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Die Heimath in der neuen Welt/Zweiter Band/Neunundzwanzigster Brief

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Achtundzwanzigster Brief Die Heimath in der neuen Welt. Zweiter Band
von Fredrika Bremer
Dreißigster Brief
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Textdaten
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Autor: Fredrika Bremer
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Titel: Die Heimath in der neuen Welt, Zweiter Band
Untertitel: Neunundzwanzigster Brief
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Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1854
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Verlag: Franckh
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: Gottlob Fink
Originaltitel: Hemmen i den nya verlden. Andra delen.
Originalsubtitel: Tjugondenionde brefvet
Originalherkunft: Schweden
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung: Erinnerungen über Reisen in den USA und Cuba
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Neunundzwanzigster Brief.


Cincinnati (Ohio) 30. November 1850. 

Nur einen Gruß im Geiste und einige wenige Zeilen heute. Denn ich habe soviel zu besorgen, daß ich gleichsam ein wenig kopfwirr bin. Aber es ist wie von süßem Wein.

Ich befinde mich seit dem letzten Dienstag in dem allerschönsten, freundlichsten Hause, wo die allergefälligsten Menschen und Gatten Mr. und Mrs. Stetson, vermögliche kinderlose Leute von mittlerem Alter (so ungefähr 50) ihre Freude darein setzen, Verwandte und Freunde um sich zu versammeln und glücklich zu machen. In einem der verschiedenen Gastzimmer ihres schönen und geräumigen Hauses lebe ich herrlich und in Freuden wie ein Mitglied der Familie. Ein bleicher sanfter und junger Priester, zugleich ein trauernder Wittwer und zwei unverheirathete Frauenzimmer, Verwandte meiner Wirthsleute, bilden außer diesen die Hausgenossenschaft. Mein Wirth, ein riesiger Mann, und sein anmuthiges Weibchen besitzen viel Humor und es fehlt dem Gerichte des Alltagslebens nicht an erquickendem Salze.

Jetzt ein Wort über die Reise von St. Louis her. Sie ging in sechs Tagen auf dem Asia gut und rasch von Statten, trotz der unruhigen Gesellschaft von 24 kleinen Kindern von 10 Jahren bis zum Alter von etlichen Monaten herab. Man mußte zufrieden sein, wenn nur ein Drittel von ihnen schrie. Es waren auch Passagiere von der zweiten und dritten Sorte da, Frauenzimmer, die ihre Pfeife rauchen, sich mit den Fingern schnäuzen und die herkommen und fragen, wie es Unsereinem in Amerika gefalle. O es gibt keine größern Contraste als zwischen den gebildeten und ungebildeten Frauenzimmern in diesem Lande.

Eine Mutter und ihre Tochter gefielen mir jedoch wegen ihres Aussehens und ihrer sichtlichen gegenseitigen Liebe. Aber just als ich mich der Mutter nähern will, kommt sie mit der Frage heran, ob die Vereinigten Staaten meinen Erwartungen entsprochen.

Ich lebte meistens still in meinem Zimmer, Gesellschaft haltend mit meinen Büchern und dem Schauspiel an den Ufern. Kam dann der Abend und die Lichter, so unterhielt ich mich damit, daß ich die kleinen Kinder im Salon ins Bett legen half, denn in den Cajüten gab es nicht Platz für sie alle. Unter den Passagieren befand sich eine junge Mutter, noch nicht 30 Jahre alt, mit 8 Kindern, wovon das jüngste noch an der Brust. Sie war mit ihrem Mann und ihren Kindern fortgereist, um sich weiter westlich in einem der Missisippistaaten niederzulassen. Aber der Mann erkrankte unterwegs an der Cholera und starb im Verlauf eines Tages. Die junge Mutter kehrte jetzt mit all ihren vaterlosen Kleinen nach ihrer elterlichen Heimath zurück. Sie war noch sehr hübsch und von feinem Körperbau. Obschon sich die eine und andere Thräne über ihre Wange hinabschlich, als sie Abends da saß und ihr kleines Kind säugte, sah sie doch nicht verzweifelt oder sehr bekümmert aus. Sieben von den Kindern, vier Jungen und drei Mädchen, wurden jeden Abend geschwisterlich auf eine lange Matratze unmittelbar vor meiner Thüre zusammengelegt, ohne weitern Bettzeug als diese Matratze und eine Decke. Ich hatte mein Vergnügen an einem dreijährigen Jungen, einem wahren Amor von Kopf und Gestalt, dessen Hemdchen kaum über den halben Bauch herabreichten. Er konnte sich in dem geschwisterlichen Bett nicht zurecht finden. Er sehnte sich vermuthlich nach dem warmen Mutterbusen, kroch deshalb beständig aus dem ersten heraus und trat ganz sachte und zuversichtlich in seiner adamitischen Unschuld in den Kreis der Frauenzimmer, die weiter weg im Salon beim Lampenschein saßen und plauderten oder nähten. Hier wurde er von der Mutter an seinem halben Hemdchen ergriffen (ungefähr wie unsere Magd eine Henne am Flügel nimmt, wenn sie sie in den Stall sperren will) und so durch das Zimmer zum Bett zurückgetragen, wo sie ihn als Küchlein hineinsteckte mit ein paar tüchtigen Klatschen und sodann mit der Decke zudeckte. Vergebens. Er zeigte sich alsbald wieder über der Decke und trotz den Brüdern und Schwestern, die ihn mit einem Schlagregen übergossen, richtete er sich mit Füßen und Händen arbeitend immer höher auf, und bald stand mein krausköpfiger kleiner Amor wieder auf den Füßen und spazierte in den Frauenzimmerkreis herein, ebenso schön, ebenso zuversichtlich, ebenso ungenirt von Kleidern oder Scham, wie das erstemal, und er wurde da von einem lauten Lachen empfangen, von der Mutter aber aufs Neue ergriffen und mit einer neuen Portion Schläge, die aber zu gelind waren, um einen sonderlichen Eindruck zu machen, abermals unter die Decke gesteckt. Dieser Auftritt erneuerte sich binnen zwei Stunden 6-7 Mal jeden Abend. Etwas Geheul und Gemurre lief zwar auch mitunter, aber im Allgemeinen war die Beharrlichkeit und der ruhige Humor des kleinen Amors ebenso ausgezeichnet wie seine Schönheit. Doch verzeih, dieses Gemälde ist just nicht nach Deinem Geschmack, aber Du hättest es hier sehen sollen.

Jetzt von dem Schauspiel außer dem Haus und unterwegs. Ein Stück unter St. Louis auf dem Missisippi sahen wir den stattlichen dreideckigen Dampfer St. Louis mitten auf dem Grunde sitzen. Wir brausten unbekümmert vorüber. Es war ein schöner und sonniger Tag. Die Landschaft an den Ufern hatte eine Strecke weit nichts Merkwürdiges. Aber jetzt auf Missouris Ufer dicht am Flusse erhoben sich senkrechte Klippen, deren Wände die merkwürdigsten Basrelief-,[WS 1] zuweilen auch Hautreliefbilder von Altären, Urnen, Pfeilern und Pyramiden, Säulen und Bildhauerarbeiten darstellten, so daß man Mühe hatte zu glauben, daß sie von der Hand der Natur und nicht von der Hand der Kunst gemeiselt waren. Diese merkwürdigen Felsenwände kehrten an einigen Orten wieder, aber vereinzelt auf Missouris Ufer hingestreut.

