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Die Kunstmethoden der Londoner Langfingerei

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Titel: Die Kunstmethoden der Londoner Langfingerei
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, S. 782–784, 825–827
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Deutsche Blätter
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[782]
Die Kunstmethoden der Londoner Langfingerei.
Ein modernes Industriebild.

Die englischen Policemen sind bekanntlich ein wahres Muster von Höflichkeit – für den unverdächtigen Theil der menschlichen Gesellschaft und wissen, daß sie zum Schutz und nicht zur Plage und Brutalisirung des Publicums erschaffen und blaubefrackt und weißbehandschuht sind, wovon ihren deutschen grün- und roth- und gelb- und blaukragigen Cameraden erst eine äußerst vage Ahnung aufzudämmern beginnt. Ich sollte mich von diesem Contraste selbst recht angenehm überzeugen und ihm eine sehr interessante Bereicherung meiner Kenntniß von dem Londoner Leben verdanken.

Es war so recht ein lustiges Erntewetter – für die Gassenfeger und namentlich meine besondern kleinen Freunde, die rothblousigen Schuhwichser, die heute, bei einem echt Londoner zähen Schmutzbrei, mit welchem der fallende Nebel Pflaster und Macadam überkittete, auf ihren verschiedenen Stationen mit ihren Kasten und Flaschen und Bürsten in unaufhörlicher Bewegung waren und ihr „Stiefeln, Herr?“ den Vorüberwandelnden nicht lange sehnsuchtsvoll entgegenzurufen brauchten. Ich hatte aber noch meinen speciellen Liebling unter den flinken Jungen, einen intelligentäugigen kleinen Blondkopf am Trafalgarsquare, mit dem ich gern ein paar Minuten verplauderte, während er meine Unterthanen civilisirte, und freute mich, als ich mir durch das Gewühl des Strandes Bahn brach, schon auf das leuchtende Gesicht, mit dem er mir den heute erriebenen Kupfersegen vorweisen würde. Sein Posten war auf den breiten Stufen des Brunnenbeckens, in welches die fadendünnen Fontainen ihren ärmlichen Wasserstrahl tröpfeln, – und richtig, da kniete er in vollster Thätigkeit und der ganzen Würde seines Berufes, um die breite Grundlage eines riesigen Polizeisergeanten zu behandeln, und bemühte sich, einer solchen Respect- und Angstperson, wie es für die gelegentlich einmal nicht durchaus „koscheren“ kleinen Wichskünstler die Diener der heiligen Sicherheitswache zu sein pflegen, mit aller Sorgfalt gerecht zu werden. Der heute mit seinem kurzen Wachstuchschultermantel bedeckte Blaufrack wollte sofort artig zurücktreten, um meinen glanzbedürftigen Füßen den Vorrang auf dem Wichskasten einzuräumen, und es kostete mich wirklich meine besten englischen Höflichleitsphrasen, den Mann dahin zu bewegen, daß er auch dem zweiten seiner Stiefeln noch den „vollendenden Strich“ angedeihen ließ, ehe ich mich den sachkundigen schwarzen Händen meines Rothkittels anvertraute.

Wartend lehnte ich mich an die Brustwehr der weiten Wasserschale und rückte mich in die gehörige Positur zurecht, um der Arbeit meines Schützlings behaglich zuschauen und dabei den ohne Aufhören an mir vorüberfluthenden Menschenstrom lässig mustern[WS 1] zu können. Eben wanderte ein modisch gekleideter Herr von mittlerem Alter vorüber mit blankgebürstetem Cylinder und feinem Paletot, wie mir däuchte, so ganz das, was der Londoner einen „Swell“ nennt, das heißt ein Stutzer der zweiten Classe; Uhrkette, Wäsche, Handschuhe, – das Alles ließ wenig oder nichts zu wünschen übrig. Der Elegant schien Eile zu haben und huschte mit ungewöhnlicher Schnelle in der Richtung der Nationalgallerie über den großen Square hinüber. Da zupfte mich der Constabler sanft am Rocke. Neugierig und einigermaßen erstaunt wandte ich mich nach ihm um.

„Ein Dieb, Herr, der Swell da!“ flüsterte er, „und ein geriebener und gefährlicher dazu. Schon einmal deportirt gewesen und blos beurlaubt. Wir haben ein scharfes Auge auf ihn, aber der Bursche ist fein, er läuft uns so leicht nicht in’s Netz. Kriegen ihn schließlich indessen doch, und dann giebt’s keinen Urlaub wieder für den Gauner.“

„Urlaub?“ frug ich verwundert, „wie so, beurlaubt?“

„Nun, Herr, wissen Sie nicht – ach nein, Sie sind ja ein Fremder, – ein Deutscher, Herr, nicht wahr? – muß ein braves Volk sein, die deutschen, ehrlich, sehr ehrlich; denn unter den vielen Fremden, die Jahr aus Jahr ein mit uns genauere Bekanntschaft machen, sind verhältnißmäßig nur wenig Deutsche.“

Ich nickte, um für das Compliment zu danken.

„Also, Sie wissen nicht, Herr,“ fuhr er fort, „daß Sträflinge, die sich in den großen Zuchthäusern von Milbank und Pentonville, auf den vor Woolwich und in Portsmouth ankernden Strafschiffen, den sogenannten Hulks, oder in den Bußcolonien, die wir haben, während einer längern Zeit unausgesetzt ordentlich führen und zu keiner Rüge oder Züchtigung Anlaß bieten, für den noch übrigen Theil ihrer Strafdauer Urlaubskarten erhalten und bis auf Weiteres ihrer Haft entlassen werden, ohne darum völlig frei zu sein. Das heißt, wenn sie sich bei der geringsten Ungesetzlichkeit betreten lassen, so wird ihnen der Urlaub entzogen, und sie spazieren in ihre Zelle oder zu ihrer Strafarbeit zurück. Natürlich sind sie uns besonders auf die Seele gebunden und stehen unter unserer strengen Aufsicht. ’s ist aber ein nichtsnutziges System, dieses Urlaubssystem, denn die schlimmsten Verbrecher, die spielen die Frömmsten in den Strafanstalten und fügen sich am besten in die Gefängnißzucht. Ganz wie draußen in der Welt die Duckmäuser, die sich bei den Inspektoren und Directoren durch ihr gehorsames Wesen einzuschmeicheln wissen. – das sind die Gefährlichsten. [783] Die schauderhaftesten Unthaten, die unbegreiflichsten Diebstähle, die kühnsten Hauseinbrüche, von denen Sie in unsern Londoner Blättern lesen, werden von diesen Urlaubsmännern begangen, und von hundert auf Karte entlassenen Sträflingen enden neunundneunzig früher oder später hinter Schloß und Riegel oder auf dem Dache des Horsemonger-Lane-Kerkers drüben über der Themse. Sie kennen doch Horsemonger-Lane, Herr?“

Das kannte ich freilich; hatte ich doch einmal im ersten Tagesgrauen einem armen Sünder dort die Schlinge um den Hals legen sehen und schauderte noch, wenn ich an das Schauspiel und mehr noch an sein – Publicum dachte.

