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Die Heimath in der neuen Welt/Erster Band/Neunter Brief

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Achter Brief Die Heimath in der neuen Welt. Erster Band
von Fredrika Bremer
Zehnter Brief
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Textdaten
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Autor: Fredrika Bremer
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Titel: Die Heimath in der neuen Welt, Erster Band
Untertitel: Neunter Brief
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Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1854
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Verlag: Franckh
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: Gottlob Fink
Originaltitel: Hemmen i den nya verlden. Första delen.
Originalsubtitel: Nionde brefvet
Originalherkunft: Schweden
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung: Erinnerungen über Reisen in den USA und Cuba
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Neunter Brief.
Boston, den 22. Februar 1850.  

Jetzt, mein artiges Kindchen, will ich ein wenig mit Dir schwatzen und dann das Geschwatz Dir auf der Post zuschicken. Ich kann nicht begreifen, daß ich Dir in dieser ganzen Zeit von vierzehn Tagen nicht geschrieben habe, aber ein Geschäft folgt auf das andere, und die Menschen, das Briefschreiben und viele Dinge nehmen die Zeit weg, und die Tage gehen, ich weiß nicht wie. Ich bin auch in Bezug auf meine Gesundheit nicht ganz kapitelfest gewesen und habe nicht viel thun können. Die guten Allopathen hier (und ich habe jetzt in der letzten Zeit einen der vornehmsten Aerzte von Boston gehabt) vermochten nichts gegen mein Uebel und verderbten mir blos den Magen. Ich nahm meine Zuflucht zur Homöopathie. Aber ich muß Dir erzählen, wie das zuging.

Ich fuhr eines Tags, obschon mir miserabel zu Muth war, in Begleitung oder vielmehr unter Anführung von Charles Sumner aus, um verschiedene öffentliche Anstalten zu besehen. Zuerst das Correktionshaus für Weiber, wo die gefallenen Weiber unter der Aufsicht und Leitung von achtungswerthen Frauenzimmern stehen, und wo ich Ordnung und Anordnung in Allem bewunderte. Ferner ein Narrenhaus für arme Irren. Es war sauber und gut gehalten, aber ach es war armselig gegenüber all dem Comfort und der Schönheit, wodurch sich die Blumenthaler Anstalt für vermögliche Narren auszeichnet. Ein Weib faßte eine heftige Freundschaft für mich umarmte und segnete mich beständig, und verlangte von Andern, sie sollten mich auch segnen. „Sag’, Gott segne sie,“ sagte sie zu Mr. Sumner. Er war im Gespräch mit dem Direktor begriffen und achtete nicht auf ihre Aufforderung. Sie wiederholte dieselbe und sagte endlich mit wilddrohender Stimme: „Sag’ Gott segne!“ „Ja, Gott segne sie,“ sagte jetzt Sumner freundlich mit seiner tiefen, schönen Stimme, und jetzt lächelte meine Freundin und wurde sehr vergnügt. Unter den Männern erkannte Sumner zwei Studiengenossen wieder, gute Köpfe, die ihm in der Mathematik voraus gewesen waren. Jetzt schienen ihre hochgewölbten Stirnen keinen klaren Gedanken zu beherbergen. Einer von ihnen erkannte jedoch den ehemaligen Kameraden, schien aber darüber betrübt und verlegen zu werden. Der Anblick einiger der melancholischen Narren war für mich in meiner damaligen Stimmung beinahe überwältigend.

Vom Narrenhaus mußte ich zu einem Mittagessen hierauf zu einem schwedischen Meeting in einer swedenborgischen Kirche, wo ich wohl 100 Swedenborgianern die Hände schüttelte. Um halb zehn war ich endlich wieder zu Hause, und zum erstenmal an diesem Tage kam eine Empfindung des Behagens und Wohlbefindens über mich. Jedes Gefühl der Mühseligkeit verschwand und ich freute mich, jetzt ein Stündchen ausruhen zu können mit einer Freundin, die mich nach Hause begleitet hatte. Aber da kommt mein Doctor und will mich durchaus in eine Abendgesellschaft führen. Ich bat um Schonung. Ich sagte : „Jetzt erst kann ich ruhen, jetzt erst befinde ich mich wohl am ganzen heutigen Tag. Sie machen es jetzt wie viele Andere; Sie sagen, ich bedürfe der Ruhe und gleichwohl zwingen Sie mich in Gesellschaft zu gehen.“ Es half nichts. Ich konnte meinem Arzt keine abschlägige Antwort geben, und so mußte ich gehen und bis Nachts 12 Uhr bei einer von den eleganten Damen Bostons in Gesellschaft sitzen. Der nervöse Druck kehrte wieder, und ich verbrachte ein Paar qualvolle Stunden, beneidete die Indianer und alle freie Menschen, die im freien, wilden Walde leben. Als ich endlich wieder nach Hause kam, ergriff mich die Furcht vor der schlaflosen Nacht, der ich mit Bestimmtheit entgegensah, und vor dem elenden Tag, von dem ich wußte, daß er darauf folgen würde, wo ich am Leben wie an der schwersten Last schleppe, ohne jedoch krank zu sein oder irgendwo ein bestimmtes Uebel zu empfinden. Da ich nun meine Hände fieberhaft brennen fühlte, so erinnerte ich mich einiger homöopathischer Pillen, die mein Freund Downing, der selbst Homöopath ist, mir einmal gab, als ich sehr erhitzt war, und die mich wunderbar kühlten; ich nahm einige davon auf die Zunge, und schlief diese Nacht so gut, wie ich mehrere Wochen nicht geschlafen hatte. Am folgenden Tag ging ich sobald als möglich zu meinen Freunden in Boston und fragte nach einem homöopathischen Arzt. Eine freundliche, schöne, ältere Dame, Mrs. Clarke, die Mutter der stattlichen Söhne, versprach mir einen Arzt zu schicken. Als ich zur Mittagszeit nach einem Spaziergang in meinen Salon kam, stand da ein hochgewachsener alter Herr mit blassem, charakterstarkem Gesicht, hoher Stirne, kahlem Scheitel, silbergrauem Haar und ein Paar tiefen blauen Augen voll Gefühl und Ernst. Still stand er in seiner schwarzen Kleidung mitten im Zimmer mit beinahe priesterlichem Aussehen und den durchdringenden ernsten Blick auf mich geheftet. Ich weiß nicht, wie es kam, aber es kam so, daß ich vom ersten Augenblick an Vertrauen und Ergebenheit für ihn faßte. Ich ging auf ihn zu, nahm seine Hand zwischen die meinige, schaute ihm in sein blasses, ernstes Gesicht und sagte: „Helfen Sie mir!“ So hilflos, so redlos und arm habe ich mich jetzt eine Zeit lang gefühlt unter der Macht eines mir fremden Leidens, das mich an Seele und Leib lähmte, und allein im fremden Lande, ohne eine andere Stütze als meine Seelen- und Körperkräfte, um das Unternehmen durchzuführen, das ich mir vorgesetzt. Er antwortete mit tiefer Baßstimme, indem er langsam, gleichsam mit einiger Mühe sprach. — — Ach mein Kind, es könnte leicht sehr eitel klingen, wenn ich erzähle, was er antwortete; aber laß mich, dießmal eitel erscheinen. Er sagte: „Miß B.! Niemand kann Ihre „Nachbarn“ gelesen haben, ohne den Wunsch zu hegen, Ihnen zu helfen! und ich hoffe Ihnen helfen zu können.“ — Ich weinte, ich küßte die magere, knochige Hand, die ich hielt, gleich als hätte ich die Hand eines väterlichen Wohlthäters küssen können; ich, fühlte mich weich wie ein Kind. Er gab mir ein weißes Pülverchen, das wie Nichts aussah, und das ich vor Schlafengehen nehmen sollte. Ich nahm es, schlief vortrefflich, und am andern Tage — ach welch ein Gefühl! Alles Wehe war verschwunden; ich fühlte mich wie von Geistesschwingen getragen; ein unnennbar Gefühl von Freude und Gesundheit waltete in meinem ganzen Wesen vor.