So kamen wir immer südwärts den Missisippi hinabfahrend an die Mündung des Ohio. Die Landschaft ist hier sehr breit und niedrig. Der hellblaue Ohio, der schöne Fluß, läuft so still und vertraulich in den trüben Missisippi-Missouri, wie sich eines Freundes klare Seele in das unruhige Gemüth eines Andern ergießt. Die Ufer beider Flüsse waren mit grünem Buschwerk bewachsen. Ueber der ganzen Gegend ruhte ein sanfter heller Glanz. Eine verlassene oder kleine Kolonie mit verfallenden Häusern lag auf der Landspitze zwischen den beiden Flüssen. Sie heißt Cairo. Sie war zu einer großen Handelsstadt bestimmt. Aber der Platz wurde so ungesund gefunden, daß man ihn nach einigen verunglückten Versuchen, hier zu leben und zu bauen, wieder aufgab.

Der Asia zog majestätisch ostwärts vom Missisippi den Ohiofluß hinan zwischen den Staaten Kentucky und Ohio. Der Ohio ist bedeutend schmäler als der Missisippi, seine Ufer sind höher und mit Wald bewachsen. Der Fluß ist hell und schön. Wir sahen an den Ufern zuerst gefällte Bäume und Blockhäuschen, sodann kamen Farms und endlich schöne Häuser auf Anhöhen, die immermehr emporsteigen und kultivirt aussehen. Die Bäume auf beiden Ufern sind sehr hoch. In ihren entlaubten Wipfeln sieht man Büscheln und Klumpen, Vogelnestern nicht unähnlich, von einem buschigen und grünen Gewächse. Es ist die Mistel, die hier üppig gedeiht. Die Bäume weichen, die Aussicht eröffnet sich, die Höhen ziehen sich zurück, und hier am Ufer des schönen Ohio erhebt sich mit glänzenden Kirchthurmspitzen, umgeben von Weinbergen und zierlichen Villen, mit einem Halbkreis von Hügeln im Hintergrund, eine große Stadt: — es ist die „Königin des Westens“ Cincinnati.

Vor 60 Jahren existirte die Stadt noch nicht. Ihre ersten Gründer lebten noch vor einigen Jahren hier. Jetzt hat sie 120,000 Einwohner. Das kann man Wachsthum nennen.

Bevor ich den Asia verlasse, muß ich noch Mehala, der guten alten Negerin, die uns auf dem Dampfschiff bediente, einen Abschiedsblick zuwerfen. Sie war eines der gutmüthigen und angenehmen Menschenkinder, die man nicht anders als lieben kann, und sie besaß eine gute Dosis von jenem Takt und jener Klugheit, wodurch die Negerrasse sich auszeichnet. Sie hatte vierzehn Kinder gehabt, aber alle durch den Tod oder den Sklavenhandel verloren. Nur von dreien wußte sie, wo sie zu finden waren, aber dieß war weit weg von hier. Sie sprach betrübt, aber ohne Bitterkeit davon. Sie gehörte jetzt einer deutschen Herrschaft, welche sie auf ihren eigenen Wunsch zum Dienst auf dem Dampfschiff vermiethet hatte. Denn, sagte sie, diese Leute verstehen es nicht, wie man Dienstboten behandeln muß. Ihr ganzes Dichten und Trachten ging darauf soviel zu ersparen, daß sie sich loskaufen könnte. Dann konnte sie, das wußte sie, zu ihrer verheiratheten Tochter in Kentucky kommen und sich mit Waschen ernähren. Sie hatte bereits eine kleine Summe zurückgelegt. Beim Abschied umarmte mich die gute Alte so herzlich, daß es mir innig wohl that. Das Gegenstück zu diesem Weib war eine andere Negerin, Wäscherin an Bord, ebenso bösartig als die erstere gutartig war, Der Asia lag eine kleine Weile vor Cincinnati, als ein sanfter blasser Herr an Bord kam und mich zu Wagen nach der neuen Wohnung abholte, in die ich eingeladen war.

Es war der bleiche Prediger und Freund, der Gast im Hause, dessen ich bereits gedacht habe. Als sich die Hausthüre vor mir öffnete, kam mir eine junge Frau von mittlerem Alter entgegen, mit einem so sprechenden Gepräge von Güte und Wohlwollen in ihrem anmuthsvollen Gesicht, daß ich mich unwillkürlich zu ihr hingezogen fühlte und froh war in ihrem Haus sein zu dürfen. Und die Anziehung und das Vergnügen haben seitdem immer zugenommen.

Cincinnati habe ich abwechselnd the queen of the west (Königin des Westens), the city of roses (Stadt der Rosen) und the city of hogs[WS 2] (Stadt der Schweine) nennen gehört. Sie verdient alle drei Namen. Sie ist eine schöne stattliche Stadt mit der schönsten Lage zwischen Weinbergen, zwischen grünen mit hübschen Villen geschmückten Hügeln, an dem schönen Fluß Ohio mit seinem reichen Leben und seinem klaren Wasser. Zur Zeit der Rosen, soll sie eine wahrhaft maßlose Pracht von Rosen haben und ich sehe Rosen noch jetzt zwischen den ewig grünen Lebensbäumen auf den Terrassen vor den schönen Häusern freundlich vorschimmern. Aber gegenwärtig ist derjenige Charakter der Stadt, der ihr den Namen Stadt der Schweine zugezogen hat, vorwiegend. Dieß ist nemlich die Jahreszeit, wo große Heerden dieser achtungswürdigen vierfüßigen Mitbürger aus den Farms und kleinen Städten des Westens nach Cincinnati kommen, um da in einer großen eigens hiezu eingerichteten Anstalt geschlachtet und sodann eingesalzen nach den östlichen und südlichen Staaten geschickt zu werden. Ich bin mehreremale auf den Straßen auf ganze Regimenter von Schweinen gestoßen, vor denen ich mich hastig zurückzog, theils weil sie die ganze Straße erfüllten, theils weil ihr Gestank die Luft verpestet. Ich nenne sie achtungswerth, weil ich mich in jeder Beziehung in Acht nehme, sowohl ihnen zu begegnen, als von ihnen zu essen. Ich habe einen heilsamen Abscheu vor diesem ganzen Geschlecht in diesem Land, und könnte ich ihn Vielen mittheilen, so wären viele Leute gesunder und glücklicher, als sie jetzt sind. Könnte Moses zurückkommen, Präsident der Vereinigten Staaten werden, allda allen Speck verbieten, sein Verbot durchsetzen und alle Schweine aus dem Lande treiben, so wäre die Union von dem schlimmsten Uebel nach dem Bürgerkrieg, von der Verdauungsschwäche befreit.

