entrinnen.
Vom gebrochenen Wald her klangen Beilschläge, und die ersten Leute kamen: ein Bauer, der auf den Armen ein blondlockiges Dirnlein trug, welches den Vater in Angst umschlungen hielt, als könnt’ es auch ihn noch verlieren wie die Mutter; der Köppelecker mit seiner Bäuerin; Ruedlieb und Rötli, Hand in Hand, mit ihnen die beiden Mägde, der einzige Knecht, der ihnen geblieben war, und Sigenots Altsenn. Der alte Gobel, dem der Urstaller eine Kotze geliehen, brachte auf einer Kraxe den lahmen Buben getragen. Weiber kamen, an der einen Hand das eigene Kind, an der anderen ein fremdes und verwaistes führend. Immer zahlreicher traten die Kommenden von allen Seiten aus dem zerstörten Wald hervor, und der Ring der Menschen, über dreihundert an der Zahl, drängte sich um die Gräber. Als alle schon versammelt schienen, kam noch ein letzter: der Greinwalder; er war allein und streifte mit scheuen Blicken die Klause.
Unter der Thüre des dachlosen Kirchleins erschienen zwei Mönche. Eberwein mit der weißen Stola über der schwarzen Kutte, und ein anderer, der auf seiner Schulter ein schweres Kreuz mit dem heiligen Bilde trug. Als die Leute den Kreuzträger erkannten, ging eine Bewegung durch die Schar der Menschen und leise weinend bedeckte Edelrot das bleiche Gesicht. Inmitten der Gräber erhöhte Bruder Sigenot das Kreuz, daß die blauen Augen des heiligen Bildes niederblickten auf die stillen Schläfer. Mit schwankender Stimme sprach Eberwein die kirchlichen Gebete. Keine Glocke tönte und kein Weihrauch dampfte bei dieser ernsten Feier. Das Grabgeläute besorgten die Berge, von deren Höhe in Zwischenräumen das Knattern fallender Steine klang, und gleich dem Rauch eines Totenopfers qualmte der Nebel aus den versumpften Gründen. Der leuchtende Morgenhimmel begann sich zu bewölken, als möchte auch er sich in Trauer hüllen. Doch über die weite Rodung fiel noch helle Sonne und umwebte mit warmem Schimmer die offenen Gräber und die in dumpfem Schweigen verharrende Schar der Lebenden. Eberwein ließ die erste Scholle in das Grab der Männer fallen, und die traurige Arbeit der Spaten begann. Sie währte lange, und hoch türmten sich über den geschlossenen Gräbern die Hügel der ersparten Erde.
Unter lautloser Stille, aus welcher sich nur zuweilen ein kurzes krampfhaftes Schluchzen hören ließ, trat Eberwein neben das Kreuz und begann zu sprechen. Die ernste Weihe des Augenblicks erfüllte sein Herz, und was ihm heiß und strömend aus tiefster Seele kam, floß über in die Gemüter dieser gebeugten Menschen, wie zärtlicher Trost, gereicht von den Händen eines treuen Freundes. Laut weinten sie alle, und in ihren Thränen löste sich der starre Schmerz. Von neuem erhob Eberwein die Stimme. Um sie ihren Klagen und Zähren zu entreißen, sandte er die Frauen und Kinder zum Wald: sie sollten Zweige von den Tannen brechen und mit dem Grün die schwarzen Hügel schmücken. Und den Männern rief er zu: „Tretet her zu mir! Wir wollen raiten miteinander um das Landwohl!“
Vor der Klause saß er auf einem Holzblock, Sigenot an seiner Seite, und im Halbring standen die Männer umher, mit entblößten Häuptern – die Zahl der „raitfähigen Leut’“ füllte nicht mehr das „Hundert“ wie in der Thingnacht auf dem Totenmann. Kein Feuer loderte, es wurde kein Bock geschlachtet, kein Hahn geköpft, und die Stimmen schrieen nicht wirr durcheinander. Eberwein erhob sich. „Gott ist mit uns! Nun redet Ihr Männer! Was meinet Ihr, daß geschehen soll?“
Schweigen folgte. Dann trat der Köppelecker vor. „Schau’, Herr, keiner weiß ein Wörtl, wir all’ sind ratlos; eins aber wissen wir: Du meinst es gut mit uns, Du hast den Kopf und das Herz auf dem rechten Fleck! Und hast einen starken Helfer! Red’ Du ... es soll geschehen, was Du willst.“
Da nickten sie alle, und ein Murmeln des Beifalls ging durch die Reihen. Helle Röte stieg in Eberweins bleiche Wangen und nach allem Weh und Jammer schimmerte die erste Freude in seinen Augen. Mit bewegter Stimme sprach er. Seine erste Sorge war es, den verwaisten Kindern ein Heim zu suchen. Und da waren der Väter mehr, welche Kinder haben wollten, als Kinder, die der Väter bedurften. Seine zweite Sorge war die Not der nächsten Tage. Sechs Greise bestellte er, um die Fische zu verteilen, und zehn junge Männer, welche in den Wäldern jagen sollten, um Fleisch zu schaffen. „Erleget, was Ihr gewinnen könnt’, doch schonet die Muttertiere und Kälber.“
Wie sollte bei jenen, denen alles genommen war, der Bedarf an Kleidung gedeckt und der neue Stall bevölkert werden? Wer konnte geben? Einer um den anderen trat aus der Reihe, und jeder nannte, was er über den Bedarf des eigenen Lebens noch besaß und missen konnte. Keiner empfand, daß er schenkte. Sie alle fühlten auf ihren Schultern die gemeinsame Not, und jeder sagte sich: gieb heute – so kannst Du hoffen, daß Dir andere geben, wenn an Dich die Reihe kommt, zu nehmen.
Die beiden nächsten Tage bestimmte Eberwein zur Ordnung dessen, was sie bisher beschlossen hatten. Am dritten Tag sollten sie alle ruhen und Kräfte sammeln. Dann wollten sie mit dem Bau der Hütten beginnen. Ein jeder, dessen Haus verschont geblieben, sollte im Wechsel immer einen Tag für sich und die Seinen schaffen und am folgenden Tag beim Bau der neuen Hütten helfen, daß man die Mauern unter Dach brächte, bevor der strenge Winter käme. Damit an Stelle der verschütteten Felder und Halden neues Fruchtland für das kommende Jahr gewonnen würde, sollten die gebrochenen Thalwälder in Gevierte geteilt und die liegenden Stämme verbrannt werden, um durch die Asche den Gehalt der neuen Erde zu bessern.