Ich ging aus; ich spürte meinen Körper nicht; ich erfreute mich an der Bläue des Himmels, am Tanze der Wogen. Ich konnte sehen, daß die Welt schön war. So war mir lange nicht zu Muth gewesen; und die Gewißheit jetzt ein Hülfsmittel bekommen zu haben, das meine noch frische Kraft und meinen Willen unterstützen könne, machte mich unaussprechlich glücklich. Ich dankte Gott. Und nicht blos meinetwegen, sondern auch um Deinetwillen. Denn ich bin überzeugt, daß nichts für Dich und Deine Schwäche besser taugt, als diese luftige, leichte, beinahe geistige und wunderbar wirkende Medizin. Diese weißen Nichtspülverchen und Pillen, die nach Nichts schmecken und wie Nichts aussehen, wirken mächtig und schnell oft in einer halben oder Viertelstunde. Und ich bitte Dich endlich einen Versuch damit zu machen, wenn Du Dich diesen Winter (wie gewöhnlich im Winter) an Leib und Seele schwach fühlst; alle andere Medizin aber wirf zum Fenster hinaus. Gieb auch Acht auf die Diät, und daß Du keine Sachen issest, die nicht für Dich passen.

Mein Doctor behauptet, mein Uebel komme vom Magen und gehöre zu einer Krankheit, die hier zu Lande sehr gäng und gäbe sei und Dispesie (Verdauungsschwäche) heiße. Er hat eine genaue Diät von mir verlangt, ich soll keine fetten Speisen, nichts Gebratenes, nichts Erhitzendes, keine Sülzen u. s. w. essen. Ich war im Anfang widerspenstig und wollte behaupten, mein Magen sei das Beste, was ich habe. Aber ich habe doch seither zu meiner Verwunderung bemerkt, daß gewisse Speisen auf meinen Zustand einwirken; daß ich z. B. Morgens mit einem Gefühl des Elendes erwache, wenn ich Abends eingemachte Sachen gegessen, und daß ich mich dagegen Morgens ganz gut befinde, wenn ich Abends nichts Süßes und Fettes gegessen habe. Die Schwierigkeit für mich besteht darin, hier im Lande Diät zu halten, und ich überzeuge mich immer mehr, daß das Eßsystem der Bevölkerung ungesund ist und ganz und gar nicht für das Klima paßt, welches erhitzend und stimulirend ist. Man ißt zum Frühstück warmes Brod und mehrere fette und hitzige Sachen, wie z. B. gebratenen Speck, Speckwürste, Omeletten u. s. w.; Abends, besonders bei allen Soupers, ißt man Austern gebraten oder als Salat, und eingemachte Pfirsiche oder auch Gefrorenes. Austern werden in allen möglichen Appreturen im Allgemeinen viel gegessen, und just diese und alle andern Artikel, die ich genannt habe, sind schwer verdaulich und höchst schädlich für schwache Mägen.

Und nun Adieu mit diesem Magen-,[WS 1] Eß- und Medizin-Capitel, das aber für mich und Manche sein großes Interesse hat und ernstlich überlegt werden sollte. Von meinem Doctor muß ich Dir noch sagen, daß er David Osgood heißt, daß er mich täglich besucht und mich mit der größten Zärtlichkeit pflegt, wie auch, daß er mir versprochen hat, mich vollkommen gesund und kräftig zu machen, bevor ich Boston verlasse. Er stammt aus einer alten Puritanerfamilie und ist ein wahres Original; hat eine rauhe Außenseite, aber das allersanfteste beste Herz, und das kann man ihm an den Augen ansehen. Gewisse Arten von Augen können gewiß niemals sterben. Sie müssen sich im Himmel gleich bleiben wie auf Erden. An was ich mich von meinen Freunden am Klarsten erinnere, das sind immer ihre Augen, ihre Blicke. Ich bin überzeugt, daß ich bei der Auferstehung meine Freunde an ihren Augen erkennen werde.

Jetzt muß ich Dir von Concord erzählen und von der Sphinx in Concord, Waldo Emerson. Denn nach Concord reiste ich vor 5 Tagen, begleitet von — ihm selbst. Es war mir miserabel zu Muthe, ich weiß nicht ob von etwas, das ich am Abend gegessen hatte, oder von der bloßen Erschütterung der Reise nach einer neuen Heimath, deren Vorgefühl mich nicht hatte schlafen lassen. Fiebermatt und niedergeschlagen saß ich an der Seite des starken Mannes; still und ohne auch nur ein Wort sagen zu können, drehte ich maschinenmäßig den Kopf, als er mir einige historisch merkwürdige Stellen bezeichnete. Und er sah wohl, wie es mit mir stand und ließ mich schweigen. Fiebermatt und mit einem Gefühl, als wollte ich auseinanderfallen, war ich den ersten Abend in Emersons Haus; dann aber — waren es einige weiße Nichtspülverchen, oder die reine, schneefrische Luft (wir hatten einen recht schönen schwedischen Winter in Concord), oder war es die Anwesenheit dieses starken und stärkenden Geistes, in dessen Wohnung ich mich befand, oder wirkte alles das zusammen — kurz, es besserte sich mit mir, ich fühlte mich leicht und wohl. Und während meines 4tägigen Aufenthalts in Emersons Haus machte es mir einen wahren Genuß, diese starke, edle, adlerartige Natur zu betrachten. Die Berührung war indeß unvollkommen, denn unsere Naturen und Ansichten sind im Grund allzu ungleich und die heimliche Feindschaft gegen ihn, die neben meiner Bewunderung in mir lebt, bricht sich mitunter Bahn und ruft leicht seine zurückhaltende, kalte Eisalpennatur hervor. Aber dieß ist nicht sein ursprüngliches Element, er gedeiht nicht recht darin, er gibt es gerne auf, wenn er kann, und befindet sich, das sieht man, wohl in einer milden und sonnigen Atmosphäre, wo die natürliche Schönheit seines Wesens frei athmen und blühen kann, von Andern berührt, wie von einem belebenden Winde.

