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Die Mädchenhorte in Leipzig

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Textdaten
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Autor: Lotte Windscheid
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Titel: Die Mädchenhorte in Leipzig
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aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 138–140
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Mädchenhorte in Leipzig.[1]

Zwar hat sich in den letzten Jahren ein überaus warmes Interesse der Gründung von Mädchenhorten zugewendet, allein es giebt noch immer viele, die der ganzen Bewegung ablehnend und mit Vorurteilen gegenüber stehen. Besonders häufig begegnet man Einwendungen, welche auf den Vorwurf hinauslaufen, die Mädchenhorte nähmen den Armen ihre Pflichten gegen ihre Kinder ab, sie entfremdeten diese der Familie.

Solche Anklagen können nur von Persönlichkeiten erhoben werden, welche noch keinen Mädchenhort aus eigner Anschauung kennen. Die folgenden Ausführungen möchten dazu beitragen, die noch bestehenden Vorurteile zu zerstreuen.

Als ich vor ungefähr acht Jahren im Winter eines Abends in einer Vorortstraße Leipzigs ging, kämpfend mit Wind und Regen, kam mir schluchzend und weinend ein kleines Mädchen entgegen, so tief bekümmert, wie nur Kinder, meine ich, empfinden können. Als ich sie mitleidsvoll nach der Ursache ihres Kummers frug, klagte sie mir: sie habe bei Rückkunft aus der Schule die elterliche Wohnung verschlossen gefunden, weil die Mutter ausgegangen sei, Zeitungen herumzutragen, von welchem Geschäft sie erst gegen 8 Uhr zurück käme. Nun könne sie ihre Schularbeiten nicht machen, und wenn dann morgen der Lehrer sie auszanke, dann – und hierbei flossen die Thränen aufs neue – würde die Mutter sie schlagen! Ich konnte dem armen Kinde nicht helfen, ich versuchte nur zu trösten, aber das Leid und die Not des Mädchens gruben sich mir tief ins Herz, den ganzen Nachhauseweg über begleitete nach das armselige Bild und allerlei Pläne zur Abhilfe solcher Zustände wurden in mir rege.

Bei der Rückkunft in meine Häuslichkeit traf es sich – wie es in dem bekannten Gedichte heißt, „als wär’s ein Wink vom lieben Gott –“, daß die Näherin, eine Witwe, die hier für mich arbeitete, ganz verängstigt die Bitte an mich richtete, ob ich sie nicht früher entlassen könne! Sie sei in Sorge um ihr zwölfjähriges Kind, ein begabtes, aber wildes Mädchen, das die Zeit ihrer Abwesenheit benutze, sich ihren Arbeiten zu entziehen und auf der Straße die schlechteste, aber um so amüsantere Gesellschaft aufzusuchen, in der sie zu allen Thorheiten verführt würde. Was hülfen, sagte sie, alle Ermahnungen am frühen Morgen, ehe sie wegginge, wenn sie verhindert wäre, tagsüber denselben Nachdruck zu geben. Man wird sich denken können, wie schnell die Frau freigelassen wurde, und fast ebenso rasch war der Gedanke in mir entsprungen und mit ihm Wille und Entschluß, eine Stätte zu bereiten für solche bedauernswerte Kinder, die eine Mutter haben, ohne daß diese sich ihnen widmen kann, und zur Beruhigung für solche Mütter, die verdienen müssen, statt zu erziehen. Für beide leidende Teile müßte gesorgt werden, für Mutter und Kind. Und so giebt diese kleine Vorgeschichte zugleich Antwort auf die Frage: Wozu ist der Mädchenhort da? Sein Zweck und Ziel ist: unbeaufsichtigten Kindern während ihrer Freistunden geeignete Ueberwachung bei Arbeit und Spiel zu bieten.