So wurde Frage um Frage geregelt, und für alle Not fand Eberwein Rat und Hilfe. Als er nach langen Stunden die Männer entließ, drängten sich alle um ihn her, und jeder suchte einen Druck seiner Hände zu erhaschen. Nur der Greinwalder schlich davon, als wäre ihm in der Nähe des Mönches nicht ganz geheuer. Langsam, unter leisen Gesprächen, schritten die Männer heimwärts nach allen Seiten. Wie aus der Asche einer Brandstatt der erste grüne Halm, so war in ihren Herzen ein Trost ersprossen: der Mut zu neuem Leben, die Hoffnung auf bessere Zeit.
[499] Als Ruedlieb und Edelrot die Gräberstätte verlassen wollten und scheu vor der Klause stehen blieben, trat ihnen Bruder Sigenot entgegen. Seine Lippen blieben stumm, während er mit festem Druck ihre Hände faßte. Sie betraten das Kirchlein, und in der dachlosen Halle knieten sie auf nackter Erde. Eberwein legte die Hände der Liebenden ineinander und segnete ihren Bund. Als das junge Paar sich erhob, hatte Bruder Sigenot das Kirchlein schon verlassen. In Schweikers Zelle saß er auf dem Stangenlager, das Kinn auf die Brust gesenkt und die zitternden Hände im Schoß.
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Ein wundersamer Spätherbst folgte, wie nur die Berge ihn kennen, leuchtend in allen Farben, mit goldener Sonne und fliegendem Silber. Jeder Tag schien den vergangenen an Glanz und Schimmer überbieten zu wollen. Den bedrückten Menschen kam diese schöne Zeit wie ein neuer Trost. Es schien, als hätten sich die Berge nur deshalb mit ihrem herrlichsten Gewand umkleidet, um den Menschen, welche irr geworden an dem väterlichen Boden, neue Heimatfreude in das Herz zu flößen, das gebrochene Vertrauen zu festen und die alte Treue wieder zu erwecken. Die Arbeit, welche sie in den ersten Tagen wie träumend geleistet hatten, begann ihnen wieder eine Lust zu werden, und mit Freude erfüllte sie jeder kleinste Erfolg, den sie mühsam gewannen. Doppelt genossen sie nach schwerem Tag die Ruhe am warmen Herd, und jeden kargen Lichtschein, der in ihre Herzen fiel, empfanden sie wie eine Sonne.
Die schönen Tage förderten alle Arbeit. Rastlos klangen die Beilschläge im weiten Thal, und überall loderten die Feuer, welche den gebrochenen Wald verzehrten. Tag um Tag, vom Frühlicht bis zur sinkenden Nacht, waren Eberwein und Bruder Sigenot rastlos auf allen Wegen. Sigenot leitete die Rodung der Wälder, und immer stellte ihn Eberwein an jenen Platz, wo es das schwerste Werk zu leisten galt; wußte er doch, daß er ihm besseren Trost nicht bieten konnte als Arbeit, welche kein Träumen und Grübeln gestattet, den Körper ermüdet und mit tiefem Schlummer lohnt. Eberwein selbst leitete den Bau der neuen Häuser; er wählte die Plätze, steckte die Flächen aus und lehrte die Bauenden feste Grundmauern zu legen, die Balkenwände mit Fachwerk zu durchsetzen, den Flur von der Stube zu scheiden und die Räume des Hauses wohnlicher zu gestalten. Und bei jeder Arbeit streute er den Samen frommer Lehre. Bei Anbruch der Nacht erst kehrten die beiden in die Klause zurück, welche schon längst wieder ihr Dächlein mit der Glocke hatte, dazu noch gute Thüren und einen festen Hag. Während Bruder Sigenot schwer ermüdet auf das Lager sank, saß Eberwein zuweilen noch beim Schein der Fackel vor seinen Büchern. Wurden ihm die Augen müde, so blickte er oft in stillen Gedanken zum sternenhellen Himmel auf und trauerte um die verschollenen Brüder.
Als er in solcher Stunde wieder einmal an Schweiker dachte, sah er plötzlich das gutmütige Flachsgesicht mit den wasserblauen Augen durch das offene Fenster in die Zelle blicken, bleich und mit einem Zug der Trauer. „Schweiker!“ stammelte er, sprang auf und streckte die Arme. Da war das Gesicht verschwunden. Er eilte ins Freie und rief den Namen des Bruders mit hallender Stimme in die Nacht hinaus. Aber alles blieb still in der finsteren Runde.
Bruder Sigenot, den der Ruf geweckt hatte, kam herbei. „Herr, was ist Dir?“
„Nichts! Ich habe geträumt!“ Zögernd kehrte Eberwein in seine Zelle zurück und fand in dieser Nacht keinen Schlummer mehr. Erst der folgende Morgen mit seinen Pflichten löschte den seltsamen Schauer, welchen das Gesicht in ihm geweckt hatte.
[510] Die Tage vergingen, und endlich war die Arbeit im Thale so weit gediehen, daß man ohne ernstere Sorge den Winter erwarten konnte. Die Berge waren schon bis auf die Wälder herab mit frischem Schnee bedeckt, und Eberwein rüstete sich zur Heimfahrt nach seinem Mutterkloster, um mit dem Frühjahr wiederzukehren, neue Mönche in das Thal zu führen und den Bau des Klosters zu beginnen. Ein kalter Morgen graute, und in der Herdstube der Klause flackerte das Feuer. Eberwein hatte mit dem Bruder das letzte karge Frühmahl eingenommen; nun gürtete er das Kleid und schnallte die Sandalen an die Füße. Sigenot stand an die Mauer gelehnt, die Arme schlaff, mit nassen Augen und vergrämtem Antlitz. Da klangen Schritte, und eine Gestalt erschien in der Thür. Sigenots Jungsenn’ war es, der von seinem weiten Botengang zurückgekehrt war.
„Guten Gruß, Herr! Ich bin daheim und bring’ die Botschaft!“
Eberwein lächelte. „Ich danke Dir! Du bist ein treuer Bub’! Doch der Hilfe, die Du bringst, bedarf ich nimmer!“ Während er das herzogliche Siegel brach und das Pergament eröffnete, fielen die Blicke des Jungsennen auf den grauköpfigen Bruder, der ihm langsam entgegenschritt. Er stand mit aufgerissenen Augen und klaffendem Mund, zitternd an allen Gliedern; aber da faßte Bruder Sigenot schon den Knaben am Arm und zog ihn aus der Klause. Ein gedämpfter Laut der beiden Stimmen und ein kurzes Schluchzen klang in die Herdstube, während Eberwein beim Schein des Feuers die Botschaft seines herzoglichen Freundes las. Es war ein langer Brief – und doch war all sein Inhalt nur ein einziges kurzes Wörtlein. Eberweins Brauen furchten sich, und es zuckte bitter um seine Lippen. Schwer atmend ließ er das Blatt in die Flammen gleiten. „Was wäre geworden aus meinem Gotteshaus und meinem armen Völklein … hätten die Berge nicht geholfen!“ Er faßte seinen Stab und trat ins Freie. Im erwachenden Frühlicht führte ihm Bruder Sigenot den Burschen entgegen, dem die Thränen noch in den Augen standen.
