Die Heimath in der neuen Welt/Zweiter Band/Einundzwanzigster Brief
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Wie oft, mein verehrter Freund, habe ich in diesem von Ihrem Land und Ihrer Heimath so weit entlegenen Welttheil nicht an Sie gedacht! Wie oft habe ich nicht gewünscht, mit Ihnen sprechen und Ihnen etwas von diesem großen in der Entwicklung begriffenen Theil der Welt sagen zu können, auf welchem auch Ihr Blick mit dem Interesse des Forschers ruht! Von allen meinen Freunden in Kopenhagen waren Sie der einzige, welcher die Sehnsucht begriff, die mich nach der neuen Welt zog, und als ich Sie fragte: „Finden Sie auch etwas Sonderbares und Unvernünftiges darin, daß ich Amerika zu sehen wünsche?“ da antworteten Sie: „Nein! Es ist ein großes und merkwürdiges Gebilde des schaffenden Geistes und seine nähere Betrachtung muß vom höchsten Interesse sein!“ O ja, so ist es, und weit mehr als ich je geahnt habe, und weit reicher als ich bis jetzt zu erfassen vermag. Und ich habe mit meinem Brief an Sie warten wollen, bis diese Weltbildung in ihren verschiedenen Erscheinungen und in ihrer lebendigen Einheit mir selbst klarer geworden wäre. Und darum müßte ich eigentlich noch weit länger warten, denn es gibt noch gar Vieles, was ich nicht gesehen, nicht überdacht und so zu sagen nicht verdaut habe. Aber ich kann mein Schreiben an Sie nicht länger anstehen lassen. Das Bedürfniß, Ihnen zu danken, drängt mich dazu. Ich muß, ich will Ihnen danken für den großen unerwarteten Genuß, den Ihr Geist mir hier auf dem fremden Gestade viele tausend Meilen von Ihnen geschenkt hat. Denn hier an der Küste des atlantischen Oceans, hier, wo Sternbilder aufgehen, die wir an unserem nördlichen Horizont nicht sehen, hier habe ich das letzte Heft Ihres Werkes „der Geist in der Natur“ gelesen; und die Abhandlung über die Wesenseinheit der Vernunft im ganzen Weltall, die Sie mir in Kopenhagen schenkten, diese kleine Schrift, die mich so unaussprechlich glücklich machte durch die neuen heitern Bilder, welche Sie vor mir aufgehen ließ, die den ganzen Sternenhimmel meinem Herzen nahe brachte und jeden Stern mit dem Licht von meines Geistes Licht vor mir brennen ließ, diese herrliche kleine große Schrift, die mich über den großen Ocean von der alten Welt nach der neuen begleitet hat und einer meiner theuersten Schätze ist, sie habe ich in diesem Ihrem Buch wieder gefunden, aber weiter ausgeführt und vervollkommt, wie ich ahnte, daß sie es werden könnte und werden sollte. Und es war mir ein unaussprechlicher Genuß, hier in reifer Frucht die Blüthe unserer Gespräche in Kopenhagen wieder zu finden, hier meine warmen Ahnungen von Ihrem klaren logischen Geist beleuchtet und bekräftigt zu sehen.
Denn was ist klarer, was vernünftiger und gewisser, als daß, da alle Sternkugeln demselben Bewegungsgesetze folgen, da dieselben Lichter und dieselben Schatten auf ihnen allen zu Hause sind und wir auf Grund davon sie studiren, ihren Lauf u. s. w. ausfindig machen, den Platz des Sternes berechnen und sodann den Stern finden können, daß, sage ich, die Gleichheit zwischen der Vernunft des Menschen und der Vernunft des Weltalls weiter gehen, gleiche Sphären und auf ähnliche Weise umfassen muß? Ist der Begriff von der Linie, dem Cirkel, der Parabel u. s. w. nothwendigerweise für alle Welten, die wir im Raume sehen, gleich, ist ihre Mathematik und Physik dieselbe, wie die unsere auf Erden, so ist es klar, daß der Schönheitsbegriff nicht wesentlich ungleich sein kann, und daß die moralische Vernunft im Grund dieselbe sein, dieselben Principien, dieselben Grundbegriffe anerkennen muß. Sie haben dieß klar bewiesen, Sie haben gezeigt, daß, wenn diese fernen Weltkugeln Gesetzen folgen, die denen unserer Erdkugel gleich sind, es dann wahrscheinlich, ja beinahe gewiß sei, daß auch denkende Wesen mit Vernunft und Sinnen gleich den unsern auf diesen Welten leben, als ihre höchsten Producte, gleichsam als die Blüthe ihres Lebens und ihrer Gesetze, ja daß es unwahrscheinlich wäre, daß der große Schöpfer an ihnen sein Werk unvollendeter ließe, als an dieser Erde.