Der Constabler war auf sein Thema gekommen und blieb plaudernd neben mir stehen, während sich der ambulante Wichsjunge nun meinen Penny erbürstete. Auch unsere Wege waren so ziemlich die gleichen. Der Polizeimann hatte jetzt auf einige Stunden Ruhe und begab sich nach seiner Wachstube in Scotland-Yards, dem Centralamte der Londoner Polizei, mit Ausnahme der Schutzmannschaft der City, die ihr abgesondertes und selbständiges Corps bildet und unter dem Lordmayor von London steht. Wir gingen also zusammen.

Die Geschichten meines Begleiters, der schon manches Jahr Langfinger aller Art, nach englischer Häscherweise, am Rockschooße in die ihrer wartenden festen Lustschlösser spedirt hatte, waren mir sehr interessant, da sie mir einen Einblick in eine Industriewelt gewährten, wie sie in solcher Ausdehnung, Arbeitsteilung und Organisation eben nur in London zu Hause ist: – die große Welt der Diebe und Diebinnen. Ehe ich mir es versah, hatten wir den Hof Scotland-Yards erreicht. Hier holte der Blaufrack sein dickes Notizbuch aus der Brusttasche und überreichte mir, wie ein vollkommener Gentleman, seine Karte. Ich gab ihm die meinige, versteht sich.

„Wenn Sie mit mir und meines Gleichen fürlieb nehmen wollen,“ sprach er, während wir uns landesüblich die Hände schüttelten, „so wird es uns sehr freuen, Sie einmal in unserem Club zu sehen. Uebermorgen habe ich Abend und Nacht frei und trinke dann in Gesellschaft von ein paar Cameraden meinen Branntwein mit heißem Wasser im rothen Löwen drüben in Westminster-Road. Fragen Sie vorn am Schenktische nur nach mir; die alte Mrs. Archer, unsere dicke Wirthin, wird Sie dann schon in unsere Hinterstube führen. Freilich ’s ist kein Club, unserer, wie das Athenäum oder der Reformclub, auch nicht einmal wie der Wellington“ – setzte er lächelnd hinzu – „aber, glauben Sie mir, Sie sollen Manches hören, von dem Sie sich nichts träumen lassen. Ich sage Ihnen, das Stehlen ist hier in London eine Kunst, zu der kein geringer Grad von Kopf und Geschicklichkeit und Geistesgegenwart gehört, und die Diebe sind nichts weniger als Faulenzer und Müßiggänger. Aber wir, Herr, wir sind doch noch feiner, als sie, und kommen am Ende hinter alle ihre Schliche und Kniffe. Guten Abend, Herr. Sehr feucht heute.“

„Guten Abend, Herr. In der That sehr feucht,“ bestätigte ich. Ohne Wetterkritik kann man einmal in London weder sich bewillkommnen noch scheiden.

Es braucht keiner Versicherung, daß ich der Einladung pünktlich Folge leistete, die ich einem so eigenthümlichen Zufalle oder vielmehr meinem jungen Freunde vom Wichskasten verdankte.

Außer Mr. Simpson, so hieß mein neuer Gönner, saßen noch drei seiner Collegen in einem schlichten, doch englisch comfortablen Zimmer um den an’s Kamin gerückten Tisch, heute natürlich sämmtlich in Civil, „in plain clothes“ (einfachen Kleidern), wie der Brite sich ausdrückt. Die blanken Zinnkrüge mit dem dampfenden Wasser, die ebenso spiegelnden Nöselmaße für den Branntwein, die mächtigen Zuckerschalen und die stattlichen Glashumpen zeugten von der herzstärkenden Beschäftigung, mit denen die Herren ihre Clubmußestunden erholend ausfüllten. Man begrüßte mich mit so gentlemanischen Formen, als wäre ich in den Salon eines vornehmen Oberhausmitgliedes getreten, und nur das Gesprächsthema, auf welches ich bald die Unterhaltung zu lenken suchte, bekundete, daß ich vier abgefeimte, mit allen Praktiken ihres Handwerks gründlich vertraute „Diebesfänger“ vor mir hatte. Später erschien noch ein höherer Polizeibeamter, der Inspector eines gewissen Polizeidistrictes; hier aber war er nur Clubbist, alle Subordination und dienstliche Etiquette war zugleich mit dem Uniformcapot draußen im kleinen Vorzimmer abgelegt worden.

Wollte dem Fremden gegenüber auch Anfangs die britische Zurückhaltung, gepaart noch mit der sondirenden Vorsicht eines Standes, der ohne Unterlaß auf dem „Qui vive“ stehen muß, einigermaßen ihr Recht behaupten, – ein paar weitere Gläser Grogs und die Überzeugung mit keinem angehenden Langfinger zu thun zu haben, der etwa die polizeilichen Erfahrungen blos zu Studienzwecken entlocken und aushorchen wollte, setzten mein merkwürdiges Convivium bald in die mittheilsamste Stimmung. Wiederholte Besuche im stillen Club von Westminster-Road vervollständigten mein neuerworbenes Wissen, und wenn mir die Gartenlaube einige Spalten und ihre Leser ein Stündchen Geduld gewähren, so will ich nach den Erzählungen meiner Wirte von Scotland-Yards einen Begriff zu geben versuchen, zu welcher Vollendung die freie Kunst des Stehlens und ihre Technik in London gediehen ist.


Menschen, die uns wohlwollend von unseren Nothwendigkeiten oder von dem Ballast unserer Ueberflüssigkeiten befreien, giebt es überall, auch bei uns, und unsere Berliner Verwechsler von Mein und Dein bilden bereits ein recht stattliches Corps und haben schon halbwegs die Höhe ihrer Zeit und ihres Berufes begriffen und erreicht; allein ihren Londoner Brüdern und Schwestern sind sie bis jetzt sowohl an Kühnheit, als an Genialität und Raffinement bei Weitem noch nicht ebenbürtig geworden. Diese sind schöpferisch und unerschöpflich in ihren Mitteln und Wegen und Manipulationen, mit einem Worte groß in ihrem Genre, wie man auch sonst von diesem Genre denken mag. Auch die Pariser Gaunerschaft erreicht nur in einzelnen Spitzen die Kunstvollendung der Londoner, das Gros der französischen Diebe muß vor dem englischen gedemüthigt die Segel streichen.

