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Die Heimath in der neuen Welt/Zweiter Band/Dreiundzwanzigster Brief

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Zweiundzwanzigster Brief Die Heimath in der neuen Welt. Zweiter Band
von Fredrika Bremer
Vierundzwanzigster Brief
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Textdaten
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Autor: Fredrika Bremer
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Titel: Die Heimath in der neuen Welt, Zweiter Band
Untertitel: Dreiundzwanzigster Brief
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Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: Vorlage:none
Verlag: Franckh
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: Gottlob Fink
Originaltitel: Hemmen i den nya verlden. Andra delen.
Originalsubtitel: Tjugondetredje brefvet
Originalherkunft: Schweden
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung: Erinnerungen über Reisen in den USA und Cuba
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Dreiundzwanzigster Brief.
Albany (New-York) am Hudson, den 2. Sept. 1850.

Hier, meine Agathe, in der Hauptstadt des Kaiserstaats, unter einer wahren Sündfluth von Regen, die mich hindert, etwas von der Stadt und ihrem Kapitol zu sehen, setze ich mein Gespräch mit Dir fort (nämlich das geschriebene; denn die stille Unterredung hört gar nie auf). In meinem letzten Brief von Brooklyn sagte ich Dir, glaube ich, wie ich mit meinen Freunden Springs nach dem Shäkerstaat in Neu-Libanon reisen wollte. Und an einem unendlich schönen Tage fuhr ich wieder den Hudson hinauf, sah wieder sein wildromantisches Hochland, seine reich augebauten Ufer, sah den Thurm von Downings Villa aus ihrem schattenreichen Park hervorblicken, warf ihm einen Liebesblick zu und genoß das Leben mit der Natur, mit Marcus, Rebekka und Eddy, während der Fahrt auf dem prächtigen, bequemen Dampfboot. Gegen Abend gelangten wir zu der kleinen Stadt Hudson, wo wir ans Land stiegen und eine „Stage“ nahmen, die uns in drei Stunden nach Neu-Libanon führte, einer berühmten Gesundheitsquelle, eine halbe englische Meile vom dem Shäkerdorf.

Am schönen Abend ging ich mit Marcus dahin, um es in Augenschein zu nehmen. Wir sahen einige hellgelbe, zweistockige Holzhäuser mit guten Proportionen und Ziegeldächern auf grünen Höhen liegend, in der Ferne von noch höheren Hügeln umgeben, die sämmtlich mit Wald bewachsen waren. Ein recht schöner und idyllisch romantischer Anblick. Die Aussicht von den Häusern war frei und die Fensterscheiben groß. Das Leben im Shäkerdorf sah ganz und gar nicht trüb oder beschränkt aus, wie ich es mir gedacht hatte. Einige der Shäkerbrüder sahen wir draußen auf dem Feld gemächlich beschäftigt, Heu zusammenrechen — die zweite Ernte, wie ich vermuthe. Sie strengten sich durchaus nicht übermäßig an.

Gestern am Sonntag wohnten wir dem Gottesdienst in der Shäkerkirche an, und mit uns noch eine große Menge von Fremden. Die Kirche ist ein großer Saal, der wohl zwei bis dreitausend Personen fassen kann. Sie hat große Fenster, ist hoch und sehr hell, ermangelt aber aller Arten von Verzierung. Beim ersten Eintritt überraschte mich der Anblick einer Menge leichenblasser Frauengestalten, die beinahe wie in Leichentücher gekleidet waren und in einer Reihe an den Wänden lange starr und unbeweglich wie Mumien auf Stühlen saßen. Es waren die Shäkerinnen. Ihr Anblick war wirklich unheimlich und hätte etwas Trauriges gehabt, wenn nicht die Neuheit der Erscheinung erfrischend gewirkt hätte. In einem Land, wo alle Frauenzimmer sich gleich kleiden, werden diejenigen, die sich anders kleiden, dadurch nur interessant. Inzwischen waren alle Shäkerschwestern ebenfalls gleich gekleidet mit weißen oder grauen oder hellgelb gestreiften Röcken, Schuhen mit hohen Absätzen, weißen Halstüchern, die so über die Brust befestigt waren, daß die natürliche Bildung derselben unsichtbar wurde, wie auch die Façon der Kleidung den Zweck zu haben scheint, daß der Körper etwa wie ein Baumstamm ohne alle Wellenlinien aussehen soll. Auf dem Kopfe trugen sie ein Häubchen dem der Quäckerinnen ähnlich, und der leichte Flor desselben schloß sich fest ans Gesicht. Ich bemerkte, daß er bläulich war, was dazu beitrug, den Gesichtern diese leichenblasse Farbe zu geben. Der Schnitt der Kleider war bis auf die Kopfbedeckung nicht unähnlich den Trachten der Bauernweiber und Mädchen in der Gegend von Stockholm.

Auf der andern Seite des Saals saßen die Shäkerbrüder, sämmtlich in Kniehosen, Strümpfen und hohen Absatzschuhen, Westen und Hemdärmeln, das Haar an der Stirn gleich abgeschnitten und im Nacken hinabhängend, ihr ganzes Kostüm vollkommen der Alltagstracht der schwedischen Bauern ähnlich. Die Gemeinde (ungefähr hundert Personen beiderlei Geschlechts) setzte sich auf Bänke, die hervorgetragen wurden, die Männer für sich und die Weiber für sich, aber einander gegenüber. Zwei Shäkerschwestern kamen freundlich und still, eine Bank um die andere den Zuschauern herbeitragend, welche die ganze lange eine Seite des Saals einnahmen und in weit größerer Anzahl vorhanden waren, als die Shäkergemeinde selbst. Nach einer Weile erhob sich diese hastig, und die Bänke wurden weggenommen. Brüder und Schwestern standen eine Zeitlang in Reihen aufgestellt einander gegenüber, worauf ein älterer Mann hervortrat und eine Weile sprach, aber ich konnte nicht hören, was er sagte. Darauf begann die Gemeinde zu singen und zu tanzen, indem jede Person für sich hin und her trippelte, aber in symmetrischen Reihen und Figuren nach einem Takt, in dessen Grundrhythmus eine gewisse Lebhaftigkeit, etwas Schwingendes und Lustiges lag. Bei allen Variationen des Gesangs kehrte immer eine Triobewegung wieder, die sich beinahe immer durch Gestampf mit den Absätzen auszeichnete und ganz nachdrücklich hervorgehoben wurde, und während der ganzen Zeit wurden die Hände in Takt bewegt, ungefähr wie wenn man ein Kind in den Schlaf wiegen will.

Nach einigen Minuten hörten Tanz und Gesang plötzlich auf. Die Gemeinde stand unbeweglich da; dann trat ein neuer Prediger auf und sprach, worauf Tanz und Gesang von Neuem begann. So ging es eine Zeitlang seelenlos und langweilig, wie mir schien, fort. Und diese bleichen, gleich gekleideten Weiber, die mit niedergeschlagenen Augen und ohne Zeichen von Freude oder natürlichem Leben trippelten, schwankten und sich umherschwenkten, sahen mir höchst unnatürlich aus. Sie hatten sanfte, aber nichtssagende Gesichter; ich sah nicht ein einziges schönes unter ihnen. Die Männer sahen besser und natürlicher an Leib und Seele aus, auch tanzten sie mit mehr Leben, obschon es oft ins Lächerliche gerieth. Wieder wurde es still in der Versammlung. Sie setzten sich wieder auf ihre Bänke. Und jetzt trat ein Shäkerbruder, ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, mit schmaler Stirn und tiefliegenden, dunkeln, funkelnden Augen auf, dessen ganze Erscheinung einen mit einer fixen Idee behafteten und für dieselbe fanatischen Mann verrieth. Er stellte sich vor die Zuschauer und redete sie ungefähr folgendermaßen an:

„Ihr seht uns hier in einem Hause versammelt, das wir mit unserer eigenen Arbeit aufgebaut haben, um einen Gottesdienst zu üben, der dem Gesetz unseres Gewissens entspricht. Wenn Ihr gekommen seid, um uns zu sehen, und wenn Ihr Achtung haben wollt vor unserer Gesellschaft und vor unserem Gottesdienst, und wenn Ihr Euch dabei ruhig zu verhalten gedenkt, so seid Ihr willkommen. Wo nicht, so seid Ihr hier nicht willkommen. Aber ich will das Erstere hoffen. Und laßt uns jetzt mit einander sprechen und zusehen, was zwischen Euch und uns liegt, das uns trennt. Laßt uns einander verstehen!“ Und dann begann er die Shäkergesellschaft im Gegensatz zu der weltlichen Gesellschaft zu schildern, erstere als diejenige, die der Welt entsagt habe und blos für den Himmel lebe, letztere als diejenige, die nur für den selbstsüchtigen Genuß und irdische Güter lebe. Wir bekamen Jedermänniglich von Elder Evans (so hieß der Shäkerbruder) eine sehr scharfe Strafpredigt für unsere Sünden und Schwachheiten, und er unterbrach sich darin nur durch die Aufforderungen: „Kommt! laßt uns die Sache gemeinschaftlich überlegen! antwortet mir,“ u. s. w. Es wäre unendlich leicht gewesen, dem guten Bruder auf Vieles zu antworten und einen großen Theil seiner Anklagen, namentlich auch seine Selbstanpreisungen zurückzuweisen; und ich wunderte mich, daß keine Stimme sich aus der Versammlung erhob, welcher ein so strenger Text verlesen wurde. Aber sie hielt es zu gut und schwieg. Nach dieser Strafpredigt bekam der Tanz neues Leben und ein Zirkel bildete sich, der einen beständigen Chor ausmachte, und um diesen bewegte sich in tanzenden Kreisen, die sich unaufhörlich zu erweitern schienen, während sie sich, mit vieler Methode und Kunst gleichsam in einander verflochten, die ganze Shäkerversammlung zwei und zwei, endlich aus drei und drei unter beständigem, taktmäßigem Gestampf mit den Füßen und unaufhörlicher Bewegung mit den Händen, wobei sie lebhafter als bisher sangen.

Auch der Tanz und die Bewegungen wurden immer lebhafter, je länger sie fortwährten, obschon man dabei niemals aus dem schleppenden Takt kam, und ich sah auf manchem Gesicht Schweißtropfen perlen; aber die Augen der Weiber blieben niedergeschlagen und ihr Ausdruck leblos. Die Männer sahen lebhafter aus, und ihr Tanz besonders wenn die Bewegungen der Hände bei steigendem Eifer einem Harfenspiel glichen, erschien in der ungezwungenen und kleidsamen, oder wenigstens nicht unkleidsamen Tracht gar nicht unnatürlich. Es war nicht schwer, sich während dieses Ringtanzes eine symbolische Vorstellung des Lebensweges zu denken, und man sagte mir später, daß derselbe den Fortschritt der Seele während des Weges durch das Leben vorstellen solle. Der Chor mitten im Saale sang die ganze Zeit über unter fächelnden Bewegungen mit den Händen.