Dieselben Lichter, dieselben Schatten! Ich füge hinzu: dieselbe Freude, dieselben Thränen, dieselbe Sehnsucht, dieselbe Hoffnung, dasselbe Bedürfniß, derselbe Glaube, derselbe Gott, Schöpfer, Mittler, Vollender, ja, wenn auch unter verschiedenen Bedingungen für verschiedene Entwicklungsstadien, dennoch im Grund derselbe für alle, denn für alle Welten muß derselbe normale Lebensproceß gelten. Ich weiß nicht, ob Sie so weit mit mir gehen, aber in Einem glaube ich, daß Sie zu mir halten werden, denn dieser Gedanke geht von Ihrer Schrift aus, nämlich daß in dem ganzen Weltall auf jedem einzelnen, auch dem entlegensten Stern nichts gefunden werden kann, was der Welt, worin wir leben, und der Vernunft, die in uns lebt, ganz fremd wäre. Von der winterlichen Stille des Uranus bis zu dem glühenden leidenschaftlich rotirenden Leben des Merkur ; von der Nebulosa, die sich langsam nach Gesetzen und Kräften, welche denen unserer Erde gleichen, unter dem Auge des Schöpfers ausbildet, bis zu dem Stern, der in der höchsten Vollendung der Materie harmonische Gesellschaften von schönen Menschen und Thieren trägt, alle Zustände, alle Wechsel und Scenen, alle Stadien, Entwicklungen und verschiedene Zusammensetzungen des Seins in der Natur und im Geiste, welche das Leben der Erde und die Fantasie des Menschen uns ahnen läßt und noch weit weit mehr dazu; — denn welche menschliche Fantasie reicht aus um den Sternenhimmel zu bevölkern, um alle seine Gestalten zu ahnen? — alles das ist doch im Grunde menschlich, ist die Welt des Menschen, ist unser. Ueberall dieselben Gesetze, dieselbe Vernunft; — also überall im Grund dieselbe Seele, dasselbe Herz!
O mein Freund! dieses menschliche Herz, das so viel liebt und so viel leidet, dieser Geist, der so vieles ahnt und erstrebt, aber so wenig erreicht und vollbringt, dieses arme, kämpfende, kleine, große, räthselhafte Wesen, der Mensch, ist also im Grunde nicht so gering, nicht so isolirt in seinem Wesen, in seiner Existenz. Die Wahrheit, die er erkannt hat, ist Wahrheit in allen Welten, im ganzen Universum; das Streben, die Forschung, das Leben, daß er hier beginnt, kann ins Unendliche entwickelt werden und das Ziel erreichen; und gelöst von der Erde kann er dem neuen Licht, ja dem ewigen Licht zwar mit Anbetung begegnen, aber ohne Verwunderung, ohne sich verblüffen zu lassen, denn er war schon hier in seinem Reiche heimisch und kannte seine Natur schon lange. „Dasselbe Licht, dieselben Schatten!“ Geliebte Sterne, Schwesterwelten in demselben Licht, in demselben Vaterhaus — wie nahe, wie theuer seid ihr mir geworden ! … Denn herrscht auch in diesen Welten wie auf der Erde noch immer Dunkel und Mißlaut, so weiß ich doch, daß der Meister lebt, der das Dunkel vom Lichte trennt und den Mißlaut in vollkommenen Accorden lösen wird. Sah ich nicht eines Tags in Ihrem Hause, mein theurer Freund, eine Menge in Unordnung auf einer Glasscheibe zerstreuter Sandkörner durch einen musikalischen Ton zur schönsten, sternartig symmetrischen Klangfigur geordnet? Eine Menschenhand führte den Strich welche den Ton hervorbrachte; aber wenn der Strich von der Hand des Allmächtigen ist, wird nicht der Ton desselben die Sandkörner, als da sind Menschen, Gesellschaften, Staaten, zu einer harmonischen Klangfigur bringen? Er wird die Welt zur Schönheit und Harmonie ordnen und „kein Mißlaut und keine Klage wird mehr sein“, das sagen uns die vernünftigsten Ahnungen aller Völker, das haben Sie uns gesagt in der wissenschaftlichen Gewißheit von der „Wesenseinheit der Vernunft im ganzen Weltall“, das hat Er selbst uns gesagt in seiner Offenbarung als ewige Liebe. Und darum sehe ich unter den wechselnden Erscheinungen des Lebens durch alles Dunkle und Chaotische, durch alle Sterne und in allen Sternen, durch alle Thränen — auch durch meine eigenen — überall die Klangfigur, den ewigen Stern, das Kind der Harmonie, die bleibende Welt Gottes und das Reich des Menschen. Und darum weine ich, bin aber dennoch froh.