Das wurde mir klar – so lange das Ideal des Menschenfreundes nicht erreicht ist, daß im Arbeiter- und Klein-Handwerkerstand die Frau vor Lohnarbeit außerhalb des Hauses bewahrt bleibt und ihren Hausmutterpflichten zurückgegeben werden kann, so lange haben wir Frauen, die wir imstande sind, reichlich für die Erziehung unserer geliebten Kinder zu sorgen, die wir nicht gezwungen sind, zu verdienen, die heilige Verpflichtung, hier helfend einzugreifen. Kein edles, warm empfindendes Frauenherz wird sich dieser Forderung verschließen. Und ich wende mich gerade an die Mütter aus unseren Ständen, die am sorgsamsten die Erziehung ihrer Töchter überwachen, mit der dringenden Bitte, zu bedenken, wie schwer es die Arbeiterfrau hat, das gleiche zu thun. Während sie noch ein Fräulein haben, damit ihre Kinder während ihrer kurzen Abwesenheit nicht ohne Aufsicht sind, hat die arme Frau, die den ganzen Tag außer dem Hause arbeitet, keinen Ersatz! Sie muß die Kinder sich selbst überlassen, muß sehen, wie trotz guter Anlagen, bei Fleiß und bestem Willen das Kind doch schließlich unter schlechter Kameradschaft auf der Straße verkommt. Welch ein Schmerz für die Mutter! Oder glaubt man, daß die Frauen, die arm sind, ihre Kinder weniger lieben als wir die unseren? weniger ihr Bestes wollen? – Dies wäre ein großer Irrtum! Ich kann versichern – und ich habe eine reiche Erfahrung gewonnen während der sieben Jahre, in denen wohl an 400 Mütter ihre Kinder bei mir zum Hort meldeten und ich ihre Lebensschicksale erfuhr – ich kann versichern, ich habe Mutterliebe von so hinreißender Kraft, von so unbegrenzter Opferfreudigkeit bei schwierigsten Verhältnissen kennengelernt, daß ich einzelne solche Frauen als Heldinnen verehre. Sie sind weit, weit höher zu schätzen als jene Damen, die, auf der Chaiselongue liegend, das Elend nur aus den Romanen kennen und nachher, höchst moralisch, versichern: man solle das Kind nicht der Häuslichkeit entziehen! Ja, wenn das Kind zu der Zeit nur eine Häuslichkeit hätte! Der Vater hat womöglich die Familie verlassen, die Mutter harrt treu bei den Kindern aus, aber natürlich muß sie jede Arbeit annehmen, um Brot zu verdienen, auch wenn sie dazu von früh bis spät außer dem Hause thätig sein muß. Die meisten Hausfrauen brauchen für ihre Wirtschaft zeitweilig fremde Hilfe, sei es eine Scheuerfrau, Näherin, Plätterin! Sie alle sind gern bereit, diesen Arbeiterinnen materiell zu helfen, sie zu beschenken mit Kleidern und Nahrung, aber wie wenige denken daran, was aus Seele und Körper der allein zurückgebliebenen Kinder wird, die der treusorgenden Mutterliebe entbehren!

Eine weiter greifende Bedeutung erhält aber die Idee der Mädchenhorte, wenn wir uns klar machen, daß die geordnete Ueberwachung der aufsichtslosen weiblichen Jugend ein Heilmittel für die Gefahr bildet, daß die Kinder aus der Verwahrlosung in die Verbrecherlaufbahn geraten. Es ist leider eine traurige Thatsache, daß die Zahl der jugendlichen Verbrecher seit Jahren stetig zunimmt. Die amtliche Statistik schätzt die Zahl der jährlich im Deutschen Reich verurteilten jugendlichen Personen bis zum 18. Lebensjahr auf 47000.

So ist denn die soziale Aufgabe des Mädchenhortes als eine doppelte festgestellt: er soll die ihm anvertrauten Kinder nicht nur vor dem verrohenden Einfluß des Straßenlebens bewahren, er soll sie auch zu besseren Menschen erziehen, ihnen Herz und Gemüt, die oft so stumpf dahinsiechen, beleben. Durch straffe Disziplin lehrt er die Unterordnung unter das Gesetz, wenngleich in liebevollerer Art, als es in der Schule möglich ist. Die Liebe zur Arbeit wächst, wenn diese in erfreulicher Umgebung unter gleich strebenden Mitschülerinnen gefertigt wird. Nichts ist wohl geeigneter, einen jungen Menschen zu erziehen, als das Aufwachsen in der Gemeinschaft: die edelsten Triebe des Herzens bilden sich da heraus, die gegenseitige Hilfsleistung, die Verträglichkeit, die Anerkennung Anderer, die Freundlichkeit des Gemüts, die Teilnahme an Anderer Freud’ und Leid; und durch die Geduld mit den Fehlern Anderer die Erkenntnis der eigenen – die Selbsterkenntnis.