Ich für meinen Theil sah nicht ein, warum der Tanz nicht eben so gut wie Gesang und Spiel u. s. w. Gottesdienst sein könnte, und warum er nicht sogar ein natürlicher Ausdruck für gewisse Bewegungen des religiösen Lebens sein sollte. Als König David in der Freude seines Herzens vor der Bundeslade tanzte und unter Harfenspiel den Herrn lobpries, da folgte er einer wahren Eingebung. Und ich habe am Tanze der Shäkerversammlung nichts anderes auszusetzen, als daß diese Eingebung ihm fehlt. Er ist offenbar jetzt ein Werk der Ueberlieferung, Gewohnheit und Berechnung. Vor einigen Jahren ist er anders gewesen, und hat damals, wie ich von Miß Sedgewick gehört habe, sehr sonderbare Erscheinungen gezeigt, wie z. B. daß Personen gleich den Fakiren des Oriente im Ring herum surrten, bis sie ohnmächtig und in convulsivischen Zuckungen zu Boden fielen. Das soll jetzt nur noch selten vorkommen, oder auch sorgt man dafür, daß es nicht öffentlich vorkommt. Das praktisch ökonomische Element, das neben dem religiösen Enthusiasmus die Shäkersekte auszeichet, scheint in späterer Zeit dem religiösen den Rang abgelaufen zu haben.

Dieser Gottesdienst endete ganz still, wie er begonnen hatte. Die Brüder und Schwestern trugen ihre Bänke fort, wie sie dieselben herangebracht hatten, und gingen sodann, jeder Theil nach seiner Seite aus dem Saal. Aber ich hatte beschlossen, noch einiges mehr über diese Sekte und ihre Absichten kennen zu lernen. Ich suchte daher einige der Vorsteher der Gemeinde auf, sprach meinen Wunsch gegen sie aus und bat sie um Erlaubniß wiederkehren und mit ihnen sprechen zu dürfen. Sie willigten freundlich ein und baten auch für den morgenden Tag ihr Gast zu bleiben. Das konnte ich nicht, denn ich erwartete meine jungen Freunde Lowells; aber Nachmittags, als Springs und ich an dem Brunnen von Libanon zu Mittag gespeist hatten, kehrten wir zusammen nach dem Shäkerdorf zurück. Da herrschte jetzt tiefe Stille. Alle Fremden waren fort, und die friedlichen, gelben Häuser lagen einsam auf ihren grünen, sonnebeglänzten Höhen.

Wir wurden von zwei Schwestern empfangen, die uns in ein Zimmer führten, wo zwei ältere Männer und zwei dito Schwestern nebst ein paar jungen Mädchen zugegen waren. Die Wangen[WS 1] der letzteren blühten wie Rosen unter den weißblau gestärkten Leinenhäubchen, und ich sah jetzt, daß der Shäkerstaat nicht seine schönsten Mitglieder zum Tanz geschickt hatte. Die älteren Weiber und Männer waren Elders (Aelteste), wie sie hier genannt werden, und Vorsteher der Familie, in der wir uns befanden. Die Gemeinde in Neu-Libanon ist nämlich in zwei Familien getheilt, die nördliche und die südliche Familie. Jede Familie hat ihre besondern Häuser, Vorsteher und Haushaltungen.

Ich richtete meine Fragen an die Aeltesten, aber es wurde mir bald klar, daß sie dieselben nur schlecht beantworten konnten. Einer der Männer war ein reicher Mann und hatte Weib und Familie verlassen, um sich an die Shäkergesellschaft anzuschließen, der er auch einen Theil seines Vermögens schenkte. Später war eine seiner Töchter, eines der hübschen jungen Mädchen, die jetzt zugegen waren, ihm gefolgt. Er war ein älterer Mann von kräftigem Körperbau, von gutem Aussehen, und mit einem Gesicht, das mehr Gefühl als Denkkraft verrieth. Der andere Aelteste hatte ein edles, ascetisches und patriarchalisches Aussehen. Beide hatten nicht viel zu sagen. Die Weiber schienen sanft, aber beschränkt. Sie hatten einen Hafen gegen die Stürme des Lebens gesucht und gefunden. Etwas anderes wollten sie nicht, und etwas anderes wußten sie nicht.

Aber jetzt kam Elder Evans mit der schmalen hohen Stirn, den dunkeln, fanatisch glänzenden Augen, und nun bekam die Unterredung ein anderes Leben. Ich war überrascht, in dem fanatischen Prediger einen ganz verständigen und im Ganzen liberal denkenden Mann (obschon seine Ideen keine Tiefe hatten) zu finden, der den Grund und Boden im Leben der Shäkersekte verstand und wohl darüber Auskunft zu geben vermochte. Mein Gespräch mit ihm gewann für mich ein wirkliches Interesse, und wir wurden beide recht ernsthaft dabei.

Von den Fragen und Antworten zwischen uns will ich blos folgende anführen:

Fr.: „Was ist die Bedeutung Ihres Tanzes? Ist er Symbolik oder Disciplin?“

Antw.: „Beides. Wir tanzen, weil wir es nicht verhindern können, weil wir also die Gefühle unseres Herzens auf diese Art ausdrücken müssen; wir ordnen unseren Tanz, so daß er uns selbst unseren Glauben und unsere Pflicht darstellt und uns dadurch eine lebendige Lehre für unsere Gemüther, für unsere Seele und unsern Körper wird.“

Fr.: „Sie sagen, daß Sie etwas ganz Neues in der Welt vorstellen. Ich muß jedoch bemerken, daß Sekten, die sich von der Welt abgeschieden und allen ihren Freuden entsagt haben, um ein heiliges Leben zu führen, zu allen Zeiten vorhanden gewesen sind. Wodurch unterscheidet sich Ihre Gemeinde von den Mönchs- und Nonnen-Orden, die sich bald nach Erstehung des Christenthums bildeten und in vielen Ländern noch jetzt vorhanden sind?“

Antw.: „Da ist der größte Unterschied von der Welt vorhanden. Diese Orden wollen die Menschen dadurch die Volkоmmenheit erreichen lassen, daß sie Mann und Weib trennen, welche Gott gleichwohl zu einer geistigen Einheit geschaffen hat. Wir dagegen sagen, daß der vollkommene Mensch nur durch die geistige Vereinigung zwischen Mann und Weib entstehen kann.“

Fr.: „Der Grundgedanke Ihrer Gesellschaft ist also die geistige Ehe?“

Antw.: „Wir nennen es nicht Ehe. Aber wir sagen blos, daß Männer und Weiber nicht gute und volkommene Menschen werden können, außer durch gegenseitige geistige Vereinigung und täglichen Umgang nach der Absicht Gottes, so daß Mann und Weib einander zur Gewinnung eines vollkommenen Lebens helfen müssen.“ Fr.: „Aber wenn alle Menschen so dächten, wie Sie, und die ganze Welt, d. h. unsere Welt würde eine solche Gesellschaft wie die Ihrige, ohne Ehe und ohne Kinder, dann würde es ja bald mit der ganzen Welt aus sein. Sie würde ja aussterben.“

Elder Evans bedachte sich eine kleine Weile und sagte dann, daß, wenn die Welt auf eine gute Art aufhörte und ein gutes heiliges Ende nähme, es eben so gut wäre, wenn dieß bald, als wenn es spät geschähe, da wir doch Alle unserer Verwandlung entgegensehen und auf ein besseres Leben hoffen.

Hierauf besann auch ich mich, eine Weile und fand dann nichts zu antworten, sondern meinte, der Bruder hätte nicht so unrecht. Ich hatte zwar und habe noch immer meine Gedanken darüber, daß wir Menschen eine größere Arbeit auf dieser Erde auszuführen haben, als zu welcher wir Zeit erhalten, wenn wir alle im Leben und Tod des Shäkerstaats aufgeben sollen; aber ich wollte jetzt nicht den Ocean aufrühren, wo weder ich noch Elder Evans recht schwimmen konnten, sondern begnügte mich, nähere Ausschlüsse über das Leben und die Einrichtungen des Shäkerstaats zu erhalten.

Die Entwicklung des geistigen Menschen in einem geistig, heiligen Gesellschaftsleben ist sein Zweck, und christlich liebevoller Umgang im Geist und in der That zwischen Männern und Weibern, unter Gebet und Arbeit, mit und für einander, das sind die Triebräder. Unterdrückung weltlicher Lüste und ein körperlich, ascetisches Leben sind die Mittel, welche alle Hindernisse für die erstern wegräumen.

Ich fragte eines der jungen Mädchen: „Habt Ihr wirklich einander sehr lieb?“

„Ach ja, das thun wir gewiß! (Oh yes, indeed!)“ antwortete sie, und die schönen großen, blauen Augen strahlten bekräftigend. Das Verhältniß zwischen diesen jungen Mädchen und den altem Männern, daß ich bei einigen Gelegenheiten bemerkte, schien mir besonders schön und liebreich zu sein, wie zwischen guten Töchtern und Vätern.

Mitten unter unserem Gespräch kam James Lowell die Treppe herauf und in das Zimmer, wo ich unter der Gesellschaft saß, gesprungen, sein schönes, lebensfrisches, von Gesundheit und Herzlichkeit strahlendes Gesicht glänzend wie eine Maisonne in der bleichen, obschon freundlichen Versammlung. Er und Maria waren just jetzt angekommen, und wir hatten eine herzliche Begrüßung mitten unter den Shäkergeschwistern, die sanft lächelten und uns nicht ohne Theilnahme ansahen. Sie luden uns ein Alle zu kommen und das Abendbrod mit ihnen zu essen. Aber Lowells setzten ihre Reise nach dem Libanonsbrunnen fort, weil Marie der Ruhe bedurfte. Springs und ich gingen mit unsern Shäker-Freunden in einen Saal hinab, wo ein Tisch für uns gedeckt war mit Thee, Milch, Brod und Butter, Kuchen und Sulzen, Alles sehr reichlich. Wir wurden von den Schwestern bedient; einige der ältesten Brüder setzten sich mit uns zu Tisch, aber ohne etwas zu verzehren. Zu einer der Schwestern, die uns aufwartete, sagte Rebekka Spring, als diese sich herabbeugte, um ihr etwas anzubieten: „Sie sehen so gut aus, daß ich Sie küssen muß.“ Sie lächelte und ihre Miene zeigte Zufriedenheit. Mehrere Schwestern kamen herein, um uns zu sehen. Ich bemerkte einige Weiber von mittlerem Alter mit ausgezeichnet guten und edeln Gesichtern. Ruhe und milder Ernst zeichnete alle aus. Sie erinnerten mich an einen milden, aber trüben Septembertag in Schweden. Die Luft ist rein, das Feld noch grün, es ist angenehm und ruhig; aber eine gewisse Wehmuth weilt über der Landschaft, es fehlt die Sonne, es fehlen Blumen und Vogelgesänge; Nichts wächst, Alles steht still, und wenn ein Vogel ein kleines Gezwitscher erhebt, so ist es bald zu Ende. Ich gefiel mir indeß wohl in der milden, stillen September-Atmosphäre, und die Shäkerschwestern schienen mit Vergnügen unser sichtbares Interesse für sie und ihre Gesellschaft zu bemerken.

Sie waren von Herzen freundlich und recht angenehm, weit mehr als ich geglaubt hatte, als ich sie während der Vormittagsposse gesehen. Als wir Abschied nahmen, sagte ich zu ihnen: „Ich grüße Sie alle mit einem geistigen Kuß, denn ich vermuthe, daß Sie keinen andern haben wollen!“ — „O, wir sind nicht so einseitig!“ („We are not so particular!“) sagte lächelnd ein junges Mädchen streckte ihr hübsches Köpfchen vor und küßte mich; jezt kamen auch die andern und wir, Rebekka und ich, hatten einen herzlichen Küssewechsel mit den Shäkerinnen; und als sie dabei lächelten, sagte ich zu ihnen: Ich glaubte, daß Sie nicht lächeln könnten, und jetzt lachten sie wieder herzlich, aber still, und eine der älteren sagte: „O, ich möchte um viel gute Dinge mein gutes Lachen nicht entbehren!“ Sie waren recht artig, gemüthlich und angenehm, tausendmal mehr, als einige weltliche und gedankenlose „ladies“ die im Hotel am Libanonbrunnen sich sehr vornehm und hochweise über die armen Shäkerinnen ausließen.