Vor Allem ist Methode in ihren Bestrebungen, das kann ihnen Niemand bestreiten. Mit einer unmethodischen, dem Zufalle, der glücklichen Chance überlassenen Praxis ihres Gewerbes würden sie rasch genug aus dem Felde geschlagen sein; „denn,“ meinte Mr. Simpson, „wir sind ihnen immer scharf auf den Fersen und glauben unser Handwerk auch nicht übel zu verstehen.“

„Und das Publicum kommt am Ende doch auch hinter die Manöver der Herren und Damen vom Langfingerthume?“

„Das Publicum? Gott im Himmel, es ist geradezu unbegreiflich, wie unschuldig, wie unwissend unsere Londoner, unsere Ladenhalter und Gewerbsleute z. B. sind, denen die Angriffe unserer Diebe doch vorzugsweise gelten, was die Schliche und Kniffe unserer Spitzbuben und Gauner betrifft. Tag für Tag tischen unsere Zeitungen Gaunerstücklein über Gaunerstücklein auf, und doch berückt der jüngste Neuling der edlen Zunft unsere Londoner Spießbürger, ohne seinen Witz nur im Geringsten anstrengen zu müssen, und die Diebstähle der verschiedenen Kategorien, die täglich von uns entdeckt werden, zählen nach Hunderten, die überhaupt verübten aber gewiß nach Tausenden! Freilich ist’s nicht so leicht, dem Spitzbubenvolke hinter die Coulissen zu sehen, denn im Allgemeinen wacht der Dieb mit der verzweifeltsten Sorgfalt über den Geheimnissen seiner Kunst, und es ist immer nur eine Ausnahme, wenn einer einmal aus der Schule schwatzt und die Corporation in Gefahr bringt. Reuige Mörder haben wir genug, reuige Diebe, welche rückhaltslos ihre Schuld und die Art gestehen, wie sie bei ihren Annexionen zu Werke gegangen, sind äußerst selten, jetzt mindestens, wo es ihnen auch bei uns in England nicht mehr an den Kragen geht.“

Wie zunächst eine strenge Sonderung nach den verschiedenen Gewerbszweigen, eine Gruppirung in fest abgegrenzte einzelne Classen besteht, wie der Hauseinbrecher nicht dem Taschendiebe, der Beutelschneider nicht dem Ladenspitzbuben in’s Gehege kommt, so scheint durchgehend als Handwerksusus festgehalten zu werden, daß der Mann in der Regel nur den Mann bestiehlt, nicht etwa deshalb blos, weil Männer gewöhnlich mehr Geld oder sonst das Nehmen lohnende Dinge bei sich tragen, als Frauen, sondern wirklich aus einer gewissen Ritterlichkeit, welche, vielleicht noch als Ueberbleibsel aus der Zeit der berühmten chevaleresken englischen Straßenräuber, den Londoner Dieb von Profession charakterisirt. Eine Frau zu berauben dünkt ihm gemein und ungalant, er überläßt sie seinen weiblichen Zunftgenossen, an denen kein Mangel vorhanden ist. Auch als die Garotte im höchsten Schwange war, wie selten hörte man da von garottirten Frauen! Denn lieber wird die Diebin zu allen erdenklichen anderen Mitteln ihre Zuflucht nehmen, ehe sie bei ihrem Opfer die Garotte anwendet. Aus eigener [784] Erfahrung weiß sie ja, wie entsetzlich diese ist, da der Knebel die gewöhnliche Züchtigung ausmacht, die ihr von ihrem Manne oder sonstigen Geschäfts- und Lebensgenossen zu Theil wird, sobald sie demselben nicht nach Wunsche gehandelt ober gesprochen hat.

Der Dieb ersieht sich seine Beute unter allen möglichen Umständen und aller Orten, die Diebin sucht sich die ihrige vorzugsweise in Kaufläden, auf den fashionablen Straßen, im Omnibus und auf dem Dampfboote, im Eisenbahncoupé und bei öffentlichen Versammlungen. Weder der erstere noch die letztere aber verfährt dabei auf’s Gerathewohl. Meistens ist das Ziel vorher in’s Auge gefaßt, Zeit, Person und Localität sorgsamst und wohlbedächtigst in Betracht gezogen worden. Voller Verschlagenheit, unermüdlich in Erfindungen und Plänen, in der Regel mit großem Scharf- und Ueberblicke begabt, würden sie in ihren Unternehmungen nur selten scheitern, wenn sie ihre wohlersonnenen Schachzüge nicht dann und wann von völlig unvermutheten, plötzlichen Zwischenfällen gekreuzt sehen müßten.

Hauseinbruch, Garotte und Taschendiebstahl erachtet der Londoner Langfinger als die einträglichsten Zweige seines Gewerbes; als das schwierigste und zugleich gefährlichste seiner Kunstleistungen aber gilt es, eine fremde Tasche auszuleeren, ohne daß ein dritter, Helfershelfer oder nicht, zugegen ist. Wer dies Meisterstück auszuführen versteht, hat die höchsten Staffeln der Gemeinschaft erklommen; „der Fliegensummer“ – mit diesem wunderlichen Namen wird solch ein Matador der Kunst bezeichnet – ist der Lord und Pair des wohlgegliederten Staates.

Das zahlreichste Kontingent zum Londoner Spitzbubenheere stellen die Taschendiebe der verschiedenen Arten und Grade, und da die Technik ihrer Kunst die interessanteste, mannigfaltigste und sinnreichste ist, auch der Neuling in London sich vor dem Pick-pocket (Taschendieb) vor Allem zu hüten hat, so wollen wir uns mit einigen Kunstgriffen des Beutelschneiders zunächst bekannt zu machen suchen.

Geschieht es auch zuweilen, daß der Taschendieb allein, ohne Spießgesellen und Helfershelfer, seinem Tagewerke nachgeht, so doch nur in äußerst seltenen Fällen, weil sich blos ein ungewöhnlich geschickter Gewerbsgenosse in solches Wagniß einlassen kann. Meist ziehen sie zu Zweien oder Dreien, nicht häufig in noch größerer Anzahl, auf Beute aus; immer aber fällt der eigentlich active Theil des Geschäfts blos Einem zu, der im englischen Rothwälsch „Wire“ – der Draht oder Leitfaden – heißt. Die Anderen decken ihm Fronte und Rücken und benehmen sich, als hätten sie zu dem Diebe nicht die geringste Beziehung. Ihnen liegt es ob, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden oder sonst in der Nähe Befindlichen vom Wire abzulenken, der seinerseits den gemachten Fang nicht lange in den Händen behält, sondern sich beeilt, denselben einem seiner Schutzwächter zuzuspielen.