Sie sehen, mein theurer Freund, welche reine „Lichtfreude“ Ihr Buch bei mir hervorgerufen hat. Dieselbe mitzutheilen war immer Ihr Wunsch, Ihre Freude. Und ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie reich ich an dem Morgen lebte, wo ich an dem Meeresufer saß, mit Ihrem Buch in der Hand und vor mir den grenzenlosen Raum, unendlich wie die Aussichten, welche Sie vor meinen Blick riefen; oder an den Abenden, wo ich in Gedanken mit Ihnen die glänzenden Welten über mir und um mich her besuchte und den von Ihnen empfangenen Ideen über die Metarmorphosen der Dinge gemäß meine Phantasie frei spielen ließ mit den Kräften der Materie und des Geistes, während liebliche Luftbilder von phosphorischen Feuern und Explosionen das Firmament beleuchteten … Festliche Stunden und Augenblicke!
Ihr Buch, das ich von dem dänischen Geschäftsträger in Philadelphia, Bille, entlehnen konnte, war mir um so willkommener, als ich neuerdings die kleine Schrift über die „Einheit der Vernunft“, die Sie mir in Kopenhagen schenkten, dem Professor Henry in Washington überließ, einem liebenswürdigen und ausgezeichneten Gelehrten, der sie, als er ihren Inhalt von mir vernommen, übersetzen zu lassen wünschte. Ihren Namen habe ich in der neuen Welt oft neben Linné und Berzelius mit Auszeichnung nennen gehört. Professor Henry war der Erste, der Ihre wissenschaftlichen Arbeiten hier zum Gemeingut machte. Und es würde Sie gewiß freuen, die Schnelligkeit und Geschicklichkeit zu sehen, womit jede naturwissenschaftliche Erfindung hier zum allgemeinen Nutzen angewandt und ausgebreitet wird. Ihre Entdeckung der electromagnetischen Kraft, welche zur Erfindung des electromagnetischen Telegraphen geführt hat, ist wohl nirgends eifriger benützt worden, als hier. Ueberall neben den Eisenbahnen von Stadt zu Stadt und Staat zu Staat gehen electrische Telegraphen; weit entlegene Städte, Personen in New-York und New-Orleans besprechen sich mit einander durch die electrischen Typen, schließen Handelsgeschäfte (auch Heirathsgeschäfte, habe ich mir sagen lassen) ab, und täglich werden neue Entwicklungen und Anwendungen der Kräfte versucht, deren Verhältniß Sie angegeben haben.
Ueberhaupt scheinen alle Kräfte und Methoden, welche den Verkehr fördern und Verbindungen zu Stande bringen können, diesem Volk ganz besonders am Herzen zu liegen. Was dem Handel und Verkehr am meisten Vorschub leistet, das ist ihm am wichtigsten. Im Patentamt zu Washington, wo Exemplare von allen in den Vereinigten Staaten verfertigten Maschinen, die ein Patent erhalten haben (sie belaufen sich, wenn ich mich recht erinnere, auf zwölf- bis fünfzehntausend) aufbewahrt werden, bemerkte ich, daß das Verlangen der Menge hauptsächlich darauf ging, den Umtrieb zu beschleunigen, Zeit und Arbeitskraft zu sparen. (Es waren auch einige perpetuum mobile da, die — stille standen.) Auch die Kinder scheinen von dem Interesse für die Bewegungsmaschinen ergriffen zu sein. Ich besuchte einmal eine Knabenschule zu einer Stunde, wo die Jungen der Abwechslung halber Erlaubniß hatten, auf ihre Schreibtafeln zu zeichnen, was sie wollten. Ich ging zwischen den Bänken hin, um die Arbeiten der helläugigen Kinder und die Eingebungen des Augenblicks zu betrachten. Auf den meisten Tafeln sah ich rauchende Dampfmaschinen oder Dampfschiffe zum Vorschein kommen. Aber dieses Interesse für die Förderungsmaschinen hängt mit dem eigentlichen Lebensverkehr in diesem Lande fest zusammen. Unzählige Flüsse und Ströme ziehen in allen Richtungen durch das Land und geben dem Kreislauf des Lebens eine Leichtigkeit, wie in keinen andern Lande. Die Dampfmaschinen sind hier gleich Pulsen, die durch die Pulsadern und Arterien des Körpers das Blut in alle Theile des Systems treiben. Nichts ist für das Leben hier bezeichnender, als sein unaufhörlicher Umsatz. Menschen, Waaren, Gedanken und Dinge stehen in steter Wechselbewegung zwischen Staat und Staat, zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West; nichts steht still, nichts stagnirt außer ausnahmsweise.
