Die Heimath in der neuen Welt/Erster Band/Vierzehnter Brief
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Nein ich fuhr nicht nach Savannah an dem Tag, wo ich es beabsichtigte, sondern ich fuhr — zu einer Posse, zu welcher ich mir jetzt Deine Begleitung erbitte, ohne Dir zu sagen, wohin sie Dich führen wird. Wir fahren auf der Eisenbahn, wir steigen in einen der Wagen, Mrs. Howland, ein freundlicher junger Herr — ich bin so frei Dir Mr. Richards vorzustellen — und ich, und Du kommst ja auch mit uns. Es ging durch Wald und Feld, achtzehn Meilen über Charleston. Es ist spät am Nachmittag und sehr warm. Wir halten an; es ist mitten im dicken Walde. Es ist Wald auf allen Seiten und keine Wohnungen kommen zum Vorschein. Wir steigen aus den Wagen und gehen hinein in den Föhrenwald. Nachdem wir uns eine Weile auf ungebahnten Stegen ergangen, sehen wir den Wald recht lebendig werden. Auf allen Seiten wimmelt es zwischen den hohen Baumstämmen von Menschen, besonders von der schwarzen Race. Mitten im Wald öffnet sich ein freier Platz und mitten auf demselben ist ein großes, langes, auf Säulen ruhendes Dach errichtet, unter welchem eine Menge Bänke und Gänge sich befinden mit Platz genug für 4–5000 Personen. In der Mitte dieses Tabernakels steht ein einreihiges, hohes Gerüste und mitten darin eine Art Katheder oder große Kanzel. Rings um das Tabernakel, (ich nenne das auf den Pfeilern ruhende Dach so) sind in einem weiten Zirkel Hunderte von Zelten und Buden von allen möglichen Farben und Gestalten errichtet; sie schimmern weiß weit in den Wald hinein und überall auf allen Seiten nah und fern sieht man Gruppen von meist schwarzen Menschen an kleinen Feuern, bei denen gekocht und gebraten wird. Kinder springen umher und sitzen vor den Feuern, Pferde stehen und weiden neben ihren Fuhrwerken. Es ist ein vollkommenes Lager mit dem wechselreichen, bunten Leben eines Lagers, aber ohne Militär und Waffen. Hier sieht alles friedlich und festlich aus, obschon nicht fröhlich. Unter dem Tabernakel beginnt allmählig Volk sich zu sammeln, weiße Menschen auf der einen, schwarze auf der andern Seite, die Schwarzen in bedeutender Ueberzahl. Das Wetter ist qualmig; Gewitterwolken bedecken den Himmel und es beginnt ein wenig zu regnen. Just keine erfreuliche Aussicht für die Nacht, denn ich kann Dir nicht helfen, mein Herzchen, wir müssen die Nacht hier außen im wilden Walde zubringen. Es findet sich kein anderer Ausweg. Wart ein wenig; es gibt dennoch einen. Der ehrliche junge R. bietet seine Beredtsamkeit auf, ein Zelt erschließt sich für uns und wir werden da von einer gefälligen Buchhändlerfamilie beherbergt. Caput familiae ist ein strenger Methodist und sieht sehr ernsthaft aus. Die Frau ist freundlich und seelengut. Wir bekommen da Kaffee und einen Abendimbiß.
Nach der Abendmahlzeit gehe ich aus, um mich umzusehen, und werde von einem Schauspiel überrascht, das ich nie vergessen werde. Die Nacht ist schwarz von Gewitterwolken, aber der Regen hat aufgehört. Blos einige schwere Tropfen fallen da und dort und der ganze Wald scheint in Flammen zu stehen. Auf acht Feueraltären oder sogenannten Feuerhöhen, die großen Tischen gleichen, welche rings um das Tabernakel her auf Stützen emporragen, brennen flatternde Feuer aus hohen Scheiterhaufen von Lichtholz, das viel Harz enthält; und auf allen Seiten im Walde bis in seine entlegensten Abtheilungen brennen größere und kleinere Feuer vor den Zelten oder auf anderen Plätzen und beleuchten die hohen Föhrenstämme, welche Pfeiler eines ungeheuern, dem Gott des Feuers geweihten Naturtempels zu sein scheinen. Der Dom darüber ist finster, aber die Luft ist so regungslos, daß die Flammen des Feuers gerade aufwärts steigen und wilde Schlaglichter auf die Föhrenwipfel und die schwarzen Wolken werfen. Unter dem Tabernakel ist eine ungeheure Volksmenge, gewiß 3–4000 Personen versammelt. Sie singt Hymnen; ein prächtiger Chor! – Am stärksten ertönt es aus dem Lager der Schwarzen, denn sie sind doppelt so stark als die Weißen vertreten und besitzen von Natur schöne und reine Stimmen. Auf der hohen Kanzel mitten im Tabernakel sieht man vier Priester, die während der Pausen zwischen den Hymnen mit kräftigen Stimmen zum Volke sprechen, die Sünder zur Bekehrung und Besserung aufrufend. Während all dem rollt der Donner, und große Blitze flammen durch den Wald gleich zornigen Blicken aus einem unsichtbaren, mächtigen Auge. Wir gehen unter das Tabernakel und mischen uns in die Versammlung auf der weißen Seite. Rund um das erhöhte Gerüst mit der Kanzel geht ein viereckiger Altartisch. Innerhalb desselben sitzen von Seiten der Weißen auf Bänken unter der Kanzel Methodistenprediger, meistens schöne, stattliche Gestalten mit breiten, ernsten Stirnen, und von Seite der Schwarzen ihre geistlichen Führer und Ermahner (Exhorters), mehrere unter ihnen mit höchst bemerkenswerthen, energischen Physiognomien. Je länger es in die Nacht hineingeht, um so wärmer wird die Stimmung. Die kurzen, aber gleich den Flammen des Scheinholzes brennenden Hymnen steigen heftig, wie diese, empor. Gleich melodisch-flammenden Seufzern werden sie wieder und wieder von tausend harmonischen Stimmen erhoben. Der Eifer der Prediger erhöht sich; zwei stehen dem Lager der Schwarzen, zwei dem der Weißen zugekehrt. Sie strecken ihre Hände aus und rufen die Sünder zu kommen, „Alle zu kommen, jetzt, in dieser Zeit, in dieser Stunde; vielleicht ist es die letzte, die einzige, die ihnen übrig bleibt, um zum Erlöser zu kommen, um der ewigen Verdammniß zu entfliehen.“ Mitternacht naht heran; die Feuer brennen dunkler, aber die Exaltation steigt und wird allgemein. Auferstehungshymnen mischen sich mit den Zurufen der Prediger, mit den Ermahnungen der Ermahner, mit den Seufzern und Rufen der Versammlung. Und jetzt erheben sich aus dem Lager der Weißen junge Mädchen und Männer, und kommen und legen sich wie zerknirscht über den Altartisch. Ihnen treten von der andern Seite die Priester entgegen, die sich zu ihnen hinabbeugen, ihre Bekenntnisse empfangen, sie ermahnen und trösten. Im Lager der Schwarzen ist großer Tumult und man hört starkes Geschrei. Männer brüllen, Weiber kreischen gleich Spanferkeln, wenn sie geschlachtet werden sollen. Mehrere bekommen Zuckungen, hüpfen und taumeln herum, so daß man sie halten muß; da und dort sieht es wie ein Handgemenge aus, und einige von den ruhigeren Theilnehmern lachen. Man hört eine Menge Angstrufe, aber keine Worte außer: „O ich bin ein Sünder“ und: „Jesus, Jesus!“ Unter all diesem Lärm währt der Gesang stark und schön fort und der Donner schlägt seine Pauken dazwischen.