„Herr, ich komm’ mit einer Bitt’ zu Dir. Schau’ den Buben an! Er ist verwaist und hat ausgesennet in meinem Dienst. Mach’ ihn zu Deinem Fischer und laß ihn auf meiner Heimstatt sein Dächlein bauen!“ Eberwein nickte und strich mit der Hand über den Scheitel des jungen Mannes. „Nun komm, Bruder, und gieb mir das Geleit! Der Bub’ mag harren, bis Du wiederkehrst!“
Sie schritten in den hellen frischen Morgen hinaus, erreichten das Thal der Ache und folgten dem Lauf des Wassers. Während des Wanderns hatten sie noch so viel von Arbeit, von Land und Leuten und von den Sorgen des Winters zu sprechen, daß ihnen Weg und Zeit verrann, ohne daß sie es merkten. Mitten im Gespräch verhielt Eberwein plötzlich die Schritte und blickte rings umher. „Bruder Sigenot, erkennst Du die Stelle?“
„Wohl wohl, Herr. Es ist das Flecklein, auf dem wir uns zum erstenmal gesehen haben.“
„Hier wollen wir scheiden!“ Eberwein faßte die Hand des Gefährten. „Und mein letztes Wort soll Dir allein gehören. Unsere Tage waren Arbeit, unsere Nächte müder Schlaf. Ich konnte Dir nur das Kleid der Kirche geben – für ihre Lehre blieb uns keine Zeit! Und ich rede auch zu Dir in dieser letzten Stunde nicht als Priester – nur als Mensch zum Menschen. So höre die kurze Lehre, welche mein Herz davongetragen aus allem Sturm und aller Not, die über uns gekommen: Du lebst … und [511] zwei Pflichten sind Dir auferlegt, die eine gegen Deinen Nächsten und die andere gegen Dich selbst. Sei gut, und Du erfüllst die erste. Sei Dir selbst getreu, und Du genügst der zweiten. Alles andere laß über Dich ergehen, wie es mag. Das kommende liegt vor Dir, ein Wirrwar dunkler Pfade. Welchen Du wandeln sollst ... frage nicht andere, nur immer Dich selbst. Beschreite jenen Weg, den Dein redliches Herz Dich gehen heißt, und überlasse die Führung jenen Mächten, die Du fühlen kannst, doch nicht erkennen. Glaube an Gott! Denn glauben mußt Du, Glaube ist Hoffnung, und Hoffnung ist der Atem alles Lebens. Glaube an Gott, an seine Kraft und Liebe ... doch hüte Dich, nach seinem Wesen und Antlitz zu forschen, nach seinem Rat und Willen. Du bist, wie Du geschaffen wurdest: menschlich ... daß Du mehr nicht sein und nicht hinauswachsen kannst über Deine irdischen Sinne bis zur Wolkenhöhe, das wird Dir die unergründliche Macht verzeihen, die Dich werden ließ, so, wie Du bist!“
Mit ernsten Augen hing Sigenot an Eberweins Lippen, und nach kurzem Schweigen sagte er langsam: „Ich mein’ wohl, ich fass’ Dein Wort ... und mein’ auch, daß ich’s im Leben halten kann nach Deinem Rat. Und weil ich mehr nicht hab’ lernen können, deswegen mußt Dich nimmer sorgen! ‚Mein guter Herre, Du mein Gott‘ ... das ist genug für meine Zung’. Was ich mehr brauch’, redet schon mein Herz dazu. Aber eins noch ...“ seine Stimme schwankte, und mit heißen Augen suchte er den Platz, an dem er einst lachend das scheue Roß gebändigt, „sag’, Herr ... giebt’s ein Wiederfinden sell droben in der helleren Zeit?“
Eberwein wollte sagen. „Ich hoffe!“ Doch als er in Sigenots Augen blickte und das Bangen in jedem Zug des vergrämten Gesichtes erkannte, sagte er mit fester Samme. „Ja, Sigenot! Glaube!“
„Gute Heimfahrt, Herr!“ stammelte Sigenot mit heiserem Laut. „Und kehr’ bald wieder! Dein Wort soll Eisen sein in mir!“ Hastig löste er die Hand und eilte davon. Mit stillem Lächeln sah Eberwein dem Verschwindenden nach. „Du, ein Mönch? Laß Dir genügen am Kleid der Kirche ... und an allem, was Deine Seele füllt mit Weh und Sehnen!“ Er blickte um sich, für kurze Rast eine Stätte suchend. Am Ufer der Ache fand er einen Stein und ließ sich nieder. Nicht lange währte seine Rast, und wieder folgte er dem Pfad, zu dessen Seiten noch überall die Spuren der Flut zu erkennen waren, welche an jenem Unglücksabend den Weg bis in die Ebene hinaus gesucht und gefunden hatte.
Hoch am Tag erreichte Eberwein die Salzaburg. Als er das Thor durchschritten hatte und der bischöflichen Pfalz sich näherte, sah er auf der steinernen Freitreppe einen Bruder seines Ordens sitzen, mit kahlem Haupt, das bleiche Furchengesicht umwuchert von den Stoppeln eines graugesprenkelten Bartes. Schlotterig hing die Kutte um den abgemagerten Leib. Es schien ein Genesender zu sein, der eine lange schwere Krankheit überstanden hatte und sich ein Stündlein an der Sonne wärmte. Müd’ und gebrochen sah er aus; doch plötzlich sprang er auf, schwenkte die Arme, eilte dem Kommenden entgegen und stürzte schluchzend vor ihm nieder.
„Bruder Wampo!“ In zitternder Freude hob Eberwein den Wiedergefundenen auf.
„Herr! Ach guter Herr! Geh’ nicht ins Gericht mit mir, weil ich die Klaus’ verlassen hab’ und gelaufen bin wie die Maus vor einer Katz’! Das Grausen hat mich gepackt, das Grausen! Aber schau’ mich an ... ich bin gestraft dafür! Sechs Wochen hab’ ich auf den Tod gelegen vom Schreck und von der Angst, sechs Wochen, Herr ... und all’weil’ Krankenkost ...“ In Schluchzen erloschen ihm die Worte, und Eberwein mußte unter Thränen lächeln.