Der Drang, diesen ganzen Weltall und die natürlichen Mittel, die er bietet, zu erobern, steht überdieß in voller Wirksamkeit, und deßhalb wird sowohl von Regierungen als Privatleuten viel gethan, um die Entwicklung der praktischen Wissenschaften zu fördern. Geologie, Chemie und Physik blühen; die Staaten schicken Männer der Wissenschaft aus, um neue Gegenden in den Staaten zu untersuchen, und es erstehen Institute zur Förderung nützlicher Kenntnisse, hauptsächlich in dem naturwissenschaftlichen und mechanischen Gebiete. Ein solches Institut ist das Franklinsche in Philadelphia, ein solches ist auch das Smithsonsche Institut in Washington, dessen zierliche gothische Gebäude jetzt am Ufer des Potomak emporragen. Dieses von einem reichen Engländer, Namens Smithson[WS 1], ausgestattete Institut hat die Bestimmung, ein nationales Centralinstitut zu bilden, wo alle naturwissenschaftliche Arbeiten der Vereinigten Staaten einen Vereinigungspunkt haben sollen. Professor Henry, welcher der Secretär des Instituts ist, freut sich, Ihnen die ersten gedruckten Abhandlungen dieser sehr bedeutenden Anstalt schicken zu dürfen, und ich freue mich zur Ueberbringerin derselben ausersehen zu sein.
Ja, wie lieb wird es mir nicht sein auf der Rückreise in die Heimath Sie, die gute Frau Oersted, Mathilde wiedersehen und mit Ihnen mündlich besprechen zu dürfen, was ich hier gesehen und erlebt habe! Jetzt kann ich das große Thema, das Leben der Vereinigten Staaten, nur flüchtig berühren.
Der Anfang meiner Wanderung in diesem neuen Welttheil führte mich in die nordöstlichen Staaten der Union. Hier fand ich Ernst und Arbeit, rastlos emporstrebende Kraft des Geistes und der Hand. Große Erziehungsanstalten, Manufacturen, vortreffliche Asyle für die leidende und Institute zur Wiederaufrichtung der gefallenen Menschheit sind da zu bewundern, wie überhaupt die emporstrebende Rührigkeit der ganzen Gesellschaft. Eh noch der Winter eintrat, sah ich den herrlichen Hudson mit seinen großartigen Naturscenen, seinen von Waldmassen bedeckten, in zierlichster Farbenpracht wechselnden Ufern, sah die Ströme, Thäler und Berge von Connecticut und Massachusetts und mußte dabei oft an Schweden denken. Denn die Landschaften Schwedens und dieser Staaten gleichen einander vielfach, namentlich auch darin, daß sie Winterscenen und deren dramatische Auftritte in Luft und Leid haben.
Später sah ich im Süden die Palmettostaaten Carolina und Georgia, und hier wurde ich bezaubert von der Ueppigkeit des Naturlebens in Formen, die mir bisher fremd gewesen. Ich wünschte Ihnen diese rothen Flüsse beschreiben zu könne, deren Ufer von Wäldern gebildet werden, die keine Menschenhand berührt hat, wo keine Menschenwohnung zu sehen ist, Wälder, die auf dem Wasser zu schwimmen scheinen, und wo hunderterlei Baumarten von tausenderlei schönen blühenden Rankengewächsen umschlossen werden — ein Chaos des Pflanzenlebens, aber voll von Schönheit, von überraschenden Gruppirungen, an denen man all die architectonischen Formen vorschimmern sieht, die wir in Tempeln und Kirchen bewundern, welche von Menschenhand erbaut sind. Der Urwald bringt sie hier in fantastischem Spiel hervor, inspirirt vom Morgentraum der Natur. Ist nicht die Natur menschlich oder voll vom Menschlichen im Bösen und Guten, im Schönen und Schrecklichen? sie muß menschlich träumen. Der Urwald stellt in colossalen Gestalten Säulenhallen und Tempelgewölbe, Pyramiden, Grotten, Sphinxe und Drachen, blumengekrönte Pfeiler, Altäre der Freude, Triumphbögen und tiefe stille Grabgewölbe dar. Der Urwald stellt den Traum von des Menschen Welt dar, und mit welchem Reichthum, welcher Poesie! Ich sah hier den dritten Schöpfungstag, wo bei des Allvaters Werde die Erde ihren Mutterschoos öffnete, und die Pflanzenwelt hervorbrachte in ihrer Morgenpracht, prophetisch, noch erwärmt von der nächtlichen Erscheinung.