Während dieses Spektakel im Lager der Schwarzen vor sich geht, sehen wir bei den Weißen einen stilleren Auftritt. Einige von den Gestalten, die bußfertig am Altartisch niedergekniet waren, haben sich entfernt, aber einige liegen noch da, und die Priester scheinen ihnen vergebens vorzureden oder vorzusingen. Eine von ihnen, ein junges Mädchen, wurde von ihren Angehörigen aufgehoben, und befand sich in einer Verzuckung (in a trance). Sie liegt jetzt mit dem Kopf im Schooß eines älteren schwarzgekleideten Frauenzimmers, ihr hübsches, junges Gesicht aufwärts gekehrt, starr und, wie es scheint, ganz bewußtlos. Die schwarzgekleidete Frau und noch eine andere gleichfalls in Trauer, beide mit schönen, schwermüthigen Gesichtern fächeln das junge Mädchen sanft mit ihren Fächern und betrachten sie mit ernsthaften Blicken, während 10–12 meist junge Frauenzimmer um sie herstehen, leise und lieblich eine Hymne singend, alle das schlafende Mädchen betrachtend, bei welchem, wie sie glauben, jetzt etwas Großes vor sich geht. Es ist ein wirklich schöner Auftritt in der Donnernacht beim Schein der Feueraltäre.
Nachdem wir wohl eine Stunde lang diese Scene beobachtet hatten, und als die exaltirte Stimmung sich zu beruhigen anfing, und damit auch der Glanzpunkt der Nacht vorüber zu sein schien, gingen Mrs. Howland und ich ins Zelt, um auszuruhen. Das Zelt lag an der Auszackung des Lagers der Weißen, und ich ging aus Neugierde ein Stück weit darüber hinaus in den dunkleren Theil des Waldes. Hier war es ein schreckliches Unwesen, das aber nicht von den Menschen, sondern von Fröschen und anderem Gethier herkam. Auch sie schienen eine große Zusammenkunft zu halten und quackten und lachten, pusteten und schnaubten, und gaben so viele wunderliche Töne, so viele Explosionen sonderbarer Laute zum Besten, daß es in hohem Grade komisch war. Ich habe niemals ein solches Concert gehört. Es war wie eine Parodie auf dasjenige, dem wir so eben angewohnt hatten. Im Zelte war es dumpfig und eng, aber unsre gute, freundliche Wirthin bot Alles auf, um es uns bequem zu machen, und Mrs. Howland wollte blos Alles für mich bequem machen und dagegen alles Ungemächliche auf sich nehmen. Ich hatte keine Ruhe im Zelt, sondern wollte, ehe ich mich niederlegte, wenigstens noch einen Blick aufs Lager werfen. Es war jetzt 12 Uhr vorüber, es hatte sich aufgeklärt und die Luft war so lieblich, das Schauspiel so schön, daß ich ins Zelt hineingehen und es Mrs. Howland sagen mußte. Sie machte sich auch sogleich auf und kam mit mir heraus.
Die Altarfeuer brannten niedrig und dunkel und der Rauch rollte rückwärts in den Wald hinein. Ueber dem Lager stand der Himmel klar. Der Mond ging über dem Walde auf und der Stern der Stärke (Jupiter) stand hellleuchtend mitten über dem Tabernakel. Noch erhoben sich Hymnen, obwohl schwächer, noch ermahnten Exhorters; noch schlief das junge Mädchen seinen mystischen Schlaf, noch wachten, warteten und lächelten die Frauen. Einige bedrückte Seelen lagen noch auf dem Altartisch und wurden von den Priestern mit Rede oder Gesang getröstet. Allmählig verlief sich das unter dem Tabernakel versammelte Volk, verbreitete sich im Wald oder zog sich in seine Zelte zurück. Auch das schlafende junge Mädchen erwachte und wurde von seinen Angehörigen aus der Versammlung weggeführt. Mr. Richard war jetzt zu uns gekommen, und mit ihm unternahmen wir eine Runde um das Lager der Schwarzen. Hier war alles noch voll von exaltirtem, religiösem Leben. In jedem Zelt sahen wir einen neuen Auftritt davon. In dem einen sah man eine heftig betende männliche oder weibliche Person, die mit starken Geberden ihren neugeweckten Gefühlen Luft schaffte und von andächtigen Zuhörern umgeben war; in einem anderen sah man eine ganze Schaar schwarzer Beter in weißen Kleidern sich auf die Brust schlagen und mit größtem Pathos rufen und sprechen; in einem dritten tanzten Weiber den heiligen Tanz vor einer der neubekehrten Personen. Dieser Tanz ist jedoch von den Priestern verboten worden und hörte bald nach unserm Eintritt ins Zelt auf. — Ich sah blos wiegende Bewegungen von Weibern, die einander in einer Kette an den Händen hielten, während sie sangen. — In einem vierten hörte man ein geistliches Lied im Canon vortrefflich gesungen. In einem Zelt ging eine dicke Negermadame allein und pustete. Sie war heiser, seufzte und jammerte vor sich hin: „O, wenn ich doch rufen könnte!“ In andern Zelten saß das Volk um die Feuer versammelt und hier war ein fortwährendes Besuchen und Begrüßen, und ein freundlich munteres Gerede von melodisch weichen Stimmen, alles in einer stillen, herzlichen Gemüthsstimmung, die wir auch überall antrafen, wo wir stehen blieben und mit den Leuten sprachen. Dieses schwarze Volk hat etwas Warmes und Gutes, das mir sehr gefällt. Man sieht, daß sie die Kinder der warmen Sonne sind. Im Lager der Weißen war die Stimmung bedeutend ruhiger. Man sah die Familien an ihren gedeckten Tischen sitzen, essen und trinken. Endlich gingen wir in unser Zelt zurück, wo unsre gute Wirthin und ihre 13jährige Tochter schwesterlich ein Bett mit mir teilten, und ich zwar nur wenig schlief, aber, Dank sei es einigen kleinen, weißen Pillen von meiner Downing-Medicin, dennoch eine erquickende Ruhe genoß in der fieberwarmen Nacht.