Aber unter so vielem Schönen und Guten darf ich mich nicht so lange bei den Schweinen aufhalten.

Ich habe da und dort schöne Wanderungen angestellt und auch außer dem Hause mehrere interessante Bekanntschaften gemacht. Unter diesen muß ich dir zuerst den Phrenologen Dr. Buchanan nennen, einen geistreichen aber etwas excentrischen Mann voll Leben und Menschenliebe, der mich sehr interessirt durch seine Persönlichkeit und durch die großen Aussichten, die seine Nervenlehre und Analyse des menschlichen Gehirns über die unendlichen Möglichkeiten des Menschen (the immense possibilities of man) eröffnet, in welchen er überdies dem freien Willen des Menschen einen großen Spielraum anweist. Denn Buchanan ist in hohem Grad Spiritualist und erblickt in den geistigen Kräften die stärksten Reagentien für alle Bildung. Er sieht in dem unmateriellen Leben den Bestimmer der Materie. So ist der Wille des Menschen für ihn das innerste Bestimmende, er wirkt entwickelnd auf das weiche Hirn in Gutem oder Bösem, und das weiche Hirn wirkt erhöhend oder abnützend auf die Hirnschale.

Ferner bin ich in hohem Grad erfreut über die vorherrschenden Ansichten von der Sklaverei, von ihrer möglichen Ausrottung, sowie über die Zukunft der Negerrasse und Afrikas durch Colonisation Afrikas von Seiten christlicher Neger aus Amerika, sowie die Produktivität der freien Arbeit in einem ganz tropischen Klima, welche die Sklavenarbeit in einem halb tropischen weit übertrifft.

Im afrikanischen Repositorium, einer Zeitschrift, die hier von Dr. Christy, Agenten der Colonisationsgesellschaft in Ohio, herausgegeben wird, lese ich interessante Aufsätze über Liberia und Sierra Leone, wie auch über das Gedeihen dieser Colonien auf Afrikas Küste. Der Ohiostaat hat neulich etwas Gutes gethan, indem er eine große, mehrere hundert Meilen lange Strecke Lands, genannt Gallinas, wo der Sklavenhandel bisher mehrere seiner vornehmsten Kanäle hatte, auf der afrikanischen Küste aufkaufte. Einige vermögliche Männer in Cincinnati haben mehrere Tausend Dollars dazu gespendet. Durch diesen Kauf und die Colonisation des freien Landes durch freie Neger aus Ohio, (es wird Ohio in Afrika genannt werden) ist dem Betrieb des Sklavenhandels auf der afrikanischen Küste ein gewaltiger Damm gesetzt.

Gegenwärtig ist hier ein Congreß von 108 Bürgern, um die ungefähr fünfzig Jahre alte Verfassung des Staats umzuschaffen oder vielmehr zu entwickeln. Ich war vorgestern zugegen und schüttelte einem guten Theil der weisen Väter die Hände. Die meisten sind schöne Männer von mittlerem Alter mit offenen Gesichtern und freien tüchtigen Stirnen. Viele Mitglieder sind Advokaten. Es sind aber auch mehrere Farmers, Handelsleute und Handwerker aller Arten darunter. Nur zwei Mitglieder sind unverheirathet. Die Arbeiten der Versammlung gehen dahin dem Volk eine umfassendere Macht zu geben, z. B. bei Ernennung der Richter und anderer Beamten.

Andre interessante Gegenstände kommen hinzu, die mich innig erfrischen. Es regt sich wirklich in Ohio ein gewisses centrales Leben im Denken und Handeln wie ich es in andern Staaten Amerikas nicht gefunden habe, und wie es sich nun damit verhalten mag, ich meine hier im Mittelpunkt der neuen Welt zu leben.

Mit einem Wort, mein Herzchen, ich lebe, ich umfasse mit meinem Geist Gegenwart und Zukunft in verschiedenen Entwickelungen, an verschiedenen Plätzen der Erde nah und fern, und ich fühle, daß an mir selbst Vieles sich entwickelt, was früher in Banden gelegen oder blos halb gelebt hatte. Ich danke Gott.

Dezember.  

Ich habe mich jetzt beinahe drei Wochen in dieser guten Heimath bei den freundlichen guten Stetsons aufgehalten und einen großen Theil der Bevölkerung und der Stadt, wie auch der schönen Umgegend gesehen. Die Gegend gehört zu den schönsten und freundlichsten, die man sich denken kann. Die schönen Villen liegen auf fruchtbaren Hügeln, welche die herrlichsten Aussichten über Fluß und Land darbieten. Die Bevölkerung ist ebenfalls von allen Sorten, guten und schlimmen, angenehmen und unangenehmen: es gibt da liebenswürdige Menschen, die man bitten möchte lange, immer bei uns zu bleiben, und wieder andere, die man dahin wünschte, wo der Pfeffer wächst. Doch ich habe meistens nur gute und angenehme gesehen und habe auch viel Gutes von ihnen genossen.

Auf einer großen Hochzeit sah ich dieser Tage drei junge Bräute, die alle sehr schön waren. Eine von ihnen aber war so ausgezeichnet und sah so innig liebenswürdig aus, daß ich ihr von ganzem Herzen ein „Gott segne Sie“ sagen mußte. Eine Menge schöner Toiletten und schöner Gesichter sah ich hier ebenfalls. Die Amerikanerinnen kleiden sich gut und geschmackvoll, Und hier wie überall finde ich sie im Allgemeinen schön und treffe kaum ein Gesicht, das man häßlich nennen könnte. Ich meine jedoch, daß ich von einem solchen erquickt würde, wenn ich darin diejenige Schönheit fände, die ich im Allgemeinen (nicht immer) bei diesen hübschen Menschenrosen vermisse, und die ich mit der Schönheit der bethauten Knospe in ihrer Morgenstunde vergleichen möchte. Es fehlt Schatten, Ruhe, Morgenthau, Heimlichkeit — das Unnennbare, Innige, Tiefe, was das Gemüth mit stiller Macht zum Gefühl verborgener edler Schätze zieht. Es fehlt die stille Anmuth des Wesens, die an und für sich eine Schönheit ist. Habe ich Unrecht? Ist es der Schimmer des Salons und des Kronleuchters, der mich verwirrt?