Sie, mein verehrter Freund, der Sie so viel vom Poeten in Ihrer Natur haben, werden sich nicht daran stoßen, daß ich dabei mehr mit dem Auge der biblischen Genesis als des Naturforschers sah. Das erstere sieht in einem Nu, was das letztere in einer Zeitfolge von Monaten sieht. Das, was sie sehen, ist jedoch eine und dieselbe Wirklichkeit. Besonderes Vergnügen macht es mir unter den Pflanzen des Urwaldes mehrere wieder zu erkennen, die ich als seltene Exemplare sah, als ich mit Ihnen durch den botanischen Garten in Kopenhagen wandelte; ich erinnerte mich darunter des Tulpenbaumes, sowie der Fächerpalme oder des Palmettos, die zu den einheimischen Gewächsen der südlichen Staaten Amerikas gehören.
Wenn das Leben in den nördlichen Staaten ein großes Epos, ein Lehrgedicht ist; so ist das Leben in den südlichen Staaten eine Romanze von unendlich pittoresker Schönheit, ja trotz der Sklaverei und der Sandwüsten, die sie da vorfinden. Zu dem romantischen Leben in diesen Staaten gehören die Neger mit ihrer räthselhaften Natur, ihren Gesängen und ihren religiösen Festen; die Städte voll von Pomeranzenhainen und vielfachen schönen blühenden Baumarten, mit Piazzas, die von Gaisblatt und Rosen überwachsen sind, welche kein Winter verwelken macht, wo die Kolibri umherflattern und vor der heißen Sonne Schutz suchen; die schönen, aber blassen Weiber, die Feuerfliegen, die in der Nacht leuchten; die Föhrenwälder, wo Azelien wie Engel des Lichts zwischen den dunkeln Bäumen stehen, wo Drosseln und hundertzüngige Vögel singen, und sonst noch viel Eigenthümliches, was die eigenen Naturprodukte dieser Staaten, Baumwolle, Reis u. s. w. und ihr Anbau mit sich bringen; endlich die gemischte Bevölkerung.
Aber ich finde es beinahe vermessen, das gemeinschaftliche Leben und den gemeinschaftlichen Charakter des Staates schildern zu wollen, während ich weiß, daß jeder einzelne Staat in der Union gleichsam ein vollständiges Reich ist, mit beinahe allen Bedingungen und Mitteln eines europäischen Reiches an fruchtbaren Marken, metallreichen Bergen, Wassergängen, Wäldern, sowie überdieß manchen Naturgaben und Schönheiten, die noch unbekannt und unbenützt sind. Ja, es bildet zugleich meine Verzweiflung und mein Entzücken, daß hier überall so unendlich viel Neues und so viel noch Unbekanntes ist, so viel, was ich niemals werde kennen lernen. Aber glücklich dieses Land, das schon in seiner Eintheilung und Regierungsform so große Hilfsmittel besitzt, um sich selbst kennen zu lernen.