Es war mir ein Genuß, ihn in seinem Wesen, seinen Ausdrücken, seinen Reden, seinem Alltagsgange zu betrachten, wie es mir ein Genuß war, den ruhigen Lauf des Flusses zu betrachten, der große und kleine Schiffe zwischen blumenreichen Ufern dahin trägt, wie ich es liebe, den Adler am Himmel kreisen zu sehen, auf ihm und auf seinen Schwingen ruhend. Aus dieser ruhigen Hoheit läßt sich Emerson durch Nichts reißen, es sei groß oder klein, es sei glücklich oder unglücklich. In seiner philosophischen Anschauung ist Emerson Pantheist, in seiner moralischen Ansicht von der Welt und dem Leben ist er in hohem Grad rein, edel und streng, macht bedeutende Ansprüche an sich selbst und an Andere. Seine Worte sind streng, seine Urteile oft schneidend und scharf, aber sein Wesen ist ebenso edel und lieblich, seine Stimme immer gleich schön. Man kann mit Emersons Gedanken, mit seinem Urteil hadern, aber nicht mit ihm selbst. Was ihn nach meiner Ansicht hauptsächlich vor den meisten Menschen auszeichnet, das ist das Edle. Er ist ein geborner Edler. Ich habe schon früher einige Männer gesehen, die mit diesem Gepräge geboren sind. Seine Exzellenz W—r in Schweden und — noch ein paar Andere. Emerson besitzt es vielleicht in noch höherem Grade und dazu diese tiefen Intonationen der Stimme, dieser zugleich so milde und schwungvolle Ausdruck; — ich mußte an Maria L—s Aeußerung denken: Wenn er nur meinen Namen nennt, so fühle ich mich geadelt.

Ich erfreute mich auch an Emersons Gespräch, das so ruhig und leicht hinfließt, wie ein tiefer, stiller Fluß. Es ist für mich belebend in Freud und Leid; in allem, was er sagt, ist immer etwas Bedeutendes, auch hört er die Andern wohl an und versteht und antwortet gut. Aber war es nun geistige Mattigkeit, oder auch ein Gefühl der Achtung für seinen Frieden und seine Freiheit, ich suchte sein Gespräch nicht. Wenn er kam, so war es gut, wenn er nicht kam, so war es auch gut, besonders wenn er nur im Zimmer war. Seine Gegenwart war mir angenehm.[WS 2] Er war liebenswürdig in seiner Aufmerksamkeit gegen mich und in der Art und Weise, wie er mich als Fremdling und Gast in seinem Hause unterhielt. Eines Nachmittags las er mir aus seinen manuscriptlichen Notizen über England die Passage von seiner Unterredung mit Thomas Carlyle, (dem einzigen Mann, von dem ich Emerson mit Vergnügen und mit einer Art von Bewunderung sprechen hörte) über das junge Amerika, sowie die Erzählung seiner Reise mit ihm zu Stonehenge[WS 3] vor. Dieß gehörte zu den Sachen, die ich nie vergesse. So stark Emersons kritischer Sinn ist und so viel Mängel er an den Menschen und Sachen findet, da er sie immer nach dem Ideal mißt, so stark ist auch sein Glaube an die Macht des Guten und dessen endlichen Sieg in der Weltordnung. Und was edler Republikanismus und Amerikanismus und edles Verhalten im Staate und dem Umgangsleben ist, das versteht er wohl. Aber den Grund, die Leben und Kraft gebende Quelle — ja die sieht Emerson blos in des Menschen eigenem reinen Bewußtsein. Er glaubt an die ursprüngliche Reinheit und Herrlichkeit dieser Quelle und will blos alles, was sie verstopft oder trübt, alles Conventionelle, Unwahre und Erbärmliche wegschaffen.

Zu einer liebenswürdigen Frau, einer großen Freundin Emersons und dabei mit einem starken, religiösen Gefühl begabt, sagte ich: „Wie können Sie ihn so innig lieben, da er das Höchste, was Sie lieben, nicht liebt und nicht daran glaubt?“ — Sie antwortete: „Er ist so fehlerfrei und dann — ist er liebenswürdig.“

Liebenswürdig war auch er in seinem Heimwesen und in seinen häuslichen Verhältnissen anzusehen. Du sollst mehr von ihm hören, wenn wir uns wieder treffen, und seinen kräftigen schönen Kopf sollst Du in meinem Album unter mehreren amerikanischen Bekannten zu sehen bekommen. Ich fühle, daß seine Bekanntschaft eine tiefe Spur in meiner Seele hinterlassen wird. Ich könnte wärmere Sympathien, ein größeres Interesse für Gesellschaftsfragen, die das Wohl der Menschheit berühren, mehr Gefühl für den Kummer und das Leiden auf Erden von ihm begehren. Aber welches Recht hat wohl das Quellwasser, das bei jedem Hauch des Windes zittert, mit dem Granitfelsen zu hadern, daß er anders gemacht ist? In solchen Brüsten wachsen starke Metalle. Laßt die Quellen schweigen und sich damit begnügen, daß sie in ihrer Schwachheit doch den Fels, die Blumen, das Firmament und die Sterne abspiegeln und wachsen und ihr Leben durch die unsichtbaren Quellen verstärken, durch welche die Bergeshöhen ihnen zu trinken gaben.

Aber ich muß Dir ein paar Proben von Emersons Styl und seiner Art zu sehen und zu fühlen, die mir am Meisten zusagt, zum Besten geben. Ich will ein paar Stellen aus seinen „Versuchen“ nehmen, die für alle Menschen, alle Länder und Zeiten passen, und Theile und Tropfen der Eisenader sind, welche sich durch Alles zieht, was E. spricht und schreibt, denn sie ist Leben von seinem Leben.

