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Die Leiche im Koffer

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Textdaten
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Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Die Leiche im Koffer
Untertitel:
aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 1, S. 57–59
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Erscheinungsdatum: 1910
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Google-USA*, Commons
Kurzbeschreibung:
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[57]
Die Leiche im Koffer.

Schnöde Habsucht, die Haupttriebfeder aller Leidenschaften, ist zumeist die Ursache der größten Verbrechen. Schnödeste Habsucht war es auch, die den noch jugendlichen, bis dahin vollständig unbescholtenen Möbelhändler Wilhelm Meyer aus dem idyllisch gelegenen Badeort Wildungen vor das Schwurgericht des Landgerichts Kassel wegen Mordes führte.

Ende April 1906 kam, bahnlagernd Frankfurt a. M., ein großer Koffer aus Wildungen an. Nach einigen Tagen entströmte dem Koffer ein ekelhafter Geruch. Der Koffer wurde geöffnet. Er barg eine stark in Verwesung übergegangene, von Maden und Würmern bereits angefressene, anscheinend weibliche Leiche, die mit Chlorkalk vollständig überschüttet war. Es wurde sofort festgestellt, daß ein Mord begangen worden und die Ermordete die 76jährige Rentiere Marie Vogel geborene Lange aus Wildungen war.

Der Verdacht der Täterschaft lenkte sich sogleich auf den Möbelhändler Wilhelm Meyer aus Wildungen. Meyer, 1875 geboren, war gelernter Dekorateur und kam als blutjunger Mensch nach Newyork. Dort ist es ihm zunächst sehr schlecht ergangen. Er hat sich als Flaschenspüler, später als Hausdiener und Kellner notdürftig durchs Leben geschlagen. Eines Tages lernte er auf der Straße in Newyork die alte Vogel kennen. Obwohl diese fast seine Urgroßmutter hätte sein können, so entspann sich zwischen der Vogel und Meyer sehr bald ein intimes Verhältnis. Nach einigen Jahren ist Meyer mit der Vogel nach Europa zurückgekehrt. Hier haben sie zunächst einige größere Reisen unternommen. Schließlich zogen sie nach Bad Wildungen und eröffneten dort ein Möbelgeschäft. [58] In Wildungen lernte Meyer ein hübsches, junges Mädchen Namens Sophie Christiani kennen. Aus diesem Anlaß wurde die alte Vogel ungemein eifersüchtig. Es kam fast allabendlich zwischen der alten Frau und Meyer zu sehr heftigen Auftritten.

Eines Tages erzählte Meyer seinen Bekannten: „Tante Vogel ist auf längere Zeit verreist.“ Meyer nannte die alte Vogel „Tante“. Sie soll ihm, sogleich nachdem sie sich in Newyork kennen gelernt hatten, vorgeredet haben, daß sie seine Tante sei. In dem idyllischen Badeort munkelte man wohl allerlei, zumal von der Abreise der alten Frau niemand etwas wahrgenommen hatte. Auch war es aufgefallen, daß Meyer plötzlich mit sehr wertvollen Brillantringen prahlte und solche zum Kauf anbot. Man wußte auch, daß die alte Vogel viele kostbare Brillantringe sowie überhaupt ein großes Vermögen besaß. In dem Hause, in dem die alte Vogel mit Meyer wohnte, war nach einiger Zeit ein ekelhafter Geruch wahrzunehmen. Es kam aber niemand auf den furchtbaren Gedanken, Meyer könnte die alte Frau ermordet haben. Etwa 9 Monate nach der angeblichen Abreise der alten Vogel sandte Meyer einen sehr schweren Koffer bahnlagernd nach Frankfurt a. M. Er hatte schon vorher das Möbelgeschäft, das ihm Frau Vogel eingerichtet hatte, verkauft und war, sobald er den Koffer abgesandt hatte, mit der Christiani aus Wildungen verschwunden. Nachdem der Inhalt des Koffers in Frankfurt festgestellt war, wurde hinter Meyer ein Steckbrief erlassen. Er wurde in Newyork, wohin er sich mit der Christiani gewandt hatte, kurze Zeit nach seiner Ankunft ergriffen und nach Deutschland zurücktransportiert. Er bestritt, die Vogel ermordet zu haben, sondern gab an: Aus Anlaß seines Liebesverhältnisses mit der Christiani sei es allabendlich zwischen ihm und der Vogel zu heftigen Auftritten gekommen. Als er eines Abends nach Hause kam, war alles still. Er zündete Licht an und als er in das Schlafzimmer der Vogel trat, saß diese leblos auf dem Stuhl. Sie hatte sich, während sie auf [59] dem Stuhle saß, mit einem Strick erdrosselt. Er machte zunächst, aber ohne Erfolg, Wiederbelebungsversuche. Alsdann wollte er polizeiliche Anzeige erstatten. Er nahm aber davon Abstand, da er befürchtete, er werde in den Verdacht kommen, die alte Frau ermordet zu haben. Er entkleidete daher die Leiche und legte sie ins Bett. Da aber die Leiche nach einigen Tagen zu riechen begann, packte er sie in einen großen Koffer, d. h. er zwängte sie hinein, indem er ihr die einzelnen Glieder zerbrach. Zwecks Dämpfung des Leichengeruchs überschüttete er die Leiche mit Chlorkalk. Der Koffer, in dem die Leiche lag, stand vor seinem Bett, er habe also neun volle Monate neben der Leiche geschlafen. Diese Erzählung hielt auch Meyer vor dem Schwurgericht in Kassel, vor dem er sich vom 5.–11. Dezember 1906 wegen Mordes zu verantworten hatte, aufrecht. Der Angeklagte behauptete außerdem: er habe mit der alten Vogel keinen intimen Verkehr unterhalten. Die Vogel habe wenige Tage vor ihrem Tode mehrere goldene Brillantringe ins Klosett geworfen, wahrscheinlich aus Haß gegen ihn. Die Aufstellung der Möbel in der Vogelschen Wohnung ließen jedoch keinen Zweifel, daß Meyer und die Vogel wie ein Ehepaar verkehrt haben. Außerdem wurde auf Gerichtsbeschluß das Vogelsche Klosett und die gesamten Abflüsse aufs genaueste untersucht, es war jedoch kein Brillantring zu finden.

Der entleerte und desinfizierte Koffer wurde den Geschworenen gezeigt. Letztere forderten jedoch die sofortige Entfernung des Koffers aus dem Gerichtssaal, da er noch immer einen Leichengeruch von sich gab. Die medizinischen Sachverständigen hielten es für im höchsten Grade wahrscheinlich, daß Meyer die alte Frau erwürgt habe. Die Geschworenen erklärten ihn des schweren Raubes im Sinne des § 251 des Strafgesetzbuches für schuldig. Der Gerichtshof verurteilte daraufhin Meyer zu 15 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Zulässigkeit von Polizeiaufsicht.