Jeder Staat ist wie eine selbständige Persönlichkeit und fühlt sich im Wettkampf mit seinen Schwesterstaaten, mit denen er sich jedoch zuweilen tüchtig herumzankt und pufft, wie Geschwister in den Kinderjahren zu thun pflegen, berufen ein selbständiger Mann zu werden. Und dazu bietet er alle seine Kräfte auf und untersucht alle seine Mittel. Hiezu kommt, daß es in diesem Lande der Freiheit durchaus keine Schranken für Versuche und Experimente gibt. Alles, selbst das Ungewöhnlichste, kann versucht und geprüft werden, ob es etwas taugt. Jeder, selbst der närrischste Versuch kann mit Gewißheit darauf rechnen, einige Anhänger zu finden und die nöthige Zeit zu bekommen, um sich zu erproben, und ich habe Amerikaner im Scherz sagen hören: wenn Jemand mit der Behauptung hervorträte, es sei besser auf dem Kopf zu gehen, als auf den Füßen, so würde er ganz gewiß eine Anzahl Schüler finden, die in allem Ernst versuchen würden, ob es vortheilhafter wäre, auf dem Kopf zu gehen. Andere Leute würden vielleicht über sie lachen, aber man würde sie gewähren lassen, weil man die feste Ueberzeugung hätte, daß, wenn das Experiment, auf dem Kopf zu gehen, sich als untauglich erwiese, die experimentirende Gesellschaft dann bald wieder auf die Füße kommen würde. Sie würde dabei immerhin einige Belehrung gewonnen haben. Und gewiß ist, daß manche Versuche, die im Anfang für ebenso abgeschmackt gehalten und belächelt wurden, wie der Versuch, den Kopf statt der Füße zu gebrauchen, nach einiger Zeit wirklich Füße bekamen und zu höchst glücklichen Resultaten führten. Zu solchen Versuchen zählte man einige Zeit die Exportation von Eis nach den tropischen Ländern. Der erste Versucher dieses Experiments, der gegenwärtig in Cambridge in Massachusetts lebt, wurde mehrere Jahre lang von vielen klugen Leuten als ein Narr angesehen. Jetzt ist die Eisexportation nach den heißen Ländern eine der vornehmsten Einkommensquellen des nördlichen Amerikas. Zahlreiche Schiffe führen Massen von Eis aus den Bergseen von New-York, Massachusetts und New-Hampshire nach den Städten der südlichen Staaten, nach Westindien, Mexiko u. s. w. Und der Mann, der trotz Widerspruch, Hohngelächter und Widerwärtigkeiten (in Havannah warf man die ersten Eisfrachten in die See, weil man die Schädlichkeit des Eises fürchtete) hartnäckig darauf bestand, die Eisausfuhr zu versuchen, ist jetzt ein reicher Mann und gilt für einen sehr klugen Mann.
Nordamerika ist durch den Unternehmungsgeist seiner Bewohner, durch seine politische Eintheilung, seine politischen Institutionen, welche den Eigenthümlichkeiten und Kräften der Einzelnen einen beinahe grenzenlosen Spielraum gestatten, ein Land der Experimente, und seine ersten Versuche auf dem großen Experimentalfeld der Menschheit eröffnen unendliche Aussichten auf das, was es noch ausführen dürfte. Einer seiner Söhne zog ohne Lärm und Getöse den Blitz aus dem Himmel, um ihn für die Wohnungen der Menschen unschädlich zu machen; ein Anderer schuf aus dem Dampf Schwingen für alle Völker der Erde, ein Dritter — o der Glückliche!, hat Mittel gefunden, den physischen Schmerz zu betäuben, die Engelschwingen des Schlafes über den Leidenden in seiner Stunde der Qual auszubreiten. Und dieß ist im Anfang vom Leben des Landes geschehen, denn für eine Weltbildung, die Jahrtausende zur Zukunft hat, ist das Leben von zwei Jahrhunderten nur eine Morgenstunde. Der Tag liegt noch als Zukunft da. Was würde dieses Volk nicht ausführen können während des langen Tages? Gewiß noch größere Dinge als diese. Das wage ich aus seinem Auge zu prophezeien, denn es ist wach und klar. Es gewöhnt sich frühzeitig scharf zu beobachten, mit aller Macht den Gegenstand, welcher ist, aufzufassen, ohne sich viel nach dem umzusehen, was gewesen ist, oder sich durch die Warnungsrufe der Vorzeit abschrecken zu lassen. Es hat ein waches Auge, einen festen Muth, eine unermüdliche Beharrlichkeit. Und wenn die Arbeitswoche zurückgelegt ist und der Sonntag einbricht, dann wird dieses wache, aufmerksame Auge stärker als jetzt auf überirdische Dinge gerichtet werden, wird auch da Entdeckungen machen und Wissenschaft und Gewißheit in Regionen führen, wo die Menschheit jetzt nur durch die Hoffnung oder Ahnung heimisch ist. Ich glaube das, weil es in der Gemüthsart und Verfassung dieses Volkes liegt, hauptsächlich Gegenstände zu umfassen, die für die ganze Menschheit von Wichtigkeit sind, die dem Menschen in seiner ganzen Welt gelten. Ich glaube es, weil der germanische Volksstamm, dessen Natur tiefsinnig und transcendental ist, auf dieser Erde mit dem anglonormännischen in Verbindung tritt, und weil ich von der geistigen Kreuzung dieser Geschlechter ein solches erwarte, bei welchem die höchste Speculation sich mit dem klarsten practischen Blick vereinigen wird.