Ich erhielt von ihrer Gesellschaft einen guten Eindruck, und ich habe von Personen, die mehrere Jahre lang mit Shäkern in Berührung gestanden, viel Gutes von ihnen gehört, besonders von ihrem christlichen, gegenseitigen Liebesleben, von ihrer Güte gegen arme Leute, sowie ihrer zärtlichen Verpflegung der Kinder, die ihnen anvertraut werden, theils von armen Leuten außerhalb ihrer Gesellschaft, theils von Familien, die Mitglieder darin werden, die aber da leben, indem sie keine natürliche Bande, sondern bloß geistige Verhältnisse anerkennen. Die Verpflegung der alten und kranken Gemeindemitglieder soll auch vortrefflich sein, wie ich von meiner lieben Doctorin in Boston, Miß Hunt, gehört habe, welche in zwei oder drei Shäkergemeinden eine gute Praxis hat. Sie hat mir auch von manchem in der Welt verbitterten Menschenleben erzählt, das in der Shäkergesellschaft ein friedliches Asyl gefunden; von unglücklichen Gatten, von einsamen Weibern, von schwer durch Kummer geprüften Männern, die hier einen Hafen gegen tägliche Stürme gefunden, die hier Freunde, Pflege, die Annehmlichkeiten des Lebens und den Frieden des Lebens gefunden, wie sie ihn in der Welt nie hätten bekommen können. Diese Gesellschaften sind gemilderte Klostervereine, und im Ganzen, wie mir scheint, die vernünftigsten und zweckmäßigsten Einrichtungen dieser Art, ausgenommen im Tanz, welcher bedeutend vernünftiger und schöner sein könnte.

Elder Richard Bushnell schenkte mir beim Abschied ein Buch, das die Geschichte der Entstehung und Organisation „der tausendjährigen Kirche oder der vereinigten Gesellschaft von Gläubigen, genannt Shäker“ enthält. Ich sehe darin, daß die Sekte zuerst in Frankreich aufkam, als bei dem Wiederaufleben des religiösen Sinnes in der Dauphine gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts eine Menge Männer und Weiber von religiösen Entzückungen an Seele und Leib befallen wurden, welche sie als Wirkungen des heiligen Geistes betrachteten, da sie von Erscheinungen und starken inneren Mahnungen zu einem heiligen, Gott geweihten, ascetischen Leben begleitet wurden. Beunruhigt und verfolgt in Frankreich, flohen einige von ihnen nach England.

Anna Lee, Tochter eines Schmids, ein junges Mädchen, das schon von Kindheit auf Erscheinungen und Eingebungen, denjenigen ähnlich, die in der Geschichte der schwedischen Heiligen Sct. Brigitta erzählt werden, gehabt, wurde mit den französischen Frommen bekannt, und obschon sie weder lesen noch schreiben konnte, zeichnete sie sich bald durch ihre Kenntniß in der Bibel und in heiligen Dingen aus. Nach innern, geistigen Kämpfen, die ihren Körper entkräfteten, kam sie in einen Zustand religiöser Verzückungen, während dessen Seele und Leib aufs Neue auflebten und sie selbst der Mittetpunkt der Lehrerinnen und Leiterinnen für das kleine Häuflein der zerstreuten Personen wurde, welche an die höhere Eingebung dieses ekstatischen Zustandes glaubten. Starker Glaube und natürliches Talent halfen dem aller gewöhnlichen Bildung ermangelnden Weibe, so daß sie das in ein System brachte, was vorher abgerissene Phänomene und Ahnungen gewesen waren. Durch sie und unter ihrem Einfluß bildete sich die Lehre aus, daß die Welt, da sie durch die erste Eva gefallen sei, nun auch durch die zweite Eva vollkommen wieder aufgerichtet werden müsse. Christi zweite Erscheinung geschieht durch Einwirkung des heiligen Geistes auf die zweite Eva, auf das Weib, welches das Geschlecht, das sie früher zum Abfall von Gott führte, nunmehr zum Leben in Gott führt. Vollkommene Keuschheit ist die Hauptbedingung dafür, sowie die Richtung des ganzen Lebens auf Gott während der Arbeit für die Brüder und Schwestern.

Die Shäkersekte erblickte in Anna Lee diese zweite Eva, diese neue Offenbarung Gottes auf Erden. Sie nannte sie „Mutter Anna Lee,“ und ließ sich von ihren Eingebungen leiten. Die tanzenden Gottesdienste, die sie einführte, und wo die Verzückungen heftig waren, wie alles junge religiöse, entzückte Leben natürlich ist, wurden bald von dem Pöbel gestört, und Mutter Anna Lee nebst mehreren Anhängern ins Gefängniß geworfen. Sie wurden jedoch entlassen, gewarnt und bedroht, aber vergebens. Sie kamen wieder zusammen, um zu singen und zu lobpreisen, und der Gesang wurde zum Tanz und der Lobgesang riß sie hin, von der Erde aufzuspringen und zu hüpfen. Beständig beunruhigt und bedroht in England, warfen die Shäker, wie alle verfolgten Enthusiasten Europas, ihre Blicke übers Meer nach der neuen Welt. Mutter Anna Lee bekam die Eingebung hier die neue Libanons-Gesellschaft zu gründen.

Mit einem kleinen Häuflein ihrer Getreuen begab sich Anna Lee im Jahr 1774 übers Meer. Auf dem Wasser schwankend tanzten und sangen sie in verzücktem Gottesdienst. Der Schiffskapitän verstand sich auf diese Art von Gottesverehrung nicht, bedrohte sie und sagte, wenn sie dieselbe nicht aufgeben, so würde er sie über Bord werfen lassen. Aber sie blieben dabei, zu singen und zu tanzen. Jetzt erhob sich ein Sturm; eine Planke wurde von der Seite des Schiffs weggerissen, und das Wasser stürzte herein. Der Kapitän, den die Shäkergesellschaft zur Verzweiflung brachte, erblickte[WS 2] in ihren ungöttlichen Possen die Ursache dieses Mißgeschicks, und war im Begriff, seine Drohungen im vollen Ernst ausführen zu lassen, als Mutter Anna rief: „Sei gutes Muths, Kapitän, denn es wird kein Haar Deines Hauptes beschädigt werden. Ich sehe zwei Engel am Mast Deines Schiffes stehen!“ Und in diesem Augenblick — so fährt die Erzählung fort — „kam eine Woge und schlug die Planke wieder in die Seite des Schiffes ein, so daß kein Wasser mehr herein strömte, wie früher, und die Leute mit den Pumpen jetzt das Wasser bewältigen konnten.“ Bald legten sich auch die Stürme.

Der Kapitän ließ darauf die Shäker in Ruhe. Sie fuhren fort zu singen und zu tanzen. Singend und tanzend auf den wilden Wogen des Meeres kamen sie in der neuen Welt an.

Mutter Anna Lee und ihre Getreuen kauften Land unfern der Ufer des Hudson, machten die Wildnisse urbar, bauten Häuser, und gründeten da im Jahr 1776, im Monat September ihre erste kirchliche Gesellschaft, unter dem Namen Neu Libanon.

Mutter Anna Lees Gatte, ein armer Mann, den sie vor der Zeit ihrer religiösen Erweckungen geheirathet hatte, und der im Anfang auch zu ihren Getreuen gehörte, später jedoch untreu wurde, trennte sich von ihr, und verfiel in Trunkenheit und andere Laster. Aber der Shäkerstaat in Neu Libanon gedieh und wuchs unter Anna Lees Leitung, und erzeugte neue Shäkervereine in andern Staaten, wo Anna Lee Besuche machte, um dort ihre Lehre zu verbreiten. Sie starb in hohem Alter, allgemein geschätzt und geliebt.

Ihre Aeußerungen und Lehren, die sich in den Büchern aufbewahrt finden, deuten auf ein gottesfürchtiges und sanftes Gemüth, zuweilen nicht ohne den einbildischen Glauben, daß sie ein zweiter Christus sei, und beweisen im Uebrigen einen sehr klugen, ökonomischen und praktischen Geist. Gleichwohl werden alle Arbeits- und Sparsamkeitsregeln auf Gott, als den Geber alles Guten, zurückgeführt. „Durch Gottes Segen kommen alle Nahrungsmittel; darum müßt Ihr nicht das Geringste vernachlässigen.“

Von ihrem Aussehen wird gesagt: „Mutter Anna Lee war etwas unter der gewöhnlichen Frauenzimmergröße, sie war ziemlich derb, aber gerade und wohlgebildet und hatte regelmäßige Formen und Gesichtszüge. Ihre Farbe war hell und klar, ihre Augen blau, aber durchdringend; ihr Gesichtsausdruck war edel und seelenvoll, aber feierlich und ernst. Von vielen Weltkindern wurde sie schön genannt, und für ihre getreuen Kinder schien sie einen solchen Grad von Schönheit und Himmlischer Liebenswürdigkeit zu besitzen, wie dieselben noch nie bei irgend einer sterblichen Person gesehen hatten. Und in Zeiten, wo sie unter Einwirkung des heiligen Geistes stand, glänzte ihr Gesicht von Gottes Herrlichkeit, und ihre Gestalt und ihre Thaten schienen göttlich schön und engelgleich zu sein. Die Macht und der Einfluß ihres Geistes in solchen Zeiten gehen über alle Beschreibung. Niemand konnte ihr damals widersprechen, oder der Macht, durch welche sie sprach, etwas entgegenhalten.“

Gegenwärtig finden sich in den Vereinigten Staaten 18 Shäkergesellschaften, die in mehreren Staaten zerstreut sind, von New-Hampshire bis Ohio und Indiana. Die ganze Sekte soll indeß nicht viel über 4000 Mitglieder zählen. Die Gesellschaft von Neu-Libanon zählt inzwischen 7–800 Mitglieder. Jeder Verein hat seine besondern 2–3 Familien und unter diesen seine Kirchen-Familie, bestehend aus ausgewählten, geistig begabten Männern und Weibern, welche die geistigen Angelegenheiten der Gesellschaft lenken. Die weltlichen werden von den dazu erwählten Aeltesten gelenkt. Alle Shäker-Vereine stehen in einem gewissen Gehorsams-Verhältniß zu der Gesellschaft von Neu-Libanon, welche die Muttergesellschaft genannt wird. Das Eigenthum im Shäkerstaat ist gemeinsam. Niemand in der Gesellschaft besitzt Etwas für sich. Die Aeltesten besorgen die Austheilungen an Alle. Jeder, der in die Gesellschaft kommt und ein größeres Vermögen mitbringt, kann nach einiger Zeit dieses wieder herausnehmen, wenn er den Staat verlassen will. Aber ist dieses Vermögen dem Staat mit vollem Willen und klarem Wissen geschenkt worden, so kann es später nicht mehr herausgenommen werden.

Die meisten Shäker-Gesellschaften sollen wohl bemittelt, die in Neu-Libanon sogar reich sein und ihre Besitzungen immer weiter ausbreiten. Sie lebt von Ackerbau und Viehzucht; jedoch meist auch von Handwerken.