Einen wesentlichen Anteil an solchen erzieherischen Erfolgen haben unsere Helferinnen. Es ist dies eine Gruppe junger Mädchen, Töchter aus den besten Familien der Stadt, die abwechselnd des Nachmittags die Lehrerin im Hort unterstützen. Durch den zwanglosen Verkehr mit ihnen wird in den Kindern ein feineres Gefühl, bessere Sitte geweckt. Die jungen Mädchen wirken durch ihr Sein, ihre Geistes- und Herzensbildung, oft ohne es zu wissen. Die armen Kinder sehen in ihnen nicht mehr den Feind: die Wohlhabenheit, sondern die freundliche ältere Schwester, die sie versteht. Aber auch den jungen Damen trägt dies Verhältnis zu den Kindern reichen Gewinn ein, der ihnen unverlierbar sein wird. Sie gewinnen Verständnis für Armut und Not, für die traurigen, gedrückten Lebensverhältnisse, von welchen die kleinen Lippen ausplaudern. Sie erkennen, daß Liebenswürdigkeit und Verstand, Herzensgüte und Talent sich auch bei den Kindern der Armut finden, und daß die Fehler, Flüchtigkeit, Trotz u. s. w., die gleichen sind wie bei Kindern höherer Stände, nur unverdeckt durch schöne Kleider, feine Manieren. Wir können nach siebenjähriger Erfahrung feststellen, wie in den einzelnen Pfleglingen die Begriffsentwicklung gewachsen, wie die Anschauungen über Recht und Unrecht, über Mein und Dein geläutert und verfeinert worden sind. Das sind Einflüsse, die den Gefahren des Großstadtelends besser entgegenarbeiten als alle Gesetze: denn sie treffen das Herz des Kindes! [139] Und dies Herz ist das der zukünftigen Frau, die wieder eine Generation zu erziehen hat. Können wir etwas Besseres thun, als die Mütter zu bilden? Bei den Müttern liegen die Entwicklungskeime der Nation.

Neben der geistigen Förderung ist auch die des Körpers nicht gering anzuschlagen. Jedes Kind trinkt im Hort täglich 1/4 Liter Milch. Außerdem werden die Kinder im Sommer zum Baden im Fluß, im Winter zu Schlittschuhlaufen und warmen Bädern geführt. Jeder Hort hat Hof und Garten, in dem die Freistunden nach den Schularbeiten zugebracht werden, und die Freude an der Natur wird durch Pflegen eigner Beete und ihrer Pflanzen genährt. Ballspiel, Croquet und Seilspringen wird getrieben, und das alles, wenn auch unter Aufsicht, doch unter voller Freiheit der Bewegung, unter Berücksichtigung der besonderen Natur jedes einzelnen Kindes.