Eine Bemerkung halte ich für gegründet. Putz und Eitelkeit haben hier zu Lande keine geringere Macht bei unsrem Geschlecht als in den großen Städten Europas, und sie sind weit stärker als in unserm guten Schweden. Einige Beweise davon haben mich beinahe erschreckt. Der Luxus und die Gefallsucht junger Frauen haben nicht selten ihre Männer zur Verzweiflung und zum Trinken getrieben. Ich hörte einmal eine schöne junge Frau sagen:

„Meine Ausicht ist, daß die Frauenzimmer, wenn sie einmal verheirathet sind, viel zu wenig für die Herren thun. Ich mache mirs auf einem Ball immer zur Pflicht meine Kinder zu vergessen.“

Ein skandalöser Prozeß schwebt gegenwärtig zwischen einem jungen Paare ob, das sich vor einigen Jahren verheirathete. Es war eine der schönsten Hochzeiten: Ausstattung, Möbel, Alles war so kostbar und prächtig wie möglich. Alles prangte von Seide, Sammt und Juwelen. Aber bald darauf kam Zwietracht unter die Gatten, wie man sagt, in Folge der Beharrlichkeit der jungen Frau sich gegen den Willen ihres Mannes zu schminken. Ihre eitle und unverständige Mutter scheint der Tochter gegen den Mann beigestanden zu haben, und jetzt sind die Eheleute geschieden und es wird eine Correspondenz bekannt gemacht, die keinem von beiden Theilen zur Ehre gereicht.

Die Männer hinwiederum — denn die Gerechtigkeit fordert, daß man auch ihre Schattenseiten nicht übersieht — sind allzusehr dem Hazardspiel und der Trunkliebe ergeben. Es herrscht unter ihnen viele Rohheit und Wildheit, eine Unmanierlichkeit, die man auf englisch recklessness nennt.

„Warum verheirathet man sich in dem großen Westen, aus Liebe oder um des Geldes willen?“ fragte ich einen älteren, klugen und geistreichen Herrn, den ich zu meinen hiesigen Freunden zähle.

„Um des Geldes willen,“ antwortete er kurz.

Seine Frau wollte sich diesen strengen Ausspruch nicht gefallen lassen. Aber er gab nicht nach und sie mußte zugeben, daß das Geld allerdings einen großen Einfluß bei Abschließung der Ehen habe. Daß dieselben dessen ungeachtet doch glücklich werden, das kommt von der Gnade des lieben Gottes und dem starken moralischen Grund, welchen dieses Geschlecht von Natur und Erziehung hat, sowie von dem Einfluß des allgemeinen sittlichen Urtheils.

Daß sie oft auch unglücklich werden und daß die Zahl der Ehescheidungen in einem Theil der amerikanischen Staaten, wo das Gesetz keine besonderen Schwierigkeiten in den Weg legt, groß ist, das kann man unter solchen Umständen nur natürlich finden. Die große Menge von Ehescheidungen, wovon ich gehört habe, dürfte auch daher kommen, daß die Amerikaner weniger als andere Völker mit dem Unvollkommenen Geduld tragen und gordische Knoten lieber durchhauen als lange Jahre an ihrer Lösung arbeiten. „Das Leben ist kurz,“ sagen sie.

Gleichwohl habe ich nirgends mehr vollkommen glückliche Ehen gesehn, als in Amerika. Aber sie waren nicht um des Geldes willen geschlossen worden.

„Was haben Sie im Westen Besseres als in den östlichen Staaten, so daß Sie lieber da leben?“ fragte ich meine gute Wirthin.

Sie antwortete: „Mehr Freiheit und mehr Vorurtheilslosigkeit, mehr Achtung für den Menschen, als für seine Kleider und die äußere Welt, mehr freien Athem in dem was wir denken und unternehmen, größere Ungezwungenheit im Zusammenleben.“

Und gleichwohl meine ich bemerkt zu haben, daß Empfindlichkeit, Unsittlichkeit, Barschheit und Groll, kurz alle gewöhnlichen Kobolde des Gesellschaftslebens hier nicht minder hausen, als in den größeren Städten der neuen Welt. Das gute Korn und das Unkraut wachsen überall auf dem Ackerfeld der Erde, im Westen wie im Osten.

Das Klima in Cincinnati ist nicht gut, die Luft ist scharf und die plötzlichen Witterungswechsel dürften zu der Reizbarkeit beitragen, die ich unter der Bevölkerung zu bemerken glaube.

Außer dem Haus habe ich das Vergnügen gehabt einigen Vorlesungen anzuwohnen und unter ihnen besonders den lebhaften und wirklich geistreichen extemporirten Vorträgen, welche Dr. Buchanan im Medicinischen Collegium über die Thätigkeit des Gehirns und das freie Verhältniß des freien Willens zu demselben hielt. So einem andern über Baco von Verulam, über welchen ein junger unitarischer Geistlicher, Mr. Livermore, eine durch ihre natürliche Sprache und durch psychologischen Tiefblick interessante Darstellung zum Besten gab. Ferner hörte ich eine Rede von einem Plantagenbesitzer und ehemaligen Sklaven-Eigenthümer in Kentucky, Mr. Kassius Clay, der die Sklaven auf seiner Pflanzung emancipirt hatte und öffentlich gegen die Sklaverei auftrat, was ihm eine Menge von Feindseligkeiten in dem Sklavenstaat zuzog. Der Haß gegen ihn ging so weit, daß er bei einem öffentlichen Vortrag, den er vor einem Jahr in einer Stadt Kentuckys, ich glaube in Louisville hielt, von einem ergrimmten Gegner und seinem Anhang mit bewaffneter Faust überfallen wurde. Mr. Clay, der ganz und gar nicht darauf vorbereitet war, hatte keine Waffen bei sich. Bereits durch mehrere Messerstiche schwer verwundet, würde er vermuthlich erlegen sein, wenn nicht sein dreizehnjähriger Junge muthig durch den Haufen bis zu seinem Vater vorgedrungen wäre und ihm ein Bowiemesser zu seiner Vertheidigung überreicht hätte. Mr. Clay konnte sich jetzt zur Wehr setzen und that es mit solchem Nachdruck, daß er seinem Gegner eine tödtliche Wunde beibrachte. Er selbst lag beinahe ein Jahr lang an den empfangenen Wunden darnieder, und es war jetzt das Erstemal seit seiner Genesung, daß er öffentlich als Redner auftrat, aber nicht in Kentucky, sondern in Ohio.

Der große Saal, wo er sprechen sollte, war gedrängt voll. Ich war schon vorher bei der Hochzeit mit dem Manne bekannt worden. Er hatte mich auch besucht und sein mannhaftes bestimmtes Wesen, der mannhafte Blick in seinen dunkelblauen Augen hatte mir wohlgefallen, ebenso auch seine Ansicht über den nothwendigerweise rohen und niedrigen Zustand in Staaten, wo die Sklaverei eine häusliche Einrichtung ist, über den verwildernden Einfluß derselben auf Sitten und Gemüthsart, und über die folgerichtig daraus hervorgehende Herrschaft der Pistole und des Bowiemessers. Sein Glaube war, daß die Negersklaven in freie Arbeiter verwandelt werden können und müssen. Ich fragte ihn, wie seine eigenen Sklaven sich als freie Männer betragen. Er antwortete: „Vortrefflich.“ Aber es waren ihrer nicht viele und sie waren allmählig auf die Freiheit vorbereitet worden.