Alle Dinge, welche die Shäker verfertigen, sind gediegen, haben aber in Form und Farbe etwas Sonderbares und Geschmackloses. Graugelbe oder blaß gelbbraune Farben sind die vorherrschenden. Die Shäker leben gut und arbeiten gemüthlich, weil sie kein Verlangen nach Ueberfluß haben; deßwegen arbeiten sie auch gleichmäßig fort und zwar Alle. Die Sekte nimmt nicht stark zu, aber sie scheint auch nicht abzunehmen. Man weiß von diesen Vereinen keine Scandalgeschichten zu erzählen. Aber oft genug soll es vorkommen, daß ein junges Paar, ein Bruder oder eine Schwester die Flucht ergreift, um sich außerhalb der Gesellschaft zu verheirathen. Man forscht ihnen nicht nach, sondern betrachtet sie als verloren.

Einmal, (so habe ich erzählen hören) war ein neugebornes Kind vor die Thüre eines Shäker-Hauses gelegt worden. Dieß machte großes Aufsehen in der Gesellschaft, als es am Morgen gefunden wurde; und alle Shäker, Männer und Weiber, Jung und Alt kamen um das wunderliche kleine Ding zu sehen. Das „Baby“ wurde Gegenstand der Neugierde und Theilnahme der ganzen Shäkergesellschaft. Das Wohlbefinden, das Wachsthum und die Entwickelung des „Baby“ blieb Gegenstand des allgemeinen Gesprächs und der allgemeinen Aufmerksamkeit. Das „Baby“ war lange Zeit die Hauptperson im Shäkerstaat.

Und jetzt wirst Du wohl genug an den Shäkern haben. Ich wünsche noch mehr von ihnen und ihrer Gesellschaft zu sehen, und hoffe künftig Gelegenheit dazu zu erhalten. Mutter Anna Lee! wie manche Evas Tochter (und auch Sohn) sollte nicht bei dir in die Schule, (wenn auch nicht just in die Tanzschule) gehen.

Am Libanonsbrunnen verbrachte ich den Abend mit meinen Freunden Springs und Lowells und nahm auch ein Bad aus seinem krystallhellen, etwas schwefelhaltigem Wasser. Zuletzt haderte und stritt ich mit Springs, denn es war jetzt wieder die alte Geschichte, daß, als ich meinen Antheil an der Reise und dem Aufenthalt in den Hotels bezahlen wollte, nichts mehr zu bezahlen war. Diese Leute haben tausend liebenswürdige Arten und Ausdrücke, um mich zum Schweigen zu bringen und mich zu zwingen, daß ich sie meine Reisekosten bestreiten lasse. Sie sind herzlich gute und mittheilsame Naturen, und da ich ihre Freude am Geben kenne, so schweige ich zuletzt, aber mit Thränen in den Augen, und lasse sie gewähren, ohne ihnen auch nur zu danken. Aber ich weiß, daß sie es begreifen, wie mir dabei zu Muthe ist. Ich kann Dir nicht beschreiben, wie liebenswürdig sie gegen mich sind, wie freundlich und zärtlich sie mich verpflegen! Und Alles dieß auf eine so einfache und natürliche Art, als ob sie meine Geschwister wären. Ich habe sie herzlich lieb, und bin glücklich, daß ich Menschen von ihrer Art kennen[WS 3] gelernt habe.

Springs reisten nach New-York zurück; ich zog westwärts mit Lowells, theils auf Dampfbooten, theils auf Eisenbahnen. Aber wir bekamen einen schrecklichen Regen, und wurden während des Wechsels der Schiffe nebst unsern Reisesäcken tüchtig durchnäßt. Unter einem strömenden Regen, der in Fluthen über die Straßen von Albany lief, kamen wir an ein Hotel, wo man uns nicht aufnehmen wollte. Es sollte in zwei Tagen ein landwirtschaftliches Fest in der Stadt sein, und alle Zimmer waren für Leute gemietet, die auf den Markt kommen solten. Aber da wir versprachen nur übernachten zu wollen, so bekamen wir endlich Zimmer, und es that wohl sich an den flammenden Feuern trocknen zu dürfen und warmen, belebenden Thee zu bekommen.

Ich bin hier im Mittelpunkt des mächtigsten Staats von Nordamerika, der eine so große Bevölkerung und weit reichere Leute hat, als sich in ganz Schweden zusammenfinden. (Aber Schweden besitzt einen Reichthum, welchen der Kaiser-Staat New-York niemals bekommen kann, so viel Reichthümer er auch sonst gewinnen mag.) Er ist jedoch bei weitem noch nicht so mächtig, als er werden kann und sicherlich wird. Der Staat New-York ist in Bezug auf Erinnerungen und Ursprung nicht so interessant wie Massachusetts, Pennsylvanien und Georgien. Das Handelsinteresse war es, das zuerst das Land bevölkerte. Von Holland her kamen seine ersten Bebauer. Sie nannten das Land Neu-Niederland, und die Halbinsel, auf welcher die Stadt New-York liegt, hieß damals Manhattan, ein stattlicher indianischer Name, mit welchem man New-York noch einmal sollte taufen können. Auf Rechnung der Holländer reiste Hudson nach Amerika und entdeckte den herrlichen Fluß, der seinen Namen führt, und er beschreibt das Land ringsumher als „het schoonste land, dat men met voeten betreden kon“ (das schönste Land, das man mit dem Fuß betreten kann). Noch jetzt ist der Staat voll von Holländern, die clanartig leben und die Schulen und andre gute Einrichtungen, welche von der jetzt herrschenden gesetzgebenden Bevölkerung gestiftet wurden, nicht besuchen wollen. Der Staat New-York scheint zu dem geistigen Schatz großer Ideen in der neuen Welt nicht beigetragen zu haben. Aber die Idee einer Föderativ-Republik scheint New-York von den Generalstaaten Hollands nach Nordamerika überpflanzt zu haben. Und nun gute Nacht, meine Liebe, ich bin müde und schläfrig.




Niagara, den 7. Sept.  

Umbraust von den Strömungen dieses großen, berühmten Wunders der neuen Welt – Niagara genannt, schreibe ich heute an Dich. Und es ist groß und rühmenswerth und wunderbar schön, und gleichwohl so einfach und leichtfaßlich in seiner Größe, daß man auf einmal den Eindruck davon in Seele und Sinn bekommt und ihn unauslöschlich behält. Der Strom setzte mich weniger in Staunen, als ich erwartete, aber er ist mehr für mich gewesen. Er ist in mich hineingewachsen und … aber ich will ein andermal mehr davon erzählen.

Es ist nun Abend und finster draußen. Beim Lichtschein und der Musik des Stromgebrauses unter meinem Fenster, ja beinahe unter meinen Füßen (denn wir haben unsere Zimmer im Hotel „Cataract house“ über den Stromschnellen, die mit Blitzesgeschwindigkeit schäumend vorbeischießen, bevor sie zu dem großen Fall kommen) will ich ein wenig mit Dir plaudern und Dir von dem Leben der verflossenen Tage berichten.

Das letzte Mal schrieb ich aus Albany. Der Regen hielt uns den ganzen Nachmittag und Abend im Zimmer. Der Morgen kam grau und trüb. Ich guckte wie eine kalekutische Henne zum Himmel empor aus Furcht vor Regen; aber als ich die grauen Wolken sich verdünnen und blaue Blicke zwischen ihnen hervorleuchten sah, da wurde es mir wohlig zu Muth. Und der Tag war herrlich und die Reise war auch herrlich durch dieß schöne und fruchtbare Mohawks-Thal, längs dem Fluß gleichen Namens, einem lebhaften, brausenden kleinen Strom mit klaren, röthlichen Wogen, die durch grüne, fruchtbare Marken hineilen. Die Wolken nahmen Flügel und flogen hoch empor in das hohe Blau; wie kleine Cherubsflügel verschwanden sie dort und verließen das Firmament, das hochblau und klar strahlte. Die Erde glänzte von Sonnenblumen, theils wilden, theils solchen, die in den kleinen Höfen gepflanzt werden. Ich habe sie nie in solchem Reichthum, auch nie von solcher Größe gesehen. Viele hatten Kronen und waren so hoch wie junge Bäume. An einem Ort sah ich ein Häuschen, das ganz von großen Helianthen, wie von einem Hain umgeben war; die Blumen waren höher als das Haus. Dieses war allerdings nicht hoch. Ueberall sah das Land wohl bepflanzt und bebaut aus. Die Sonne leuchtete über der schönen reichen Erde, und die Erde leuchtete wieder glänzend von dem gefallenen Regen; alles sah so frisch und freudvoll aus. Und wir flogen auf der guten Eisenbahn in guten Lehnstühlen ruhend, flogen nach dem verheißungsvollen Westen, dem Abendland der Sonne! … So flogen wir wieder durch eine Menge neugebauter Städte, wie Syracus, Rom, Oswego, Auburn, Wien, Amsterdam, Schenectady[WS 4], Oneida, Seneca-Falls, Genf u. s. w., lauter hübsche, lauter zusehends wachsende Städte mit schönen Häusern und Bäumen, mehreren zierlichen Gebäuden, Kirchen und einem Stadthaus versehen, das durch Lage und Charakter über die Stadt herrscht, alle zusammen lebendige Zeugnisse von Ordnung und Wohlstand, und alle einander sehr gleich trotz der verschiedenen Charaktere, auf die ihr Namen hindeutet. Ich liebe diese Hervorrufungen all der berühmten Namen der alten Welt neben den eigenen der neuen Welt, denn ich höre darin eine unbewußte fortwährende Prophezeiung von der höheren Metamorphose, welche dieses Land und Volk hervorbringen wird, und worin das Leben der alten Welt aufs Neue sich emporrichten wird, aber in höherem oder geistigerem Sinn. In diesen Namen von allen Ländern und Völkern höre ich den Vorboten der großen Völkerversammlung von allen Ländern der Erde, die einmal in diesem Land stattfinden wird.

Wir fuhren auch an mehreren Binnenseen mit romantischen Ufern vorbei, Cauyuga, Seneca, Canandaigua,[WS 5] Oneida u. s. w. Die Landschaft hatte keine großen Züge, aber eine unendliche Lieblichkeit und Fruchtbarkeit. Obstgärten (Orchards) glänzten mit hübschen Aepfeln und Pfirsichen um die wohlgebauten Landhäuser und Farms her. Man hat mir die Reise durch den westlichen Theil von New-York als interessant durch das Schauspiel des reichen, blühenden, wachsenden Lebens geschildert, und das ist es auch. Es ist ein ländliches Fest von einem Ende zum andern, und diese wechselreiche Anmuth läßt eine gewisse Einförmigkeit in den Scenen vergessen.

Meine liebenswürdigen jungen Freunde, James und Maria, erfreuten sich daran, wie ich. Und als der Tag sich neigte, da neigte sich auch die Sonne am westlichen Himmel, gegen welche wir zusteuerten, und je tiefer sie sank, um so glühender wurden ihre Farben, zugleich wärmer und tiefer, und wir fuhren gerade gegen die Sonne zu.

Ich sah gegen die Sonne, wie eine Tochter Peru’s sie ansehen könnte, ich sah ihr entgegen wie die Sonnenblumen auf meinem Wege, und ich fühlte mich in einem innigen Verhältniß zu ihr.