In seiner Abhandlung über Selbstvertrauen (self-reliance) sagt er:

„Euere eigenen Gedanken zu glauben, zu glauben, daß das, was für Euch in eurem individuellen Herzen wahr ist, auch für alle Menschen wahr sei — das ist Genie. Sprecht eure inwohnende Ueberzeugung aus und sie wird zum allgemeinen Verstand werden; denn das Innerste wird seiner Zeit auch das Aeußerste und unsre ersten Gedanken werden uns von den Posaunen des jüngsten Gerichts wiedergegeben werden. Das höchste Verdienst, das wir einem Moses, Plato und Milton zuschreiben, ist das was jeder Mensch als die Stimme seiner eigenen Seele wieder erkennt, nämlich Bücher und Traditionen gering zu achten, und auszusprechen, nicht was andere Menschen, sondern was sie selbst gedacht haben. Ein Mann sollte den Strahl von Licht, der aus seiner eigenen Seele blitzt, entdecken lernen und darüber mehr wachen, als über den Glanz vom Sternenhimmel der Barden und Weisen. Gleichwohl läßt er seinen Gedanken unaufmerksam liegen, weil er der seinige ist. In jedem Werk des Genies erkennen wir unsere eigenen verworfenen Gedanken wieder: sie kommen da mit einer gewissen fremden Majestät wieder zu uns. Große Kunstwerke haben uns keine tiefere Lehre mitzutheilen als diese. Sie lehren uns bei unserem ursprünglichen Eindruck festzustehen mit gutmüthiger Unbeugsamkeit und hauptsächlich dann, wenn der Ruf aller Stimmen auf der andern Seite erschallt. Sonst wird morgen ein Fremder mit meisterhaft gesunder Vernunft genau Das sagen, was wir die ganze Zeit gedacht und gefühlt haben, und wir werden genöthigt sein mit Scham unser Urtheil von einem Andern zu empfangen. — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Verlaß Dich auf Dich selbst: jede Seele vibrirt mit dieser eisernen Saite. Benützet den Raum, welchen die göttliche Vorsehung für Euch gefunden hat, die Gesellschaft Eurer Zeitgenossen, die Folgen der Ereignisse. Große Männer haben immer so gethan und sich kindlich dem Genius ihres Zeitalters anvertraut; ihren Glauben kund gebend, daß das äußerste Gewisse in ihre Herzen niedergelegt sei, durch ihre Hände wirkend, ihr ganzes Wesen beherrschend. Und wir sind jetzt Männer und müssen dasselbe hohe Schicksal im höchsten Sinn aufnehmen. Wir sollen nicht unmännlich, noch invalid, wir sollen keine Feiglinge sein, die vor einer Revolution fliehen, sondern Wegweiser, Aufrichter und Wohlthäter, gehorsam der allmächtigen Arbeit und das Chaos und die Finsterniß bezwingend.

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„Wer ein Mann bleiben will, muß ein „non conformist“ bleiben. Wer unsterbliche Palmen sammeln will, muß sich nicht im Namen der Gottheit verhindern lassen, sondern muß vorher untersuchen, ob es eine Gottheit gibt. Nichts ist am Ende heilig außer der Rechtschaffenheit Eurer eigenen Seele. Gebt Euch selbst Zeugniß vom Rechten, wenn Ihr zuletzt das Zeugniß der ganzen Welt haben wollt.“

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„Eine thörichte Consequenz ist das Steckenpferd kleiner Seelen, angebetet von kleinen Staatsmännern, Philosophen und Geistlichen. Mit Consequenz hat eine große Seele ganz einfach nichts zu schaffen. Sprecht in derben Worten aus was ihr heute denkt und morgen sprecht wieder in derben Worten aus, was ihr morgen denkt, wenn es auch allem widerstreitet, was ihr heute gesagt habt. „O, aber das könnte mißverstanden werden.“ Ist es denn ein so großes Unglück mißverstanden zu werden? Pythagoras wurde mißverstanden und Sokrates und Jesus und Luther und Kopernikus und Galilei und Newton und jeder reine Geist, der sich je im Fleisch offenbarte. Groß sein heißt mißverstanden werden.

Ich nehme an, daß Niemand seiner Natur Gewalt anthun kann. Alle Kundgebungen seines Willens sind von dem Gesetz für sein Wesen eingegrenzt, gleichwie die Unebenheiten in den Gebirgsketten der Anden und der Alpen unbedeutend sind in dem Weltenrund. Der Charakter bestimmt mehr als unsern Willen. Wir gelten für das was wir sind.

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Es muß eine Uebereinstimmung in allen Wechseln der Handlungen sein; wenn nur jede in ihrem Augenblick redlich und natürlich ist. Eine Tendenz vereinigt sie alle.

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„Die instinktive Einsicht (perception) ist nicht willkürlich, sondern fatalistisch. Wenn ich einen Zug sehe, so werden meine Kinder nach mir ihn sehen und nach ihnen die ganze Menschheit, obschon es geschehen kann, daß vor mir ihn Niemand gesehen hat. Meine Wahrnehmung desselben ist ebenso gut eine Thatsache wie die Sonne.

Das Verhältniß der Seele zum göttlichen Geist ist so rein, daß es eine Entweihung ist einen Mittler oder Helfer einführen zu wollen. Wenn die Gottheit spricht, muß sie nicht ein Ding mittheilen, sondern alle Dinge, muß Alles aufs Neue schaffen. Wenn nun eine Seele einfach ist und göttliche Weisheit empfängt, so müssen alte Dinge vergehen, Mittel, Lehrer, Texte, Tempel fallen. Alle Dinge sind geheiligt durch ihr Verhalten dazu, das eine so gut wie das andere.“

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„Aber auch starke Intelligenzen wagen noch nicht auf Gott selbst zu hören, wenn er nicht gleich einem David, Jeremias oder Paulus spricht.

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Wenn wir der Wahrheit gemäß leben, so werden wir der Wahrheit gemäß sehen. Wenn wir eine neue Einsicht bekommen, so werden wir freudig die Erinnerung und aufgehäufte Schätze von Einsichten als alten Plunder wegwerfen. Wenn ein Mensch mit Gott lebt, so muß seine Stimme so lieblich werden, wie das Murmeln des Baches und das Säuseln des Kornes.“

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„Diese Rosen vor meinem Fenster deuten nicht auf vorhergehende oder bessere Rosen, sie sind für das da, was sie sind. Sie leben mit Gott heute.“

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„Der Mensch kann nicht glücklich werden, bevor er auch mit der Natur in der Gegenwart über der Zeit lebt.“

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„Das letzte Faktum ist, daß alle in dem ewig gesegneten Einen aufgehen. Das Selbstdasein ist das Attribut der höchsten Ursache und dieß macht das Maß des Guten aus nach dem Grad, in welchem es in alle niedrigeren Formen eingeht. Alle wirklichen Dinge sind so durch die Tugend, die sie in sich haben.“

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„Laßt uns nicht umherstreifen. Laßt uns daheimsitzen mit der Ursache. Laßt uns dem eindringenden Haufen von Menschen, Büchern und Institutionen Einhalt thun und ihn in Verwunderung setzen durch eine einfache Erklärung des göttlichen Faktums. Bittet die Eroberer die Schuhe von ihren Füßen zu nehmen, denn Gott ist hier und das ist eine heilige Stätte. Laßt unsre Einfachheit über sie urtheilen und unsern Gehorsam gegen unser eigenes Gesetz die Armuth aller Dinge neben unserem eingeborenen Reichthum beweisen.“

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„Wir müssen allein gehen. Ich liebe die stille Kirche vor dem Gottesdienst mehr als irgend eine Predigt. Wie fern, wie kühl, wie keusch sehen nicht die Menschen aus, wenn sie jeder mit dem Heiligthum umgürtet sind. So laßt uns immer sitzen. Aber eure Vereinsamung muß nicht mechanisch sein, sondern geistig, d. h. sie muß eine Erhebung sein.

