Die Hochfluthen des Mississippi-Gebietes
Die Hochfluthen des Mississippi-Gebietes.
Noch sind die Wunden, die der Winter des vergangenen Jahres den Staaten Ohio, Indiana und Kentucky durch seine Hochwasser geschlagen, nicht vernarbt, und schon meldet der Telegraph das Einbrechen neuer ungeheurer Fluthen auf die Werke der Menschenhand, mit wenig Worten verkündend, daß wiederum Tausende von Menschen ihrer Habe verlustig und obdachlose, hungernde, arme Bettler geworden sind.
Wie all dieses Unheil mit einem Schlage gekommen, verrathen die wortkargen Depeschen nicht, und so möge es mir gestattet sein, durch Entrollung eines amerikanischen Flußbildes das dürftige Telegramm zu ergänzen und die Momente darzulegen, durch deren Zusammenwirken das Entstehen so großer und verheerender Fluthen überhaupt ermöglicht wird.
Fern im Nordwesten der Vereinigten Staaten, beim Oertchen Gallatin in Montana, treffen drei Flüßchen zusammen, die, alle drei von ziemlich gleicher Länge, nach ihrer Vereinigung einen der gewaltigsten Ströme der Erde bilden, den Missouri. Behält derselbe zunächst den Charakter eines schäumenden Gebirgsflusses bei, so breitet er sich bald zu einem gleichmäßig dahinrollenden inselerfüllten Strome aus, den senkrechte Klippen um 1000 Fuß überragen. Cedern, Kiefern und Fichten kleiden die Höhen, auf deren unzugänglich scheinenden Gipfeln Heerden von Bergschafen klettern.
Für nahezu sechs Meilen erheben sich diese schwarzen Felsmassen zu beiden Seiten des Flusses, eine wenig mehr als 150 Yards breite Kluft bildend, durch welche die tollen Wildwasser gleich einem Katarakte stürzen. Das ist die berühmte Passage des Missouri durch die Felsengebirge.
Nicht minder großartig sind die Wasserfälle des Missouri, 2575 englische Meilen von seiner Mündung zwischen dem Orte Helena und dem Fort Benton gelegen. 352 Fuß fällt hier der Strom auf einer Strecke von einer Stunde und bildet eine ununterbrochene Reihe von Stromschnellen und Katarakten, von denen der große Fall (vergl. Abbildung) gegen 90, der Cascadenfall gegen 47, ein dritter 60, ein vierter gegen 27 Fuß messen.
Was das Aussehen und den Charakter des Flusses betrifft, so ist derselbe völlig verschieden von allen europäischen Strömen und findet getreue Copien nur in den anderen Zuflüssen des Mississippi und in seinen eigenen mehr oder minder großen Nebenzweigen.
Bei Fort Benton in Montana, einer jener Militärstationen, die Anfangs dieses Jahrhunderts zum Schutze des Tauschhandels mit den Indianern im Charakter der auf unserer Vignette gegebenen Darstellung angelegt wurden, wird der Missouri schiffbar.
Aber auch hier ist er gleich allen anderen Prairieströmen in seinem Laufe unbeständig. Aufnahmen und Stromkarten jüngsten Datums bieten keine Gewähr, daß der Hauptcanal auch noch heute da zu finden ist, wo er gestern gewesen, und unerfahrene, mit der Natur des Flusses wenig vertraute Ansiedler haben nicht selten zu ihrem Schrecken bemerkt, daß Acker nach Acker ihrer an den Uferbänken des Flusses gelegenen Farmen von den ruhelosen Wassern des mächtigen Stromes weggewaschen wurden.
Fast alle Zweige dieses gewaltigen Stromsystems führen, namentlich zur Zeit der Hochfluthen, Ende April bis Juli, schier unglaubliche Massen von Sand und Schlamm mit sich, die, in dem Wasser vollkommen aufgelöst, dasselbe gänzlich undurchsichtig machen und ihm eine Farbe und Beschaffenheit verleihen, die dem Flusse den treffenden Namen „big muddy“, „der große Schlamm“, eingetragen. „Zu dick ist der Fluß, um darinnen zu schwimmen; zu dünn, um darauf zu gehen,“ sagt der Amerikaner, und wahrlich, man muß diese fließende Lehmfluth gesehen haben, um das Zutreffende dieses Ausdruckes begreifen zu können.