Am Abend kamen wir nach Utika, wo wir übernachten sollten. Und während Maria ruhte und James Einiges für den Ausflug des folgenden Tags bestellte (wir wollten an den Trenton-Fall fahren) zog ich auf eine Entdeckungsreise in dem Städtchen mit dem alt republikanischen Namen aus. Ich dachte: Ich will mich nach einem Cato umsehen. Vielleicht daß er hier wieder geht. Und das that er auch, obschon in veränderter Gestalt. Ich sah nämlich an ein Paar Hausthüren ein gedrucktes Plakat, auf welchem ich las: Die Schneiderinnen in der Stadt Utika werden aufgerufen, nächsten Donnerstag in … zusammenzukommen, um sich über Hilfsmittel gegen den Druck zu berathen, unter welchem wir arbeiten, und wie wir am besten unsere Rechte wieder gewinnen können.

Alter, strenger Verfechter der Volksrechte, der Du nicht länger leben wolltest, als Du dieselben in Cäsars Händen erdrückt sahst, alter, hochherziger Cato, der Du für republikanische Freiheit starbst, Du hast dennoch gesiegt! Was Du wolltest, wofür Du kämpftest, das macht sich hier in der neuen Republik, zweitausend Jahre später geltend. Ich sehe und lese es hier: auch die Geringsten des Volks können für ihre und der Ihrigen Rechte aufstehen, können Reden auf dem Forum des Staats so gut wie die Mächtigsten halten und Recht gewinnen. Alter Republikaner, Du hast gesiegt! Und Dein Geist lebt hier mächtiger als in dem alten Rom. „Die Schneiderinnen der Stadt Utika“ zeugen davon in der Stadt, welche den Namen Deines Geburtsorts trägt. Nur Schade, daß sie ihre Aufforderung nicht etwas grammatikalischer schrieben. Aber dieß ist von untergeordneter Bedeutung, da jedenfalls der Sinn vollkommen klar ist.

So kehrte ich nach Haus zurück, froh, daß ich Catos Geist begegnet war, und in Utika mehrere sehr hübsche und geschmackvolle, von kleinen Pflanzungen umgebene Häuser gesehen hatte. Die Straßen in den amerikanischen kleinen Städten sind Alleen von kleinen, vereinzelten Villen mit Grasplätzen, schönen Eisengittern und hübschen Bäumen vor den Häusern. Nur in demjenigen Theil der Stadt, wo die Handelsbuden sich befinden, sind die Häuser eng zusammengebaut und mehr für das Geschäftsleben, als die Schönheit berechnet. Zierlichkeit und gute Proportion zeichnen jedoch alle aus, und überall herrscht Ordnung und Sauberkeit. „Leben Sie glücklich und vergnügt hier in der Stadt?“ fragte ich in einer Bude einen jungen Handelsmann, der recht freundlich aussah. „O ja, wahrhaftig!“ antwortete er offen und herzlich, „wir haben gute Freunde, gute Nachbarn und Alles gut. Wir können es nicht besser wünschen.“ Ein seltenes Glück und eine seltene Begnügsamkeit!

Am nächsten Tag fuhren wir zu Wagen (eine Art zu reisen, die hier ungewöhnlich zu werden anfängt) nach Trenton, um den Wasserfall zu sehen, welcher in Bezug auf Berühmtheit ein Vetter des Niagara ist. Es ist ein wilder und gewaltiger Fall, der durch eine ungeheure Bergspalte in gerader Linie gewiß eine halbe englische Meile herabstürzt. Die Wassermasse die hier wie klarer Xeres aussieht, springt zwischen den hohen, dunkeln Bergränden hervor, gleich einem Berserker, von Absatz zu Absatz im wildesten Taumel, in der Sonne blinkend, in den Abgrund stürzend, hoch über Felsblöcke und Baumstämme hinwegspringend, Alles auf ihrem Weg niederreißend und zermalmend, Kaskaden von Wasserstaub rechts und links im Walde sprühend, der gleichsam stumm und zitternd von dem Hingang des mächtigen Riesenhelden dasteht. Er ist prächtig, aber zu stürmisch, zu besinnungslos. Man wird von dem Getöse betäubt und beinahe geblendet von der Heftigkeit der Wassermasse. Man wird dabei müde wie von etwas Unvernünftigem, wenn es auch noch so hübsch ist; man kann seine eigenen Gedanken nicht hören, noch weit weniger die von Andern, wenn sie uns auch in's Ohr gerufen werden; man ist überstimmt, überrascht, übermannt von der Berserkerwuth des Riesen. Nur in seiner klar glühenden Farbe sah ich das göttliche Feuer, und als ich auf einer Klippenterrasse an der Seite des Falls meinen Hut abnahm, und mich vom Wasserstaub überregnen ließ, der hier wie ein Nebel herabfiel, so empfand ich, daß der Mächtige auch mild und erfrischend sein kann. Die Natur am Trenton ist wild und malerisch schön, aber beschränkt. Sie ist eine Berserker-Natur.

Wir verweilten den Tag über in Trenton, Gesellschaft haltend mit dem Riesen und der Natur um ihn her. Das Wirthshaus war vortrefflich, wie beinah alle Wirthshäuser hier zu Land, und lag in einem romantischen Thal. Wir aßen gut und schliefen gut, und ich wünschte länger hier verweilen zu können. Aber wir reisten am folgenden Tag nach Utika zurück und von da weiter auf unserem Wege westwärts.

Die Sonne war auch jetzt mit uns, und die Gegend war reich und fruchtbar, wie früher. Während unserer hastigen Fahrt fing etwas am Eisenbahnzug durch die Friction des Holzes mit neu gemachtem Eisen Feuer, und man mußte anhalten, um es zu löschen. Wir nahmen die Sache kalt, vergnügten uns dabei in unsern bequemen Stühlen etwas Rauch von dem Abentheuer zu bekommen und zu sehen, wie flink und besonnen man zu Werk ging, um die Gefahr abzuwenden. Der Zug war neben einem großen, schönen Obstgarten stehen geblieben, der blos durch eine ziemlich niedrige Planke von der Straße abgesperrt war. Ich machte just Marie Lowell auf die wahrhaft paradiesische Schönheit und Vollkommenheit einiger jungen Apfelbäume aufmerksam, deren Früchte in den niedlichsten rothen und goldgelben Farben glänzten, als ich zu meiner Verwunderung und, ich muß es sagen, zu meiner Betrübniß eine Menge junger Männer von zwanzig und etlichen und dreißig Jahren, wohl gekleidet und gentlemännisch in jeder Beziehung, über das Brett in den Obstgarten hineinspringen und die schönen, reichen Obstbäume auf das Unbarmherzigste angreifen und plündern sah. Just die jungen, schönen Bäume, die ich bemerkt hatte, wurden raubgierig angefallen, heruntergezogen, Zweige abgerissen und abgeknickt unter fröhlichem Lachen und Geplauder der Gesellschaft; und immer mehr Leute kamen aus dem Bahnzug und sprangen über das Brett und in den Garten hinein. Aber jetzt ließ sich weit hinweg in der Pflanzung eine Stimme vernehmen, und diese Stimme muß den apfelnaschenden Adamssöhnen etwa vorgekommen sein wie die Stimme des Herrn dem ersten Adam im Paradies nach dem ersten unerlaubten Apfeldiebstahl, wenn auch nicht ganz so fürchterlich. Gewiß ist, daß sie sich auf die Füße machten, die Aepfel, welche sie von den Bäumen reißen konnten, über das Brett und auf die Straße warfen, sodann lachend und einander mit Aepfeln werfend über das Brett und in die Wägen hineinsprangen, indem sie es dem Eigenthümer des Gartens überliefen, seine mißhandelten, geplünderten Bäume zu betrachten.

Ich gestehe, daß dieser Auftritt und die Laune, womit er betrieben wurde, mich sehr in Erstaunen setzte. „Ist es möglich,“ sagte ich zu James Lowell, „daß diese jungen Männer Gentlemen sein können?“ Er schüttelte schweigend den Kopf. Und gleichwohl sahen diese jungen Männer wie Gentlemen aus. Mehrere waren ebenso schön, als sie wohl gekleidet waren.

Ich hatte schon vorher mehrmals von Obst- und Blumenplündereien junger Herrn in Gärten bei größeren Städten (besonders um Philadelphia) erzählen gehört und hatte auch Downing und Marcus Spring gefragt, wie es sich damit verhalte. Sie gaben die Sache zu, sagten aber entschuldigend: „Das Obst ist in solcher Menge hier im Lande vorhanden und so wohlfeil, daß man auf ein unerlaubtes Zugreifen kein großes Gewicht legt.“ Inzwischen sprangen die jungen Männer bei der Stimme des Obstbesitzers wie gewöhnliche Obstdiebe davon. Der ganze Unterschied zwischen dem alten europäischen Geschlecht und dem neuen bestand darin, daß das letztere sich nicht schämte. Der Obstdiebstahl und die Mißhandlung der Bäume zeugten, gleich der Flucht vor dem Gartenbesitzer, von der niedrigsten Sinnesart.

Zur Mittagszeit kamen wir nach Rochester, einer der größen Pulsadern, durch welche der Handel und Wandel des Westens in die östlichen Staaten und der Handel der letzteren in die westlichen strömt. Die Stadt liegt zwischen dem Ontario-See und dem Genesee-Fluß, wovon mehrere Fälle die berühmten Kornmühlen treiben. Durch die großen Binnenseen steht sie mit allen Staaten um dieselben, sowie mit Canada in Verbindung; und durch den Genesee und Hudson, den Erie-Kanal und unzählige Eisenbahnen ist sie mit den östlichen Ländern in Berührung.

Rochester ist in Bezug auf sein Wachsthum eines der Kinder des großen Westens. Die Stadt wurde im Jahr 1812 von Nathanael Rochester und einigen anderen Auswanderern[WS 6] aus Maryland gegründet, hatte im Jahr 1820 1500 Einwohner, und[WS 7] zählt ihrer jetzt im Jahr 1850 40,000. Das kann man Fortschritt nennen. Ihre vornehmste Industrie ist Mehlbereitung. Ihre Mühlen sollen ungefähr 5000 Tonnen Mehl täglich mahlen, prächtiges Mehl, sagt man. In Rochester legten angenehme und freundliche Menschen (Freunde von Lowells, und aus Massachussetts stammend) Hand an uns und führten uns zu Wagen fort, um den Löwen der Stadt zu besehen, zuerst nach den Fabriken, die an den hohen Ufern des Genesees liegen. Das Wasser, das die Arbeitsräder in denselben treibt, wird höher oben am Fluß gewonnen und von den Fabriken aus, nachdem es die Arbeit vollbracht hat, wieder in den Fluß hinausgelassen. In schäumenden Kaskaden strömt es hastig die Bergklippen hinab, gleich wilden Schuljungen, die aus der Schule entlassen worden sind und jetzt lebenslustig ins Freie eilen. Aber hätten sie nicht gearbeitet, so hätten sie nicht spielen dürfen.

Auf dem Ufer gegenüber, das ebenso hoch ist, als das andere, waren mehrere Lustplätze (pleasure grounds) angelegt; und zwar, wie man uns sagte, von Deutschen; es waren da Caroussels, Schaukeln, Scheiben zum Schießen, sowie andere Vergnügungen, und zu einem Fest für Augen und Sinn breitete sich von da aus eine Landschaft von prärienartigem Umfang und Charakter aus. Auf den grünen, von keinen Schranken eingeschlossenen Feldern waidete da und dort wohlgenährtres Vieh. Die Sonne beglänzte in ihrem Untergang die heitere Scene. Wie wohlgedacht, oder wie glücklich gefunden war es mitten dem Arbeitsplatz gegenüber den Platz der Vergnügungen anzulegen, und für beide diese herrlichen Räume zu gewinnen!

