Die Heimstätte der Rattenfängersage
Die Heimstätte der Rattenfängersage.
Wer ein im Ganzen noch wenig gekanntes, aber herrliches Stück deutscher Erde schätzen lernen will, der befahre nach dem Feste der Maien von Münden oder Höxter aus die Weser zu Thal bis zu dem Punkte, wo sich am rechten Ufer die Hannover-Altenbekener Eisenbahn mit der Linie Löhne-Bienenburg kreuzt. Hier mischen zwei Flüßchen ihre klaren Wasser mit den grünen Wellen der Weser, von denen das rechts mündende Deutschlands Rattenfängerstadt den Namen gab. Gegenüber dem Flüßchen Humme und der sogenannten Klüthöhe ergießt sich nämlich die vom Süntel kommende Hamel in die Weser, und die große Fruchtbarkeit der Gegend mag wohl die nächste Veranlassung gewesen sein, daß schon um 755 ein Graf von Büren unweit jener Mündung das St. Bonifacius-Stift, dessen Münster noch heute die Hauptzierde Hamelns bildet, gründete. Die Stadt selbst entwickelte sich erst zur Zeit Karl's des Großen aus neun, jene fuldaische Stiftung umlagernden Siedelungen und Dörfern unter der Bezeichnung Hameloa, das ist Hamelaue. Zur Unterscheidung von naheliegenden Orten mit ähnlichen Namen, wie Hamelspringe, taufte
[373][374] man die Stadt später Querenhameln, das ist Mühlenhameln, und gab ihr, da einer der lohnendsten Nahrungszweige Hamelns von Anfang an die Müllerei war, den Mühlstein oder das Quereisen zum Wappenzeichen.
Von den sehenswürdigen Bauten Hamelns fesselt zunächst unsre Aufmerksamkeit das bereits erwähnte im Osten der Stadt und nahe der Weser gelegene Münster St. Bonifacii, eine romanische Basilika mit gothischem Uebergangsstil und einem achtseitigen Doppelthurme, deren Dach die Barockform des siebenzehnten Jahrhunderts trägt.
Schreitet man vom östlichsten Punkte des Münsterkirchhofes eine der Hauptverkehrsadern der Stadt, nämlich die Bäckerstraße von deren alterthümlichen Gebäuden unser Bild einen wegen seines Kindersegens sprüchwörtlich gewordenen Hof darstellt – nach Norden hinauf, so gelangt man auf den Hauptplatz Hamelns, den Pferdemarkt, welcher außer der gothischen dreischiffigen Nicolaikirche noch das Rathhaus, sowie das architektonisch höchst bedeutsame Privathaus des ehemaligen Bürgermeisters Tobias von Dampfer enthält, Vom Pferdemarkte und der hier endenden Bäckerstraße führt Hamelns breiteste Verkehrsader, die Osterstraße, über den Osterthorwall hinaus, in ihrer Fortsetzung als Deisterstraße nach dem Bahnhof.
Gleich das zweite Gebäude in dieser an monumentalen Sehenswürdigkeiten reichsten Straße der Stadt ist das sogenannte Hochzeitshaus, welches, wie unser Bild zeigt, durch einen kleinen Zwischenbau mit der südlichen Giebelfront des Rathhauses verbunden ist, sodaß über demselben, zwischen Rathhaus und Hochzeitshaus, der Thurm der Nicolaikirche sichtbar wird. Sein architektonisch würdigstes Pendant findet es in dem in derselben Straße gelegenen sogenannten Rattenfängerhause. Beide gehören mit ihren reichverzierten steilen Giebeln, massiven Erkern und mit Bildhauerarbeit fast überladenen Straßenfronten der späteren Renaissancezeit an, sind also erst zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts, vermuthlich von demselben Baumeister errichtet worden, welcher die eine Stunde südlich von der Stadt an der Emmer gelegene „Hämelnsche Burg“ erbaut hat.
Mehr jedoch als von den alterthümlichen Gebäuden Hamelns dürfte jeder Tourist von den landschaftlichen Schönheiten der deutschen Rattenfängerstadt angezogen werden. Den ersten schönen Aussichtspunkt dieser Art bietet die 1839 dem Verkehr übergebene eiserne Kettenbrücke, die älteste in Deutschland. Schon von weitem lockt ein donnerähnliches Getöse, das von den in unmittelbarer Nähe befindlichen, ehemals zum Füllen der Stadtgräben, jetzt aber ausschließlich zum Salmenfang aufgerichteten Wehren herrührt, den Wanderer an den Strand der Weser. Ein überraschender Naturanblick bietet sich dem Auge von der Brücke, Links erheben sich die Hasselberge mit Burg Hastenbeck und Obensburg; rechts tritt der steile Ohrberg hart an den Strom heran, drunten aber rauscht und braust die dunkelgrüne Fluth der Weser.