Die sittliche Notwendigkeit der Errichtung von Horten ist neuerdings vielerorts anerkannt worden. Als wir im Jahre 1887 in Leipzig den ersten gründeten, gab es deren erst wenige in andern Städten. Im Jahre 1890 aber gab es schon 36, die sich seitdem bedeutend vermehrt haben. Erst im nächsten Jahr wird eine neue Zählung stattfinden. Von uns ist zu meiner besondern Freude eine Anzahl von Töchteranstalten ausgegangen, die nach unserm Muster eingerichtet sind: u. a. in Königsberg, Straßburg und Hamburg. Sie werden meist von der städtischen Behörde wohlwollend unterstützt, die Ausgaben für sie durch freiwillige Beiträge gedeckt. Auch in Leipzig ist der Rat der Stadt der guten Sache gewogen, leider aber durch das überbürdete Budget nicht mehr so geneigt, uns Erleichterungen zu bewilligen, die sich mit jedem neuen Hort verringert haben. Zu den ersten Anstalten wurden uns aus der Stiftung eines Menschenfreundes reichliche Beiträge gespendet. Im ersten Hort wohnen wir nicht nur frei, wir erfreuen uns auch kostenloser Heizung und Beleuchtung. Der zweite Hort, in der Alexanderstraße, genießt wohl auch freies Logis, das uns auch sauber hergerichtet wurde, aber leider weder freies Licht, noch freie Heizung. Der dritte endlich, in der Glockenstraße, zu dessen Gründung am 15. Oktober v. J. wir uns im vergangenen Frühjahr durch einen Bazar die Mittel verschafft haben, die der hilfsbereite Sinn unsrer Mitbürger reichlich spendete, ist sehr stiefmütterlich behandelt, er bezieht weder Zuschuß von der Stadt, noch sind uns die Räume in der Schule bewohnbar überlassen worden, natürlich sind auch Licht und Heizung nicht kostenfrei. Wir sind mit der Erhaltung dieses Hortes ganz auf das Wohlwollen unsrer Freunde und Gönner angewiesen, und gerade diese dritte Anstalt hat sich als die am dringendsten begehrte, als die notwendigste erwiesen. Denn bei der Anmeldung war die festgesetzte Zahl von 42 Schülerinnen rasch überholt, und bei der Eröffnung hatten wir nicht weniger als 35 Vormerkungen.

Das Prinzip wird streng festgehalten, nur Kinder solcher Eltern aufzunehmen, die nachmittags außer dem Hause beschäftigt sind. Die Aufnahme geschieht nach persönlicher Anmeldung der Mutter unter Vorlage einer Bescheinigung, daß sie in Arbeit steht. Für jedes Kind sind wöchentlich 10 Pfennig zu zahlen, um den Schein des Almosens abzuwenden. Unsere Ausgaben belaufen sich durchschnittlich auf 1400 Mark für den einzelnen Hort, wovon allein 400 Mark die Milch beansprucht. Die Leitung jeder Anstalt liegt drei Damen ob, die sich monatlich in der Beaufsichtigung ablösen; für die Aufnahme, die Helferinnenverteilung und die Finanzverwaltung bestehen besondere Aemter. Klein haben wir angefangen: vor sieben Jahren hatten wir 1 Lehrerin, 12 Helferinnen, 4 Vorstandsdamen. Jetzt haben wir 4 Lehrerinnen (im ersten Hort wechseln zwei Schwestern mit einander ab), 42 Helferinnen und 9 Vorstandsdamen.

Ich lade nunmehr den Leser ein, mich im Geist bei einem Besuch in einem unsrer Horte zu begleiten. Ich wähle dazu den ersten, als unser ältestes Kind! Die Räume liegen im Parterre der achten Bürgerschule an der Scharnhorststraße; beide sind groß und hell; einer wird als Schulzimmer benutzt und dient, mit Subsellien versehen, zum Aufenthalt während des Fertigens der Schularbeiten; der andere Raum ist von uns als Kinderzimmer hergerichtet.

Wenn wir hineintreten, sitzen auf acht Bänken vor vier hübschen gelb lackierten Tischen unsre 42 Kinder. Sie stehen auf, uns zu begrüßen, denn sie lernen hier, was sich schickt. Jedes Kind hat vor sich einen Becher mit guter abgekochter Milch, zu dem es das selbst mitgebrachte Brot verzehrt. Nicht alle Kinder wissen dies vorzügliche Getränk zu schätzen; ja manche kannten es nicht – sie waren nur an „Blümchenkaffee“ gewöhnt. Aber sie lernen es alle mit der Zeit liebgewinnen. Das letzte übrig gebliebene Tröpfchen findet noch seinen Liebhaber. Von allen Größen sehen Sie die Schülerinnen! Große vierzehnjährige, die bald konfirmiert werden, und allerliebste kleine sechsjährige Pusselchen, die kaum an den Tisch reichen. Sie erstaunen, wie reinlich die Kinder aussehen, nicht wahr? Sofort, als sie kamen, mußte sich jedes die Haare glätten, die Hände waschen, sogar die Nägel berücksichtigen, was ihnen beim Eintritt meist ein neuer Gesichtspunkt der Reinlichkeit war. Dann wurden ihnen die hübschen einfachen Kinderschürzen der Anstalt vorgebunden.