Der Londoner Taschendieb erlangt rasch einen merkwürdig sichern Blick hinsichtlich der Lebensstellung der Leute, denen er begegnet, und der Beschaffenheit ihrer Börsen. Ueberdies hat er ein scharfes Auge, wenn er Jemanden auf der Straße oder an öffentlichen Plätzen den Beutel ziehen sieht, und keine Münze entgeht ihm, die dort ausgegeben oder empfangen wird. Selten, daß er sich in der Wahl seines Opfers täuscht, dem er oft Stunden lang nachschleicht, bis ihm der günstige Moment zu seinem Handstreiche gekommen scheint. Ein Feind jeder Ueberstürzung, steht er lieber von der verhängnisvollsten Beute ab, wenn er den Angriff nicht mit Sicherheit riskiren zu können glaubt. Das Verlockendste sind ihm jederzeit die goldenen Uhrketten, weil ihnen leichter beizukommen ist, als dem Taschenbuche oder dem Portemonnaie. Hierbei braucht es kein langes Abpassen und Lauern. Einer der Helfershelfer rennt, wie zufällig, das Opfer an, fragt es nach dem Wege oder nach der Zeit oder weiß eine Stockung in der Circulation auf dem Trottoir zu verursachen, und inzwischen werden Kette oder Uhr oder im glücklichen Falle Beides annectirt und dem zweiten Spießgesellen wohlbehalten überantwortet.

Die Tasche herauszufinden, in welcher man Geld oder Notizbuch trägt, haben Diebe und Diebinnen ein wunderbares Geschick. Hurtig und leise, so daß auch nicht die Spur einer Berührung gefühlt wird, gleitet die Hand über Rock und Beinkleid, oder über die Falten der Damenrobe, und im Nu ist das Behältniß entdeckt, welches den Schatz verwahrt, und dem Wire durch Pantomimen verrathen. Im andern Augenblicke hat dieser mit dem Daumen und dem zweiten und dritten Finger, meist der rechten Hand, den Raub vollzogen, und eine Secunde darauf ist die Bande in der Menge verschwunden, in der Regel lange, ehe der Bestohlene ahnt, was ihm geschehen.

Der Wire und seine Genossen unterhalten miteinander eine trefflich organisirte Zeichen-Telegraphie. Ein Hüsteln, ein Lachen, ein Stampfen mit dem Fuß, ein Wink, ein Verrücken des Hutes genügen der Genossenschaft, die erforderlichen Nachrichten zu vermitteln, dem Wire zu sagen, daß die Polizei im Anzuge, daß man beobachtet wird, daß es nicht an der Zeit, daß der Coup aufzugeben ist, oder den Assistenten zu verkünden, daß der Ausübende den Streich vollbracht, den Fang verfehlt oder erlangt hat.

Mitunter finden sie sich halb ertappt; blitzschnell wird alsdann das corpus delicti an seinen Ort zurückprakticirt, ohne daß der Bearbeitete sich im Mindesten träumen läßt, welchen kühnen Griffen er ausgesetzt war. Solch ein Fehlschlag schreckt indeß den geübten Taschenjäger nicht leicht von der Verfolgung des einmal auf’s Korn genommenen Wildes ab; er läßt dies vielmehr nicht aus den Augen und versucht sein Glück so lange, als ihm eine Aussicht auf Erfolg bleibt. Kommt er in Verlegenheit, sieht er sich mit Entdeckung bedroht, so entfalten seine Kumpane ihre ganze Größe und Thätigkeit, spielen den unbetheiligten und unparteiischen Zuschauer meisterlich und leisten das Menschenmögliche, ihn durch ihre Aussagen aus der fatalen Klemme zu retten und unbehelligt für ein neues Arbeitsfeld zu erhalten, das nun in einem von dem unsicher gewordenen alten Schauplatze weit entlegenen andern Stadttheile aufgesucht wird, wo die Luft noch rein ist.

Die Taschen in den Kleidern der Damen, die meist tiefer hinabreichen und darum nicht so bequem auszufingern sind, als die minder gründlichen Behältnisse der Herrentoilette, machen eine besondere Praktik notwendig. Mit unmerklichem Griffe sondirt die linke Hand außen am Kleide, wo die zu plündernde Tasche ihren Boden hat, hebt sie eben so unfühlbar zu der oben schon bereit gehaltenen rechten Hand empor und entleert geräuschlos den Inhalt in die letztere. Die Gaunersprache nennt dies „Bohren“, und die „Bohrer“ sind das Elitecorps der weiblichen Londoner Langfingergarnison.

[825]
2.

Handwerkszeug braucht der Taschendieb gewöhnlich nicht. Seine fünf oder je nach Befinden zehn gelenken Finger machen ihm die Beihülfe besonderer Geräthe und Instrumente entbehrlich. Höchstens nimmt er einmal zu einem scharfen Federmesser oder einer feinen Scheere seine Zuflucht, wo sein natürlicher Apparat nicht ausreichen will. Nur zum Abzwicken der Uhrketten pflegt er wohl – doch die Hauptkünstler des Fachs verschmähen auch diese Unterstützung – eine gut beißende, feste Zange bei sich zu führen, die der Drahtzange gleicht, nur viel kleiner ist, so daß sie sich zwischen den drei Vorderfingern der rechten Hand bequem verstecken läßt.

Hause nun die Uhr, wo sie wolle, und sei sie noch so tief in Weste oder Beinkeid vergraben, sicher ist sie nirgends, sobald nur eine Kette, eine Schnur, ein Bandzipfel vorhanden, woran sie hängt. Mit einer Geschwindigkeit, die selbst einen Bosco meistert, fährt die leise Hand des Gauners an dem haltenden Metalle oder Band oder Faden nach dem Neste des glänzenden Vogels hinunter oder hinauf, und im Augenblicke ist’s geplündert. Blos das Proletariat, der verkommene Janhagel und die schüchternen Anfänger, die armen Schlucker der edlen Gesellschaft vergreifen sich an silbernen Taschenuhren; der „respectable“ Pickpocket, der auf Standesehre hält, erachtet solchen Erwerb unter seiner Würde und wendet sich verächtlich von einem Opfer ab, das sich mit so plebejischem Zeitmesser schändet. Die goldene Uhr ist allein seiner Distinction gemäß, und wo er solche Beute wittert, da läßt er wohl einmal auch seine gewöhnliche Vorsicht bei Seite. Mit festem Griffe packt die linke Hand den kostbaren Fang, ihr Daumen preßt sich auf den Knopf, durch welchen der Ring gezogen ist, von dem Schnur oder Kette ausgehen, während Daumen und Zeigefinger der rechten Hand diesen Ring halten. Ein blitzschnelles Drehen der beiden Hände nach entgegengesetzter Richtung, ein Ruck, und der Ring zerbricht, oder der Knopf windet sich ab, oder – wie es zumeist der Fall ist – der kleine Nagel, der diese beiden verbindet, zieht sich aus, und die Uhr wird frei. Das Alles ist das Werk einer Secunde, und so fest der Griff auch war, ebenso leise löste er seine Aufgabe, kein Klirren, kein Kritzeln, nicht der Schatten eines Klanges verräth, was vor sich geht.