In seiner Rede am Abend eiferte er muthig und kräftig gegen eine „Einrichtung, welche alle Familienbande auflöse und das Weib erniedrige.“ Und dann ergoß er sich in eine heftige Polemik wider die neue Bill gegen entlaufene Sklaven, sowie wider Daniel Webster, der sie unterstützt hatte. Er erinnere sich, sagte er, eines Gemäldes vom Fegfeuer, das er als Kind gesehen habe. Es habe verschiedene arme Sünder vorgestellt, die aus den versengenden Flammen zu entkommen versucht, aber da habe ein Oberteufel mit Hörnern, Klauen und einer großen Heugabel in der Hand gestanden und jede arme Seele, die im Begriff gewesen aus dem Feuer zu entrinnen, ergriffen, sie auf die Gabel genommen und in das Feuer zurückgeschleudert. Diesen Oberteufel erkannte Clay in Daniel Webster.

Dieß war der Glanzpunkt der Rede, die durch und durch polemisch gehalten war und von der Sklavenbill und Webster auf die Bibel und das Christenthum überging. Hier machte der tüchtige Kämpe kein Glück und erwies sich als schwacher Theolog, indem er das Christenthum mit der beschränkten Kirche verwechselte, welche den Geist der Lehre nicht aufzusassen weiß, wie er denn auch die Bibelworte nur nach dem falschen und unverständigen Gebrauch beurtheilte, den man häufig von ihnen macht. Aber dieser Gebrauch ist bei Vertheidigern der Sklaverei, auch bei Geistlichen so gewöhnlich, daß ich mich nicht darüber wundere, wenn Mancher dadurch aufgereizt und verleitet wird, die Quelle der Wahrheit selbst zu verkennen, weil man die Lüge aus ihr ableiten will.

Die zahlreiche Versammlung hatte jedoch gute Nasen, sie roch den Brand und verhielt sich still. Der Redner, der mit starkem Geklatsche empfangen worden war, erndtete beim Abschied nur schwachen und spärlichen Beifall.

Ohio ist, wie Du weißt, ein freier Staat. Auf der andern Seite dieses schönen Flusses, der denselben Namen trägt, liegt der Sklavenstaat Kentucky, und früher gehörte es zu den alltäglichen Ereignissen, daß die Sklaven über den Fluß flohen, um das freie Ufer zu erreichen. Jetzt würde die Flucht den armen Sklaven zu nichts mehr helfen. Sie würden in den freien Staaten sowohl als in den Sklavenstaaten verfolgt und aufgefangen werden.

Ich habe höchst ergreifende und interessante Erzählungen über die Art, wie die Sklaven ihre Flucht bewerkstelligen, gehört, und ich kann nicht begreifen, daß diese Ereignisse nicht zu einem Roman oder einer Novelle in der Literatur des Landes verarbeitet worden sind. Ich kenne keinen Stoff, der eine fruchtbarere Gelegenheit zu ergreifenden und pittoresken Scenen böte. Die Sklaven z. B., die auf dem Wege des Nordsterns entfliehen, wie man ihn nennt, die keinen andern Weg zur Freiheit kennen, als den Weg nordwärts, den der Nordstern andeutet, die bei Nacht wandern, wenn er glänzt, und sich den Tag über in den tiefen Wäldern verbergen, wo zuweilen sanftherzige Freunde (Quäker) ihnen Nahrung herausbringen, ohne welche sie vermuthlich umkämen; diese Reise mit ihren Gefahren und Hoffnungen, diese Naturscenen und dieser nächtliche Leitstern — welch ein Gegenstand wäre das nicht für eine talentvolle Feder! Kommen dazu die Ergüsse warmer, liebender, leidender Menschenherzen, ihre Qualen und ihr Jubel — wahrhaftig, so ist dieß ein Stoff für höhere Romantik, als in Chateaubriands Attala. Ich kann namentlich nicht begreifen, daß nicht edelsinnige amerikanische Frauen, amerikanische Mütter, die Herz und Kopf haben, diesen Gegenstand mit einer Kraft behandeln, welche Jedermann durch Mark und Bein gehen, die Klugheitsmaßregeln der Staatsmänner in Asche verwandeln und selbst in der alten weltberühmten amerikanischen Verfassung eine Revolution hervorbringen müßte. Das Recht des Weibes, das Recht der Mutter ist es, das durch die Sklaverei am bittersten gekränkt wird. Wenn das Herz des Weibes, das Herz der Mutter, warm und stark vom mütterlichen Blut sich erheben wollte, dann bin ich überzeugt, daß die geistige Kraft in den Vereinigten Staaten sich emporrichten und endlich die Sklaverei stürzen würde.

Oft hat mich ein sehnsüchtiges Verlangen angewandelt, die Geschichte eines flüchtigen Negerpaares zu schreiben, so wie ich meine, daß sie geschrieben sein müßte, und ich habe daran gedacht, Materialien dazu zu sammeln. Und lebte ich an diesem Fluß und in der Nähe solcher Scenen, dann weiß ich, wofür ich leben würde. Aber jetzt fehlt es mir an Lokalkenntnissen, an der genauen Kenntniß specieller Verhältnisse, die unumgänglich nothwendig ist, wenn das Gemälde wahr und ergreifend werden soll. Diese Arbeit steht einer Andern zu. Ich baue meine Erwartungen und Hoffnungen auf die amerikanische Mutter.

Ohio wird der Buck-eye State (Rehaugenstaat) genannt von der braunen Frucht eines Kastanienbaums, die man Rehaugen nennt und die sehr häufig im Staate vorkommt.

Der Staat soll ein fruchtbares Erdreich haben, gut für Korn und Viehzucht, und eine idyllisch-schöne, obschon nicht großartige Natur. Die schönen großen Bäume hier und in Kentucky werden sehr gerühmt. Ich bedaure, daß die Jahrszeit mir nicht erlaubt, noch mehr von der Schönheit der Natur in diesem Lande zu sehen, das 8—10 Millionen mehr als seine gegenwärtige Bevölkerung ernähren kann.

Im Hause ist Alles gut, friedlich, angenehm. Ein neuer Gast belebt den kleinen Gesellschaftskreis seit einigen Tagen, es ist ein Mr. D. aus Neuengland. Er ist jedoch kein Yankee von Charakter, sondern es scheint mir, als ob er fein, frisch und parfümirt aus dem Salon und Gesellschaftskreis der Frau von Sevigné in den unsern hineingeschlüpft wäre. Er interessirt sich hauptsächlich für Gesellschaftsleben, Litteratur, Freunde, Bekannte, angenehme Dinge und Stunden, er ist Liebhaber von schönen Frauenzimmern, von bon-mots und Tafelfreuden, er kennt aufs Einzelste alle Feinheiten in Shakspeare und ist im Stand, in einem vierzeiligen Billetchen von Damenhand große Dinge zu erblicken; im Uebrigen ist er ein ehrlicher Mann, ein treuergebener Freund, ein guter Gesellschafter, mit dem man sich über alle möglichen Gegenstände aufs Angenehmste unterhalten kann.