Die Kinder sind gesättigt, nun ruft die Pflicht: einige Mädchen, größere und kleinere gemischt, besorgen das Abwaschen der Milchkannen und Becher; es ist höchst lustig, zu sehen, wie gern sie mit Wasser und Bürste hantieren und wie sie beim Scheuern der Holzgefäße und Aufwischen des Bodens treu ihre Mütter nachzuahmen bemüht sind. Der größte Teil der Mädchen geht nun in das Schulzimmer, um Schularbeiten unter Aufsicht der lieben Helferin zu machen, die zuerst für Ruhe und Stille sorgt, nachher die schriftlichen Arbeiten durchliest, die mündlichen abhört. Da giebt es manche Thräne, manchen Seufzer der armen Kleinen, wenn die Arbeit als ungenügend zurückgegeben oder der Mangel an Sauberkeit streng gerügt wird. Denn es ist Grundsatz bei uns, die Mädchen anzuhalten, daß, was sie thun, sie auch gut thun, verlottert doch nichts den Menschen so als schlecht ausgeführte Arbeit.

Aber stören wir die Kinder nicht länger bei ihren Pflichten; gehen wir zurück ins Spielzimmer, wo schon diejenigen Schülerinnen sich mit Handarbeit beschäftigen, die mit ihren häuslichen Aufgaben fertig sind. Frisches Leben herrscht hier unter den Augen unsrer vortrefflichen Lehrerin, die jede gesittete Fröhlichkeit liebt, die aber mit der ruhigsten, freundlichsten Miene ihren Befehlen einen Nachdruck zu geben weiß, der jede Widerrede ausschließt. Jede Mutter könnte sie um ihre pädagogischen Talente beneiden, aber auch um ihre Geduld; unzählig sind die Ansprüche und Anforderungen an sie. Da kommen drei kleine lustige Dinger, etwas schüchtern, aber mit lachendem Gesicht. „Fräulein, wir möchten gern mit den Puppen spielen“ – ein freundlicher Wink – sie laufen an den Spielschrank, aus dem die herrlichen Geschöpfe entnommen werden, der Puppenwagen dazu. Indes kommt schon wieder die Frage: „Wie soll ich den Knopf annähen?“ und die flehenden Worte: „Ach, Fräulein, ich habe zwei Maschen fallen lassen.“

Dort an jenem Tisch wird gebaut, am andern gemalt, wobei alte Modenbilder, Bücherkataloge oder ähnliche Schätze mit Freuden zu Vorlagen verwendet werden. Am letzten Tisch sitzen die großen Mädchen, flicken sich Jacken und Schürzen und Singen ein mehrstimmiges Lied dazu, das herzerfreuend klingt in seiner Frische.

Aber dort in jener Ecke, welch ein Fleiß von Klein und Groß, mit hochroten Bäckchen sitzen sie da, das ist das sicherste Zeichen der Weihnachtsarbeiten! Denn Sie müssen wissen, unsre Kinder haben seit Michaelis füreinander auf Weihnachten gearbeitet wie Schwestern in der Familie! Nur die Zuthaten sind geschenkt, gefertigt wurde alles von den kleinen Händen. Welch kindliche Wichtigkeit beim Erwägen der Frage, ob der rechte Strumpf, den Lina gestrickt hat, zusammen mit dem linken, den Klara gefertigt, wohl für die Freundin bestimmt wird, oder die Kapuze mit rotem Futter, der Stolz der Bescherung! Die weise Fürsorge der Lehrerin, die alle häuslichen Verhältnisse ihrer Pflegebefohlenen kennt, ordnet und bestimmt das alles für die Bescherung.

Nach und nach ist die Schulstube leer geworden, die Schultaschen sind zum Schluß an die Wand gehängt; es ist 6 Uhr, und die letzte Stunde darf zu Bewegungsspielen oder zum Vorlesen verwendet werden.