Freilich haben die routinirtesten Gauner ausgesagt, daß ihnen von hundert dergleichen Attentaten im Durchschnitte immer erst zwanzig gelingen! Störungen, Gefahren, Zwischenfälle kommen ihnen ja oft, wo sie dieselben am mindesten berechnet hatten, und gar manchmal gilt es, sich hurtig in Sicherheit zu bringen, ehe die Arbeit noch halb gethan ist und bevor der Gauner Zeit hat, die schon glücklich aus ihrem Verstecke bugsirte Uhr wieder an ihrem rechtmäßigen Orte zu bergen. Wenn man daher plötzlich zu seinem Erstaunen gewahrt, daß die Uhr außerhalb ihres Behälters sich in kühnen Luftsprüngen und Schwingungen versucht, so weiß man, was die Glocke geschlagen hat, und mag die gleichsam neugeschenkte Gabe nur um so inniger an sich fesseln.

Neulich Nachts ging ich in etwas später oder früher Stunde, wie man will, mit einem deutschen Landsmanne aus dem Café chantant am Leicestersquare nach Hause. Ein prächtiger Mondschein lag auf dem jetzt stillen Häusermeere von London; wir nahmen daher einen Umweg durch die Palaststraße von Pall-Mall, dessen Clubfaçaden in dem Silberlichte, welches ihre reiche Architectur umfloß, einen zauberhaften Effect machten. Mit einem Male stieß mich mein Begleiter an. „Da, sieh nur den Mann dort drüben an der andern Häuserreihe! Ob das ein Detective (Mitglied der geheimen Polizei) ist, der uns für ein paar Strolche nimmt, welche auf Arbeit ausziehen? Denn er belauert uns fortwährend und hält immer gleichen Schritt mit uns. Ich hab’ ihn schon bemerkt, als wir um die Ecke von Haymarket bogen, und von da an hat er uns nicht mehr aus den Augen gelassen.“

Ich wurde aufmerksam und beobachtete nun meinerseits den unheimlichen Gesellen. Wir lenken in St. James Street ein, er that’s auch. Da schlug die Glocke des alten verräucherten Königsschlosses; ich wollte nach meiner Uhr sehen – denn es war hell wie am Tage – sie war ihrer Behausung entschlüpft und erfreute sich, an ihrer Gummischnur lustig über die Weste baumelnd, gleich uns der schönen Nacht. Jetzt war das Räthsel von unserm geheimnißvollen Mitwanderer gelöst: es war ein auf eigene Faust wirkender Wire (die active Person beim Taschendiebstahl), der mich vergeblich zu erleichtern gesucht hatte – wo, darüber hatte ich durchaus keine Vermuthung, wahrscheinlich aber war die Attake schon beim Ausgang aus dem besuchten Kaffeehause geschehen – und nun auf einen günstigern Moment lauerte, um sein Ziel zu erreichen. So wie ich die Uhr in die Tasche steckte und mit meinem Freunde dem Burschen einen bezeichnenden Blick hinüber warf, verschwand er.

Ein anderes hübsches Attentat war vor Kurzem auf Mr. Simpson selbst gemünzt gewesen.

„Ich hatte,“ erzählte er mir, „meinen freien Sonntag und spazierte nach dem Nachmittagsgottesdienste“ – Mr. Simpson ist ein guter frommer Brite und regelmäßiger Kirchengänger, sobald es der Dienst erlaubt – „in den Regentpark hinaus, denn es war ein Wetter, wie wir’s in London selten haben. Sie wissen, der Prinz-Gemahl hat es durchgesetzt, daß jetzt an Sonntagsnachmittagen im Regentspark und in Kensington-Gardens die Militärmusik dem Publicum etwas vorspielen darf. Der Rasenplatz, wo das Chor blies, war gedrängt voll Menschen, und ebenso Viele promenirten in der großen Allee auf und nieder. Ich trat zu den Zuhörern, und neben mich postirte sich ein feiner Herr, der an jedem Arme eine schöngeputzte Dame führte. Natürlich war ich in Civil, so daß Niemand wissen konnte, was für ein Geschäft ich treibe. Ich aber kannte meinen eleganten Nebenmann recht wohl; er hatte schon verschiedene Male im Arbeitshause von Clerkenwell seine Wolle gesponnen. Eben begannen sie einen neuen Marsch zu schmettern, und wie so Alles auf die Trompeten und Tam-Tams horcht, da spüre ich, daß mir Etwas leise unter die Rockflügel greift. Ich rühre mich nicht, um die Bande sicher zu machen, und erst im rechten Momente abfassen zu können. Und es glückte mir; ich erwischte das saubere Kleeblatt gerade, wie die eine der schönen Damen mein Taschentuch aus der linken und die andere meine silberne Tabaksdose aus der rechten Schooßtasche an’s Tageslicht befördert, und Cameraden von Scotland-Yards waren flink bei der Hand und führten die feinen Musikfreunde ab. Aber schlau war das Ding eingefädelt! Der Mann hatte, von rechts und von links, beide Daumen unter die Schöße meines Rocks prakticirt und so diese etwas in die Höhe gehoben, damit die Dirnen meine Taschen bequemer und unbemerkter ausleeren konnten. Hätte ich den Kerl nicht gekannt, so wär’ ich ausgeplündert worden, so gut wie der grünste Grünling, – und welche Blame das für einen Constablersergeanten, der bald zwanzig Jahre den Langfingern auf den Dienst paßt!“