Maria Lowell und ich spazierten hier dem Fluß entlang eine Weile allein, sie gleich mir gerührt von dem eigenthümlich bedeutungsvollen Leben des Platzes, ich mit Vergnügen ihren sinnreichen Bemerkungen über die nicht ausbleibende Ehre und Freude der Arbeit lauschend. Weiter unten kamen wilde Fälle, zu wild und zu schön, um Mühlen zu treiben. Sie waren nicht sehr groß oder mächtig, aber von sehr pittoresker Schönheit, und laubige Bäume und Pflanzen gediehen rings umher. So fuhren wir an eine Kornmühle, und ich besah sie von oben bis unten, schüttelte allen Mühlenbesitzern die Hand und wurde tüchtig mehlig. Auf den Straßen war es lebhaft von handelnden und wandelnden, fahrenden und gehenden Personen, und unter der Menge der europäischen Bevölkerung sah man Indianer in weißen Filzhüten und mit Bärten, sowie mit schwarzen, zottig herabhängenden Haaren in den Buden aus- und eingehen.

Am folgenden Tag machte ich Bekanntschaft mit den sogenannten „Rochester Knockings,“ diesem zauberhaften, spuckähnlichem Geklopf, das sich da und dort im Westen geoffenbart hat, und sich seit einiger Zeit in Rochester hören ließ, wo zwei junge Frauenzimmer, Namens Fish, sich befinden. Man sagt, sie stehen unter Einwirkung von Geistern, welche diese Schwestern begleiten und mit ihnen in Gemeinschaft stehen. Eine Menge Personen in der Stadt haben die Schwestern besucht, das Geklopf gehört, Tische von selbst über den Boden hinspazieren gesehen, nebst ähnlichen Erscheinungen, die von den angeblichen Geistern ausgingen. Viele Personen glaubten daran; weit mehrere aber glaubten es nicht und hielten die jungen Frauenzimmer für schlaue Betrügerinnen, welche dieses Getöse und allerlei sonderbare Geschichten selbst zu Stande bringen. Da die Schwestern Fish Bezahlung dafür annahmen, daß sie sich sehen und hören ließen, so fand man dieß mehr als wahrscheinlich. Sie hatten inzwischen selbst eine Untersuchung verlangt, sich in Gegenwart eines Comités von den achtungswerthesten Personen der Stadt Hände und Füße binden lassen, und die ganze Zeit über hatte man das Getöse und Geklopf rund um sie her gehört, so daß die Mitglieder des Comités, eine mit ihrem Namen unterzeichnete Erklärung abgaben, des Inhalts, daß sie nichts zu entdecken vermöchten, was den Verdacht eines Betruges von Seiten der jungen Frauenzimmer rechtfertigen könnte. Und seit dieser Zeit ließ man sie in Ruhe; aber die bessere Gesellschaft der Stadt scheint es als einen Beweis von schlechtem Geschmack und Urtheil anzusehen, die spuckenden Damen zu besuchen.

Ich habe seit meiner Kindheit so viel von Spuckgeschichten vernommen, und später selbst solche gehört, die ich nicht als Wirkungen gewöhnlicher, bekannter Naturkräfte erklären kann; dazu habe ich auf meiner Reise in Amerika in den Zeitungen so oft von dem westlichen Geklopf und Gepolter gelesen und so viel davon gehört, daß ich recht neugierig war, es mit meinen eigenen Ohren zu hören. Lowells theilten meine Neugierde und unsere Freunde in Rochester führten uns an den Ort, wo sie sich gerade hören ließen.

Der bloße Anblick der zwei Schwestern sagte mir, daß, welche Geister auch mit ihnen Gemeinschaft haben mochten, dieselben jedenfalls keinem respectabeln Geistergeschlecht angehören mußten. Menschen, die mit höheren geistigen Wesen Gemeinschaft haben, müssen anders aussehen. Aus dem, was ich übrigens während dieses Besuchs erfuhr, und was in gewisser Beziehung merkwürdig genug war, kam ich auf den Schluß, daß die Geister nicht Schwedisch verstanden, denn sonst hätten sie sich nicht auf Schwedisch Trotz bieten und drohen lassen, wie ich es that, oder auch, daß das wunderliche Geklopf und die andern Possen von den jungen Schwestern selbst veranstaltet wurden, die mir schelmisch genug dazu aussahen, obschon es unbegreiflich schien, wie sie einen Theil dieser Possen ausführen konnten; oder endlich, daß sie von Geisterwesen bewirkt wurden, die gleiche Gesinnung hegten, wie die weltlichen, jungen Schwestern, und mit ihnen in Beziehung standen, — der Geisterwelt kleine Barnums möchte ich diese Geister nennen, die gleich Amerikas großem Barnum sich damit belustigen, diejenigen an der Nase herumzuziehen, die sich daran ziehen lassen und ihre Possen in vollem Ernst nehmen wollen. Ich zweifle nicht daran, daß die Geisterwelt ihre „Humbugs“ hat, wie unsere Welt, und finde es ganz und gar nicht wunderlich, daß sie auch mit uns ihr Spiel treiben. Blos darüber wundere ich mich, daß denkende, sogar geistreiche Menschen eine Befriedigung darin finden können, durch Klopfgeister Gemeinschaft mit hingegangenen geliebten Personen zu suchen, wie es in dieser Zeit hier oft geschehen ist und noch geschieht. (Aber ach! des Herzens Kummer und des Gedankens Zweifel können weit führen). Inzwischen wollte ich lieber niemals auf Erden etwas von meinen entschlafenen Geliebten vernehmen, als dieses elende Geklopf von ihnen hören. Die Gemeinschaft der Geister, der Umgang mit den Engeln ist von höherer und heiligerer Art.

Von diesem Auftritt, der mir einen verworrenen, unbehaglichen Eindruck erregte (James Lowell war ganz böse darüber) fuhren wir zu einem Besuch bei Fredrik Douglaß, einem geflüchteten Sklaven aus Maryland, der durch seine Geistesgaben, sein Talent als Redner bei Antisklaverei-Versammlungen, sowie durch den Muth und die Beredsamkeit, womit er für die Sache seiner schwarzen Brüder arbeitet, berühmt geworden ist. Er ist Redakteur einer in Rochester erscheinenden Zeitung, genannt „der Nordstern“, und befindet sich gegenwärtig in der Stadt, aber krank an einem Halsübel, weßhalb er nicht zu mir kommen konnte. Und so fuhr ich zu ihm. Ich hatte hauptsächlich durch seine Biographie, die ich gelesen hatte, ein Interesse für ihn gewonnen, denn sie zeugt von einem kräftigen und mit tiefem Gefühl begabten Geist, sowie von der Wahrheit dessen, was er spricht. Und dieß ist bei andern Selbstbiographieen ehemaliger Sklaven nicht der Fall, denn sie enthalten oft Dichtung und Wahrheit neben einander und sehr viel Uebertreibung.

In dieser Erzählung ist eine Stelle, die mich wegen ihrer Schönheit tief gerührt hat, weßhalb ich sie hier für Dich übersetze. Sie wird Dir einen Begriff von dem Mann und seiner Lage während der ersten Zeit seines Sklavenlebens geben. Er war damals ein Jüngling von siebenzehn Jahren:

„Ich war etwas ungeberdig, als ich zu Mr. Covey kam. Aber einige wenige Monate dieser Disciplin zähmten mich. Es gelang Mr. Covey mich zu brechen. Ich war gebrochen am Körper, Seele und Geist. Meine natürliche Geschmeidigkeit war zermalmt, meine Intelligenz wurde stumpf, die Leselust verging, der heitere Funken, der noch in meinen Augen geblieben, erstarb; die dunkle Nacht der Sklaverei legte sich auf mich, und siehe da, ein Mensch war in ein Vieh verwandelt.“

„Der Sonntag war meine einzige freie Zeit. Ich verbrachte ihn in einer thierähnlichen Betäubung zwischen Schlaf und Wachen unter einem großen Baum. Zuweilen stand ich auf; ein Blitz von energischem, frischem Leben flammte durch meine Seele, gefolgt von einem Lichtschein der Hoffnung, der einen Augenblick währte und dann verschwand. Und ich sank wieder zu Boden, mich grämend über meinen elenden Zustand. Ich fühlte mich mitunter versucht, meinem und Coveys Leben zugleich ein Ende zu machen, aber ich wurde durch ein Gefühl der Hoffnung und Furcht zugleich abgehalten.“

„Unser Haus stand blos einige Schritte von der Cheasapeak-Bucht, deren breite Brust immer weiß strahlt von Segeln aus allen bewohnten Ländern der Erde. Diese schönen, in schimmernde weiße Kleider gehüllten, für die Blicke freier Menschen so bezaubernden Schiffe schienen mir gleich grabtuchumwickelten Gespenstern, welche kamen, um mich mit Gedanken über meinen elenden Zustand zu schrecken und zu quälen. Oft habe ich in der tiefen Stille eines Sommersonntags allein auf den hohen Ufern dieser prächtigen Bucht gestanden und mit schwerem Herzen und thränenvollen Augen die unzähliche Menge von Segeln beobachtet, die gegen den großen Ocean zu schwebten. Ihr Anblick rührte mich gewaltig. Meine Gedanken suchten sich zu äußern; und da, mit dem Allmächtigen als einzigem Zuhörer, ergoß ich meiner Seele Klagen in meiner rohen ungebildeten Weise, indem ich die segelnden Schiffe anredete: Ihr seid von euern Tauen gelöst und seid frei. Ich bin fest in meinen Fesseln und bin ein Sklave. Ihr bewegt euch freudig vor dem Wind; ich werde ängstlich von der blutigen Peitsche getrieben. Ihr seid die schnell beschwingten Engel der Freiheit und fliegt rund um die Welt; ich bin in Eisenbande geschlagen. O daß ich frei wäre! O daß ich auf einem eurer stattlichen Verdecke und unter euren schützenden Flügeln wäre! Ach, zwischen mir und euch rollen schreckliche Wasser. Geht, geht! O daß ich auch gehen könnte! Könnte ich nur schwimmen! O daß ich fliegen könnte! O warum wurde ich als Mensch geboren, um zu einem Vieh gemacht zu werden! Das fröhliche Schiff ist fort; es verbirgt sich in nebliger Ferne. Ich bin in der heißen Hölle ewiger Sklaverei zurückgelassen worden. O Gott, erlöse mich! Gott, befreie mich! Laß mich frei werden! Gibt es einen Gott? Warum bin ich ein Sklave? Ich will fliehen. Ich will dieß nicht länger ertragen. Frei oder gefangen — ich will es versuchen. Ich habe blos mein Leben zu verlieren. Ich kann springend eben so gut getödtet werden, als stehend. Denke nur — hundert Meilen weiter nordwärts und ich bin frei. Versuche ichs? Ja, Gott helfe mir, ich will es thun. Ich kann es nicht ertragen als Sklave zu sterben. Ich will mich dem Wasser anvertrauen. Diese selbe Bucht wird mich die Freiheit lehren. Ein besserer Tag ist im Anzug! …“

Und er wurde frei, obschon erst mehrere Jahre später; Gott sei Dank, es gelang ihm sich zu befreien! Seine Selbstbiographie gehört zu dem Interessantesten, was man lesen kann. Douglas lebt seit einigen Jahren gänzlich als Literat, in beständiger Wirksamkeit für seinen großen Zweck: die Befreiung der Sklaven und die Veredlung der freien Schwarzen.