Bei Sonnenaufgang hörte ich etwas, was dem Gesumme einer Riesenwespe glich, die sich in einer Spinnwebe gefangen hat. Es war ein Sprechrohr, welches das Zeichen zum Aufbruch gab. Um halb sechs Uhr war ich auf den Beinen und draußen. Die Hymnen der Neger, welche die ganze Nacht gewährt hatten, ertönten noch immer. Die Sonne schien heiß und die Luft war drückend. Aber alles war lebhaft im Walde. Man kochte und frühstückte bei den Feuern und die Leute begannen sich auf den Bänken unter dem Tabernakel zu versammeln. Um 7 Uhr hatten wir Morgenpredigt und Gottesdienst. Ich hatte bemerkt, daß die Priester es vermieden, die Gefühle der Versammlung übermäßig hinaufzutreiben, und sie selbst schienen ohne alle Exaltation zu sein. Diesen Morgen erschienen sie mir matt und sehr schwach an populärer Beredsamkeit. Sie predigten Moral. Aber Moral soll man nicht in Augenblicken predigen, wo es gilt das Herz zu erobern, man soll da die warme Sprache des Herzens und die Wunder des geistlichen Lebens reden. Es war für mich daher eine wahre Erquickung, als die kalten und wohlgenährten Priester, die diesen Morgen gepredigt hatten, den Platz einem älteren Mann von frischem und humoristischem Aussehen abtraten, der aus dem Zuhörerhaufen auf die Kanzel stieg und aus einem ganz andern Ton zu dem Volke sprach; sein Ton war vertraulich, humoristisch und innig — etwas in Vater Taylors Art (ich hätte ihn hier hören mögen, aber dann wären alle Neger wie verrückt geworden, fürchte ich). Der neue Redner sagte, er sei ein Ausländer (offenbar ein Engländer) und befinde sich nur zufällig in dieser Versammlung. Aber er fühle ein Bedürfniß, sagte er, seinen Freunden zu sagen, wie sehr er sich über das gefreut, was er in der letzten Nacht mit angesehen (er sprach eigentlich zu den Schwarzen) und er wolle ihnen seine Ansicht über Gottes Evangelium, das in der Bibel geoffenbart worden und über das, was es uns von Gott lehre, mittheilen. „Seht ihr jetzt, meine Freunde — so ungefähr lauteten seine Worte — wenn ein Vater sein Testament gemacht hat und die Kinder versammelt sind, um es zu öffnen und den letzten Willen des Vaters zu lesen, dann wissen sie nicht, wie der Vater beschlossen und befohlen hat, und mancher dürfte denken: Vielleicht ist da nichts für mich! vielleicht hat er nicht an mich gedacht! Aber wenn sie jetzt das Testament öffnen und sehen, daß darin etwas für John ist, und etwas für Marie, und etwas für Ben, und etwas für Betsy, und etwas für Jeden und etwas für Alle, und das alle zusammen einen gleichen Theil am Eigenthum des Vaters erhalten haben und daß er gleich zärtlich an sie alle gedacht hat; — dann sehen sie, daß er sie alle gleich geliebt, daß er ihnen allen gleich wohl gewollt hat; — und dann, meine Freunde, wenn wir diese Kinder wären und alle diesen Erbtheil am Vaterhaus erhalten hätten, müßten wir dann nicht alle diesen Vater lieben und seine Liebe verstehen und seine Gebote befolgen?“
„Ja! ja! o ja! herrlich! herrlich! Amen!“ rief die Versammlung mit strahlenden Blicken und sichtbarem Entzücken.
Der Redner fuhr fort, ihnen auf seine gutgelaunte, naive Art das glückliche Leben und Ende eines frommen Christen, eines wahren Kindes Gottes zu beschreiben. Er selbst (der Redner) war Zeuge vom Tod eines solchen Mannes gewesen, und obschon dieser Mann ein Seemann ohne alle feinere Erziehung war und Ausdrücke gebrauchte, die seinem Handwerk angehörten, so zeugten sie gleichwohl von einem so klaren geistlichen Leben, daß sie auch jetzt nach seinem Tod vor dieser Versammlung davon zeugen sollten. Der Mann war schwer an einem Fieber erkrankt, daß ihm auch das Bewußtsein raubte. Er schien dem Tode nahe zu sein und seine Angehörigen umstanden sein Bett in der Meinung, nie mehr seine Stimme zu hören, sondern blos noch seinen letzten Seufzer zu vernehmen, denn er lag wie im Todesschlafe da. Aber auf einmal schlug er klar die Augen auf, erhob das Haupt und rief mit starker, fröhlicher Stimme: „Land, Vorwärts!“ Und darauf sank sein Haupt wieder und man glaubte, es sei mit ihm vorbei. Aber noch einmal schaute er auf: „Wendet und werft den Anker aus!“ Und dann wurde er wiederum still und man glaubte, es sei für immer. Aber noch einmal schaute er klar und frisch auf und sagte: „Alles gut!“ Und dann war er im Frieden.
„Amen! Amen! herrlich, o herrlich!“ rief die Versammlung, und nie habe ich solche Ausdrücke von Freude und Entzücken gesehen, wie ich sie hier auf den Gesichtern der Kinder Afrikas strahlen sah; besonders waren die Exhorters ganz außer sich; sie klatschten in die Hände, lachten und Fluthen von Licht strömten aus ihren Augen. (Einige von diesen Gesichtern sind meinem Gedächtniß eingeprägt als etwas von dem Ausdrucks- und Gefühlsvollsten, was ich je gesehen habe. Warum versuchen sich die Maler der neuen Welt nicht an solchen Scenen und solchen Gesichtern?) Das Entzücken über die Erzählungen des Redners wäre da und dort am Tage convulsivisch genug geworden, wenn nicht der vornehmste Leiter der Versammlung, Mr. Martin, von der Kanzel herab gewinkt und mit der Hand abgewehrt gewehrt hätte, worauf die gährenden Aeußerungen sogleich sich beschwichtigten. Schon in der Nacht hatte er das Volk vor solchen krampfhaften Ausdrücken gewarnt und sie als unrecht und störend für die Wirkungen des Geistes sowohl auf sie selbst als auf andere bezeichnet. Der Wesleyanische Redner verließ die Kanzel unter fortwährenden Aeußerungen des Entzückens von Seiten des Volkes.
Die Hauptpredigt des Tags fand ungefähr um 11 Uhr Vormittags statt und wurde von einem Juristen aus einer der benachbarten Städte gehalten, einem großen, magern Herrn mit stark gezeichneten scharfen Zügen und tiefen brennenden Augen. Er predigte vom jüngsten Gericht und beschrieb dasselbe ganz lebhaft, die gabelartig gespaltenen Flammen, den Donner, das Zusammenstürzen aller Dinge, und überdieß schilderte er es noch als möglicherweise nahe bevorstehend. „Noch“ rief er, „habe ich zwar die Erde nicht unter meinen Füßen zittern gefühlt; noch scheint sie fest zu stehen (und er stampfte tüchtig auf die Kanzel) und noch höre ich die Donner des Gerichtes nicht rollen; aber es kann dennoch nahe sein“[WS 1] u. s. w. Deßhalb ermahnte er das Volk zu schneller Umkehr und Buße.
Trotz der Wichtigkeit des Gegenstandes und der Kraft im Ausdruck, lag in der Darstellung etwas Trockenes und Seelenloses, so daß sie ihre Wirkung auf die Versammlung verfehlte. Man meinte zu fühlen, daß der Prediger das was er beschrieb und predigte nicht glaube und nicht lebendig fühle. Man hörte zwar einige Rufe und Seufzer, einige Sünder traten vor; aber die Versammlung blieb im Ganzen ruhig und wurde von dem Donner des jüngsten Gerichts nicht erschüttert. Die Hymnen waren wie früher warm und schön im Lager der Neger. Dieses Volk scheint große Empfänglichkeit für die schönsten Lehren der Religion zu haben und versteht es besonders gut sie anzuwenden. Ihre musikalischen Gaben sind ausgezeichnet. Die meisten Schwarzen haben schöne, reine Stimmen und singen eben so leicht, wie wir andere sprechen.
Nach diesem Gottesdienst kam das Mittagessen, und ich besuchte während dieser Zeit mehrere Zelte im Lager der Schwarzen und sah die Tische mit Fleischgerichten aller Art, mit Puddings und Torten bedeckt; es schien ein wahrer Ueberfluß an Speise und Trank vorhanden zu sein. Mehrere Zelte waren auch wie Zimmer möblirt, hatten vollständige Betten, Spiegel u. s. w.