Die Macht, welche die Menschen haben mich zu quälen, gebe ich ihnen durch meine Schwachheit. Niemand kann mir nahe kommen außer durch meine Handlung. Was wir lieben, das besitzen wir, aber durch die Begierde rauben wir uns was wir lieben.

Wenn wir nicht auf einmal zu den Heiligthümern des Glaubens und Gehorsams emporsteigen können, so laßt uns wenigstens unsern Versuchungen widerstehen; laßt uns in den Kriegszustand eingehen und Thor und Odin, Muth und Festigkeit in unserer Brust wecken. Dieß geschieht in unsern weichen Zeiten dadurch, daß man die Wahrheit spricht. Weg mit dieser lügenhaften Gastfreiheit, dieser lügenhaften Ergebenheit. Leben wir nicht länger nach der Erwartung dieser betrogenen und betrügenden Leute, mit denen wir umgehen. Sagt ihnen: O Vater, o Mutter, o Gattin, o Bruder, o Freund, ich habe bisher nach dem Schein mit Euch gelebt. Hinfort gehöre ich der Wahrheit an. Von diesem Augenblick an gehorche ich keinem Gesetz, außer dem ewigen Gesetz. Ich will mich bemühen, meine Eltern zu ernähren, meine Familie zu erhalten; aber diesen Verhältnissen muß ich auf einem neuen Wege nachkommen. Ich appellire von den angenommenen Gebräuchen. Ich muß ich selbst sein. Wenn Ihr mich für das lieben könnt, was ich bin, so werden wir um so glücklicher sein, wenn Ihr es nicht könnt, so werde ich gleichwohl es zu verdienen suchen; ich werde meine Liebe oder meinen Widerwillen nicht verhehlen. Ich werde mich auf das was tief und heilig ist, so fest verlassen, daß ich kräftig vor Sonne und Mond ausführen werde, was mich innig erfreut und was mein Herz mir befiehlt. Wenn Ihr edel seid, so werde ich Euch lieben; wenn Ihr es nicht seid, so werde ich Euch und mir selbst nicht schaden durch erheuchelte Aufmerksamkeit. Wenn Ihr wahr seid, aber nicht in derselben Wahrheit wie ich, so bleibt bei Euresgleichen, ich werde meine eigene suchen. Ich thue dieß nicht in Selbstsucht, sondern in Wahrheit und Demuth. Es ist ebenso sehr euer Interesse, wie das meinige und das aller Menschen in Wahrheit zu leben, wie lange ihr auch in der Lüge gelebt haben möget. Lautet dieses hart heute? Ihr werdet bald lieben, was von eurer Natur wie von der meinigen vorbuchstabirt ist, und wenn wir der Wahrheit folgen, so wird sie uns zuletzt in den guten Hafen führen. — „Aber auf diese Art werden sie diesen Freunden wehe thun.“ Ja, aber ich kann meine Freiheit und meine Macht nicht verkaufen, um ihre Empfindlichkeit zu schonen. Ueberdieß haben alle Menschen ihre Augenblicke der Vernunft, wenn sie in das Reich der absoluten Wahrheit hinaussehen. Dann werden sie mich rechtfertigen und dasselbe thun. Die Menge glaubt, daß eure Verwerfung der populären Richtschnur eine Verwerfung alles Gesetzes sei. Und der freche Sensualist wird sich des Namens der Philosophie bedienen, um seine Lüste zu verfolgen. Es gibt zwei Beichtstühle und in einen von ihnen müssen wir hineineingehen. Ihr könnt eure Schuldigkeiten auf einem direkten oder reflektirten Wege erfüllen. Besinnt Euch, ob Ihr Eure Schuldigkeiten gegen Vater, Mutter, Vetter, Nachbar, Stadt, Katze und Hund erfüllt und ob Jemand von ihnen Euch etwas vorwerfen kann. Aber ich kann auch diese reflektirte Norm vergessen und mich selbst absolviren. Ich habe meine eigenen ernsten Forderungen, meine vollkommenen Zirkel. Sie verweigern manchen Handlungen, die Schuldigkeiten genannt werden, den Namen Schuldigkeit. Aber wenn ich diese Schulden abwerfen kann, so kann ich es entbehren den angenommenen Gebräuchen zu folgen. Wenn Jemand glaubt, daß dieses Gesetz schwankend sei, so laßt ihn sein Gebot einen Tag halten.

Und in Wahrheit, er verlangt etwas Göttergleiches von dem, der die gewöhnlichen Motive der Menschheit abgeworfen und es gewagt hat, sich auf sich selbst als Wegweiser zu verlassen. Hoch muß ein Herz sein, zuversichtlich sein Wille, klar sein Blick, so daß er sich selbst Lehre, Staat, Gesetz sein kann, und daß ein einfacher Vorsatz für ihn so viel sein kann, wie für andere die eisenharte Nothwendigkeit.

Wenn Jemand das Aussehen dessen, was jetzt vorzugsweise die Gesellschaftswelt genannt wird, ernstlich betrachten will, so wird er das Bedürfniß einer solchen Sittenlehre sehen.“

Ich füge hinzu, daß wenn Jemand die Menschennatur, so wie sie gewöhnlich ist, ernstlich betrachten will, so wird er leicht finden, daß Emersons Moral einbildische und selbstsüchtige Wesen hervorbringen würde, daß sie in ihrer Ganzheit blos für Ausnahmsnaturen taugt, die aus einem einzigen Gusse und schön sind wie seine eigene. Was er im Allgemeinen mißkennt, das ist der eingewurzelte Dualismus der Menschennatur. Gleichwohl wie frisch, wie stärkend kommt nicht dieser Ruf zu uns: Sei wahr, sei du selbst! Zumal von einem Manne, der Proben abgelegt hat, daß man in dieser Wahrheit alle menschlichen Pflichten als Sohn, Bruder, Vater, Freund und Bürger erfüllen kann.

Aber ein wahrer Christ thut das Alles und dann noch etwas mehr.

Ich muß Dir auch ein Paar Proben von Emersons Lehren über das Verhältniß zwischen Freunden und über Freundschaft geben, denn ich fühle, daß diese in mir fortleben und wie günstiger Wind auf einen Weg, den ich seit einiger Zeit für mich gewählt habe, wirken werden.