Es war um die Sonnenwende des folgenden Jahres, an einem sengend heißen Tag, als ein langer Zug von Menschen, beladenen Saumtieren, Karren, Pferden und Rindern durch die Waldschlucht der Ache den Weg zum Berchtesgadem suchte. Propst Eberwein kehrte in sein Land zurück, und der Bau des Klosters sollte beginnen. Drei Väter kamen in seinem Geleit, und vier Brüder – unter ihnen Bruder Wampo, dessen Falten sich schon wieder zu glätten und zu füllen begannen. Er war auf der weiten Reise in bester Laune gewesen, denn einer der Karren war schwer befrachtet mit bauchigen Fäßlein. Doch je näher man der „schiechen Gegend“ kam, desto unruhiger blickten Bruder Wampos kleine hurtige Aeuglein. Um so heller aber strahlte die Freude in Eberweins Antlitz. Immer wieder eilte er an dem langen Zuge auf und nieder und musterte die Menschen, die Tiere und alles Gerät. Gegen hundert Gewerksleute und Knechte kamen mit ihm – und der Bau des Klosters und der steinernen Kirche sollte nicht ihre einzige Arbeit sein. Er streichelte die schweren Pferde und sah sie schon im Pfluge gehen und die rauhdurchschotterte Erde brechen. Und wie die Bauern staunen würden beim Anblick dieser Rinder! Es war ein fester stämmiger Schlag, der die verkümmerte Zucht des Gadems in wenigen Jahren verbessern würde. Ein Teil der Saumtiere war mit Säcken beladen, welche den Bedarf für die erste Wintersaat und Flachssamen für das kommende Jahr enthielten. Zwei Karren trugen mancherlei Gerät, nach dessen Muster die Bauern lernen sollten, ihre Stuben und Kammern freundlicher zu bestellen; ein anderer Karren war bepackt mit Handwerkszeug, wie es im Garmischgau und Wertofelser Land die Holzschnitzer führten; denn die Kunst, allerlei Bildwerk und zierlichen Hausrat zu schnitzen, gedachte Eberwein die heranwachsenden Knaben zu lehren, damit sie in den Tagen des langen Winters lohnende Arbeit hätten.
Je mehr sich der Zug dem Ende der Waldschlucht näherte, desto ungeduldiger eilte ihm Eberwein voran; es brannte in seinem Herzen die Sehnsucht, das vielgeprüfte Thal, die stille Klause und ihren einsamen Hüter wiederzusehen. Er überholte die zehn Knechte, welche mit Beilen einen Pfad für die Tiere und Karren bahnten, und wanderte aufwärts am Ufer der Ache. Als die Schlucht sich weitete, verhielt er freudig betroffen den Schritt: vom Lokiwald tönte die Glocke. Er hätte sich lieberen Gruß zum neuen Einstand in seinem Land nicht wünschen mögen. Von der Klause klangen ihm zahlreiche Stimmen entgegen, und als er die Lichtung betrat, sah er rings um das Kirchlein über hundert Menschen versammelt, und andere kamen noch immer herbeigeströmt von allen Seiten. Als die Leute den Mönch gewahrten, erhoben sie ein helles Geschrei und eilten ihm jauchzend entgegen. Sie drückten seine Hände, küßten sein Gewand und begrüßten ihn, recht wie ein dankbares Völklein seinen guten Fürsten. Seit Wochen schon hatten sie seiner Wiederkehr gewartet und aus den Höheu des Untersberges Späher aufgestellt, welche durch Rauchsäulen die Ankunft des Zuges verkündeten. Wohin Eberwein blickte, sah er bekannte Gesichter, aus dem Gadem und aus der Ramsau. Auch der alte Gobl fehlte nicht; er war säuberlich gekleidet, und auf Eberweins Frage, wie es dem Knaben ginge, sagte der Alte stolz: „Der hat sich herausgewachsen, Herr! Wohl wohl! Aus dem Bnben ist ’was geworden! Den kann man brauchen jetzt! Der hütet im Gadem die Säu’ ... das sind gemütliche Tier', wohl wohl, denen kommt er schon nach, wenn er auch ein lützel hinket!“
Den anderen währte die Rede des Greises zu lange, sie wollten auch zu Worte kommen und schoben ihn beiseite. Eberwein bekam die Hände nicht mehr frei. Jetzt hielt ihn der Jungsenn’, der zum Fischer geworden, und jetzt die Heilwig, die sich aus des Fischers Magd in eine Bäuerin verwandelt hatte; Mitleid und Erbarmen hatten ihr einen Mann geworben – den Kaganhart. Seine Trauer um die Hilmtrud schien sich gelegt zu haben. Das rote Gesicht strahlte vor Vergnügen, und seine Haare lagen schlicht und glatt, als wäre schon lang keine zausende Hand mehr dazwischen gefahren. Aber wo blieben Ruedlieb und Rötli? Wo weilte Bruder Sigenot?
„Sell drüben sitzt er beim Kirchlein!“ lautete die Autwort auf Eberweins Frage. „Er hat nimmer stehen können ... die Freud’ ist ihm in die Knie gefahren!“
Eberwein brach sich Bahn durch die Leute. Bis ins Herz erschrak er, als er auf einem Holzblock neben der Kirchenthür den gebrochenen Mann gewahrte, welcher zitternd saß, das graue Haupt an die Balkenwand gelehnt. „Sigenot! Mein Bruder!“ Lange hielten sie sich stumm umschlungen. Als Eberwein seiner Bewegung Herr geworden, strich er mit den Händen über die abgehärmten Wangen des Freundes und stammelte: „In aller Freude ein Schmerz! Ich hoffte, Dich anders zu finden ... mutig und stark, wie Du immer warst!“
„Stark, Herr? Stark ist nur Einer!“ Ein müdes Lächeln zuckte um Sigenots bleiche Lippen. „Ich will Dir sagen, was schuld ist ... es steht halt für mich die Klaus’ auf einem unguten Fleck. All’weil’ seh’ ich den halben Berg sell drüben ... und ich kann’s nicht wehren: so oft ich hinaufschau’, reißt er wir ein Stückl von meiner Seel’! Viel ist nimmer übrig, Herr!“
Geschrei und Lärm erhob sich, die Leute kamen in Bewegung; [512] die Geleitschaft Eberweins war auf der Rodung erschienen. Erschrocken blickte Bruder Sigenot auf die Schar der Kommenden. „Herr! Unter all’ den Leuten soll ich weiterleben?“
„Nein, Sigenot!“ Eberwein legte die Hand auf die Schulter des Bruders und sah ihm mit herzlichem Blick in die Augen. „Ich will Dich mir erhalten und deshalb lege ich eine heilige Pflicht auf Deine Seele und gebe Dir ernste Arbeit. Was ich meine, sollst Du morgen hören. Für heute nimm Deinen Stab, ziehe zur Ramsau und lade die Männer auf den zweiten Tag von heute zur Martinsklause. Sie sollen zugegen sein, wenn ich den Grundstein meines Klosters lege. Morgen zu Mittag kehre heim und erwarte mich im Hause Deiner Schwester!“
Sigenot wehrte mit der Hand. „Herr, laß meinen Schatten nicht fallen auf ihren hellen Weg’!“
Einer der Mönche kam, um die Ankunft des Zuges zu melden und die Befehle des Propstes zu hören.