Ein höchst sinnreiches Diebsstückchen gab mir der Inspector zum Besten. Nach der letzten Ernte hatte ein reicher Pächter aus Hampshire in dem bekannten Bankhause von Child dicht bei Temple Bar, dem Eingange zur City, eine bedeutende Summe in Geld eincassirt und in einem zu diesem Behufe angeschafften derben Lederbeutel in den Grund seiner geräumigen Hosentasche versenkt. Der stattliche Provinziale war nicht zum ersten Male in London; er kannte also die Gefahren, die seinem Schatze drohten, und nahm sich fest vor, sich nicht wieder einen Streich spielen zu lassen, wie es ihm bei der letzten großen Ausstellung passirt war, wo ihm ein britischer oder festländischer Fingerkünstler Uhr sammt Kette vom Leibe escamotirt und nur den Haken der letztern als traurigen Torso im Westenknopfloche übrig gelassen hatte. Während er somit dem Bahnhofe an der Waterloobrücke zustrebte – wohlweislich hatte er sein Geschäft bis kurz vor seiner Anfahrt aufgespart – that er die Hand nicht aus der Tasche, worin seine Sovereigns staken, und schritt im Bewußtsein seiner Unbesieglichkeit stolz dahin. Wer kann aber sein Erstaunen schildern und den Blick seiner überschwenglichen Verblüffung malen, als er plötzlich den so sorgsam behüteten Mammon nicht mehr unter seinen Fingern fühlt! Das ging denn doch über alle seine Begriffe von menschlicher und selbst von Londoner Gaunerleistungsfähigkeit! Indessen das Schicksal wollte ihm wohl. Ein naher Constabler hatte den einzeln Agirenden, einen alten Bekannten, bemerkt und, ehe sich derselbe mit seinem Raube aus dem Staube machen oder diesen bei Seite schaffen konnte, beim Kragen gepackt. [826] Und nun zogen alle Drei und zahlreicher Publicus hinterdrein dem Polizeigerichte von Bowstreet zu. Kläger wie Gerichtshof waren gleichgespannt auf die Erklärung des Wunders, das einem Menschen das Geld unter den festhaltenden Fingern aus der Tasche zu zaubern vermag, und der Erstere sicherte dem Meistergauner Straflosigkeit zu, unter der Bedingung, daß dieser mittheile, mit welchem Kniffe er den Diebstahl vollführt habe.

„Nun, sehen Sie, meine Herren,“ bekannte der Verbrecher, „ich kam gerade aus dem Citythore heraus, wie Sie drüben auf Mr. Child’s Bank lossteuerten, und dachte mir gleich, daß da ein gut Stück „Zinn“ (so nennt die englische Gaunersprache das Geld) eingesackt werden sollte. Ich machte mich darum hinter Ihnen in das Bureau hinein und sah, wie Sie das Geld einstrichen. Jetzt waren Sie mir schon so gut als gewiß. Ich ging Ihnen nach, und wie Sie an das Somersethouse kamen und sich einen Augenblick die grauen Mauern anguckten, da kitzelte ich Sie mit der kleinen Feder hier im rechten Ohre. Sie vergaßen für den Moment Ihren Schatz und nahmen die Hand aus der Tasche, um die zudringliche Fliege, oder was sonst Sie juckte, fortzuschaffen – und während dem fuhren meine Finger geschwind nach Ihrem Beutel und holten sich das Moos!“

Selbstverständlich bietet ein Menschengedränge, ein Auflauf oder Tumult dem Langfinger die besten Chancen. Wenn sich also nicht zufällig schon irgendwo eine solche deckende Menschenauhäufung vorfindet, so muß eine geschaffen werden, und um die Mittel und Wege dazu sieht sich der Pickpocket nicht verlegen. Seine erste Sorge ist es, den passenden Operationsplatz zu wählen, d. h. einen Platz, den geldführende Individuen zu passiren pflegen. Geschickt wirft einer der Helfershelfer – nie der ausführende Wire selbst – einen Stein in das nächste Schaufenster. Das schönste Gedränge ist fertig, und das Geschäft der Wires beginnt.

Das ist jedoch ein ziemlich verbrauchter Coup, der blos unter besonders günstigen Umständen, wenn irgend eine bestimmte Veranlassung, sei es eine Vieh- oder eine Blumen-, eine Hunde- oder eine – Kinderschau, ein großes Bootrennen auf der Themse oder eine feierliche Cricketpartie, in welcher Manchester gegen Liverpool oder Cambridge gegen Oxford Ball schlägt, eine zahlreiche Landbevölkerung und Kleinstädtermenge „hinauf“ nach London führt. Vor einem andern feinern Kniffe mag sich dagegen der mitleidige Fremde, der noch nicht lange genug die Londoner Rußluft geathmet hat, um von vornherein gegen alle Ansprachen, Bestrebungen und Productionen mißtrauisch zu sein, mit denen auf seine Theilnahme speculirt wird, vorzugsweise hüten.

Es ist etwa die Stunde, wo sich die großen Geschäftshäuser der City leeren, ihre Eigner und Gehülfen westwärts heimtrachten und, wer es kann, sich beeilt, um in den mächtigen Sauerstoffreservoirs, den Parks, die den Tag über geschluckten Miasmen und Kohlenatome möglichst aus den Lungen zu pumpen. Die Straßen des Westends füllt jetzt das eleganteste Publicum, zu Fuß, zu Wagen und zu Roß. Jählings stockt der Menschenstrom; an der Hydeparkecke oder vor den Villen von Parklane, in Knightsbridge oder vor dem Albertsthore stürzt ein unglücklicher Epileptischer zu Boden. Die Hände sind ihm fest geschlossen, die Augen stier, und Arme und Beine schlagen in gräßlichen Zuckungen um sich. Die Fußgänger bleiben stehen, einzelne Reiter steigen von den Pferden, und schnell hat sich ein Kreis von Mitleidigen und Neugierigen um den Kranken gebildet. Der Eine rathet dies Mittel, der Andere erbietet sich zu jener Hülfsleistung, bis allmählich der Leidende wieder zu sich kommt und mit matter Stimme bittet, ihm eine Droschke herbeizuholen, in der er, von dem Bedauern der Umstehenden gefolgt, davonfährt und – sich in’s Fäustchen lacht. Denn die ganze haarsträubende Scene war nichts Anderes als eine meisterlich gespielte Komödie, und der Krampfbehaftete nur der kunstgeübte Helfershelfer schlauer Taschendiebe, die während des Spectakels eifrig ihre goldene Ernte eingeheimst haben, bald die Mitleidigsten unter den Mitleidigen spielend, bald von dem Kranken keine Notiz nehmend, je nachdem es ihren Zwecken gemäß erscheint. Und morgen wiederholt sich das Schauspiel an einem andern Platze des Westends; der Fallsüchtige macht nämlich aus seiner seltsamen Kunstleistung seinen täglichen und ausschließlichen Lebensberuf, oft Jahre lang und unter den Argusaugen und vor den Spürnasen der schutzmannschaftlichen Blaufräcke selbst. Denn die löbliche Compagnie deren stiller Theilhaber er ist, sorgt dafür, daß der Name ihres trefflichen Mimen noch auf keinem Londoner Polizeiregister figurirt. Auch muß der Mann immer in anständigem, doch nie in auffälligem oder stutzerhaftem Anzuge erscheinen und den ältlichen Gentleman von mäßigen Mitteln copiren, der von vornherein auf Sympathie Anspruch machen darf.