Die Leute schienen heiter und friedlich. Diese religiöse Lagermeetings (mein Herzchen, du hast jetzt einem Lagermeeting angewohnt) sind die Saturnalien der Negersklaven. Sie schaudern dabei an Seele und Leib, wozu sie eine natürliche Neigung haben. Doch geschieht dieß hier in Zucht und Ehre. Die Zusammenkünfte sollen in den letzten Zeiten viel an moralischer Haltung gewonnen haben, und die Herren erlauben ihren Dienern und Sklaven denselben anzuwohnen, theils um ihnen ein Vergnügen zu gönnen, theils weil sie oft viel Gutes wirken. Ich konnte nicht das mindeste Anstößige oder Unpassende bemerken, außer wenn man so will die krampfhaften Extasen. Mit dem Leiter der Versammlung, dem achtungswerthen und gefälligen Methodistenprediger Mr. Martin, sprach ich von diesen und er mißbilligte sie, wie ich bereits gehört hatte. „Aber diese starken Aeußerungen, sagte er, scheinen der höchst anregungsfähigen Negernatur anzugehören und diese plötzlichen Bekehrungen, die aus der Aufregung des Augenblickes entstehen, haben das Gute, daß der so Bekehrte gewöhnlich sich an die Kirche und die Priester anschließt, Mitglied einer sogenannten Klasse wird, als solches ordentliche Unterweisung in den Religionslehren, in geistlichen Gesängen und Gebeten erhält und nicht selten nachher ein guter Christ und ordentliches Mitglied der Gesellschaft wird.
Im großen Westen, wie hier im Süden und überall, wo der Staat noch nicht vollständig angebaut ist, sind es Methodisten und Baptisten, die den religiösen Boden aufreißen, indem sie bei den Naturkindern auf die Gefühle und Sinne wirken. Später kommen Calvinisten, Lutheraner und andere, die mehr zum Verstand sprechen. Die Missionäre, welche das Volk versammeln, unter Gottes freiem Himmel zu ihm sprechen und Alles zu benützen verstehen, was die Stunde und die Natur, sowie ihre freie Stellung ihnen an die Hand gibt, können die stärksten Wirkungen hervorbringen, und ich habe merkwürdige Erzählungen von ihrer Fähigkeit die Menge zu rühren, sowie von der Ansteckungskraft der exaltirten Gemüthsstimmung, die zuweilen aufkommt, gehört. Diese Sklavenmeetings währen von 3–7[WS 2] Tagen. Dieses sollte am nächsten Tag aufbrechen und man erwartete für die folgende Nacht eine Menge Bekehrungen. Gleichwohl scheinen diese von unberechenbaren Zufälligkeiten und vielleicht mehr als irgend etwas anderes, von einem hinreißenden Prediger abzuhängen.
Wir brachten noch einige Stunden damit zu, daß wir die geistlichen und materiellen Scenen des Lagers ansahen, im Wald umherwandelten und botanisirten; Mr. Richard pflückte für mich mehrere mir neue Blumen, worunter eine sehr zierliche gelbe Blume, die Safranblume genannt. Nachmittags 5 Uhr kehrten wir mit einem Zug von gewiß 2000 Personen, worunter zwei Drittel Schwarze waren, nach Charleston zurück. Sie sangen auf dem ganzen Weg und waren sehr munter.
Am nächsten Morgen befand ich mich mit einem Körbchen Bananas und Zuckerkuchen, was meine gute Wirthin und Freundin Mrs. Howland für mich zugerichtet, auf dem Weg nach Savannah[WS 3]. Mit ihren Früchten und einem Blumenstrauß von Mrs. Hollbrook fuhr ich allein ab. Doch nicht allein, denn mein Herz war voll. Der Tag war herrlich und die Fahrt den Savannah hinauf, der in tausend Biegungen zwischen zwei Ufern dahinfloß, welche niedrig, aber mit hübschen Baumgruppen, sowie Plantagen mit ihren Hauptgebäuden und saubern Sklavendörfchen geschmückt sind, war eine fortwährende Erquickung für mich. Die Sklavendörfer sind kein erfreulicher Anblick, aber ich hatte bisher weit mehr glückliche, als unglückliche Sklaven gesehen und deßhalb hatte ich keinen düstern Eindruck von ihrem Zustande dahier.
Die Mannnschaſt des kleinen Dampfboots bestand blos aus Sklaven: Negern und Mulatten. Der Kapitän sagte mir, sie seien sehr glücklich, wie auch treu und tüchtig. „Dieser da,“ sagte er, mit dem Blick auf einen ältern Mulatten zeigend, der ein ausgezeichnet schönes, aber, wie mir schien, melancholisches Gesicht hatte, „[WS 4]ist mein vertrautester Diener, und ich wünsche mir an meinem Todtenbett keinen andern als Pfleger und Freund.“ Die Mannschaft sah gut genährt und gehalten aus. — Eine schöne, runde Mulattin sagte, als wir allein waren, halblaut zu mir: „Was sagen Sie zu der Sklavereieinrichtung hier im Süden?“ — „Ich denke,“ sagte ich, „daß die Sklaven im Allgemeinen glücklich und wohlbehalten aussehen.“ — „Ja, ja,“ versetzte sie, „es kann so aussehen, aber …“ und sie warf große bedeutsame Blicke, welche sagen wollten: es ist nicht Alles Gold, was glänzt. — „Sie finden, daß sie nicht gut behandelt werden?“ fragte ich. — „Einige werden allerdings gut behandelt,“ antwortete sie, „aber …“ und sie ließ wieder bedeutsame Blicke umherrollen.
Ich hätte gewünscht, daß sie mehr gesprochen hätte, aber da sie dem Schiff angehörte, so wollte ich nicht mehr fragen. Zur Spionin kann ich mich nicht hergeben, das ist gegen meine Natur, und was ich nicht durch eigene Erfahrung und durch unmittelbare Fügung inne werde, das werde ich nicht inne. Jedenfalls hätte mir die Mulattin schwerlich etwas anderes sagen können, als was ich bereits weiß. Es gibt gute und böse Herrn, glückliche und unglückliche Sklaven, und das Sklaveninstitut ist — — eine große Lüge am Freiheitsleben der Menschheit und besonders der neuen Welt.
An Bord befanden sich einige Personen, die ich kannte, unter ihnen Miß Marie Plumb, ein lebhaftes seelenvolles Mädchen aus dem Staate New-York, die im Winter ihrer Gesundheit wegen in Savannah lebt. Sie hat eine schwache Brust und leidet im Winter sehr in den nördlichen Staaten. Mit südländischer Luft, eigentlich Savannahluft und Homöopathie lebt sie wieder auf. Ich widmete mich so wenig als möglich der Gesellschaft, erfreute mich am Schweigen und an der Flußfahrt, an dem schönen Tag und der stillen, freundlichen Scenerie, welche gegen die Auftritte des vorhergehenden Tages so sehr abstach. Als die Sonne untergegangen war und es, wie gewöhnlich in dieser Breite, schnell dunkelte, sah ich einen hellen, weißen Schein vom südlichen Himmel gegen das Zenith aufsteigen. Man sagte mir, dieß sei das Zodiakallicht. Dieser Schein war nicht flammend, gefärbt und hübsch, wie sehr oft unser Mondlicht, sondern ruhig, mild und sehr hell. Ein ernster älterer Herr, in dessen Gesellschaft ich auf dem Verdeck die Sternbilder betrachtete, sagte mir, daß man später im Sommer am Horizont das südliche Kreuz hervorschimmern und auch den größten Stern des Schiffes Argo sehen könne. Du siehst, daß neue Lichter und neue Sternbilder jetzt über meinem Haupte aufgehen. Ich heiße sie willkommen! — In der tiefen Dämmerung kam ein Boot an unser Schiff gerudert. Mehrere schwarze und ein weißer Mann waren darin. Der weiße kam nach freundlichem Abschied von den Leuten im Boot an Bord, und eine Stimme rief ihm aus demselben nach: „Vergessen Sie uns in der Ferne nicht, Massa!“ — „Nein, nein!“ rief „Massa“ zurück. Erst um halb 12 kamen wir nach Savannah. Mit Miß Plumb, ihrer Schwester und ihrem gefälligen jungen Arzt fuhr ich nach dem größten Hotel der Stadt, Pulawskihaus, so genannt nach dem polnischen Krieger, der im amerikanischen Freiheitskrieg kämpfte und fiel, und dessen Denkmal, ein schöner, weißer Marmorobelisk, auf dem grünen Platz vor dem Hotel, von prächtigen Bäumen umgeben, steht.