Bei niederem Wasserstande, im Herbste, bietet darum der Missouri gerade kein imposantes Strombild, aber zur Zeit der Hochfluthen ist das Schauspiel ein ganz anderes, gewaltiges. Der Missouri trägt dann den Charakter der übrigen Flüsse, die in den gewaltigen Mississippi münden und die, mit Ausnahme vielleicht des oberen waldentsprossenen Mississippi selbst, echte Prairieströme sind und in ihrer Erscheinung ungemein viel Aehnliches haben.
Wollen wir einen Versuch machen, ein Bild von dem Entstehen einer Hochfluth in jenen Ländern zu geben, so haben wir zunächst zu bemerken, daß der Winter in den nördlichen und namentlich in den nordwestlichen Theilen der Union lang und streng ist.
Sind Flüsse, Seen und Bäche zu Eis erstarrt, so sind über der Landschaft kolossale Schneemassen aufgehäuft, die in besonders strengen Wintern mitunter fabelhafte Dimensionen erreichen. So lag im Winter 1880 auf 1881, der sich mit seinen gegen 60 schweren Schneestürmen für immer denkwürdig in die Chroniken des amerikanischen Nordwestens eingeschrieben, der Schnee 5 bis 15 und 20 Fuß hoch, ja einige Schneewellen erreichten sogar eine Höhe von über 50 Fuß.
Die Witterung in Amerika liebt die schroffsten Gegensätze. Ein Frühling in unserem Sinne ist nicht bekannt, fast ohne Vermittelung reicht der eisige Winter dem glühenden Sommer die Hand. Plötzlich kommt die Hitze hereingebrochen, wie ein Regen von Feuerstrahlen, und bringt die ungeheuren Schneemassen riesig schnell zum Schmelzen, welcher Proceß durch den Niedergang mächtiger Regengüsse vielfach beschleunigt wird.
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[162] Sind schon hierin alle Bedingungen zur Erzeugung einer Hochfluth gegeben, so wird dieselbe wesentlich noch unterstützt durch den Charakter und die eigenthümliche Formation der Landschaft. Die hochgelegenen Quellgebiete der meisten Nebenflüsse des Mississippi sind entweder nur spärlich bewaldet, wie das Felsengebirge, ganz baumlos, wie die Prairie, oder stark abgeholzt, wie die Gebiete der Alleghanys. Darum vermögen die wenig bewachsenen Gebirge die Wassermassen nur wenig zu halten, und der thonige, lehmige und sandige Boden der Prairien ist es noch weniger im Stande, zumal dieselben durch die vielfachen heftigen Regengüsse mit zahllosen, während des Sommers meist ausgetrockneten tiefen Rinnen durchschnitten sind, die namentlich auf der höheren Prairie sehr regelmäßig gestaltet und äußerst zahlreich sind.
Diese Rinnen, Schluchten und Engpässe ergießen die in denselben angesammelten Wassermassen fast auf einmal in das Hauptsystem, und die Bäche werden mit einem Schlage zu Strömen, die Ströme zu kochenden Fluthen, die erfüllt sind mit abgespülten Erdmassen, keinen bestimmten Lauf innehalten, meilenweite Thäler überschwemmen und an einem Punkte ganze Landstücke wegreißen, um an andrer Stelle kolossale, langgestreckte Sandbänke und Inseln aufzuthürmen. Die Verheerungen, welche durch solche wilde Hochfluthen angerichtet werden, sind kolossal; entwurzelte Bäume, Uferfetzen, Planken, Zäune, Mühlen und Häuser werden von den Wassern davongetragen, ja es sind Beispiele genug vorhanden, daß die Bewohner ganzer Dörfer und Städte sich gezwungen sahen, Hals über Kopf ihre in der Nähe des Flußufers gelegenen Heimstätten an beständigere und weniger wandelbare Orte zu verlegen. So meldet eine New-Yorker Depesche vom 15. Februar dieses Jahres, daß durch die gegenwärtigen Hochfluthen des Ohio in Lawrenceburg vier Straßenviertel weggerissen wurden. In Folge der Fluthen sind Tausende von Menschen in Cincinnati, Madison, Wheeling und anderen Orten obdachlos!
Haben die Hochfluthen des Missouri und Ohio den Charakter des Wilden, Stürmischen, Dämonischen, so tragen die Hochwasser des unteren Mississippi, nachdem die beiden obigen Ströme sich in ihn ergossen, den des Ruhigen, Majestätischen.
Der untere Mississippi ist zu groß, zu weit und zu tief, als daß er gleich einem Bergstrome dahinstürzen könnte, und so schwellen sogar die ungeheuren Fluthen der Nebenflüsse ihn selbst nur langsam und allmählich an. Ein ausgedehntes System von hohen Uferdämmen – sogenannte „levees“ – verhindert das Austreten des Flusses, und ist der Wasserstand desselben zur Zeit der Hochfluthen, ähnlich wie bei den Canälen Hollands, einige Fuß höher als das Land zu beiden Seiten.