„Wenn es möglich wäre, im rechten Verhältniß zu den Menschen zu leben! wenn wir uns enthalten könnten, etwas von ihnen zu verlangen, ihr Lob, ihre Hülfe und Theilnahme zu begehren, und wenn wir uns damit begnügen, sie durch die Kraft der ältesten Gesetze zu bezwingen! Könnten wir nicht mit einigen wenigen Personen, mit einer einzigen Person nach den ungeschriebenen Bestimmungen umgehen, und einen Versuch mit ihrer Tauglichkeit machen? Könnten wir nicht unserem Freund den Achtungsbeweis der Wahrheit, des Schweigens, der Erwartung geben? Müssen wir so eifrig sein, ihn zu suchen? Wenn wir Verwandte sind, so werden wir uns begegnen. Es war eine Sage in der alten Welt, daß keine Metamorphose einen Gott vor einem Gott verbergen könne. Auch Freunde folgen einem göttlichen Gesetz der Nothwendigkeit. Sie gravitiren zu einander und können nicht anders. Ihr Verhältniß ist nicht gemacht, sondern gegeben.“

Die Gesellschaft ist verwöhnt, wenn man sich Mühe gibt, sie zusammenzubringen. Und wenn das keine Gesellschaft ist, so ist es eine niedrige, erniedrigende Zusammenkittung, wenn sie auch von großen Geistern gebildet wird. Die individuelle Größe jeder Person ist vorenthalten und die Schwachheit einer jeden ist in Wirksamkeit; es ist als ob die Götter des Olymps zusammenträfen, um Schnupftabaksdosen auszulauschen. In edeln Verhältnissen ist der Augenblick alles.

Eine göttliche Person ist die Prophezeihung der Seele; ein Freund ist die Hoffnung des Herzens. Unsere Seligkeit wartet auf die Erfüllung beider in Einem. Die Zeiten beginnen sich vor dieser moralischen Kraft zu öffnen. Alle Stärke ist ein Schatten oder ein Symbol derselben. Die Poesie ist freudig und stark, wenn sie ihre Eingebung von ihr schöpft. Die Menschen drücken ihren Namen der Welt auf, je nachdem sie von ihr erfüllt sind. Die Geschichte ist gemein, die Nationen sind Pöbelhaufen gewesen; wir haben noch nicht einen einzigen Mann gesehen. Wir kennen diese göttliche Gestalt noch nicht, sondern blos den Traum und die Prophezeihung von ihr. Wir kennen die majestätischen Geberden nicht, die ihm angehören und die den Beschauer zugleich erheben und beruhigen. Wir werden eines Tages sehen, daß die individuellste Energie auch die wirksamste im Allgemeinen ist, daß die Qualität die Quantität ersetzt und daß Charaktergröße auch im Finstern wirkt und Denjenigen hilft, welche sie nie gesehen haben. Die Geschichte von den Göttern und den Heiligen, von welchen die Welt geschrieben und sie dann verehrt hat, sind Dokumente für Charakter. Die Zeitalter haben das Wesen eines Jünglings gepriesen, der dem Glück nichts schuldete, der im Tyburn seiner Nation hingerichtet wurde, der durch die reine Art seiner Natur einen epischen Glanz über die Zufälligkeiten bei seinem Tode geworfen, der jede derselben in ein universelles Symbol für das Menschengeschlecht verwandelt hat. Diese große Niederlage ist bis jetzt unser höchstes Faktum. Aber die Seele bedarf eines Sieges auch für die Sinne[1], eine Charakterstärke, welche den Richter, die Geschworenen, die Soldaten, den König belehren wird, welche die: animalischen und mineralischen Kräfte lenken und sich mit den Bahnen des Saftes, der Ströme, der Winde, der Sterne und der moralischen Agentien vermischen wird[2].

„Wenn wir diese Größen nicht mit einem einzigen Sprung erreichen können, so laßt uns sie ehren. Ich kann meinen Freunden den Fehler nicht verzeihen,[WS 4] daß sie einen edlen Charakter verkennen und ihn nicht[WS 5] mit dankbarer Gastfreundschaft unterhalten. Wenn das, was wir immer ersehnt haben, endlich kommt und uns mit freudigen Strahlen aus dem fernen himmlischen Lande bescheint, dann grob zu sein, dann kritisch zu sein, einen solchen Gast mit dem Geschwatze der Straßen und Mißtrauen zu empfangen, das beweist eine Gemeinheit, welche die Pforten des Himmels verschließt. Es beweist Verwirrung und wirklichen Wahnsinn, wenn die Seele ihr eigenes Selbst nicht mehr kennt und nicht mehr weiß, wohin ihr Gehorsam und ihre Verehrung gehört. Wo nur immer in der Wüste des Daseins der heilige Gedanke, den wir lieben, Blüthen getrieben hat, da blüht er für mich. Wenn Niemand es sieht, ich sehe es; ich fühle, ob auch allein, die Größe dieses Faktums. Während er blüht, will ich Festtag halten und aufhören mit meinen Grübeleien, meinen Thorheiten, meinen Launen. Die Natur ist getröstet durch die Gegenwart eines solchen Gastes. Vieler Augen können Alltagstugenden entdecken und ehren; es gibt Viele, die das Genie auf seiner sternenbesäten Bahn aufzuspüren vermögen; aber wenn die Liebe, die Alles duldet, Allem entsagt, Alles erfüllt, die sich selbst gelobt hat, daß sie lieber ein Thor und ein Elender in der Welt sein, als ihre weißen Hände durch Nachgiebigkeiten beflecken wolle, wenn sie in unsere Straßen und Häuser kommt, dann können bloß die Reinen und Emporstrebenden ihr Antlitz kennen, und der einzige Achtungsbeweis, den sie ihr zu geben vermögen, ist sie zu erkennen.“

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„Der höchste Achtungsbeweis, welchen der Mensch je vom Himmel empfängt, ist daß er ihm seine verkleideten und verleumdeten Engel schickt.“[WS 6]

Von der Freundschaft sagt Emerson:

„Freundschaft fordert das seltene Mittelding zwischen Gleichheit und Ungleichheit, das jeden der Theile durch das Dasein von Macht und Zustimmung bei dem andern anreizt. Laß mich lieber bis ans Ende der Welt allein sein, als daß mein Freund mit einem einzigen Wort oder Blick seine wirkliche Sympathie überschritte. Ich werde von der Nachgiebigkeit ebenso abgestoßen wie von der Bekämpfung. Laß ihn keinen Augenblick aufhören er selbst zu sein. Die einzige Freude, die ich darüber habe, daß er mein ist, besteht darin, daß dieser Meine nicht das Meinige ist. Ich hasse es, da wo ich ein männliches Befördern oder wenigstens einen männlichen Widerstand erwartete, einen Mischmasch von Nachgiebigkeit zu finden. Besser eine Nessel in der Seite eines Freundes, als sein Echo sein. Die Bedingung, welche hohe Freundschaft fordert, ist das Vermögen, ohne sie zu sein. Dieses hohe Amt erheischt große und erhabene Eigenschaften. Es müssen ganz entschiedene Zwei sein, bevor vollkommen Einer werden kann. Laß einen Bund sein zwischen zwei großen, mächtigen Naturen, die sich gegenseitig angeschaut, gegenseitig gefürchtet haben, bevor sie die tiefe Identität erkennen, welche sie bei all diesen Verschiedenheiten vereinigt.“

„Nur derjenige taugt für diese Gesellschaft, der großsinnig ist, der gewiß ist, daß Größe und Güte allzeit spärlich vertheilt sind; der sich nicht voreilig in das Schicksal einmischen will. Laß ihn sich nicht darein mischen. Laß dem Diamant seine Zeitalter, um zu wachsen, und erwarte nicht die Geburt des Ewigen zu beschleunigen. Die Freundschaft verlangt eine religiöse Behandlung. Wir sprechen davon unsre Freunde zu wählen, aber Freunde sind selbsterwählt. Verehrung hat einen großen Theil daran. Behandelt Euern Freund wie ein Schauspiel. Natürlich hat er Verdienste, die nicht Euer sind, und die Ihr nicht ehren könnt, wenn ihr ihn Eurer Person zu nahe haltet. Steht auf die Seite; gebt diesen Eigenschaften Raum; laßt sie steigen und sich erweitern. Seid Ihr Freund der Rockknöpfe Eures Freundes oder seiner Gedanken? Für ein großes Herz wird er in vielen Dingen ein Fremdling sein, damit er ihm auf dem heiligsten Grund nahe kommen kann. Ueberlaßt es Knaben und Mädchen, einen Freund als ein Eigenthum zu betrachten und daraus ein kurzes, verworrenes Vergnügen zu ziehen, statt des edelsten Vortheils.“

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„Ein Freund ist eine Person, mit welcher man wahr sein kann. Vor ihm kann ich laut denken. Ich bin endlich vor einen Menschen gekommen, der so wahr und so mir gleich ist, daß ich auch die äußersten Hüllen von Schein, Formhöflichkeit und Achtsamkeit abwerfen darf und mit ihm so ganz und so einfach umgehen kann, wie ein chemisches Atom mit dem andern zusammentrifft.“

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„Laßt uns unsern Eintritt in diese Innung durch eine lange Prüfung erkaufen. Warum sollten wir edle und schöne Seelen dadurch entweihen, daß wir auf sie eindringen? Warum schnelle persönliche Verhältnisse zu einem Freund fordern? Warum in sein Haus gehen oder seine Mutter, seine Schwestern und Brüder kennen lernen? Warum verlangen, daß er das eurige besuchen soll?“

„Sind diese Dinge von Wichtigkeit in eurem Bunde? Fort mit dieser Berührung, diesem Ankleben! Laßt ihn für mich einen Geist sein. Eine Botschaft, ein Gedanke, eine Aufrichtigkeit, ein Blick ist es was ich von ihm bedarf, aber keine Neuigkeiten, keine Suppe. Politik und Geschwatze und Liebesbedürfnisse kann ich wohlfeil von Bekannten bekommen. Sollte nicht die Gesellschaft meines Freundes für mich poetisch, rein, universell und groß sein wie die der Natur? Laßt uns den Maßstab nicht zu niedrig, laßt uns ihn nicht zu hoch nehmen.“

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„Liebe die Ueberlegenheit Deines Freundes. Achte auf ihn wie auf einen Gegner. Laß ihn für Dich wie eine Art von schönem, unbezähmbarem, verehrtem Feind sein; nicht eine triviale Bequemlichkeit, die man gebraucht und sodann wegwirft.“[WS 7]

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„Was so groß ist wie Freundschaft, das laßt uns so großsinnig behandeln als wir können. Laßt uns schweigsam sein, so daß wir hören können was die Götter flüstern. Laßt uns nicht vermitteln. Wer hat dich aufgestellt, um zu berathen, was zu den außerwählten Seelen gesagt werden soll? Warte, und dein Herz wird reden. Warte, bis das Nothwendige und Ewige dich überwältigt; bis Tag und Nacht von dir verlangen, daß du redest.“

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„Ihr werdet einem Mann dadurch nicht näher kommen, daß ihr in sein Haus kommt. Wenn er euch ungleich ist, so wird seine Seele nur um so schneller von euch fliegen, und ihr werdet nie einen wahren Blick aus seinem Auge zu sehen bekommen. Spät, sehr spät bemerken wir, daß seine Veranstaltungen, keine Einführungen, keine gesellschaftlichen Artigkeiten und Gebräuche dazu dienen, uns in das gewünschte Verhältniß zu der Person zu bringen, die wir bewundern, sondern daß blos das Emporsteigen unseres Geistes zu derselben Stufe, auf welcher er steht, dies bewirken kann. Dann werden wir zusammentreffen wie Wasser mit Wasser, und wenn wir dann nicht mit ihm zusammentreffen, so werden wir dessen nicht bedürfen, denn wir sind bereits was er ist.“

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„Aber laßt euch durch das was ihr sehet, warnen, daß ihr nicht zu leichten Kaufs auf Freundschaften mit Personen eingehet, mit denen keine Freundschaft möglich ist. Unsere Ungeduld verleitet uns zu übereilten Verbindungen, welche kein Gott heiligt. Nichts bestraft sich stärker, als solche ungleiche Verbindungen. Dadurch daß ihr getreu euern Weg hinangehet, werdet ihr, wenn ihr auch das Kleine verlieret, das Größere gewinnen. Ihr erprobet euch so, daß ihr falschen Verhältnissen ein Ende machet, und ihr ziehet den Erstgebornen der Welt an euch, jene seltenen Pilger, von denen blos einer oder zwei zu gleicher Zeit in der Natur wandeln.“

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„Es hat mir in der letzten Zeit möglicher geschienen als ich früher glaubte, eine großsinnige Freundschaft von einer Seite zu führen, ohne entsprechende Erwiederung von der andern. Warum sollte ich mich darüber beunruhigen und bekümmern, daß mein Gegenstand nicht fähig ist wiederzugeben? Es beunruhigt die Sonne nicht, daß einige ihrer Strahlen vergebens in den weiten, undankbaren Raum fallen. Laßt eure Größe den rohen und kalten Gegenstand erziehen. Wenn er unwürdig ist, so wird er bald weggehen; aber du bist größer geworden durch deinen eigenen Glanz. Man betrachtet es als eine Demüthigung zu lieben, ohne Erwiederung zu finden. Aber eine große Seele wird sehen, daß wahre Liebe nicht unvergolten bleiben kann. Wahre Liebe schreitet über den unwürdigen Gegenstand hinaus und wohnt und beruht auf dem ewigen. Und wenn die arme, verhüllende Maske fällt, so grämt sie sich nicht darüber, sondern fühlt sich von so vielem Staub befreit und empfindet ihre Unabhängigkeit desto gewisser.“