Am nächsten Morgen um 7 Uhr saß ich auf der Eisenbahn nach Macon, eine lange, sehr mühsame Tagreise, besonders in der starken Hitze und mit dem Rauch und Staub, der die Eisenbahnwägen füllte. Der Weg ging beständig durch eine magere, sandige Gegend, von Föhrenwäldern bewachsen und beinahe gänzlich unbekannt, außer den Eisenbahnstationen, wo kleine Kolonieen aufzukommen, Handel zu treiben und die magere Erde zu kultiviren begannen. An einigen von ihnen stieg ich aus, botanisirte im Wald und fand verschiedene gelbe Orchideen. Die Unterhaltung unterwegs ging in dem Wagen, wo ich saß, von einem dicken, lustig aussehenden Herrn in Mütze und grauem Rock aus, einer meelsackartigen Gestalt, auf welcher der Kopf rund und beweglich wie ein Kreisel saß; der Mann politisirte nämlich und ließ seinen Zorn gegen den seligen Jefferson aus (den Präsidenten und Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung) und überschüttette ihn laut mit den größten Schmähungen, wobei er sich an einen großen, magern Militär von edlem Aussehen wandte, der auf der andern Seite im Wagen saß und sich an den Ergießungen des Dicken halb zu belustigen schien, obschon er sie zu beschwichtigen suchte. Aber das hieß Oel ins Feuer gießen. „Sir!“ rief der dicke Mann mit Stentorstimme, als der Zug an einem Ort anhielt, „Sir, ich behaupte, daß ohne Tom Jefferson die ganze Union fünfhundertmal weiter gekommen wäre, und Südcarolina wenigstens tausendmal.“ — „Ei, glauben Sie das?“ versetzte der Andere lächelnd. — „Ja, das sage ich, Tom Jefferson war der schlechteste Mann, der noch je an der Spitze eines Volkes gestanden ist; er hat mehr Böses gethan, als alle Präsidenten nach ihm Gutes thun können.“ — „Er hat doch unsre Unabhängigkeitsakte verfaßt,“ sagte der magere Herr. — „Er hat sie gestohlen, Sir!“ rief der Dicke, „er hat sie gestohlen, gestohlen! Ich kann es Ihnen beweisen. Es findet …“ u s. w. Jetzt folgten Beweise und allerlei Reden und Antworten zwischen den beiden Herrn, wobei ich nicht recht nachkommen konnte. Endlich sprang der dicke Herr empor und auf den magern zu, griff mit den Händen fest in zwei Banklehnen und rief, indem er aussah, wie wenn er Posaunen bliese: „Sir! ich betrachte Tom Jefferson als die Zusammensetzung (the compound) von Allem, was schurkisch, gemein, schlecht, verräterisch u. s. w. ist;“ der Hagel von Schimpfreden währte gewiß drei Minuten und endete mit: „Ja, das sage ich, Sir!“ — „Das ist eine starke Sprache, Sir!“ versetzte der Andere, fortwährend ruhig und halb lächelnd. — „Sir!“ rief der Erste wieder von seiner Bank im Wagen her, „Tom Jefferson brachte meinen Vater durch das Embargo in einen Verlust von fünfzigtausend Dollars.“ Und jetzt setzte er sich roth wie ein kalekutischer Hahn und mit einer Miene, als ob sich gar Nichts weiter darüber sagen ließe. Die ganze Gesellschaft im Eisenbahnwagen lachte, obschon nur im Stillen. Und als Tom Jeffersons Gegner bald darauf hinausging, wandte sich der magere Herr zu mir und sagte in seiner gutmüthigen Weise: „Darin lag es! Jefferson war gewiß ein unmoralischer Mann (a bad man); aber er war ebenfalls ein Patriot.“
Eine Schaar von hundert Milizen aus Charleston reiste mit diesem Zug, um den Milizen Georgias in Macon einen Besuch abzustatten. Es war schönes, ruhiges und lustiges junges Volk, das auf jeder Station aus dem Wagen stürzte, um Erfrischungen zu sich zu nehmen, und dann Hals über Kopf wieder hereinrannte. Doch ging Alles ebenso ordentlich als lustig zu. Ein Paar sogenannte Indian mounds, d. h. altindianische Grabhügel, unsern Geschlechtshügeln ähnlich, aber nach oben platter, worin man Gebeine und Waffen findet, waren die einzigen Merkwürdigkeiten unterwegs.
Mit Sonnenuntergang kamen mir nach Macon. Das Land hatte jetzt einen andern Charakter angenommen, man sah grüne Höhen und Thäler, und auf den Höhen glänzten weiße, schöne Landhäuser mit ihren Gärten; überall sah man schöne, stattliche Bäume; wir fuhren über ein Paar kleine Flüsse mit chokolatfarbigem Wasser und laubreichen Ufern; die Stadt lag wie in einen Laubwald eingebettet da. Sie sah jung und romantisch aus, bald im Thal verborgen, bald auf den freien Höhen sich ausstreckend. Sie gefiel mir, und ich war froh da zu sein, überdies hatte ich eine Art milder Freude, mich allein und unbekannt hier zu befinden und im Wirthshaus wohnen zu dürfen. Ich nahm ein Zimmer im Hotel Washingtonhaus, wo ich eine ausnehmend schöne und freundliche Wirthin traf und mir das Vergnügen machte, meinen Staub abzuwaschen, weiße, frische Kleider anzuziehen, sodann ein Glas vortreffliche Milch zu trinken, im Uebrigen aber das Leben und Treiben auf dem Markte, dem größten in der Stadt, auf welchem das Hotel lag, zu betrachten.
Vor 25 Jahren war der Boden, auf welchem die Stadt liegt, und die ganze Gegend rings umher indianisches Gebiet und ein Feld für die Jagden dieser Stämme. Wo ihre wilden Tänze gehalten wurden und ihre Wigwams standen, da steht jetzt Macon mit sechstausend Einwohnern, mit Magazinen und Werkstätten, Hotels und Häusern, die gleich der Bevölkerung jährlich zunehmen, und mitten auf dem großen Markt steht Canovas Hebe auf einem Brunnen und spendet Wasser. Carolinas und Georgias junge Miliz zog heute Abend bei Mondschein mit großer Militärmusik durch die Straßen und über den Markt; alle Fenster waren geöffnet, und das ganze Negervolk strömte aus den Häusern, um diese musizierende und marschierende Jugend zu sehen.