Ab und zu trifft man an Straßenecken, da, wo das Wagenchaos minder gefahrdrohend ist, einen echten oder falschen Krüppel (ohne alle Füße, mit nur einem Arme oder mit einem Stelzbeine) auf dem Trottoir knieen oder kauern, welcher mit verschiedenen bunten Stiften allerhand sehr drastische Figuren und Gruppen auf die Wegplatten malt. Natürlich zieht das ein gewisses Publicum bescheidnerer Art, Ladendiener und Köchinnen, Domestiken und Arbeiter, herbei, und der zufällig vorübergehende Fremde bleibt wohl auch eine Minute stehen, um zu sehen, was die Scene zu bedeuten hat, und einen Blick auf die oft mit entschiedenem Geschicke gemachten unzweideutigen Schildereien zu werfen. Der verstümmelte Künstler ist aber wieder nur ein Diebeshelfer, der Spießgeselle von Beutelschneidern einer untergeordneten Kategorie, die, während sich die farbigen Linien auf dem Asphalte zum pikanten Bilde zusammensetzen, sich die wenigen Schillinge oder Pence zu Gemüthe führen, welche die arglosen Gaffer bei sich tragen.

John Bull’s Steifheit, Rückhaltung und vorsichtige Wortkargheit, wenn er sich Jemandem gegenübersieht, der ihm nicht in optima forma vorgestellt und als „respectabel“ bekannt, ist auf dem ganzen Continente zum Sprüchwort und typischen Komödienvorwurfe geworden, und ein Engländer, der an einen Fremden auf öffentlicher Straße oder an öffentlichem Orte gar das erste Wort richten oder ihm anders als mit einem frostigen „No“ oder „Yes“ antworten wollte, sündigte gegen die Urerz-Grundregel der nationalen Anstandslehre. Diese britische Unnahbarkeit trägt nicht zum kleinsten Theile dazu bei, daß sich der an offene Mittheilsamkeit und freiern geselligen Verkehr gewöhnte Ausländer anfangs unter den Söhnen Albions so unbeschreiblich unbehaglich fühlt. Es ist daher erklärlich, wenn er es als einen ihm leuchtenden besondern Glücksstern betrachtet, sobald ihm einmal eine Ausnahme von dieser unerträglichen britischen Exclusivität aufstößt, und sich freut, wieder einmal von Herzen und nach Herzenslust plaudern zu können. Allein ich kann meine Landsleute nicht genug warnen vor diesen gemüthlichen Engländern, die uns auf der Straße, auf der Eisenbahn und im Omnibus in ein Gespräch zu verwickeln suchen. Tragen dieselben nicht einen völlig untrüglichen Stempel der Biederkeit auf ihrem Gesichte, alsdann bleibe man zugeknöpft – auch im buchstäblichen Sinne – wie der zugeknöpfteste Brite; denn nur zu häufig stehen die freundlich mittheilsamen Herren zur großen Londoner Gaunerwelt in sehr innigen Beziehungen und bemühen sich, uns durch liebenswürdige Unterhaltung festzuhalten, lediglich, damit der Wire, dessen Geschäftskumpane sie sind, die nöthige Zeit findet, den vertrauensnollen Fremden recht gründlich zu durchforschen. Meistens sind die Mittheilsamen, was der Engländer „geknickte“ (broken down) Gentlemen nennt, „Lebensberufverfehler“, die einmal bessere Tage gesehen und darum sich noch eine gewisse Respectabilität in Wesen und Mienen erhalten haben. Um selbst als Wires noch etwas leisten zu können, sind sie zu alt, denn der Dieb muß in der Diebeshöhle geboren und von Klein auf zu seiner Kunst geschult und gedrillt werden, um sich zur Meisterschaft aufzuschwingen; zu Annexions-Helfershelfern aber macht sie jener letzte Schimmer von Achtbarkeit, der ihrem Auftreten geblieben ist, vorzugsweise geschickt. Mit einem Worte, sie sind ein Köder der allergefährlichsten Sorte, vor dem man sich kaum zu viel in Acht nehmen kann. –

Mit der folgenden Falle wird hauptsächlich das zartere Geschlecht, namentlich von gewissem Alter, gefangen. Ein Bürschchen von vier, fünf Jahren mit weißgewaschenem Gesichte und sauberem Kittel oder ein nettgekleidetes kleines Mädchen steht mit betrübter Miene auf der Straße und starrt rathlos auf die Aufschrift eines Briefes, den es bestellen soll. Das arme Ding hat die Adresse vergessen und weiß nun seiner Noth kein Ende. Eben kommt da eine würdige Matrone des Wegs gegangen. Schüchtern trippelt das trostlose Kind an sie heran und bittet ängstlich, ihm doch die vergessene Adresse lesen zu wollen. Wer könnte so hartherzig sein, dieser Ansprache zu widerstehen? Die Dame nimmt dem Kleinen das Billet aus der Hand, sucht vielleicht erst nach dem Brillenfutteral, das sie in der Tasche hat, setzt bedachtsam die Gläser auf die Nase und willfahrt dann gutmüthig und wortreicher, als unbedingt nöthig, dem an sie gestellten Gesuche. Mittlerweile aber lohnt ein schon lauernder Wire ihre Freundlichkeit, indem er ihr die [827] Börse und die in Schildpatt gefaßte Notiztafel, das Brillenetui und den silbernen Fingerhut und was sie sonst noch Nehmenswertes bei sich trägt, entführt. Es ist dies eine Methode, die selten ihr Ziel verfehlt. Obschon die „Haken“ – so nennt der Londoner Gauner die durchtriebenen kleinen Pseudoboten – Tag für Tag die Londoner Straßen unsicher machen und kaum eine Woche vergeht, daß nicht einer und der andere ertappt wird: die menschliche Gutmüthigkeit ist, glücklicher Weise, viel zu ausgiebig und unverwüstlich, um sich nicht immer wieder dupiren zu lassen.