Was gegenwärtig den Amerikaner (Yankee oder Bruder Jonathan, wie er in der Volkssprache humoristisch genannt wird, im Gegensatz zu seinem älteren Bruder John Bull,) am meisten auszeichnet, ist großentheils dasselbe, was den Engländer charakterisirt, der practische Bürgersinn im Verein mit dem religiösen Sinn und ihr Product: die practische Menschenliebe.
Bruder Jonathan hat auch in andern Beziehungen viele Aehnlichkeit mit John Bull; sie haben offenbar denselben Vater, aber nicht dieselbe Mutter. John Bull ist corpulent und lärmend, rothwangig und ein Wichtigthuer. Der weit jüngere Bruder Jonathan ist mager, länglich, etwas schmächtig von Gestalt, blaß, nicht derb oder plump, sondern rasch und bestimmt. John Bull ist wenigstens vierzig Jahre alt. Jonathan hat sein einundzwanzigstes noch nicht zurückgelegt. John Bull ist pompös und etwas ungelenk. Jonathan ist flinker, sowohl mit der Zunge, als mit den Beinen. John Bull lacht laut und lang. Jonathan lacht nicht, er lächelt blos im Vorbeigehen, er hat so Vieles zu besorgen. John Bull setzt sich zu einer guten Mahlzeit wie zu einem hochwichtigen Geschäfte. Jonathan ißt hastig und eilt bald vom Tische weg, um eine Stadt zu gründen, einen Canal zu graben oder eine Eisenbahn anzulegen. John Bull will Gentleman sein, sich als Gentleman kleiden und dafür angesehen werden. Jonathan kümmert sich nichts darum, ob er wie ein Gentleman aussieht (aber er kann Alles das dennoch sein), er hat so viel auszurichten und es ist ihm ganz gleichgiltig, ob er auch zuweilen mit einem Loch im Ellenbogen und einem zerrissenen Rockschoß herumspringen muß, wenn er nur an Ort und Stelle kommt. John Bull geht, Jonathan springt. John Bull ist sehr artig gegen die „Ladies“, ja das versteht sich, aber wenn er sich bei Tisch recht behaglich fühlen will, so weist er den Ladies die Thüre, d. h. er ersucht sie, sich gefälligst in ein anderes Zimmer zu bemühen und ihm den Thee zu bereiten. „Er wird sogleich nach kommen.“ Jonathan thut das nie. Er will sich immer an der Gesellschaft erfreuen. Er will nie ohne die Ladies sein, er ist der größte Ladiesman (Weibermann) auf der Erde, und vergißt er sich manchmal in der Aufmerksamkeit gegen sie, so kommt dieß daher, daß er sich vergißt. Aber dies geschieht nicht oft. Wenn John Bull schlechte Verdauung hat oder schlechte Geschäfte macht, so bekommt er den Spleen und denkt ans Hängen. Wenn Jonathan an der Verdauung leidet oder schlechte Geschäfte macht, so richtet er sich empor. Er wird manchmal eine Zeitlang etwas närrisch, aber er kommt bald wieder ins Geleise und denkt nie daran seinem Leben ein Ende zu machen, sondern sagt: „thut nichts, vorwärts!“ Beide Brüder haben sich in die Köpfe gesetzt, daß sie die Welt humanisiren und civilisiren müssen; aber Jonathan geht darin eifriger zu Werke und will darum weiter gehen, als John Bull; auch fürchtet er nicht dadurch seiner Würde zu schaden, daß er selbst, wie ein rechter Arbeiter, mit beiden Händen zugreift. Beide Brüder wollen reiche Männer werden. Aber John Bull behält das Beste für sich und seine Freunde; er ist exclusiver, mehr Inselbewohner. Jonathan will sich allen Nationen mittheilen und alle mit seinem Reichthum bereichern. Jonathan ist Cosmopolit; er hat aber auch einen ganzen Welttheil zum Wohnhaus bekommen und alle Schätze der Erde, um damit hauszuhalten. John Bull ist Aristokrat, Jonathan Demokrat, d. h. er will es sein, er glaubt es zu sein, kommt aber mitunter davon ab, wenn er es mit Leuten zu thun bekommt, die ein anderes Haar und eine andere Hautfarbe haben, als er selbst. John Bull hat ein gutes Herz, aber er verbirgt es zuweilen in seinem fetten, etwas phlegmatischen, mit Rostbeef und Plumpudding wohlgenährten Körper und unter seinem wohlgefütterten, wohlzugeknöpften Ueberrock. Jonathan hat ein gutes Herz und verbirgt es nicht. Er hat wärmeres Blut, keine Fettschichte, und geht mit aufgeknöpftem Rock oder auch ohne Rock. Ja es gibt Leute, welche behaupten, Bruder Jonathan sei der umgekehrte John Bull, nur ohne Ueberrock, und mit diesem amerikanischen[WS 2] Dictum will ich für dießmal Abschied nehmen von John Bull und Jonathan, zwischen welchen jedoch die Vergleichung noch weit länger fortgelegt werden könnte.