Ich stand am andern Tag früh auf, denn es war ein herrlicher Morgen, die Welt sah jung und morgenfrisch aus, und ich fühlte mich frisch, wie sie. Ich ging mit blos ein Paar Bananas in meiner Alten (Du weißt, daß ich meine kleine Reisetasche so nenne) auf eine Entdeckungsreise aus. Es war noch still in der Stadt; Alles sah neu und frisch aus. Ich ahnte das Jugendleben des Westens. Der blasse Halbmond sank langsam hinab in einem rauchähnlichen Nebel, der den Horizont im Westen umgab; aber über mir war der Himmel vom schönsten Azur. Bäume und Gras glänzten vom Thau in der aufsteigenden Sonne. Ich ging durch die baumbepflanzten Straßen zur Stadt hinaus und kam auf eine große Landstraße; dichter, dunkler Wald war auf beiden Seiten. Ich ging allein; Alles war ruhig und still, aber mein Herz sang. Was ich während meiner ganzen Jugend gewünscht und ersehnt, was ich für mich unerreichbarer geglaubt hatte, als für jeden andern Menschen, eine lebendige Bekanntschaft mit den mannigfaltigen Gestalten des Lebens, das war mir jetzt und zwar in ungewöhnlichem Maaße zu Theil geworden. Wanderte ich nicht jetzt frei, — frei wie Wenige sind — in der freien, großen, neuen Welt, frei Alles zu sehen und kennen zu lernen, was ich nur wollte? War ich nicht leicht und alles Zwanges ledig, wie ein Vogel? Meine Seele hatte Schwingen und die ganze Welt war mein! … Just daß ich so allein bin, daß ich so allein unter Gottes Schutz in der großen, weiten Welt umhergehe und mit ihr Gesellschaft mache, just das flößt mir ein unaussprechliches Gefühl von Frische und Freude ein, und daß ich nicht bestimmt weiß, wohin ich gehe und wo ich bei meinen einsamen Wanderungen landen werde, das macht, daß ich mich auf Entdeckungsreisen fühle und daß Alles für mich so ausnehmend frisch und neu ist.
Ich war jedoch dießmal nicht ganz ohne ein bestimmtes Ziel; ich wußte, daß irgendwo außerhalb Macon ein schöner, neuer Begräbnißplatz, genannt Rosenhügelkirchhof, lag, und es steckte mir im Kopf, daß ich ihn finden müßte. Da indeß der Weg, auf dem ich gekommen war, aussah, als könnte er zum — stillen Meere führen, so beschloß ich, mich in einer Wohnung zu erkundigen, die ich auf einem Hügel abseits vom Wege sah. Es war eines jener weißen, wohlgebauten, angenehmen kleinen Holzhäuser (Frame houses) die man in Amerika so oft auf dem Lande zu Gesicht bekommt. Ich klopfte an die Thüre und sie wurde geöffnet, aber von einer Person, die mich beinahe erschreckte; es war ein junges Frauenzimmer, ziemlich schön, aber in einer so abscheulich schlechten Laune, daß es mir wehe that. Sie sah im höchsten Grad verdrießlich und ärgerlich aus und gab mir barsch genug den Bescheid, zu gehen, so weit der Weg reiche und so ungefähr. Ich ging beinahe verwundert darüber, daß ich an einem so schönen Morgen, in einer so schönen, morgenfrischen Natur ein so unharmonisches Menschengemüth finden sollte. Ach! Menschenfehler und Menschenlaunen sind überall dieselben und können überall das Leben verbittern, in jedem neuen Paradies die Thore des Paradieses verschließen.
Aber traurige Eindrücke wollten an diesem Morgen nicht bei mir haften. Ich ging weiter auf der großen Straße, die jetzt einen Hügel hinanführte. Auf der Höhe gedachte ich mich umzuschauen. Auf der Höhe sah ich jetzt auch rechts ein Gatterthor und vor demselben einen schönen, wohlgehaltenen Park. Ich versuchte das Thor zu öffnen; es ging ohne Widerstand auf und bald befand ich mich im schönsten Park mit Höhen und Thälern, breiten und schmalen Gängen, und überall hohe Bäume, Haine von blühnden, duftenden Gebüschen und Pflanzen. Es währte eine gute Weile, bis ich aus verschiedenen Monumenten sah, daß ich mich auf einer den Todten geweihten Stätte befand, und bis ich ahnte, daß vermuthlich mein kleiner Reisekobold mich zu meinem Ziele, dem Rosenhügelkirchhof, geführt habe.
Indem ich hier in dem stillen einsamen Park umherwandelte, kam ich an einen Fluß, der in weichen Biegungen zwischen Ufern floß, die so schön und jugendlich grünten, wie wir uns in der Jugend die elisäischen Felder denken. Auf meiner Seite des Flusses blickten weiße Marmorsteine zwischen den Hainen hervor und gaben Zeugniß von der Stadt der Todten. Hohe Bäume beugten sich da und dort über das Wasser hin. Große zierliche Schmetterlinge, deren Namen ich nicht kannte, flogen langsam mit glänzenden Schwingen über den Fluß hin und her, von einem Strand zum andern. Ich dachte an die Worte: Und er zeigte mir einen klaren Fluß mit lebendigem Wasser u.s.w. und die ganze Scene war für mich auf einmal ein lebendiges Sinnbild der schönsten Ahnungen des Menschengeschlechts über das Mysterium des Todes. Hier war die Stadt der Todten, hier dicht daneben das lebendige Wasser aus unsichtbaren Quellen strömend, im Lager der Todten von Leben und Auferstehung flüsternd; hier waren Bäume, das herrliche Naturleben, zwölffältige Frucht tragend, und ihr Laub diente zur „Heilung der Leiden“; drüben auf dem andern Ufer waren die glückseligen Gefilde, wo „kein Schmerz und kein Weh sein wird, wo nichts Verfluchtes mehr sein wird, wo das Licht vom Antlitz Gottes Alles beleuchtet;“ und die Schmetterlinge waren Seelen, die jetzt aus irdischen Puppen befreit, auf ihren Schwingen von einem Strand zum andern getragen wurden, frei von allen Blumen des Feldes zu saugen!
Ich setzte mich auf einen Fels, der mit bequemen Absätzen in den Fluß hinausragte und an welchem einige schöne, wilde Pflanzen blühten. Und hier trank ich in tiefen Zügen das Lebenselixir, welches Geist und Natur mir reichte. Eine herrlichere Erquickung konnte der Wanderin nicht geschenkt werden. Und manche von dieser Art habe ich schon erhalten und durfte mich noch gar mancher erfreuen auf meiner Pilgerfahrt.
Ich habe oft gesagt, daß es gut wäre, wenn man die Ruhestätten der Todten an fließendes Wasser verlegen und dieses an ihnen[WS 5] vorbeiführen könnte, denn das Symbol ist schön und in die Augen fallend.
Hier habe ich zum ersten Mal meinen Wunsch erfüllt gesehen. Der Fluß, den ich sah heißt „Ocmulgee,“ ein indianisches Wort für „der schöne.“ Er hat die warme röthliche Farbe (der englischen Sepia und auch der Chokolade gleich, wenn wir sie mit Milch trinken) welche beinahe allen Flüssen des Südens eigen sein soll, vom Rio Colorado in Neumexico an bis zum Savannah und Pee-Dee und andern im Osten; sie soll nämlich von der röthlichen Sanderde herkommen, die in den südlichen Staaten allgemein ist. Diese Farbe sticht inzwischen ungemein schön gegen die reiche, hellgrüne Pflanzenwelt an den Ufern ab. Der Ocmulgee ist übrigens ein reißender, wasserreicher Fluß und verdient seinen Namen in jeder Beziehung.