Auf den wildwirbelnden Wogen blinkt’s und glitzert’s dann und wann über dem Gischt, als spielte das Sonnenlicht mit den Schuppen eines Silberpanzers, Das sind mächtige Lachse, welche den sechs Fuß hohen Wasserfall des schräg laufenden Wehres zu überspringen streben.
Weit entzückender noch als von der Kettenbrücke erscheint Hamelns Naturreichthum von dem Klütberge aus. Dieser östlichste Rand der lippeschen Hügelkette ist, rechts von der Weserbrücke aus, in einer halben Stunde zu erreichen und hat, als das eigentliche Tusculum der Hamelner Bürger, nicht blos prächtige, laubbeschattete Promenadenwege, sondern auch freundliche Restaurationen, wie Dreier’s Berggarten, den Felsenkeller, den Funkenborn und das Klüthaus, aufzuweisen,
„Von Gärten umduftet, umrauscht vom Strom,
Mit schmucken Häusern und altem Dom,“
So liegt, von dem Klütthurme gesehen, zu Füßen des Beschauers die vielbesungene Stadt, und über ihre bläulich dampfenden Schornsteine und schwarzbrodelnden Fabrikschlote hinweg schweift der Blick nach den Ausläufern des Deister-, Oster, Ith- und Hilsgebirges hinüber und sucht alsdann, sich rückwärts wendend, die Mindener Hausberge mit der Porta Westfalica und dem Osning oder Teutoburger Wald in weiter dämmernder Ferne.
Wer hier zu Thal schauet auf das alte Rattenfängernest, den überkommt unwillkürlich ein romantisches Träumen, etwas von der Stimmung, die in der poesievollen Sage webt, welche hier ihre Heimath hat. Er gedenkt des sangesgewältigen Spielmannes und seiner jugendlichen Opfer – der Zauber der wunderbaren Rattenfängermythe nimmt ihn ganz gefangen.
Diese Sage selbst ist heute dermaßen in aller Leute Munde, daß es an dieser Stelle genügen wird, ihren Kernpunkt kurz zu berühren. Ein buntgekleideter, fahrender Spielmann verpflichtet sich dem Rathe der genannten Weserstadt, gegen ausbedungenen Lohn sämmtliche Ratten und Mäuse, die dort in erschreckender Weise überhand genommen, zu vertilgen. Der abenteuerliche Pfeifer wird seinem Vorhaben auch gerecht, das Stadtregiment aber verweigert dem Rattenfänger, als einem unheimlichen Zauberer und Teufelscumpan, die versprochenen 100 Mark hamelnscher Witt’ und Wichte und weist ihn drohend aus den Mauern der Gemeinde. Da, von Rache und Wuth entbrannt, lockt der mißhandelte Spielmann, wie vorher das geschwänzte Ungeziefer, so jetzt der Bürger Liebstes, die Jugend, mit seiner Zauberflöte aus der Stadt hinaus und in den Koppenberg hinein; von dort sollen die jungen Hamelenser unter der Erde weitergeführt und in Siebenbürgen wieder zum Vorschein gekommen sein, wo sie, der Sage nach, der Grundstock der daselbst seßhaften deutschen Bevölkerung geworden sind.
Diese Ueberlieferung ist keineswegs von Anfang an in der erzählten Gestalt und Vollkommenheit aufgetreten, sondern hat mehrere Stufen der Entwickelung zu durchlaufen gehabt. Die Aufeinanderfolge und allmähliche Verschmelzung dieser einzelnen Entwickelungsphasen ist aber höchst interessant und veranschaulicht die Entstehung der Sagen im Allgemeinen. Erich, ein Oberpfarrer Hamelns um 1650, schrieb eine ausführliche Abhandlung über besagten geheimnißvollen Kinderauszug und citirte in dieser seiner Darstellung einige ältere, jene dunkle Geschichte betreffende Knittelverse eines unbekannten Reimschmieds. Aber weder diese Citate Erich’s, noch die von Heinrich Maibom, dem Verfasser einer „Geschichte des alten Bardewiek im Lüneburgischen“, aufgefundenen Notizen über denselben Gegenstand enthalten, als früheste Quellen, etwas von einem Kinderentführer überhaupt, geschweige denn von einem hamelner Rattenfänger als Jugendverführer im Besonderen. Die Auslassungen beider Gewährsmänner beschränken sich, was die Citate anbelangt, vielmehr darauf, daß in alter Zeit 130 hamelnsche Kinder auf dem Koppel oder Köppel, dem Galgen- und Hochgerichtsberge, auf einmal verschwanden seien. Den Zusatz, daß der plötzliche Verlust der hamelnschen Jugend durch einen bunten fahrenden Spielmann bewirkt worden, bringt die auf ein kleines rothes Buch des städtischen Archivs – wovon heute freilich keine Spur mehr vorhanden sich beziehende „Sachsenchronik“, während eine nach Erich aus dem Jahre 1589 stammende und von dem hamelnschen Oberprediger Herr mitgetheilte „Reimchronik“, die den Kinderausgang in dreiundfünfzig Versen behandelt, den kinderentführenden Pfeifer zu einem Rattenfänger macht und als Zeit jenes furchtbaren Rache-Actes das Jahr 1284 setzt. Endlich erhielt die Sage ihre jetzige Gestaltung durch einen dritten hamelnschen Geistlichen, den Jesuiten Athanasius Kircher, der zuerst die kühne Behauptung ausspricht, die vom Rattenfänger in den Koppenberg gelockten Kinder seien in Siebenbürgen wieder an’s Tageslicht gekommen und die Stamm-Eltern der dortigen Sachsen geworden.