Bei aller Kostspieligkeit ihrer Anlage haben sich diese Dämme einer wirklichen Hochfluth gegenüber doch als nicht ausreichend erwiesen. So brach zuletzt im Februar des Jahres 1882 eine Katastrophe über die Staaten am unteren Mississippi herein, an deren Folgen diese Länderstriche noch lange kranken werden. Anhaltende Regengüsse hatten die Schneemassen des Nordens zum Schmelzen gebracht, und der untere Mississippi begann, angeschwellt durch seine mächtigen Nebenflüsse, in der zweiten Hälfte des Februar zu steigen. Ruhig, allmählich schwollen die Wasser an, und ebenso ruhig gaben die Dämme dem ungeheuren Drucke nach, worauf sich mit Brausen die Fluthen weit in’s Land hinein ergossen. Alle Rettung für die Bewohner des Landes und für ihr Hab und Gut war dahin. So weit das Auge reichen mochte, schweifte der Blick über eine endlose Wasserwüste. Gegen 68,000 englische Quadratmeilen waren überschwemmt, die Wasser erstreckten sich bis auf 45 englische Meilen weit in’s Land hinein, ja bei Hales Point, in Tennessee, hatte sich der Fluß 75 englische Meilen weit ausgebreitet und unzählige Häuser, alles Vieh und die Ergebnisse der letzten Ernten hinweggeschwemmt und vernichtet; auf Dächern und Bäumen mußten die Heimathlosen Zuflucht suchen und konnten erst nach tagelangen schrecklichen Leiden aus ihrer entsetzlichen Lage befreit werden.
In einem Falle hatte sich eine Anzahl von circa 100 Menschen mit ihrem Vieh auf einen schmalen Streifen Landes geflüchtet. Als aber die Wasser fortfuhren zu steigen, sahen die Unglücklichen sich gezwungen, ihr eignes Vieh zu tödten und in’s Wasser zu stoßen, nur um Raum für sich selbst auf dem kleiner und kleiner werdenden Eilande zu gewinnen. Das Elend war entsetzlich. Alle Plantagen waren vernichtet, an 100,000 Menschen obdachlos und ohne Nahrung.
Nicht weniger verderblich äußerte sich im Februar des vergangenen Jahres die Hochfluth des Ohio, dessen geringster Wasserstand bei Cincinnati 18 Zoll, bei gewöhnlicher Fluth 40 bis 50 Fuß beträgt. Diesmal erreichte aber der Strom die Höhe von über 66 Fuß, setzte einen großen Theil der Stadt unter Wasser und richtete gewaltigen Schaden an. Bedeutende Verheerungen verursachte die Hochfluth auch bei Louisville, wo am 12. Februar innerhalb einer halben Stunde 35 Straßenviertel bis 30 Fuß hoch mit Wasser bedeckt wurden.
Viel gefährlicher noch als diese hier geschilderten Hochfluthen sind die Ueberschwemmungen, die, durch Wolkenbrüche verursacht, plötzlich hereinbrechen und den Menschen ganz unvorbereitet treffen. Dieses plötzliche Anschwellen der Flüsse ereignet sich namentlich häufig in den Gebieten westlich vom Mississippi und Missouri.
Von einer solchen Fluth wurde am 1. August 1882 Cincinnati heimgesucht. Bei dem Orte Millesburg in Kentuky war ein Wolkenbruch niedergegangen, der hunderte von Aeckern verwüstete, alles Getreide wegspülte und eine Kohlenmine so mit Wasser füllte, daß die Bergleute nur mit knapper Noth das Leben retteten. Der Regenguß dauerte nur drei Stunden, doch betrug die Menge des gefallenen Regens einen Fuß. Diese Wassermassen stürzten sich in den kleinen Licking River und gelangten so in den Ohio, diesen mächtigen Strom um volle 10 Fuß anschwellend und durch das ganz unerwartete Eintreffen großen Schaden verursachend.
Kaum hatte Cincinnati sich von diesen Schrecken erholt, so ereignete sich wenige Monate später die bereits erwähnte Hochfluth des Februar 1883, und daß sich dieses grause Schauspiel jetzt, nach gerade einem Jahre, auf’s Neue und in derselben schrecklichen Weise wiederholt hat, ist durch die aus Amerika mitgetheilten Telegramme sattsam bekannt.