Ich sah in ihm einen hellfarbigen Mulatten von etlichen und dreißig Jahren, mit einem ungewöhnlich schönen Gesicht, wie man sich etwa einen Araberhäuptling denkt. Die schönen Augen waren voll von düsterem Feuer. Er litt stark unter seinem Halsübel und konnte nur mit Mühe reden. Einige bittre Worte entschlüpften ihm mit Heftigkeit gegen den in der Sklaverei üblichen Brauch, den Arbeiter seines erworbenen Arbeitslohnes zu berauben. Es geschieht nämlich, daß die Sklaven ausgemiethet werden, um gegen einen gewissen Taglohn, z. B. einen Dollar des Tags, oder sieben bis neun Dollars in der Woche zu arbeiten; aber diesen Lohn müssen sie nach Verfluß der Woche oder des Monats ihrem Eigenthümer bringen. Manche Sklavenbesitzer leben von dem Geld, daß sie auf diese Art erwerben. Dagegen bestreiten sie gewöhnlich die Kleider der Sklaven und sind verpflichtet, sie im Alter und in Krankheiten zu verpflegen. Manche Sklaven verdienen jedoch so viel mit ihrer Arbeit, daß sie sich vollkommen gut selbst versorgen könnten, wenn sie nur ihren Verdienst behalten dürften.

Frau Douglaß war eine sehr schwarze Negerin, häßlich, fett, aber von guter Gemüthsart. Auch seine kleine Tochter, Rosette, war schwarz und unschön. Ein weißes Frauenzimmer war ihre Lehrerin, und wohnte in Douglaß Haus. Ich mußte die Charakterstärke bewundern, womit sie die Prüfung erträgt, die sie sich dadurch von Seiten der vorurtheilsvollen Weißen zuzieht. (Und ihrer ist noch Legion auch in den freien Staaten). Aber vielleicht hat der ehemalige Sklave, jetzt der streitende Apostel der Freiheit, die Charaktergröße, welche solche Opfer für warme Seelen leicht macht. Ich sah ihn zu wenig und unter zu ungünstigen Umständen, um einen klaren Eindruck von ihm zu bekommen. Und wenn bei ihm der bittre Geist mächtiger ist, als der edelmüthige — wer kann sich darüber wundern?! …

Aber jetzt mußte ich an den Ontario. Denn dort nahmen wir am Abend das Dampfschiff, als wir Rochester verließen, um weiter zu fahren. Die liebenswürdigen Freunde, die unsern Besuch in Rochester so angenehm gemacht, begleiteten uns bis ans Ufer, nachdem sie uns mit einer Menge Blumen und allerschönsten Früchten, wahren Hesperiden an Schönheit und Reichthum, beschenkt hatten. Rochester mit seinen wechselnden Scenen von Mühlen und Klopfgeistern, von Leben und Löwen, mit seinen guten Menschen und seinen schönen Früchten, hinterließ uns einen Eindruck voll frischen Lebens. In der stillen, dunkeln Nacht, als die Sterne zwischen Wolken über uns funkelten, fuhren wir über den Ontario-See, auf einem stattlichen Dampfboot und in der Dämmerung den Niagarafluß hinauf, ein kleines, aber romantisch schönes Kind des großen Falles. Just als die Sonne aufging, stiegen wir ans Land und in den Wagen, um dorthin weiter zu reisen.

Es war ein herrlicher Morgen, etwas kalt, aber klar und lebensvoll. Ein paar Stunden später waren wir an Ort und Stelle, hörten die mächtig tosende Stimme des Ungeheuers, bevor wir es sahen, und da bei der weit vorgeschrittenen Jahreszeit nicht viele Fremde da waren, erhielten wir in „Katarakthaus“ die besten Zimmer, die wir uns nur wünschen konnten, und dann eilten wir hinaus, um unser Ziel zu sehen.

Der Niagarafall macht einen großen und heitern Eindruck, hat aber Nichts, was den Betrachter mit Erstaunen oder Angst erfüllen könnte. Wenn man bis zu dem großen Fall vorgeht, der auf dem Gebiet Canadas ist, so sieht man eine gewaltige Wassermasse, die lothrecht, in Hufeisen- oder Halbmondsform von einem breiten, ruhigen Wasserspiegel hernieder fällt. Man könnte sagen, das Wasser stürze aus einem offenen Busen. Still und klar, in der schönsten smaragdgrünen Farbe wölbt sich die Wassermasse über den steilen Felsen, und erst im Fall bricht sich der Sturm und die wilde Naturmacht Bahn, aber hier mehr majestätisch, als wild. Der Trenton ist ein von Jugendlust und altem Sherry trunkener junger Held, der im blinden Uebermuth gewaltsam und schrecklich auf seiner Bahn hervorrauscht. Niagara ist eine Göttin, ruhig und majestätisch auch in Ausübung der höchsten Kraft. Sie ist mächtig und gewaltsam. Sie ist ruhig und läßt den Zuschauer so. Sie hat große, stille Gedanken, und ruft solche bei denjenigen hervor, welche sie verstehen können. Sie schlägt nicht mit Erstaunen, aber sie imponirt und entzückt durch ihre klare, hohe Schönheit. Man sitzt an ihrem Knie, und kann doch seine eigenen Gedanken, die Worte Anderer, ja den fallenden Wassertropfen von den grünen Bäumen, die sie mit ihrem Wasser besprengt, hören. Sie ist zu groß, um anders als durch ihre geistige Macht Stillschweigen auferlegen und herrschen zu wollen. Sie ist … ach! sie ist, was Menschen nicht sind und was sie, wenn sie es wären, Göttern gleich machen würde.

Aber die vielen tausend Menschen, die jedes Jahr hieher kommen (man sagt, der Platz werde jährlich von ungefähr 60,000 Personen besucht), müssen sie nicht vom Anblick dieser Größe selbst ein wenig größer und besser werden – wenn sie sich darin spiegeln?! Ich bin froh, daß so viel tausend Menschen jährlich den Niagara sehen können.

Aus den verborgenen Quellen des Sct. Lorenzo und aus den vier großen Binnenseen, Superior, Michigan, Huron und Erie (welche zusammen den vierten Theil des süßen Wassers auf der Weltkugel enthalten sollen) kommen die Wasser, die sich in den Niagarafall ergießen. Der Strom auf dem Wege dahin vom Eriesee kommt nah beim Fall an eine kleine Insel, Irisinsel, auch Ziegeninsel genannt, welche ihn in zwei Arme theilt. Aus dem einen wird der Canadafall gebildet, aus dem andern (demjenigen, der breit und tosend an meinen Fenstern vorbeieilt) der amerikanische Fall. Zwischen den Fällen sind etliche und 20 Fuß buschiger Bergrücken.

Der Fall auf der Canadaseite ist der reichste und schönste. Seine Breite ist 1500, seine Höhe 154 Fuß. Der Fall auf der New-Yorker Seite ist 800 Fuß breit und 167 Fuß hoch. Der Canadafall liegt in einem schönen Halbzirkel, dem Hauptstrom gerade gegenüber. Eine hohe Pyramide von Wasserdünsten steigt aus dem schäumenden Abgrund zu seinen Füßen auf, und erhebt sich hoch über den Plan des Falls gen Himmel, wie der Geist Niagaras, dessen Wellenscheitel sich im Winde hin und her bewegt. Der Strom vom Canadafall trifft von der amerikanischen Seite bald mit diesem zusammen. Vereinigt bilden sie weiterhin den sogenannten Strudel, wo der Strom ein Knie macht und das Wasser sich in Wirbeln bewegt. Dann fließt es immer ruhiger in den Niagarafluß oder den Sund (25 Meilen in die Länge), der sich in den Ontariosee ergießt und durch denselben in den prächtigen Sct. Lorenzo, den Fluß der tausend Inseln, und durch ihn in den atlantischen Ocean.

Der Trollhätta in Schweden hat nicht die Wassermasse oder Majestät des Niagara, aber er hat mehr Geschichte, mehr romantisches Leben. Der Niagara ist eine einzige große Scene, eine einzige sublime Handlung. Der Trollhätta ist eine Reihenfolge von Scenen und Handlungen. Der Niagara ist eine Hymne. Der Trollhätta ist ein Wala-Gesang.

Was mich am Niagara am meisten überraschte (denn ich erwartete es nicht), und was mich da täglich entzückt, ist, außer der smaragdgrünen Farbe des Wassers, das Spiel der Regenbogen im und über dem Fall, sowie um denselben herum, je nachdem die Sonnenstrahlen fallen, oder der Wind die bewegliche Pyramide des Wassergeists treibt. Das gibt ein Schauspiel von unaufhörlich schönen Erscheinungen, die beständig wechseln und entzücken. Es ist etwas darin, was mich zu gleicher Zeit erfreut und bedrückt, denn es enthält etwas, das ich besser verstehen möchte. Ich weiß, daß der Niagara mir mehr zu sagen hat, als er noch gesagt hat, oder mehr, als ich noch begriffen habe. Und nichts erfreut mich vollkommen, bevor es mir seinen innersten Gedanken gesagt hat. Auch als jung erfreute mich der Tanz nicht, bevor ich seine Bedeutung verstand. Bis dahin war er für mich ein unvernünftiges Gehüpfe.

Wir sind nun zwei Tage hier gewesen und werden wohl noch zwei bis drei Tage bleiben. Am Morgen sehe ich den Fall vom amerikanischen Ufer (das heißt dem Ufer New-Yorks), wo die Sonne in ihrem Aufgang Hunderte von leuchtenden Brücken über die Wasserwolken wirft; Nachmittags und Abends betrachte ich ihn vom Canada-Ufer, wenn die Sonne über dem britischen Gebiet untergeht. Vormittags bade ich im Strom, in einem sogenannten „Mammuth“ Strombad, wo der Fluß so heftig in das Badhaus hereinrauscht, daß man Mühe hat, sich fest dagegen zu halten. Dieß ist belebend und kräftigend. Nachmittags, gleich nach dem Essen, sitze ich mit meinen jungen Freunden auf der Piazza vor unsern Zimmern, und da sehen wir den Strom vorüberrauschen und lauschen seiner Musik. Oft stehe ich eine gute Weile auf einer der kleinen Brücken über den Strom und athme nur noch im Wohlgeruch des Wassers. Denn das Wasser hier hat den lieblichsten frischen Duft, den ich mit keinem andern vergleichen kann. Aber es fühlt sich wie der Geist einer wonnevollen, unsterblichen Jugend. Ja, hier meine ich, daß man aufs Neue an Körper und Seele jung werden könnte.

Aber meine jungen Freunde genießen das Leben hier nicht so voll wie ich. James L. ist nicht recht gesund, und Maria, die bald wieder Mutter zu werden erwartet, träumt in den Nächten, sie sehe die kleine Mabel mit ihren hingegangenen Schwestern Blanche und Rosa spielen, und eine telegraphische Nachricht über ihr Befinden, die man gestern erwartete, ist ausgeblieben, weßhalb die Unruhe um ihr einziges Kind die Gefühle der zärtlichen Eltern vom großen Niagara abzieht.

Den 8. Sept.  