„Ich komme!“ sagte Eberwein. Dann drückte er den eigenen Stab in Sigenots Hand. „Nimm den Stecken und wandere! Ich erwarte Dich morgen!“ Er wandte sich ab und folgte dem Mönche. Bruder Sigenot stand noch eine Weile, die Augen mit verlorenem Blick auf den Stab geheftet. Als er einen kleinen wohlbeleibten Bruder mit anderen Mönchen der Klause sich nähern sah, kehrte er sich hastig ab und begann die Wanderung.
Der Abend kam, und treibendes Leben herrschte auf der weiten Rodung. Während Zelte und Hütten aufgeschlagen wurden und in der sinkenden Nacht die Feuer zu lodern begannen, saß Eberwein beim Licht einer Kerze in seiner Zelle und schrieb. Lange währte die stille Arbeit. Er siegelte die Rolle, verwahrte sie in hölzerner Kapsel und legte sie mit einem schweren Säcklein in eine Ledertasche. Dann begab er sich zur Ruhe.
Vor dem Grau des Morgens erhob er sich wieder. Während alles noch schlummerte, schwer ermüdet von der weiten Fahrt, schritt er dem Thal der Ache zu, die Ledertasche an seinem Gürtel. Es drängte ihn, eine Höhe zu ersteigen und von freier Warte sein Land zu überblicken, wie an jenem ersten Morgen, an welchem der Kohlmann ihn zum Untersberg geführt. Auf schmalem Brücklein überschritt er die Ache und überließ sich einem Almensteig, der durch den Bergwald emporführte zu den Gehängen des Göhl. Zwei Stunden wanderte er aufwärts; endlich gingen die Bäume zu Ende, und mit schimmerndem Duft erwachte der schöne Morgen.
Auf steiler Zinne ruhte Eberwein und harrte, bis im Thal die Schatten wichen. Noch ehe sein Blick die Hage und Häuser unterscheiden konnte, sah er schon die weißgraen Schnuttfelder, welche mit langgestreckten Fingern über die Halden der Schönau griffen. Doch bald erkannte er auch den mattgrünen Schimmer, von welchem die gerodeten Flächen wie von einem dünnen Schleier überzogen waren. In stillen Bildern zog das Vergangene an Eberweins Augen vorüber, all sein eigenes Hoffen und Leiden, alles Glück und Weh der hundert Menschen, welche dort unten mit dem Morgen jetzt erwachten oder ewig schlummerten unter Felsen und Erde. Wie viel an gutem und gesundem Leben lag unter den Trümmern des gebrochenen Berges begraben! Und dennoch erkannte Eberwein, daß keine Kraft und Menschenhilfe diesem Land und seinen kommenden Geschlechtern größere Wohlthat hätte erweisen können als jene Stunde der stürzenden Felsen. Am verwichenen Abend hatten es ihm die Leute als ein Wunder berichtet, daß seit Menschengedenken der Winter im Gadem nicht so kurz und mild gewesen, der Schnee in den Thälern nicht so früh geschmolzen und der grüne Frühling nicht so zeitig eingetreten wäre als in diesem Jahr. Sinnend schweiften die Blicke Eberweins über das weite Thal hinüber zu den von der Morgensonne beglänzten Ruinen des gebrochenen Berges. Die beiden riesigen Stümpfe waren frei von Schnee, und nur in der breiten Scharte zwischen ihnen dehnte sich im Schatten ein weißes Feld. Auch andere Berge, welche noch im letzten Sommer weiße Köpfe getragen, waren in der Sonne schneefrei geworden, nachdem der gewaltige Eisriese verschwunden war, der die ganze Runde in seinem kalten Banne gehalten. Ein neues „Wunder“! Eberwein seufzte, wenn er des absonderlichen Christenthums gedachte, das in die Köpfe und Herzen seiner Gademer Leute eingezogen war und zu welchem nicht die Lehre der Liebe sie bekehrt hatte, sondern die Not, welche beten lehrt, Waldrams blutiges Ende und Bruder Wampos Bär. Wunder und Wunder, Gottes starke Faust und der strafende Zorn des Himmels – das war der ganze Inhalt ihres Glaubens. Daneben wandelte der Alte aus dem Untersberg durch ihre Herzen und um ihre Häuser, und ihre Kinder schreckten sie mit dem steinernen Gespenst des Spisars – nicht mehr König Eismann, sondern „Wazemann“ hieß der gebrochene Berg, und die starrenden Zacken des Grates hießen „Wazemanns Kinder“. Aber wie auf den gerodeten Flächen mit dem Unkraut die erste Saat, so war in den vom Schmerz geackerten Herzem doch der erste Keim des Glaubens aufgegangen.