Er hat hier die Betrachtung des großen Westens von seinem mythologischen Gesichtspunkt aus als ein neues Jothunheim mit Thor und Loke, Rhimtussen und Riesen von Neuem auf die Bahn gebracht. Und die Vergleichungen, die er zwischen dem skandinavischen Jothunheim, seinen Helden und Abentheuern (die er in einer Uebersetzung von Sturlesons Edda von H. Longfellow liest) und der gegenwärtigen Riesenheimath und den Riesen der neuen Welt anstellt, geben Stoff zu vielen muntern Erzählungen und Betrachtungen. So wird der äusserste Westen das neue Utgard voll von Ungeheuern und Zaubergeistern; die Mammuthgrotte ist Skyrners Handschuh; der göttliche Eber Sehrimmer lebt hier in 1000fachem Maßstab, und Thors und Starkotters Großthaten werden von den Riesen auf dem Riesenfluß und in den Missisippistaaten von Neuem aufgeführt. So kommen mehrere Anekdoten von diesen auf die Bahn, um die Mahlzeiten zu würzen, und unser Wirth, Mr. Stetson, welchen Mr. D. und ich den guten Jothun nennen, was er sich gerne gefallen läßt, gibt manchen saftigen und lustigen Beitrag zu dieser Mythologie des Westens. Da hast Du einige Probestücke:

Ein Mann — ein Mann des Westens — steht am Missisippistrand, sieht ein Dampfboot in die Luft springen und ruft: Bei Gott, die Amerikaner sind ein großes Volk! (Ein gewöhnlicher Ausruf bei allen möglichen Vorkommnissen im großen Westen.)

Ein anderer Mann, ein Vikinger am Missisippi, strandet mit seiner Schute auf einer Klippe im Fluß, bleibt selbst daran hängen und ruft, indem er sein Fahrzeug verunglücken sieht:

Hail Columbia, happy land!
If I'm not lost, I'll be damn’d.
(Heil Columbia, glücklich Land,
Bin ich nicht hin, sei ich verdammt!)

Ein Passagier auf einem der Missisippidampfboote bekam neulich mit einem andern Streit. Sie gingen aufs oberste Verdeck und wechselten einige Schüsse, sodann kamen sie herab, wie wenn sie bloß mit einander Ball geschlagen hätten. Einer von diesen Herrn sah etwas bleich aus und ging in seine Cajüte, kam aber zwei Tage lang Morgens, Mittags und Abends heraus, um an den Mahlzeiten Theil zu nehmen; am dritten Tag wurde er todt in seinem Bette gefunden mit fünf Kugeln im Leib.

Man muß zugeben, dieß heißt die Sache kalt nehmen.

Eine gewisse humoristische Uebertreibung wird als charakteristisch für die Westländer bezeichnet, sowohl in Bezug auf ihre Gemüthsart als auch auf ihre Ausdrücke. Kentucky besonders muß dafür herhalten und liefert Stoff zu mancher lustigen Erzählung. So wird einem Kentuckyer nachgesagt, er habe die Güte des Kentuckyer Bodens mit folgenden Worten gepriesen:

„Wenn wir gut düngen und Korn oder Mais säen, so bekommen wir ungefähr den 150fachen Betrag wieder. Wenn wir säen ohne zu düngen, so bekommen wir den 100fachen Betrag, und wenn wir weder düngen noch säen, so bekommen wir den 50fachen Betrag.“

Die Jothun-Geschichten gehören zu unserm täglichen Brod und es kommen täglich neue hinzu.

Mit Mr. Silsbee, dem blassen Geistlichen, sprach ich nicht von diesen, um so mehr aber von Theologie und Swedenborgianismus. Wir disputirten wenig. Aber ich fand an der krystallreinen Wahrheit und Schönheit seiner Seele so viel zu lernen, daß es mir immer mehr Vergnügen machte, ihren stillen Ergießungen zu lauschen, als meine eigenen Beweise durchzusetzen. Er gehört zu den Stillen im Lande, deren Leben ihre beste Lehre ist. Er betrauert tief seine entschlafene Gattin.

„Die Leute verstehen den Segen des Ehestandes nicht genug zu würdigen," sagte er eines Tags zu mir. „Wir leben in der Ehe nicht auf der Höhe der Seligkeit, die uns gleichwohl zu Gebote stände.“

Miß Harriet, Mrs. Stetsons ältere Schwester, ein gemüthliches ernstes Frauenzimmer von etwa sechzig Jahren, zeigt sich nicht bei der Mittagstafel und nur selten im Salon. Dagegen fand ich oft, daß sie sich in meinem Zimmer und meinen Schubladen zu schaffen machte und daß sie dieß verstohlen that, was mir etwas sonderbar vorkam, bis ich es mit einer andern Sonderbarkeit in Verbindung brachte und durch letztere die erstere erklären konnte. Ich entdeckte nämlich in meinen Schubladen, daß ein Kragen und ein Paar Manschetten, die ich abgelegt hatte, weil sie allzusehr ins Graue zu spielen anfingen, auf eine unerklärliche Art darin wieder zur weißen Farbe übergingen und wie von selbst ganz neu gewaschen und neu gestärkt dalagen. So entdeckte ich auch, daß alte Krägen ausgebessert wurden, und noch mehr, es zeigte sich ein neuer Kragen mit ächten Spitzen und neuen Manschetten, die noch nicht dagewesen waren, aber just die Façon hatten, die ich zu tragen pflege, — und immer sah Miß Harriet, wenn ich ihr begegnete, so ernsthaft und entschlossen aus, als wollte sie sagen, sie befasse sich niemals mit den Angelegenheiten Anderer, erwarte aber auch, daß Andere sich nicht mit den ihrigen befassen. Es stand wirklich einige Zeit an, bis ich in vollem Ernst zu argwöhnen anfing, daß Miß Harriet sich damit befaßte, meine feine Wäsche zu besorgen, mein Weißzeug in Ordnung zu bringen und mir neue schöne Stücke zu nähen. Und als ich ihr endlich deßhalb zu Leibe ging, wollte sie zwar ein bischen mürrisch aussehen, aber ihr gutmüthiges, schalkhaftes Lächeln verrieth sie, und die ehrliche gute schwesterliche Seele hat mich seither mit ihrer etwas herben Stimme und ihrem ernsten Wesen nicht mehr fern zu halten vermocht. Aber daß diese Stimme nie etwas Anderes als die Wahrheit sprach und daß in diesem scheinbar kalten Wesen ein gutes redliches Herz und ein klarer tüchtiger Verstand, ein humoristisches, freundliches Gemüth wohnte, was sich bei genauerer Kenntniß auch in ihrer Unterhaltung ausprägte, das bemerkte ich so allmälig, und das hatte auch Mr. Harrison mir gesagt.

Wer ist Mr. Harrison? Er ist einer der Hausfreunde und ein Mann, den ich gerne zum Freund haben möchte. Mehr von ihm später, denn wir dürften Reisegefährten nach Neu-Orleans werden.