Neben diesen literarischen Denkmälern existiren aber noch viele andere Zeichen und Umstände, welche für ein Ereigniß, wie es die Grimm’sche Sage meldet und selbst Rollenhagen’s „Froschmäusler“ berichtet, zu bürgen scheinen, Zu Erich’s Zeiten standen auf dein Koppenberge zwei uralte Kreuze, deren eines die Jahreszahl 1284 getragen haben soll, und an zwei Häusern verkünden noch heute inschriftliche Sculpturen die unheimliche That des zauberischen Pfeifers. Am Rattenfängerhause, an dessen der Bungelosen-, das ist Trommellosen-Straße zugekehrten Wand, befindet sich die eine, welche unsere heutige Abbildung veranschaulicht, am Hochzeitshause die andere, welche folgenden Wortlaut hat:
„Nach Christi Geburt 1284 Jahr
Gingen bei den Koppen unter Verwahr
Hundertdreissig Kinder, in Hameln geboren,
Von einem Pfeifer verführt und verloren.“
Ja, noch mehr! Aus einem lateinischen Distichon, welches sich bis vor wenigen Jahren an einem der Thore Hamelns befand, jetzt aber in der Krypta des Münsters aufbewahrt wird, rechnete man das schon genannte Jahr als bestimmte Zeit des Schreckensereignisses [375] heraus; ferner war auf einem Fenster der Marktkirche bis zum Jahre 1527, wo es renovirt worden, der tückische Entführer mit seinen jugendlichen Opfern leibhaftig dargestellt, und einige Schriftsteller wissen sogar von einer mit ähnlichen Bildern versehenen Gedächtnißmünze, die aus Anlaß jener traurigen Begebenheit geschlagen worden sein soll; ein holländischer Gelehrter, Johann Lactus, aber überbietet all dies noch durch die Behauptung, die Hamelner Bürger hätten bis 1643 ihre officiellen Schriftstücke „anno x nach unserer Kinder Ausführung“ datirt.
Eine von solcher Fülle angeblicher Wahrheitsmomente unterstützte Sage mußte natürlich den Erklärungseifer von Gelehrten wie Ungelehrten mit gleicher Stärke erwecken, und eine ganze Reihe theils bedeutender und geistreicher, theils aber auch plumper und fader Lösungsversuche zeitigen.
Beachtenswerth von diesen verschiedenen Auffassungen erscheinen nur zwei, von denen die erstere Hamelns Kinderverlust mit den namentlich zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts auch in Deutschland grassirenden Flagellantenfahrten und Veitstänzen zusammen bringt, während die andere jenes Unglück mit den aus Frankreich nach Deutschland importirten und mit ungeheurem Fanatismus besonders in Thüringen ausgeführten Kinderkreuzzügen auf dasselbe Blatt setzt.
Einen bedeutenden Schritt vorwärts in der Erklärung der Rattenfängersage that 1749 ein Geistlicher Hamelns, der Garnisonprediger Fein, indem er mit seiner Schrift „Die entlarvte Fabel vom Ausgange der hämelnschen Kinder“ auf ein wohlbeglaubigtes Ereigniß in der Geschichte Hamelns, nämlich auf die am 28. Juli 1259 stattgehabte Schlacht bei Sedemünder hinwies, in welcher die kampffähige Jugend der Stadt theils im Streite gegen Bischof Wedekind von Minden fiel, theils in des Letzteren Gefangenschaft gerieth.