Die Arme gegen die Thäler streckend, erhob sich Eberwein. Sie waren ihm gewonnen, nun hatte er sie und wollte sie halten. Nun kam die Zeit, das Unkraut von der Saat zu scheiden, das junge Stämmlein mit Sorge zu pflegen und dem beschnittenen Wildling edle Reiser aufzusetzen. Ob es ihm wohl gelingen würde? Dieses eine wie alles andere, was er zum Wohl dieses Landes und seiner Menschen sann und plante? Eine Antwort konnte nur die Zeit ihm geben. Er atmete tief. „Die wir berufen sind, das Leben der Menschen auf guten Pfad zu lenken, wir können mehr nicht sein, als der Sämann ist auf kahlem Acker. Nur den Samen kann er streuen und geduldig auf die Ernte harren – es wachsen die Halme, wie es der dunklen Erde gefällt, es reifen die Früchte, wenn die Wolken es dulden.“
Der Ton einer Almenschelle traf sein Ohr, und als er aufblickte, sah er über eine grasige Kuppe bläulichen Rauch zum Himmel steigen. Dort oben mußte eine Hütte liegen, und er wollte unter ihrem Dach ein Stündlein friedlicher Einkehr halten. Als er die Höhe der Kuppe erreichte, öffnete sich ein flaches Almfeld, und auf wenige Schritte vor ihm erhob sich ein kleines vor Alter graues Blockhaus. Feuerschein leuchtete durch die Ritzen des Gebälks und aus der offenen Thür, auf deren Schwelle ein junges^Weib saß, einen Säugling auf den Armen wiegend. Die rote Herdflamme bestrahlte die nackte Schulter der kleinen zierlichen Gestalt, während das Sonnenlicht um ihren Schoß und ihre Füße spielte. Mit leisem Stimmlein und mit dem Ausdruck aller Zärtlichkeit summte sie ein Liedchen und hielt die Augen auf das runde Gesichtlein des Kindes gesenkt. Der stille Reiz dieses Bildes schlich sich mit traulicher Wärme in Eberweins Herz. „Gott grüße Dich, junge Mutter!“
Die Sennin blickte auf, und als sie den Mönch gewahrte, erschien sie wie von lähmendem Schreck befallen; sie wollte sich erheben und sank wieder zurück auf die Schwelle, zitternd an allen Gliedern, mit starren Augen und erblaßtem Gesicht, auf dessen Stirn sich eine Narbe zeigte wie ein feiner blutroter Strich. Da erkannte sie der Propst. „Hinzula!“ Er wollte sich nähern. „Weshalb erschrickst Du vor mir?“
Wie in namenloser Angst umklammerte die junge Mutter ihr Kind, und lautlos bewegten sich die bleichen Lippen. Das hastige Gebimmel einer Schelle tönte, dumpfes Stampfen näherte sich, und hinter der Hütte klang eine kräftige Männerstimme: „Wirst halten oder nicht! Wart’ nur, Du! Ich treib’ Dir noch die Wildheit aus Deinem dicken Schädel!“ Ein schwarzer Stier erschien, die Nüstern von weißem Schaum bedeckt, mit gestrecktem Schweif und schlagenden Füßen doch alle Wut des Tieres brach an der zähen eisernen Kraft des hünenhaften Sennen, der mit nackten sonnverbrannten Armen den Kopf des Stiers an den Hörnern gefaßt hielt und zu Boden drückte.
„Schweiker!“ fuhr es mit bebendem Schrei von den Lippen Eberweins, aus dessen Antlitz alles Blut gewichen war.
Als wäre ein Blitzstrahl auf ihn niedergefahren, so stand der Senn’ beim Klang dieser Stimme, die Fäuste ins Leere gestreckt, während der befreite Stier in tollen Sprüngen das Weite suchte. Mit fliegenden Schritten eilte Eberwein auf den Erstarrten zu und rüttelte seinen Arm. „Schweiker! Schweiker!“ Was er mehr noch sagen wollte, brachte er nicht über die Lippen, doch es stand auf seinem Gesicht geschrieben, in welchem fahle Blässe mit flammender Röte wechselte. „Schweiker! Schweiker!“
Der Hüne schlotterte an all seinen langen schwerfälligen Gliedern, auf der keuchenden Brust zitterten die Wellen des silberblonden Bartes, und wie ein zuckender Krampf hatte es seinen Nacken befallen. Er wollte sprechen und würgte nur heisere Laute hervor. Dicke Zähren kugelten ihm über die braunen Backen. Jetzt hing er mit starren Augen an dem Gesicht des Propstes, dann wieder suchte er mit hilflos irrendem Blick die Hütte, sein Weib und Kind. Und als wäre das herzergreifende Bild, das die junge Mutter in ihrem Schreck und Jammer bot, die einzige Verteidigung, die er dem schweigenden Vorwurf seines Herrn entgegenhalten könnte, so stöhnte er. „Schau’ sie an, Herr ... schau’ sie [514] nur an! Ob Himmel oder Höll’ ... ich hab’ nimmer anders können!“ Schluchzend bedeckte er mit den Händen das Gesicht und stürzte auf die Knie. Eberwein stand in bebender Erregung; er blickte auf das stumme von Angst gelähmte Weib, dann wieder auf das ausgiebige Bröcklein Elend nieder, das vor seinen Füßen auf der Erde lag. Allmählich beschwichtigte sich der Sturm in seinen Zügen, und schwer atmend legte er die Hand auf die Schulter des Knienden. „Steh’ auf ... und folge mir! Was ich mit Dir zu sprechen habe, ist nicht für die Ohren Deines ...“ Die Stimme des Propstes stockte, „für die Ohren dieses armen Weibes.“ Er wandte sich ab und schritt einer Senkung des Almfeldes zu, aus welcher dunkle Fichtenwipfel hervorlugten.
Mühsam richtete Schweiker sich auf, als wären ihm alle Knochen zu Teig geworden. Schluchzend streckte er die Hände nach seinem Weib, doch als sich Hinzula erheben wollte, winkte er ihr zu, daß sie bleiben möchte, und eilte dem Mönche nach.
Immer höher stieg die Sonne, und immer stiller wurde in der Hütte das Geprassel des Feuers. Mit zitternden Armen den Säugling wiegend, saß das verstörte, blasse Weib auf der Thürschwelle. Eine Stunde verging, noch eine zweite. Langsam rann eine Thräne um die andere über Hinzulas zuckende Lippen, während ihre bangen Augen unverwandt an der Stelle hingen, an welcher Eberwein und Schweiker verschwunden waren. Mit jedem Herzschlag wuchs ihre Angst, und als die Sonne schon in Mittagshöhe stand und Schweiker noch immer nicht wiederkehren wollte, sprang Hinzula auf, und in verzweifelnder Sorge seinen Namen schreiend, stürzte sie den Bäumen zu. Als sie die Senkung erreichte, sah sie wenige Schritte vor sich den Propst auf einem Baumstumpf sitzen, an seiner Seite ihren Mann mit hängendem Kopf und schlaffen Armen. Eberwein hatte die Hände im Schoß der Kutte liegen und während aus der Tiefe herauf, vom Lokiwald, ein verschwommener Hall der Glocke tönte, blickten die Augen des Propstes in das ferne Thal der Ramsau. Durch die grüne Flucht der Wälder sah er einen breiten grauen Streif aus der Höhe niedergreifen in die Thäler: das von der Seeflut verwüstete Gehäng der Windach. Seufzend erhob er sich, trat auf Hinzula zu und blickte in das rosige Gesichtchen des Kindes. „Ist es ein Knabe?“