Nachdem mein Geist sich einigermaßen satt geschaut hatte, dachte ich an meine Bananas und hielt mit ihnen ein köstliches Frühstück. Diese Frucht ist mir sehr wohlthätig. Ich kann sie zu jeder Tagszeit essen und sie ist mir immer gut. Ich glaube, daß ich von ihr allein und von Brod, nota bene vom schwedischen dünnen Brod leben könnte. Ich vermisse dieses hier. Eine kleine Eidechse, die aussah, als ob sie sich sehr über mich besänne, leistete mir Gesellschaft auf dem Fels und wandte ihr Köpfchen bald da bald dorthin, stets die funkelnden Augen auf mich geheftet. Menschen und Wohnungen kamen, so weit ich sehen konnte, nicht zum Vorschein. Es war die tiefste Einsamkeit. Dieser schöne Morgen war der erste Mai. Ich bin begierig zu erfahren, wie es im Thiergarten bei Stockholm aussah.
Gern hätte ich mich in Macon und seiner schönen Gegend einen Tag länger verweilt, aber als ich in mein Hotel zurückkam, machte mir ein gefälliger ehrenwerther Herr, der nach Montpellier ins Seminar reisen wollte, um dort seine Tochter abzuholen, den Vorschlag, in seinem Wagen mit ihm zu reisen. Da ich nicht wußte, ob Bischoff Eliott vom Tag meiner Ankunft in Macon unterrichtet war, und da ich ihm überdieß die Mühe sparen wollte, mich abholen zu lassen (es fährt weder Eisenbahn noch Postwagen nach Montpellier), da ferner der artige Herr ungemein zuvorkommend aussah, so nahm ich dankbar ein Anerbieten an, bat die Wirthin im Hotel um Erlaubniß meinen Koffer dazulassen und saß bald in einer großen, bequemen und luftigen Kutsche höchst behaglich an der Seite meines freundlichen Begleiters. Aber wir waren erst ein Paar Stunden gereist, so begegnete uns eine staubige Reisekalesche und darin saß Professor Scherb, den ich bei Emerson in Concord getroffen hatte und der jetzt Lehrer im Seminar zu Montpellier war. Er kam um, mich zu Eliotts abzuholen. Ich kehrte also mit ihm nach Macon zurück, wo wir die Pferde ausruhen ließen und Scherb nach der mühsamen Morgenfahrt sich erfrischte. Den übrigen Theil des Tages verbrachten wir in großer Hitze auf der Reise nach Montpellier auf Wegen, von welchen Du sagen würdest: Da hört Alles auf! Wegen, die jeder Beschreibung Trotz bieten. Ich glaubte jeden Augenblick, wir müßten umwerfen, und die Brücken sahen aus, als hätten sie lediglich die Bestimmung, Fuhrwerke und Leute in die Abgründe und in die Flüsse hinabzubefördern, über welche sie hingepfuscht waren, denn gebaut kann ich nicht sagen. Es schien, als sei man hier in wildem, neueingenommenem Land. Aber auf Eliotts hübschem Landsitz war Alles wieder wohlgehalten und schön — es war dieß eine Fortsetzung der romantisch üppigen Gegend von Macon — und in dem Bischoff selbst lernte ich eines der schönsten Exemplare jenes alten Cavalierstammes kennen, welcher dem edleren Leben in den Staaten des Südens Ton und Gepräge gegeben hat. Persönliche Schönheit und Würdigkeit, sowie das allergewinnendste Benehmen waren hier durch großen christlichen Ernst veredelt. Bischoff Eliott soll in seiner Jugend ein großer Liebhaber der Gesellschaftswelt, ein Freund von Tanz und Damen, wie auch ein großer Günstling[WS 6] in der lustigen Welt gewesen sein. Seine Bekehrung zu religiösem Ernst soll er schnell und entschlossen bewerkstelligt haben. Er gilt jetzt allgemein für einen der frömmsten Geistlichen im Lande und seine Güte und Liebenswürdigkeit gewinnt alle Herzen. Das meinige gewann er auch, aber davon — nachher. Am Abend des Reisetages saß ich mit ihm und seiner Familie auf der Piazza am Haus und sah die Feuerfliegen in der Luft zwischen den Bäumen und im Gras überall im Parke glänzen. Diese kleinen Insekten gewähren ein Schauspiel,[WS 7] das mich während der dunklen Abende und Nächte bezaubert. Sie sind kleine Schaalthiere, etwas größer und besonders länger als unsere Holzwürmer; wenn sie fliegen, geben sie einen klaren Schein von sich, der schnell leuchtet und wie ein Blitz erlischt, aber bald sich wieder erneut. Es ist dieß ein phosphorisches Feuer und bildet zu dieser Jahreszeit ein unaufhörliches Feuerwerk in der Luft und auf der Erde. Wenn diese kleinen Thiere gequält, ja auch zertreten werden, wie ich in Folge eines Zufalls gesehen habe, so geben sie Licht von sich und funkeln schön, so lange Leben in ihnen ist. Ihr Licht erlischt nicht einmal mit ihrem Leben, sondern überlebt sie noch eine gute Weile.
Die Bischöfin ist ein angenehmes Weibchen, voll von Leben und Geist, dabei wahrhaft musikalisch; sie spielt das Klavier wie die Vögel singen und sie scheint von ihrer indianischen Amme eine ungewöhnliche Feinheit und Vollkommenheit der Organe geerbt zu haben. Ihr Mann sprach oft scherzend davon. Das Haus hat eine ganze Menge Kinder, unter denen der unbändige jüngste Sohn, ein schöner und guter kleiner Junge, der ohne Strümpfe und Schuhe frei herumsprang, mein besonderer Günstling wurde. Die Stimmung im Hause war übrigens jetzt aus verschiedenen Ursachen nicht heiter und der gute Bischof trug sichtlich an einer drückenden Last. Wie angenehm konnte er übrigens nicht während der wenigen Stunden sein, die er dem Umgang und der Unterhaltung widmen durfte! Bei ihm fand ich viel von Emersons Wahrheits- und Schönheitssinn in Ausdruck und Wesen, aber ohne dessen kritische Strenge, und von christlicher Liebe wie von einer schönen Sommerluft durchhaucht. Er ist einer der seltenen Männer des Südens, die mit klarem und vorurtheilsfreiem Blick dem Sklavereiinstitut in sein schwarzes Gesicht schauen. Er glaubt an die endliche Ausrottung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten und er hofft dieses Befreiungswerk vom Christenthum. „Bereits arbeitet es daran,“ sagte er, „das Leben des Negervolkes zu erheben; von Jahr zu Jahr verbessert sich ihr Zustand, sowohl in geistiger, als in physischer Beziehung; bald werden sie in moralischer Beziehung uns gleich werden, und wenn sie uns gleich geworden sind, so werden sie nicht länger unsere Sklaven bleiben können. Ihr nächster Schritt wird dann sein, daß sie uns um Lohn dienen. Und ich kenne verschiedene Personen, die ihre Diener auf diese Weise behandeln.“ — Dieses Gespräch freute mich, denn ich bin überzeugt, daß Eliotts Gesichtspunkt in dieser Beziehung der richtige ist.