Wenn man weiß, daß in London tagtäglich an anderthalbtausend „Omnibus“ circuliren, von denen nur wenige ihre Außen- und Innensitze nicht vollzählig besetzt haben, so wird man ermessen können, welche herrliche Operationsbasis der Londoner Langfingerarmee damit gegeben ist, um so mehr, als es nicht zu den Seltenheiten gehört, daß die Conducteure als deckende Außenposten der Plänkler oder Plänklerinnen agiren. Denn der Omnibus ist ebenso wie der Schauladen das recht eigentliche Terrain für die Heldenthaten der weiblichen Taschenspielerei. Gewöhnlich wird indeß der Raub nicht während der Fahrt oder im Wagen selbst, sondern erst dann vollbracht, wenn das in der Regel schon vorher in’s Auge gefaßte und gehörig ausgetastete Opfer aussteigen will, und derart, daß Drei der noblen Sippschaft einträchtig zusammenwirken, meistens zwei Frauen und ein Mann. Sowie das aufgetriebene Wild sich anschickt, den Omnibus zu verlassen, erhebt sich eine der Ersteren gleichfalls von ihrem Sitze und sucht dem Aussteigenden den Weg zu verlegen, indem sie plötzlich durch das Thürfenster auf die Straße zu blicken oder an den auf dem Tritte stehenden Conducteur eine eilige Frage zu richten hat oder über die Füße der Nebensitzenden stolpert und so dem Wire den nötigen Spielraum bereitet. Ist der Streich geglückt, so erfolgt das verabredete Zeichen und der Bearbeitete erhält freie Passage. Inzwischen ist Uhr oder Beutel der zweiten Gehülfin zugesteckt worden, die bei dem allerersten schicklichen Haltepunkte das Weite gewinnt, während die beiden Andern noch ruhig eine Strecke lang mitfahren; denn selbst in dem unwahrscheinlichen Falle, daß der Ausgebeutelte seinen Verlust mittlerweile entdeckt haben und seine Omnibusgenossen beargwohnen sollte, fühlen sie sich ja sicher, da nichts bei ihnen gefunden werden kann. Die Zahl der bei dieser Gelegenheit verübten Gaunereien ist enorm, und beinahe alle geschehen auf die gleiche Weise; dennoch wird das Publicum nicht gewitzigt und läuft immer von Neuem in das Garn.

Eines der fruchtbringendsten Tummelgefilde haben die Eisenbahnen dem Londoner Pickpocket erschlossen, und ein so ausgedehntes, gewissermaßen schrankenloses, daß wir seiner Vielseitigkeit auf demselben nur sehr oberflächlich und im Allgemeinen folgen können. Waggon und Perron, Wartesaal und Restaurationszimmer, Passagiere und Bahnbeamte – Alles wird ihm tributpflichtig. Ganze Familien, Männer und Frauen, Söhne und Töchter bis auf den jüngsten verheißungsvollen Sprossen hinab, widmen Thätigkeit und Talente einzig und allein der Eisenbahn und leben lediglich und ohne zu darben von dem Raube, welchen die Segenspenderin ihnen in die Hände liefert. Auch hier gilt wieder die alte Norm der Arbeitstheilung: der Eisenbahndieb versucht seine Kunstfertigkeit nie auf anderem Gebiete und bildet mithin in dem erkornen Gewerbszweige sein Geschick zu jener Vollkommenheit aus, welche die englische Industrie überhaupt charakterisirt. Der Londoner Gauner ist ein trefflicher Nationalökonom. Sein Princip heißt: keine Zersplitterung der Kräfte und Association, und er weiß, wie gut er dabei gedeiht.

Keine Strecke ist dem Eisenbahnlangfinger zu weit. Unverdrossen dampft er bis Aberdeen und Glasgow, bis nach Wales und Cornwallis, wenn ein Haupttreffer zu ziehen ist, wenn ihm seine weitreichenden Späher und Zuträger einen ungewöhnlich reichen Fang signalisirt haben, und wie ein ewiger Proteus lehnt er sich heute in die Plüschpolster der ersten Wagenclasse und fährt morgen als Jockey oder Roßtäuscher im vollgepfropften Coupé der letzten zum Rennen nach Epsom oder Newmarket, ist bald der behäbige englische Pächter mit Kniehosen und Gamaschen und bald der himmelnde Dissenterprediger in kragenlosem Rock und weißem Halstuche.

Kurz, fahrt wo und wie und wann Ihr wollt, – niemals und nirgends und auf keine Weise seid Ihr geschützt vor den kühnen Griffen der Londoner Bahnpickpockets. Also: a priori Mißtrauen gegen Jeden und Jede, die Euch das Schicksal als Coupégenossen in den Weg führt! Habt Ihr aber vollends Mitpassagiere, die an jedem Haltpunkte ruhelos aus dem Waggon steigen und von den Erfrischungs- nach den Wartezimmern hasten oder den Paletot oder Plaid keinen Augenblick vom linken Arme bringen, damit die Manövers der darunter verborgenen rechten Hand nicht vorzeitig bloßgestellt werden, oder denen die Arme in verdächtiger Unbeweglichkeit, als wären es künstliche Wachsgliedmaßen, gekreuzt auf dem Schooße ruhen – alsdann doppelte und dreifache Vorsicht und wo möglich zugeknöpft bis an’s Kinn! Vor Allem, wenn Ihr aussteigt, die Gedanken zusammengehalten und scharfes Auge auf die Nachbarschaft gerichtet! Denn ganz wie bei den Omnibusfahrten ist der Moment des Aussteigens der eigentlich kritische und entscheidende. Im Coupé seid Ihr sicher, – verhältnißmäßig heißt das. Hier setzt sich der Wire, das Haupt der nach Geschäftsbrauch auf Beute ausziehenden heiligen Dreizahl, derselbe feine Gentleman, der Euch vor der Casse, als Ihr das Billet löstet, recht gemüthlich in das Portemonnaie geäugelt und genau weiß, wo Ihr der Brieftasche mit den Fünfpfundnoten Quartier gebt, der nämliche artige Herr, der Eurer Frau so zuvorkommend in den Wagen geholfen hat, höchstens behaglich neben Euch, und ehe Ihr Euch noch auf den Kissen in die gehörige Lage gerückt und mit Euerm Gegenüber die schwierige Fußfrage geordnet habt, seid Ihr mit lindem Striche schon von oben bis unten sondirt und sind die Schlupfwinkel Euerer etwaigen ferneren fahrenden Besitzthümer ausgefühlt. Endlich ruft der Schaffner den Namen Eures Zieles aus und öffnet die Coupéthür, und wenn Ihr nun nicht den gesammten Vorrath Euerer Aufmerksamkeit auf den einen Punkt concentrirt, der jetzt noth thut, so wiederholt sich auf’s Haar das unerfreuliche Spiel, welches vorige Woche, da Ihr im Regent-Circus dem Omnibus erklettertet, das kaum gekaufte prächtige Juchtengeldtäschchen sammt den blanken neuen Sovereigns darin französisch von Euch verabschiedete.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: muster