Sie konnte nicht sprechen, sie nickte nur und zog in mütterlicher Regung das hüllende Tüchlein nieder, damit er das breite Brüstlein und die runden Aermchen sähe. Da kehrte auch dem langen Gesellen das Leben wieder. „So sag’ ihm doch,“ stotterte er, „sag’ ihm doch, wie unser Büebli heißt!“
Scheu blickte Hinzula auf, als hätte sie kaum den Mut, ihres Kindes Namen auszusprechen. „Eberwinli!“
Mit furchtsamen Augen hing Schweiker an dem Gesicht des Propstes, um die Wirkung dieses Wortes zu erspähen. Doch Eberwein schüttelte mit leisem Lächeln den Kopf. „Der Name gefällt mir nicht! Den wirst Du wohl ändern müssen, Hinzula! Bringe mir den Knaben morgen zur Klause, damit ich ihn taufe. Er soll heißen wie jener, der für Euch gesprochen: Hiltischalk!“ Hastig wandte er sich ab, um seine Bewegung zu verbergen, und stieg der Tiefe zu. Er hatte schon den Wald erreicht, als er hinter sich ein Rennen und Keuchen hörte. Mit versagendem Atem holte Schweiker ihn ein und stammelte: „Schau’, Herr, schau’, ich thu’ Dich bitten aus Herzensgrund ... sag’ mir doch auch ein Wörtl, daß Du mir nimmer zürnen willst!“
Eberwein zeigte ein strenges Gesicht. „Ich kann Dir ein solches Wort nicht sagen, denn ich zürne Dir. Aber was bleibt mir übrig! Du hast ja flink dafür gesorgt, daß ich das Geschehene nicht mehr zu ändern vermag! Willst Du, daß ich vergessen soll ... vergeben darf ich nicht ... so füge Dich meiner Strafe. Ich will nicht, daß Dein übles Beispiel mir die Brüder stutzig mache und daß im Gadem die Leute sagen: es muß ein hartes Weilen im Kloster sein, wenn die Mönche entlaufen und sich an Weiber hängen. So wirst Du einem jeden, der Dich nach Deiner Herkunft fragt, die Antwort geben: man hat mich aus dem Kloster gejagt, weil ich im Schreck jener Unglücksstunde meiner Pflicht vergaß!“ Schweiker stand, ein Bild der tiefsten Zerknirschung. „Und ich muß helfen zu dieser Ausflucht!“ Eberwein seufzte. „Wenn ich Dich nicht verderben will, muß mein erstes Werk nach der Rückkehr in mein Land eine Lüge sein!“
Scheu hob Schweiker die Augen und stotterte. „Eine Lüg’ ...“ er strich mit der plumpen schwieligen Hand über sein Haar, „aber schau’, Herr ... eine gute Lüg’!“
„So?“ Mühsam unterdrückte der Propst ein Lächeln. „Du bist mit dem Trost gar flink bei der Hand, nur Dein Gewissen hat langsame Füße! Schweig’! Ich will kein Wort mehr hören. Geh’ heim zu Deinem Weib, und damit die schlaflosen Nächte ein Ende haben, von denen Du geplagt wirst, will ich in anderer Stunde wiederkommen und will Euch segnen in aller Stille. Ein Senn’ muß schlafen können ... sein Tag ist harte Arbeit!“
„Herr ...“ schluchzte Schweiker in Thränen.
„Schweigen sollst Du, und rühre nicht an mein Kleid! Willst Du danken, so laß die Untreu’, die Du an Deinem Gelübd’ und an mir begangen, die erste und letzte Deines Lebens sein!“ Eberwein wandte sich ab und folgte mit raschen Schritten einem Pfad, der sich in dichtem Wald verlor. Hinter ihm war lautlose Stille. Nach einer Weile aber hörte er von der Almhöhe einen gellenden Jauchzer, der an den Wänden des Göhl ein lautes Echo weckte. Lauschend blieb Eberwein stehen. „Er zehret von seinem Himmelsbrot!“
Zwei Stunden später erreichte der Propst die Schönau. Als er sich dem Hag des Richtmanns näherte, sah er den Bruder, welcher seiner schon wartete, am Wegrand auf einem Steinblock sitzen. Eine seltsame Erregung belebte die Augen Sigenots und seine bleichen Züge.
„Warum unter freiem Himmel? Weshalb nicht unter Deiner Schwester Dach?“
„Herr! Sell drinnen ist heut’ kein Platz für mich. Die Leut’ laufen umeinander in Freud’ und Sorg’ – das Rötli will Mutter werden!“
Eberwein lächelte fröhlich. „Das Leben rührt sich in meinem Land!“ An Sigenots Seite ließ er sich nieder, nahm die Ledertasche vom Gürtel und reichte sie dem Bruder. Neben reichlicher Zehrung für weite Reise enthielt sie den Brief, welchen Eberwein in der Nacht geschrieben. „Es ist ernste Pflicht, die ich Dir auferlege mit diesem Botengang, und ich habe Dich gewählt für diesen Weg, da ich bauen kann auf Deine Treu’!“
„Sag’, Herr, wohin die Botschaft?“
„In die Hand des Kaisers, dessen Schutz ich angerufen für mein Kloster und Land!“
Sigenot erschrak, daß ihm die Worte versagten. Schweigend hörte er alle die Ratschläge, welche ihm der Propst für die Reise gab.
„Aber Herr,“ stammelte er endlich, „wie soll ich Eingang finden in des Kaisers Haus? Ich? Ein schlichter Mann!“
„Fühle Dich, Sigenot! Du trägst das Kleid der Kirche, und jedes Herrn Thüre steht offen vor Deinem Fuß.“ Eberwein bemerkte die Röte, welche die Züge des Bruders färbte. „Und ich sende gerade Dich, damit der Kaiser sehen mag, daß mein Kloster nicht nur Mönche hat, auch Männer, deren Treue von Wert ist!“
Sigenot erhob sich; fester umschloß er den Stab, und langsam streckte sich seine gebrochene Gestalt, als wäre ein Funke der alten Kraft in ihr erwacht. „So laß mich ziehen in der jetzigen Stund’!“
„Ja, Sigenot!“ Eberwein faßte die Hand des Bruders und hielt sie mit langem Druck in der seinen, während sie Aug’ in Auge standen zu schweigendem Abschied.
Aus dem offenen Hagthor kam Ruedlieb hervorgelaufen, mit brennrotem Gesicht und nassen Augen. Lachend eilte er auf die beiden Mönche zu und vergaß in seiner Freude, den Propst zu grüßen. „Habt Ihr die Hulfrau nicht gesehen? Grad’ ist sie in meinem Haus gewesen ... den ganzen Buckel voll Kinder!“
„Ein Bub’, Liebli?“ stammelte Sigenot.
„Wohl wohl, ein Bub’! Und ein Dirnlein auch dazu!“ prahlte der junge Bauer mit strahlendem Gesicht. „Und das wird wohl gut sein! Der Gadem braucht wieder Leut’! Aber komm nur, komm, die Schwester verlangt nach Dir ... ihr erstes Wort ist gewesen: gelt, Liebli, Sigenot heißt mein Bub’ und Recka mein Dirnlein?“ Er rannte dem Hagthor zu, und mit eiligen Schritten folgte ihm Sigenot.