Die ausziehenden Kinder sind besagtem Geistlichen die ausrückenden jungen Krieger mit einem Pfeifer an der Spitze, und die Straße nach Sedemünder führt wirklich aus dem Osterthore und über den Hamelner Koppenberg. Dort verliert die nachschauende Bürgerschaft die Kriegerschaar aus den Augen – mit anderen Worten: die Jugend verschwindet scheinbar im Koppen, und von den Sieben-Bergen her, das heißt über die Hausberge bei Minden, kehren die von Wedekind gefangenen Streiter und Geiseln, nach zu Stande gekommenem Vergleiche zwischen Stadt und Bischof, in ihre Heimath zurück. Aus den Sieben-Bergen des Weserlandes hat die Volksphantasie mit Zuhülfenahme des auffallenden Gleichklanges beider Namen Siebenbürgen in Ungarn gemacht, und eine derartige, in geographisch ungeschulten Zeiten gar nicht auffällige Verwechselung lag um so näher, als sich im siebenbürgischen Gebirgslande mehr als ein Calvarienberg – wie der hämelnsche Koppenhügel noch genannt wird – befindet. Aber gerade diese Fein’sche, auf den ersten Blick bestechende, rein historische Deutung hat den jetzigen Oberlehrer Dr. Dörries in Hameln veranlaßt, der Sache noch tiefer auf den Grund zu gehen. Gestützt auf Jacob Grimm und zahlreiche Belege, behauptet er, daß die Rattenfängersage mehr als eine nur historische Deutung zuläßt. Er erklärt den Hamelner Mythus für eine internationale Wandersage. In der That wird von einem Kapuzinermönche im Dorfe Drandy bei Paris, ferner von einem Dudelsackpfeifer zu Belfast und endlich von einem Brandenburger Leiermann Aehnliches gefabelt, wie vom Hamelner Rattenfänger.
So dürfte denn dem Leser klar geworden sein, daß in dem wunderbaren Gewebe der Rattenfängersage der Auszug historisch, der Einschlag dagegen entschieden mythisch ist. Wo sich aber Geschichte und Mythe zu einer Sage verschmelzen, da entsteht als Drittes und Neues immer das psychologische Element, und diese geistige Substanz ist es, welche Sagen und Märchen Jahrhunderte überdauern macht, ihrer dichterischen Gestalt immer neuen Reiz verleiht und die Künstler aller Epochen anspornt, an derartigen Stoffen ihre schöpferische Kraft zu erproben.
In unseren Tagen verband sich die Poesie mit der Musik und der darstellenden Kunst und gab in dieser Mächtigkeit des Ausdruckes der bisher nur local hamelnisch gefärbten internationalen Rattenfängersage ein deutsch-nationales Gepräge.
Nachdem Goethe, auch in dieser Beziehung seiner Zeit vorauseilend, mit genialem Blicke das psychologische Moment der Rattenfängersage erfaßt und in seinen bekannten drei Balladenstrophen zum ersten Mal offenbart hatte, sodaß Gläser in seiner frühesten Rattenfängeroper den Fußstapfen dieses Altmeisters folgen konnte, stand 1875, wie über Nacht, ein neuer Dichter, Julius Wolff in Berlin, auf; er griff mit glücklicher Hand in die vergilbten Pergamentblätter der kleinen Weserstadt und schuf – alles bis dahin über diesen Gegenstand Geschriebene und Gedichtete weit hinter sich zurücklassend – der beinahe verschollenen Aventiure vom Hamelner Rattenfänger in dem Gewande eines modernen, lyrischen Epos neuen Ruf und frisches Leben.
Seit Wolff’s „Hunold Singuf“ seine sechsundzwanzig zündenden Rattenfängerweisen ertönen läßt, ist die Bearbeitung der Hamelner Sage, wie schon bemerkt worden, zu einer Art Cultus geworden. Görner’s phantastisches Volksstück „Der Rattenfänger von Hameln“ hat im Berliner Bellealliance-Theater nahe an 250 Wiederholungen erlebt; V E. Neßler’s gleichbetitelte Oper, zu der Friedrich Hofmann bekanntlich den der Musik sich trefflich anschmiegenden poetischen Text geschrieben, ist im königlichen Opernhause zu Berlin und an nahezu fünfzig Hof- und Stadttheatern in Scene gegangen, und augenblicklich bereitet der Hofcomponist Bratzky eine Operette dieses Namens für das Friedrich Wilhelmstädtische Theater vor. Ja, sogar der Reichshauptstadt erster Circus „Renz“ hat sich den Stoff nicht entgehen lassen und in seiner Weise großartige Leben und Farben sprühende Tableaus daraus arrangirt.
So hat der wundersame Rattenfänger das kleine Hameln an der Weser zu einer viel genannten Stadt gemacht. Wohl selten hat eine internationale Wundermär ihrer deutschen Niederlassung und Heimstätte so viel Ruhm eingebracht und Millionen Herzen, nah und fern, so mannigfachen künstlerischen Genuß bereitet, wie Hamelns Rattenfängersage.