Miß V., eine jüngere Freundin und Bewohnerin des Hauses, ist so schweigsam und still, daß man im Anfang bloß aus der hohen Denkerstirne und aus der Ruhe in der ganzen edeln Gestalt ahnen kann, daß ihr mehr als gewöhnliche Gaben beschieden worden sind. Aber von Zeit zu Zeit kommt eine leise Bemerkung oder ein nachläßig und leise hingeworfenes Wortspiel, welches Dich veranlaßt, sogleich den Kopf zu drehen und in heiterer Verwunderung die anspruchslose Miß V. anzusehen, denn solche Worte bekommt man anderwärts nicht oft zu hören. Ich würde Dir gerne einige ihrer witzigen Wortspiele mittheilen, aber sie lassen sich in unsrer Sprache nicht wiedergeben. Unser guter Jothun behauptet, sie versehe alle Zeitungen damit.

Miß V. trägt noch auf allerlei andere Arten zur Erheiterung der Gesellschaft bei, z. B. durch delikate Zuckerkuchen (Spunge cake), dem besten Kuchen hier im Land, wovon ich einen Ueberfluß habe, der mich an den Riesencharakter des großen Westens erinnert.

Da siehst du ein wenig von unserm Alltagsleben, aber die Perle davon liegt für mich in dem Zusammenleben und in der Unterhaltung mit meiner allerliebsten, klugen und guten Wirthin.

Im Haus habe ich oft auch das Vergnügen, ein junges Mädchen, Miß K. Green, eine nähere Bekannte der Familie, Stücke von Beethoven spielen zu hören, und zwar mit einer Treue, einer Innigkeit der Auffassung, welche jeden Ton und Gedanken des großen Meisters zur Geltung bringt und mir unendlichen Genuß verschafft. Sie hat in ihrem Aussehen viel von der innern strahlenden Schönheit, welche ich hoch über die bloß äußerliche und gewöhnlichere bei jungen Gesichtern dahier stelle. Auf meinen Wunsch studirt sie mit aller Macht Beethovens zweites Adagio in der vierten Symphonie ein, das mich in Boston so entzückte.

Unter den Personen, die mir hier Freude bereiteten, muß ich auch eine junge Dichterin, Mrs. L., nennen, eine schöne, begabte und liebenswürdige Dame. Sie Verse vorlesen zu hören, ist ein wahrer musikalischer Genuß.

Es sind hier mehrere Schweden ansäßig und unter ihnen verschiedene, die, nachdem es ihnen in der alten Welt nicht gelungen ist, ihr Glück in der neuen Welt gefunden haben und sich jetzt recht comfortable befinden. Einer von ihnen hat sein Glück dadurch gemacht, daß er die Hölle zeigte, ein Jugendwerk des amerikanischen Bildhauers Powers, der in Cincinnati geboren ist, hier in einer Uhrmacherwerkstätte arbeitete und mit verschiedenen plastischen Kunstwerken begann. Unter ihnen befand sich eine mechanische plastische Darstellung der Hölle. Der Schwede kaufte sie, setzte sie in eine Art von Museum, lud das Volk ein zu sehen, wie es in der Hölle zuging, gab den Leuten tüchtige elektrische Schläge, gefolgt von Donner und Blitz, zu empfinden, und ist jetzt ein reicher Mann, mit Weib, Kind und Landhaus, was er sich Alles durch Vorzeigung der Hölle erworben hat.

Es sind hier in Cincinnati einige amerikanische Heimathen, in welche ich Dich einführen möchte; so in ein Haus, wo eine junge Mutter und Wittwe lebt, um fünf schöne Jungen zu guten Christen und Bürgern zu erziehen; so in ein anderes, wo kinderlose Gatten einander durch ein Leben voll Ergebenheit und Intelligenz das Dasein erheitern, die Langeweile fliehen machen und die Krankheit in ein Mittel zu innigerer Vereinigung zwischen Herz und Herz, zwischen Himmel und Erde verwandeln. Da ist besonders eine Familie, von der ich weiß, daß Du Dich bei ihr eben so wohl befinden würdest, wie ich. Denn es ist schön, die Menschen gut leben zu sehen, aber noch schöner und seltener ist es, sie gut sterben zu sehen. Und in diesem Hause befindet sich eine sterbende Person. Es ist ein ganz junges Mädchen, schön wie eine Rosenknospe und mit so frischen Rosen auf ihren Wangen, daß kein Fremder glauben will, daß der Tod in ihrem Herzen sitzt. Aber sie weiß es und ihre Mutter weiß es auch. Sie hat eine tödtliche Herzkrankheit und das zu große Herz in der zarten Brust kann nicht mehr viele Wochen schlagen. Mutter und Tochter wissen es beide und bereiten sich in qualvollen Tagen und Nächten, welche sie zusammen durchwachen, auf die bevorstehende Trennung vor, aber mit himmlischer Heiterkeit und Ruhe. Sie sprechen davon wie von etwas Schönem für das Mädchen, und sie bereitet sich für die Gesellschaft der Engel dadurch vor, daß sie unter dem Kreuz der Schmerzen immer geduldiger, immer liebreicher gegen Alle, immer engelgleicher wird. Es ist nichts Düsteres in diesem Krankenzimmer; Freunde kommen mit Geschenken und Liebe, um sich an dem jungen Mädchen zu erfreuen, so lange es noch am Rande des Grabes verweilt, um von ihr noch ein Wort, einen Blick aus dem Himmel zu erhalten, mit welchem sie bereits in Verbindung steht.

Diese Klarheit über den Tod, diese Todesvorbereitung findet sich unter der Bevölkerung Englands und Nordamerikas häufiger als in irgend einem andern Lande, das ich kenne. Der Mensch hält es da für eines seiner Menschenrechte, seinen Zustand und seine Todesgefahr kennen zu lernen, wenn es geschehen kann, mit offenem Blick und wachsamem Gemüth der Stunde seiner Verwandlung entgegen zu gehen und sich mit vollem Bewußtsein von der Wichtigkeit seines Ueberganges darauf vorzubereiten.

Den 15. Dezember.  

Ein Tag voll hohen Lebens durch allerlei belebende Eindrücke und Gedanken! Gedanken vom Menschenhirn und dem centralen Standpunkt des Menschen im Verhältniß zum ganzen Universum; ahnende Blicke von dieser Sonne und diesem Gesichtspunkt über eine unendliche Entwicklung in allen Reichen des Lebens sind hoch oben in meiner Seele; werde ich mich der Gedankenwelt, die in mir blitzt, vollkommen bemächtigen, sie vollkommen besitzen können?