Die Examina im Seminar waren bereits beinahe vorüber und ein großer Theil der jungen Mädchen, Blumen aus den südlichen Staaten, schon fort. Gleichwohl bekam ich noch einige zu sehen und hörte ihre Compositionen in Versen und Prosa. Beinahe alle Lehrerinnen waren aus den nördlichen Staaten, die meisten aus Neuengland, und sie waren meistens auch junge, hübsche, einnehmende Mädchen. Am Abend des letzten Examenstages waren sie alle im Hause des Bischofs versammelt. Ich fühlte mich etwas unglücklich, theils von der Hitze, theils weil ich unwohl (wie gewöhnlich fiebermatt) war, theils weil ich das Gesellschaftsleben und seine Pflichten für mich fürchtete. Aber mitten in der Gesellschaft und Hitze bekam ich eine Anwandlung von scandinavischer Laune und veranstaltete das Spiel „Feuerleihen,“ wodurch all diese bisher etwas steifen jungen Mädchen in die munterste und heiterste Bewegung geriethen; auch der Bischof selbst belustigte sich dermaßen daran, daß er herzlich lachte und als wir von unserm Spiel ausruhten, seinerseits mit einem andern stillen, aber recht sinnreichen Spiele begann, bei welchem sein munteres Weibchen und auch er selbst sich auszeichneten. So verging der Abend unter Spielen und Heiterkeit, und ich hatte Hitze und Müdigkeit und Unwohlsein vergessen und begab mich leicht und vergnügt zur Ruhe, vergnügt besonders darüber, daß ich den guten Bischof vergnügt gesehen hatte.
Am nächsten Morgen sollte ich mit dem Bischof Eliott und ein Paar der jungen Mädchen eine Reise antreten. Wir versammelten uns zum Morgengebet, die Familie des Bischofs und ich. Aber wie wurde mir nicht diesen Morgen zu Muth, als ich nach den gewöhnlichen Gebeten (der Bischof und wir alle lagen wie gewöhnlich auf den Knieen), für den Gast, der jetzt in seinem Hause auf Besuch war, beten hörte, ein so warmes, so schönes Gebet, so für mich, als läse er in der Tiefe meines Herzens und wüßte von seinen geheimen Kämpfen, Bestrebungen, Absichten, von den innersten, unablässigen Gebeten meines eigenen Geistes. Ich konnte blos nachher unter Thränen seine Hand zwischen die meinigen drücken.
Mit ihm und den zwei jungen Frauenzimmern fuhr ich hierauf noch einmal auf den unwegsamen Wegen der Wildniß nach Macon, wo wir bei seinem jungen Adjunkten, Mr. S., und dessen schöner junger Frau abstiegen. Denn der Bischof wollte mir nicht erlauben, in mein Hotel zurückzukehren, wie ich gewünscht hatte. Aber unter den jungen Eichen vor dem kleinen Hause hatte ich mit ihm ein Gespräch über die Prüfungen, die einen Christen in gewöhnlichen Verhältnissen, in der gewöhnlichen Welt treffen können, und dieses Gespräch werde ich nie vergessen; denn vieles von dem, was durch meine Seele ging, war auch durch die seinige gegangen, und ich erblickte in ihm einen Kreuzträger, aber größer und geduldiger, als die meisten. Am folgenden Tag, es war ein Sonntag, predigte er in der Episkopalkirche von Macon, einem kleinen, aber schönen Gebäude, wo jetzt einige junge Communicanten zum erstenmal das Nachtmahl empfingen. Eliotts Rede war an diese gerichtet, er weihte sie zur Bahn christlicher Bekenner, zu den Pflichten, Prüfungen und der Größe derselben, zur Dornenkrone und zur Herrlichkeit der Krone — eine vortreffliche Rede, voll Wahrheit in der Auffassung des göttlichen und menschlichen Lebens. Keine glänzende und blendende, blos halbwahre Aphorismen, sondern das reinste Licht, strahlend, weil es rein war, und vollkommen, weil es die ganze Wahrheit aussprach. Nach dem Gottesdienst nahm ich Abschied von dem edeln Eliott und war froh, daß ich ihn und in ihm einen wahren, wie man hier sagt, christlichen Gentleman kennen gelernt hatte. Ich hoffe ihn wieder zu sehen, möglicherweise im Westen,[WS 8] wohin er auf den Herbst zu einer großen Versammlung von Geistlichen reist. Er war jetzt neuerdings von einer Amtsreise nach Florida, den schönen Fluß St. John hinauf, zurückgekommen und sprach von der Ueppigkeit der Blumen und Vögel, so daß ich große Lust bekam, dahin zu reisen. Ich verließ Eliott mit Kummer darüber, daß irdische Bekümmernisse einen so guten, so edlen und liebenswürdigen Mann niederdrücken sollten.
Willst Du jetzt sehen, wo auf der Erdkugel ich mich befinde, so suche mitten im amerikanischen Staat Georgia einen kleinen Fleck mit Namen Macon. Nahe dabei liegt ein zierliches Dorf, aus Landhäusern und Gärten bestehend, mit Namen Vineville, und in einem der schönsten dieser Landhäuser befinde ich mich, bei einer liebenswürdigen und geachteten Banquiersfamilie, namens Munroe, die in der Kirche von Macon nach dem Gottesdienst zu mir kam und mich in ihre Wohnung einlud. Von diesen Beiden will ich der Mama etwas mehr schreiben. Ueberall im Lande, im Süden wie im Norden der Vereinigten Staaten, finde ich dieselbe Herzlichkeit, dieselbe unvergleichliche Gastfreundschaft. Und mein kleiner Reisekobold ist überall bei mir und stellt Alles aufs Beste an, und scheint etwas nicht nach Wunsch zu gehen, so nehme ich es auch wie das Beste an und zweifle nicht daran, daß es so ist und wird. Uebermorgen gedenke ich wieder nach Savannah zu reisen. Der warmen Jahreszeit wegen kann ich meine Reise nicht, wie ich gewünscht hätte, weiter westlich bis nach Alabama ausdehnen. Ich muß sehen, daß ich nach Washington komme, bevor ich zerschmelze.
Wann ich heimzureisen gedenke, meine liebe Agatha? Sobald Du und Mama es wünschen; nächsten Monat, nächste Woche, morgen! … Meine eigenen Wünsche sind zwar seit einiger Zeit etwas ausschweifend gewesen, aber sie ziehen schnell genug wieder ihre Flügel ein. Ich habe nämlich noch einen Winter in diesem Welttheil zu bleiben gewünscht, um gewisse Theile davon und gewisse Sachen zu sehen, über die ich sonst nicht klar werde, und auch von der tropischen Herrlichkeit auf Kuba einen Schimmer zu bekommen. Ich wollte gewissen neuen Eindrücken Zeit zum Reifen lassen, gewissen alten die Zeit, um unter dem Einfluß der neuen Welt zu verschwinden. Meine Kränklichkeit im letzten Winter hat mein Leben hier gelähmt, wenigstens ein Vierteljahr hindurch, während dessen ich blos halb gelebt, oft blos gelitten habe. Aber wie gesagt, dieß ist ein loser Wunsch und bereit vor dem mindesten Windhauch zu fallen, der mich von der Heimath aus riefe. Und dann sehen wir uns auf den nächsten Herbst wieder. Kein Gefühl innerer Nothwendigkeit, demjenigen gleich, das mir gebot hieher zu reisen, gebietet mir noch einen Winter hier zu verweilen. Und mein Wunsch, hier zu bleiben, wird sich auf den ersten ernsten Wink von meinen Theuern in den Wunsch verwandeln, zu ihnen zurück zu kommen. Und ich werde glauben, daß es so am besten ist. Nur ein Wort von Dir und Mama und … ich eile heim zu Euch.
Anmerkungen (Wikisource)
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