Aber ich darf Ihre Zeit und Ihre Geduld nicht allzusehr in Anspruch nehmen mit meinen unvollkommenen Schilderungen. Betrachten Sie dieselben als einige Kornähren, gepflügt auf einem unermeßlichen Ackerfeld. Wenn ich meine Wanderung vollbracht habe, wenn ich zu Ihnen nach Hause komme, werde ich Ihnen etwas mehr mitbringen. Inzwischen werde ich die nördlichsten Staaten der Union besucht haben, die weißen Berge in New-Hampshire und die Indianer in Minnesota und den großen Westen, den großen wundervollen Westen, wie die Westländer ihn nennen, wo in dem großen Missisippithal zwischen dem Alleghany und dem Felsengebirge Raum für mehr als 250 Millionen Menschen zu bequemem Leben vorhanden sein soll, wo das schöne amerikanische Korn in solcher Ueppigkeit wächst, daß es heißt, man könne die ganze Union damit versehen, und wo man das Phänomen der amerikanischen Staatsbildung erst recht begreifen lernt in ihrer größten Merkwürdigkeit, die man gewöhnlich growth progress nennt. Worin dieses Wachsthum, dieser Fortschritt eigentlich besteht, das gelüstet mich jetzt zu sehen, und darüber hoffe ich später mit Ihnen sprechen zu können.
Wenn Mutter und Schwester es erlauben, bleibe ich noch einen Winter lang auf dieser Seite des Oceans. Die große Gastlichkeit und Freundlichkeit, womit ich hier zu Lande behandelt werde, macht es mir leicht, auch weit entlegenere Staaten und Plätze zu besuchen. Das Volk hat ein jugendwarmes Herz, was man mit Freuden anerkennen muß, selbst wenn man zu alt oder zu phlegmatisch ist, um Alles recht annehmen zu können, was es geben will.
Zu diesem Jugendleben gehört die geistige Empfänglichkeit des Volkes. Amerika ist ein gastfreies Land, nicht blos für Menschen, sondern auch für Ideen. Und man sieht dieß auch an der Art, wie man viele der wissenschaftlichen und literarischen Namen Europas zu schätzen weiß. Und manchen Samen zukünftiger Entwicklung erwarte ich hier zu Lande durch eine bevorstehende Bekanntschaft mit mehreren der Denker und Dichter Scandinaviens geweckt zu sehen. Von H. Martensens theologischen Schriften hoffe ich bald eine Uebersetzung hier erscheinen zu sehen. Eine Götterlehre, die zu gleicher Zeit das ganze Weltleben umfaßt und heiligt und jede Naturgabe in eine Gnadengabe verwandelt, eine solche Theologie lebt zwar in der Ahnung und im Glauben bei einem Theil des Vorkes, aber sie lebt noch nicht in der Kirche hier.
Ich schließe Ihrem Brief einige Zeilen an H. Andersen bei. Seine „Abenteuer“ werden auch hier, wie bei uns, von Groß und Klein mit dem größten Vergnügen gelesen.
„Kommt er nicht hieher?“ fragt man mich oft; ich antworte: „Es liegt zuviel Wasser dazwischen. Und zuviel Feuer im Lande,“ füge ich still hinzu. Andersen würde Gefahr laufen gleich einer modernen Semele davon verzehrt zu werden; aber könnte er die Wasser- und Feuerprobe gut überstehen, dann dürfte er Gott dafür danken, das große Westland und sein Volk zu Gesicht zu bekommen.
Lassen Sie mich in Ihre Gedanken und Ihre Freundschaft eingeschlossen sein als Ihre innig ergebene und dankbare Freundin!
Anmerkungen (Wikisource)
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