Ich kann Dir heute nicht mehr schreiben, denn ich muß mehrere Briefe schreiben und vor allen einen an Böklin, den ich in den Deinigen einschließen will. Lies ihn, wenn Du Lust hast. Er wird Verschiedenes in meinen Briefen an Dich ergänzen. Trotz all der interessanten Dinge, die mich hier festhalten, trotz all des Behagens, dessen ich mich im Hause hier zu erfreuen habe, sehne ich mich abzureisen, südwärts zu kommen. Ich fürchte den Winter und seine scharfe Luft in Cincinnati, ganz besonders aber auch die wahrhaft schrecklichen Wärmungsapparate der amerikanischen Häuser. Sie haben ganz gewiß Schuld an der Kränklichkeit, welche unter denjenigen Klassen der Bevölkerung, die am bequemsten leben und am meisten zu Hause sind, immer mehr überhand zu nehmen scheint. Ich sehne mich auch vor Weihnachten nach dem Süden zu kommen, damit ich möglicherweise Gelegenheit erhalte die Tänze und Feste zu sehen, die zur Weihnachtszeit unter den Negern auf den Plantagen üblich sein sollen. Ich habe viel von dem Glück der Negersklaven in Amerika und ihren Gesängen und Tänzen erzählen gehört. Ich möchte dieses Glück, diese Feste wohl auch einmal sehen. In Südkarolina und Georgien hat das Predigen auf den Plantagen den Tanz und den fröhlichen Gesang verdrängt. In Louisiana soll den Sklaven nicht gepredigt werden. Vielleicht daß sie dort tanzen und singen dürfen.

Am 17. dieses geht ein großes gutes Dampfschiff von hier nach Neu-Orleans, und auf diesem werde ich abreisen. Mein Cavalier auf dieser Fahrt ist Mr. Harrison.

Von einigen angenehmen Gesellschafts-Abenden hier im Hause muß ich Dir noch ein Wort sagen. Ich habe an den kleinen vertraulicheren Gesellschaftskreisen in amerikanischen Häusern das auszusetzen, daß man sich zu wenig mit Vorlesen beschäftigt oder mit irgend etwas, was den kleinen Kreis in einem gemeinschaftlichen Interesse vereinigt. Aber die größeren Gesellschaftskreise haben Vieles von dem, was das Gesellschaftsleben vollkommen macht; darunter rechne ich besonders die Art, wie beide Geschlechter einander, Gesellschaft leisten. Man sieht da niemals, daß sich die Herren in einem und die Damen in einem andern Zimmer zusammenschaaren, oder daß sich die Ersteren in der einen und die Letzteren in der andern Ecke des Salons gruppiren, just als ob sie ungeheuer Angst vor einander hätten. Die Herren, die hier in Gesellschaften kommen, (und sie gehen gerne Abends in die Salonsgesellschaft) machen sichs zur Pflicht und wie es mir scheint auch zu einem Vergnügen, die Frauenzimmer zu unterhalten, und dieses sichtbare Wohlwollen erweckt bei letzteren wenn auch nicht größere Lust, doch ganz sicher eine größere Möglichkeit, angenehm und unterhaltend zu sein, eine größere Fähigkeit Dinge mitzutheilen, die für Männer von gutem Geschmack und edler Gemüthsart doch weit besser sind, als Cigarrenrauch und Punsch. Gewöhnlich, widmet sich ein Herr auf längere Zeit, oft sogar den ganzen Abend einem und demselben Frauenzimmer. In Causeuses und kleinen Sophas von allen Arten sitzt man zu zwei und unterhält sich; oder auch gibt der Cavalier der Dame den Arm zu einem Spaziergang durch das Zimmer. Zuweilen widmen sich auch zwei Frauenzimmer längere Zeit einander, die Regel ist jedoch, daß die zwei Personen, die sich Gesellschaft leisten, Mann und Weib sind, auch ist es nicht immer die schönste oder eleganteste Dame, welche die meiste Aufmerksamkeit gewinnt. Und ich habe Mr. Harrison, einen noch jungen und sehr angenehmen Mann, ganze Stunden lang in lebhafter Unterhaltung mit Miß Harriet gesehen. Es ist wahr, daß er sie hoch schätzt, und er beweist darin guten Geschmack. Ein Kartenspiel erinnere ich mich nicht in irgend einem größeren oder kleinerem Gesellschaftskreise im ganzen Lande gesehen zu haben.

Ich werde stets mit Gefühlen schwesterlicher Zärtlichkeit einiger jungen Mädchen gedenken, mit denen ich in letzter Zeit Bekanntschaft machte und unter denen sich eine schöne Jungfrau befand, die frühzeitig von einem herben Mißgeschick betroffen wurde, aber ihr Herz nicht dadurch erbittern ließ, sondern es vielmehr der Sympathie für alle Leidenden öffnete. Gottes Frieden über das junge Mädchen! Sie könnte mir sehr theuer werden. Ebenso auch einige Schwestern, die in Lust und Leid leben, wie Schwestern nicht oft zusammen leben. Die seelenvolle Kitty Green und ihre Musik möchte ich allezeit um mich haben, aber — ich muß jetzt reisen und gehe um mich darauf vorzubereiten.

Belle Key, das Dampfschiff, auf welchem ich abreisen werde, vom Eigenthümer zu Ehren seiner schönen Tochter, einer „Belle“ in Louisville, so genannt, soll eine Art Riesenschiff sein, das mit allerlei Producten des großen Westens als Weihnachtsgeschenken nach Neu-Orleans reist. Es ist jetzt kalt in Cincinnati. Die Königin des Westens läßt Ruß und Asche über die Stadt regnen, so daß man schwarz davon wird. Ich sehne mich mit dem großen Weihnachtsbock[WS 3] wieder am Missisippi zu sein.

N. S.

Im großen Westen schwatzt man davon, daß da ein besonderer Ueberfluß an Freiern vorhanden sei; ein junges Mädchen hat wenigstens zwischen drei oder vier zu wählen. Gewiß ist, daß die Anzahl der Männer im Verhältniß zu den Frauenzimmern bedeutend vorzuwiegen scheint. In den östlichen Staaten scheinen mir die Frauenzimmer weit zahlreicher zu sein. Die Männer ziehen von da nach dem Westen, um Geschäfte und Geld zu suchen. Das Uebergewicht der männlichen Bevölkerung nimmt zu, je weiter man nach Westen kommt. In Cincinnati erzählte man, auf einem Balle in St. Francisco (Californien) haben sich fünfzig Cavaliere für eine Dame vorgefunden. Man sagte auch, in einem Goldbezirk, wo viele Männer sich vorfanden und keine Dame, habe man in einer Art von Museum ein Damenballkleid aufgestellt, das man gegen eine gewisse Gebühr betrachten durfte.

Aber ich glaube fast, daß dieß zu den mythologischen Sagen des großen Westens gehört.

Dazu dürfte wohl auch die Sage von dem Lustgarten Eden in der Nähe Cincinnatis gerechnet werden, wohin ich zum Besuch eingeladen bin. Es soll eine große Weinpflanzung sein. Aber die Schönheit der Aussichten von den Höhen des Ohio herab kann den Namen rechtfertigen. Der Weinbau sowie die Bereitung von Sect und Champagner sind in der Gegend von Cincinnati in starker Zunahme begriffen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Basrelief,-
  2. Vorlage: bogs
  3. schwedisch: julbock
Achtundzwanzigster Brief Die Heimath in der neuen Welt. Zweiter Band
von Fredrika Bremer
Dreißigster Brief
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