Lächelnd blickte Eberwein dem Bruder nach. „Nimm diese Freude als Zehrung auf Deinen Weg und wandere! Du wirst mir wiederkehren ... im Herzen wohl die unheilbare Wunde, denn Deine Treue hat eisernen Halt, aber stark und genesen an Geist und Körper! Es soll aus Dir noch ein Priester werden, an dem die Liebe Gottes ihre Freude hat!“ Mit hellen Augen blickte er rings umher ... aber da glitt schon wieder ein Schatten über sein Antlitz. In der Ferne, über den grauen Trümmerhügeln und dem zerstörten Bergwald, sah er den Falkenstein mit seinen verödeten Mauern. In den langen Arbeitswochen, die jenem Unglückstage [515] gefolgt waren, hatte er alle Stätten der Verwüstung besucht – nur diese eine hatte er gemieden. Jetzt zog es ihn zu ihr.
Als er emporstieg zwischen den wirr liegenden Trümmern und gebrochenen Bäumen, führte ihn kein Pfad; der Reitweg war verschüttet und kein neuer Pfad gebahnt, denn die verrufene Stätte war gemieden von allen Leuten. Ein beklemmendes Gefühl erfaßte ihn beim Anblick des offenen Thors. Die Fallbrücke überspannte den Graben, doch ihre Bohlen waren schon brüchig und von gelblichen Schwämmen bedeckt. Im weiten öden Hof waren nur an der Ringmauer noch spärliche Reste der Ställe zu erkennen, während der steinerne Unterstock des Hauses unter einem wüsten Haufen von Asche und verkohlten Balkenstücken begraben lag. Ueberall wucherte ein großblätteriges Unkraut mit langgestielten Blüten, und an der Mauer rankte sich schon der die Steine durchbrechende Epheu empor. Einzelne Bäume des Hofes standen noch, die Stämme behangen mit den gebleichten Wildschädeln und morschen Geweihen; doch die Aeste waren kahl, nur wenige Büschel dürren Laubes trugen sie noch – die Hitze des Feuers hatte ihr Leben getötet. Aber an manchen Stellen des grauen Bodens, wo das Unkraut spärlicher stand, erblickte Eberwein kleine lichtgrüne Blättchen: die jungen Sprößlinge des Buchensamens, den die Herbststürme ausgestreut. Hundert Jahre und auf der Stätte, welche Wazemanns Haus getragen, grünte ein hochstämmiger Wald mit dichten Kronen!
Erfüllt von wirbelnden Gedanken und wechselnden Empfindungen schritt Eberwein mit zögerndem Fuß um die Ränder des Aschenhügels, der das Haus gewesen. Unter seinen Tritten stäubte der Schutt, und als er zu der Stelle kam, an welcher sich unter der grauen Decke noch die Stufen der Freitreppe erraten ließen, schürfte sein Fuß aus der Asche einen kleinen gebogenen Gegenstand hervor. War es der Beingriff eines Schildes oder der Henkel eines hölzernen Kruges? Eberwein bückte sich, streckte die Hand – und erschrak, daß ihm alle Farbe aus dem Antlitz wich. Auf das Rätsel starrend, das er aus dem Staub gehoben, griff er mit der anderen Hand an seine Brust und tastete zitternd, ob die ihm heilige Reliquie seiner Kindheit noch an dem Schnürlein hinge, ob er sie nicht verloren hätte, jetzt, bei diesem letzten Schritt. Und als er sie fühlte, riß und zerrte er, bis das Bein sich löste. Nun hielt er das eine Stück in der rechten, das andere in der linken Hand, und seine verstörten Blicke glitten ratlos hin und wider. Die beiden Stücke glichen sich wie die Hälften eines entzweigesprungenen Reifes – und dennoch nicht! Die eine Hälfte, die er an der Brust getragen, war festes Bein, nur braun vor Alter, mit Runenzeichen auf der Innenseite – die andere war morsch und grau, zernagt vom Moder, daß auf der Innenseite kaum die Spur eines Zeichens sich erkennen ließ. Mit bebenden Händen fügte er Stück an Stück. Sie paßten zueinander wie die Teile eines Ganzen und dennoch nicht! Die eine Hälfte zeigte am festen Bein den scharf gesplitterten Bruch – die andere war an den Stellen des Bruches rundgefressen von der Fäulnis. Schwer atmend schüttelte Eberwein den Kopf und wollte schon das graue Rätsel zurück in die Asche werfen. Doch wieder hingen seine Blicke an dem morschen Bein, wieder fügte er die beiden Stücke aneinander! Waren sie die Hälften eines Ganzen … wie wurden sie getrennt? Wie kam die eine auf die Romstraße im Garmischgau, die andere in hundertstündiger Ferne hierher unter die Asche von Wazemanns Haus? Und als sie noch ein Ganzes waren ... wem gehörte der beinerne Reif? Wer trug ihn am warmen lebenden Arm?
Ein heißer Schauer rann dem Fragenden durch Herz und Glieder. Er deckte mit dem Arm die Augen und taumelte rückwärts, als wollte er den in das Dunkel dieses Rätsels spähenden Blick ersticken und allem entrinnen, was seine Seele bestürmte. „Soll der alte Kampf in mir von neuem beginnen, die alte Qual, die alte ziellose Sehnsucht … nur weil ein unbegreiflicher Zufall meine Sinne schreckte?“ Er ließ den Arm wieder sinken und blickte hinaus über das weite Thal. „Bin ich in diesem Augenblick denn besser als jene, welche ‚Wunder! Wunder!‘ schreien, wenn ein Bär den Honig leckt, der Sturm die Menschen von der Erde hebt und ein Stein seine unberechenbaren Sprünge macht?“ Er lächelte, und eine Blutwelle stieg ihm warm aus dem Herzen, als er im leuchtenden Schein des Abends auf allen Pfaden der Schönau, gleich winzigen Figürchen, die Menschen eilen sah, die es nach vollbrachtem Tagewerk zur Klause trieb, zu ihrem „guten Herrn“. „Ich sehe sie – und suche noch nach Haus und Heimat, nach meinen Brüdern und Schwestern! Hab’ ich sie denn nicht längst gefunden, Hunderte an der Zahl? Hängt nicht an ihnen meine ganze Liebe und ihre Liebe an mir? Und ich stehe noch …!“
Er eilte der Mauer zu, und aus beiden Händen schleuderte er die Hälften des Ringes hinunter in die Tiefe. Er sah sie fallen, immer schneller und schneller, jetzt erreichten sie den blanken Spiegel des Wassers, zwei weiße Garben sprühten auf, zwei Wellenkreise schwammen ineinander zu einem einzigen sacht zerfließenden Ring – und wieder glatt und schimmernd lag der See mit seinen grünen Fluten.