Meinen Freunden ist es besser zu Muth. Gestern kam die telegraphische Depesche mit den Worten: „Mabel ist wohl.“ Und dann ein langer Brief von dem liebenswürdigen alten Vater, Doktor Lowell, voll von häuslichen Anekdoten und heimisch warmem Liebesleben. Ja, das ist mehr als Niagara. Aber Niagara ist jetzt mein Allerliebstes. Gestern Abend ließen ich und James (Maria hatte den Schnupfen und wagte sich am Abend nicht heraus) uns über den Fluß auf das Canadaufer setzten und wanderten da bei der untergehenden Sonne hin und her. Bei jeder neuen Biegung oder Bewegung dieser nebligen Wassergeister erhoben sich neue Lichtbilder darin. Bald wölbten sich die Regenbogen gleich luftigen Bifrost-Brücken über einander gegen den blauen Himmel, bald brannten Flammen gleich Feuerküssen, mit allen strahlenden Farben des Prisma auf den grünen Wogen in der Tiefe; es war ein unaufhörliches Lichtfest, beständig wechselnd und überraschend schön. Welches Leben, welcher Wechselgesang zwischen Erde und Himmel! Und als die Sonne sank, wölbten sich die leuchtenden Brücken höher und höher in der aufsteigenden Wolkensäule, hellrothe Wolken schwammen an dem blaßblauen Himmel über dem smaragdgrünen Fall, und ringsum auf den hohen Ufern stand der Wald in prunkender Herbstpracht (ein Wald, dergleichen man nur in Amerika sieht), und Alles war schweigsam und still, außer dem Wasserfall, dessen Stimme Alles zu lauschen schien. Aber es ist vergebens, die Schönheit und stille Größe dieser Scene beschreiben zu wollen!

Den. 9. Sept.  

Jetzt will ich Dir eine kleine Geschichte erzählen.

Am Morgen der Zeit, ehe noch der Mensch geschaffen war, war die Natur allein mit ihrem Schöpfer. Erwärmt von seiner Liebe, beleuchtet von seinem Auge, erwachte sie zum Gefühl des Lebens. Ihr Herz schwoll in Liebe zu ihm, dessen Liebesleben sie trank. Und sie sehnte sich, ihm ein Opfer zu bringen, ihr Gefühl, ihr Leben demjenigen zu ergießen, der es gab. Sie war jung und warm von der Fülle des Urlebens. Aber sie fühlte dennoch ihre Ohnmacht gegen seine Macht. Was konnte sie ihm geben, von dem sie Alles empfangen hatte? In Liebe und Schmerz, in unendlichem Verlangen, in unendlicher Fülle des Lebens schwoll ihr Herz, schwoll und schwoll, bis es im Niagara überfloß. Und der Geist der Danksagung stieg als ein ewiges Rauchopfer aus der Tiefe des Wassers gen Himmel empor: Der Herr des Himmels sah es. Und sein Geist umschloß den Naturgeist mit Bogen von Licht, mit Küssen von strahlenden Flammen zu ewiger Vermählung. So war es am Morgen des Erdenlebens, so sehen wir es noch heutzutage. Noch heutzutage sehen wir im Niagara den Naturgeist zum Himmel aufsteigen mit dem Opfer von seinem Leben, gleich einem wortlosen Sehnen und Lobgesang, und noch heutzutag wird er von dem Licht und den Flammen des Himmels, wie von göttlicher Liebe umfaßt.

Der Niagara ist die Vermählung des Erdenlebens mit dem himmlischen Leben.

Das hat der Niagara mir heute gesagt.

Und jetzt kann ich den Niagara verlassen. Er hat mir das Räthsel seines Ursprungs enthüllt.

Den 10. Sept. Morgens.  

Heute wollen wir abreisen. Ich bin zufrieden damit, auch darum, weil ich ein wenig Kopfweh habe, und das unaufhörliche Getöse des Falls, das beständige, rastlose, Rauschen des Stroms an meinem Fenster vorüber auf die Nerven ermüdend wirkt. Uebrigens gewöhnt man sich an alle Dinge, auch an die großen, und wenn man am großen Fall seine eigenen kleinen Gedanken über alltägliche Dinge zu hören und ihnen zu folgen beginnt, dann kann man wohl davon wegreisen. Ich habe Dir nicht von den verschiedenen Auftritten des Lebens am Niagara erzählt, von dem kleinen Dampfschiff „Nebeljungfrau“ (the Maid of the Mist), das dem Fall entgegenfährt, bis es ein Duschbad von seinen Wolken bekommt, worauf es sich erst umwendet, nichts von meinen botanischen[WS 8] Wanderungen auf der Iris-Insel, nichts von den Indianern, die man noch herumstreifend antrifft, nichts von der großen Eisenbrücke, die stark und leicht zugleich ein Stück weit unter dem Fall über den Strom geworfen ist, nichts von mehreren andern Merkwürdigkeiten dahier; aber sie alle sind klein in Vergleich mit dem großen Wasserfall, und dieser ist für mich das Wesentliche gewesen.

Die Indianer, die jezt noch um den Niagara her leben, gehören dem Seneca-Stamm an. Da dieß die Zeit ist, wo die Männer in der Wildniß auf die Jagd ziehen, sah ich hier blos einige Squaws, die ihre Arbeiten feil boten. Diese bestehen in Blumen und Thieren, die kindisch gezeichnet und ausgeführt, aber doch gut gemacht, mit farbigen Borsten von Igeln auf Birkenrinde gestickt sind, zum Theil auch aus kleinen Teppichen, Körben, indianischen Schuhen (moccasins) und kleinen Glöckchen, aus einer duftigen Grasart gemacht. Es sind hier mehrere Buden voll von diesen Arbeiten, aber sie werden sehr theuer gehalten. Vor einigen Jahren sahen Marcus und Rebekka Spring hier eine große Festlichkeit bei einem Indianerstamm, nämlich die Erwählung eines neuen Häuptlings, nachdem der alte gestorben war. Sie hatten ihre Versammlung im tiefen Wald. Die letzte Scene bei diesem merkwürdigen Auftritt war, daß der junge Häuptling vor seiner alten Mutter die Kniee beugte, als sie segnend die Hand auf sein Haupt legte. Das Weib, das von den Indianern im Allgemeinen so verächtlich behandelt wird, gewinnt gleichwohl Ansehen bei ihnen, wenn sie die Mutter eines ausgezeichneten Kriegers ist, zuweilen auch, wie bei allen rohen Völkern, durch ihre mystisch hexenartige Macht, wenn sie mit einer kräftigen Natur begabt ist. Aber eine solche kann unter diesem von Kindheit an auferlegten geistigen und körperlichen Joch nur selten sich erheben.

Ich sehne mich mehr von diesen Ureinwohnern der neuen Welt zu sehen und zu hören, und hoffe auf meinen Fahrten im Westen Gelegenheit dafür zu erhalten. Es ist mir jetzt klar und gewiß geworden, — ich weiß selbst nicht recht, wie oder wann — daß ich den Missisippi hinauf bis an den Sct. Anthony-Fall reisen werde, d. h. soweit der Fluß schiffbar ist, bis nach Minnesota (ein junges Land hoch im Nordwesten der Union, noch kein Staat, sondern großentheils Wildniß und die Heimath wilder Indianerstämme), und sodann den ganzen Missisippi hinab bis nach New-Orleans. Warum ich nach New-Orleans fahren werde, weiß ich nicht, aber das weiß ich, daß ich dahin muß. So gebietet mir Etwas, das ich das innere Licht, die innere Stimme nennen muß, und das mich mit einer mystischen, aber absoluten Gewalt dahin führt. Ich trage keinen Augenblick Bedenken, dieser Stimme zu folgen. Denn sie spricht so bestimmt und klar, daß ich froh bin zu gehorchen. Ich fühle, daß sie mir ein Leitstern ist. Von hier reise ich nach Chicago, und von da fahre ich nach den schwedischen und norwegischen Niederlassungen in den Staaten Illinois und Wisconsin.

Unter den Erinnerungen am Niagara sind auch einige traurige Ereignisse. Eines von ihnen trug sich letzten Sommer zu, als ein junger Mann mit seiner Braut und ihrer jungen Schwester den Fall besuchte. Während sie am Ufer desselben standen, nahm der junge Mann das kleine Mädchen aus seinen Arm und drohte scherzend, es hinabzuwerfen. Das Kind machte im Schrecken eine Bewegung, wodurch es auf seinen Armen und in die schäumende Tiefe hinabgeworfen wurde. Er warf sich ihr nach. Beide verschwanden und wurden erst als Leichen wieder gesehen.

Später.  

„Oniaagarah oder Ochniagarah“ sollen die ursprünglichen Namen des Niagara sein, und so wird er noch jetzt von den Indianern genannt. Das Wort soll „Donner des Wassers“ bedeuten. Im Mund der Europäer ist es zu Niagara verkürzt worden. Ich habe jetzt der großen Erscheinung und Scene meinen Abschiedsblick zugeworfen. Die grüne Farbe des Wassers, sein unaussprechlicher, lieblicher, belebender Duft entzückt mich immer von Neuem. Ich freue mich fortzureisen, aber ich wünschte wiederzukehren und den Fall in seiner Winterpracht sehen zu können, wenn er sich mit Blumen, Früchten und tausend phantastischen Zierrathen von Eis krönt; wenn der Vollmond leuchtet und den Mondbogen (the lunar bow) darüber bildet. Will sehen, will sehen! Jedenfalls bin ich unendlich dankbar, daß ich den Niagara sehen durfte. Seine stille Größe und Macht, seine Farbe, sein Duft, der Regenbogen Spiel in der weißen Wolkengestalt — das Alles ist und bleibt ein klares lebendiges Bild in meiner Seele. Und diese ewige Fülle des Herzens der Natur — ach, daß das Menschenherz ihr gleichen, beständig sich neu anfüllen, beständig fließen, niemals ermüden, niemals vertrocknen möchte! …

Meine jungen Freunde, James und Maria Lowell — es kommt mich hart an, von ihnen Abschied zu nehmen. Meine liebenswürdige, schöne, holde … aber jetzt müssen wir reisen. Meine jungen Freunde begleiten mich bis Buffalo. Einen Kuß vom Niagara her, meine liebe Agathe, und den nächsten Brief von Chicago!

N. S.

Jenny Lind, „die veritable Jenny Lind,“ wie ein amerikanisches Journal sagt, ist leibhaftig in New-York angekommen und mit schauerlichem Enthusiasmus empfangen worden. Möchte sie lebendig hindurchkommen! Alle Menschen wollen sie sehen und hören, ihr die Hand schütteln und sie willkommen heißen. Und jeder Yankee, der ein Haus und einen Herd hat, schreibt ihr und bietet sich an.

Jemand sagte zu Maria Lowell, sie sollte an Jenny Lind schreiben und sie in ihr Haus in Cambridge einladen. Maria antwortete lächelnd: „Gern, wenn sie einen Ruheplatz haben will. Aber sie einladen … das kommt mir gerade vor, als wollte ich den Niagara in mein Haus einladen.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wangeu
  2. Vorlage: erbickte
  3. Vorlage: keunen
  4. Vorlage: Schnectady
  5. Vorlage: Canandaigna
  6. Vorlage: Auswauderern
  7. Vorlage: uud
  8. schwedisch „botaniska“; Vorlage: poetischen
Zweiundzwanzigster Brief Die Heimath in der neuen Welt. Zweiter Band
von Fredrika Bremer
Vierundzwanzigster Brief
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