Wäre es Sommer, so würden wir jetzt mit den Kindern hinausziehen in den Garten; fest in Kolonnen geordnet, würde die kleine Schar warten auf ihre Lehrerin, die dann an die Spitze des Zuges tritt. Aber wir müssen heut’ zu Hause bleiben, denn es ist schlechtes Wetter; trübe und dunkel ist es draußen auf der Straße – ein rechter Gegensatz gegen die Helle und Wärme, gegen die Fröhlichkeit da drinnen. Nun werden Tisch und Stühle beiseite geschoben, unter Gesang werden die lustigen Ringeltänze, die Kindergartenspiele aufgeführt, „Katze und Maus“ und „Dritten abschlagen“ wecken besondern Jubel, vollends wenn die Helferin [140] eine Rolle dabei übernimmt. Ja, es werden sogar Lieder dramatisiert, wobei die Kinder sich vorzüglich anstellen. Der etwas auffällige Mangel an Grazie wird aufgewogen durch die allerliebste Naivetät, die den sächsischen Volksstamm so vorzüglich kleidet und seine Uebergangsstellung zwischen Nord und Süd bezeichnet.

Um 7 Uhr hat das Lachen und die Lustigkeit ein Ende, es wird ein Gebet gesprochen, die Lampen verlöschen und die Kinder gehen nach Hause, nachdem sie von der Lehrerin mit einem hübschen Knix Abschied genommen haben. Vater und Mutter sind nun auch heimgekehrt und werden erfreut mit Erzählungen aus dem Hort.

Da steigt zum Schluß vor meinem inneren Auge noch eine Vision auf, ein Bild, wie es sich vor wenig Wochen verwirklicht hat: es ist der 22. Dezember und im Hort ist Weihnachten! Ich sehe den hellstrahlenden Baum, von den Kindern unter Anleitung der Lehrerin selbst geputzt, auf dem Podium stehen, ich erblicke lange Tische, belegt mit einfachen, praktischen und doch hübschen Geschenken, vor jedem Platz einen Stollen. Den Hintergrund bilden die Vorstandsdamen und die Helferinnen.

Da, horch! aus dem Schulzimmer tönt Gesang und herein, paarweise geordnet, die Kleinsten voran, schreitet die Kinderschar unter dem Gesang der lieblichen Weise: „Stille Nacht, heilige Nacht,“ – fürwahr ein rührender, ergreifender Anblick. Dann wird die Geburt des Heilandes in Versen geschildert, fromme Weihnachtsklänge tönen dazwischen, und eine der Vorstandsdamen spricht zu den Kindern einige freundliche, herzliche Worte der Liebe und der Ermahnung und führt die Kinder zu ihren Plätzen. Nun, welch’ ein Jubel! Das Herz geht mir auf, sehe ich in diese strahlenden Augen, in diese Welt unbefangener Fröhlichkeit. Möchte den Kindern der lichte Tannenbaum nachleuchten in ihrem Herzen durchs ganze Jahr und ihnen die Dunkelheit, das Elend zu Haus überstrahlen!

Noch einen Augenblick verweilen wir, denn ich sehe, der Vorstand hat heute die Milch in Chokolade mit Zwieback verwandelt, und da werden sie schon hereingetragen die großen Kannen, aus denen die Lehrerinnen, Helferinnen und die ältesten Schülerinnen das köstliche Getränk schenken. Nun kann ich mich von dem holden Bilde der Kinder wenden, ich glaube unbemerkt, denn sie sind ganz in ihre Thätigkeit versunken. Ich schließe mit dem Wunsch, daß Allen zum letzten Weihnachtsfest so viel beglückte Kindergesichter entgegengelacht haben möchten wie uns, dem Vorstand der Leipziger Mädchenhorte.

     Frau L. Windscheid.
     Vorsitzende des Vereins der Leipziger Mädchenhorte.


  1. Wir glauben den schönen Aufschwung, welchen gerade neuerdings die Bewegung zu gunsten der „Mädchenhorte“ in vielen deutschen Städten erlebt, nicht besser fördern zu können als durch die nachfolgende Schilderung eines vorbildlich wirkenden Beispiels. D. Red.