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„Das Mark der Freundschaft ist Ganzheit, vollkommene Hochsinnigkeit und Zuversicht. Sie behandelt ihren Gegenstand wie einen Gott, damit er sie beide göttlich mache.“

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Sehr hochtrabend und vornehm! wirst du sagen, und — sehr einseitig! — Ja es ist so, meine Agathe, aber es ist darin Etwas das gut und groß ist, und Etwas das ich liebe. Es ist übrigens sehr schwer, durch Citate einen richtigen Begriff von Emersons Anschauungsweise zu geben. Seine Versuche sind Ketten von glänzenden Aphorismen, die einander oft widersprechen. Aber das Beständige darin, das Mark und der Metallfaden, der sich durch alle zieht, ist der Ruf: Sei redlich, sei du selbst! So bist du originell und wirst etwas Neues und Vollkommenes schaffen. So sagt er zu dem Einzelnen, so sagt er zu der Allgemeinheit. Und die Kraft und Schönheit, die er in diesem Erweckungsruf giebt, ist wohl seine eigentliche Gewalt über das amerikanische Gemüth, seine eigentliche wohlthätige Wirkung auf das Volk der neuen Welt, das allzu sehr geneigt ist blos nachzubilden, in den Fußstapfen der alten Welt zu wandeln.

Emerson ist übrigens weit entfernt sich selbst als Muster dieses vollkommenen Mannes zu betrachten, den er in der neuen Welt herausrufen will, außer möglicherweise in seiner Ehrlichkeit. Ich sagte ihm mit Wärme Etwas über seine Gedichte und ihren „amerikanischen Charakter“. — „O, antwortete er ernst, Sie dürfen nicht zu gutmüthig (goodnatured) sein. Nein, wir besitzen noch keine Poesie, von der man sagen kann, daß sie diese Weltbildung vertrete. Amerikas Dichter ist noch nicht gekommen! Wenn er kommt, wird er ganz anders singen.“

Ein Kritiker, der so hoch steht, daß er auf sich selbst herabschaut, siehst du, der ist Etwas werth. Von einem solchen kann man sich gern kritisiren lassen.

Hierin ist Emerson weit größer als Thorild. Sonst möchte ich E. einen amerikanischen Thorild nennen. Er hat mit diesem so viele Aehnlichkeit.

Emerson ist zur Stunde gleichsam das Haupt der Transcendentalisten in diesem Theil Amerikas, einer Menschenklasse, die sich besonders in den Staaten Neu-Englands vorfinden soll, und die mir vorkommt, wie ihre weißen Berge oder Alpen. Das heißt: sie zielen darauf ab. Aber unter ihnen sehe ich noch immer blos eine wirkliche Alpe, und diese heißt Waldo Emerson. Die andern scheinen mir sich zu strecken und zu pudern, um hoch und glänzend zu erscheinen, aber — das hilft ihnen Nichts. Sie machen mehr Ansprüche als sie Macht haben. Ihre Scheitel stehen in den Wolken, statt über sie hinaufzusteigen. A. hat fünfzehn Jahre von Brod und Früchten gelebt, ist in linnenen Kleidern einhergegangen, weil er sich am Eigenthum des Schaafes, der Wolle, nicht vergreifen wollte, er hat sehr viel gelitten, um seine Treue und Liebe zu bezeugen. Zuletzt ist er indeß doch in wollenen Kleidern gegangen und verkauft seine Weisheit für Geld. Er hat sich eine Hütte draußen in den westlichen Prärien gebaut und allda zwei Jahre lang als Eremit gelebt; er ist jedoch zurückgekommen in die Stadt zum häuslichen Leben und zu den Alltagsmenschen. J. ist in den wilden Wald hinausgegangen, hat sich eine Hütte erbaut und da gelebt — ich weiß nicht von was. Auch er ist zu dem gewöhnlichen Leben zurückgekehrt, treibt jetzt ein Handwerk und schreibt Bücher, die Etwas von der Frische und dem Leben des Waldes haben, aber für Geld verkauft werden. Ach! ich wundere mich nicht über diese Versucher ungewöhnlicher Wege, die auf ihnen der Kleinlichkeit des gewöhnlichen Lebens zu entgehen suchen. (Ich habe selbst meine Versuche in diesem Weg gemacht und würde sie größer gemacht haben, wenn ich nicht gebunden gewesen wäre). Aber sie und Emerson selbst machen zu viel aus diesen Versuchen, denn sie sind in der Wirklichkeit selbst nichts Ungewöhnliches und bringen auch nichts Solches zu Stande. Der Zweck, das Ziel ist das Beste daran. Und gleichwohl fehlt ihm hier das höchste, menschliche Motiv: die Menschenliebe!

Emerson sagt in seiner Charakteristik des Transcendentalisten:

„Wenn es etwas Großes und Verwegenes in Gedanken oder Tugend, eine Zuversicht in dem Weiten und Ungekannten, eine Ahnung, ein Extrem im Glauben gibt — so adoptirt er das als das Höchste in der Natur.“

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„Diese Jünglinge sind für uns herbe, aber wirkliche Helfer. Durch ihr offenes Mißvergnügen stellen sie unsre Armuth und die Unbedeutsamkeit des Menschen für den Menschen aus.“

„Diese fordernden Kinder erinnern uns an unsere Mängel; die einzige Aufmerksamkeit, die sie euch schenken, ist die unmäßige Erwartung; sie tadeln und fordern streng; und wenn sie nur feststehen auf diesem Wachtthurme und dabei bleiben bis ans Ende und ohne Ende zu fordern, dann sind sie schreckliche Freunde, die sowohl der Dichter als der Priester verehren und fürchten muß; und selbst wenn sie Wolken essen und Wind trinken, so sind sie nicht ohne Nutzen für das Menschengeschlecht gewesen.“

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„In dieser Zeit, wo alle Stimmen sich für einen neuen Weg oder eine neue Verordnung, für eine Kapitalsubscription, für eine Vervollkommnung in Kleidung oder Kunst, für ein neues Haus oder größeres Geschäft, für eine politische Partei oder Waareneinkauf erheben — wollt ihr da nicht ein Paar vereinsamte Stimmen im Lande ertragen, welche für Gedanken und Grundsätze sprechen, die nicht verkäuflich oder vergänglich sind? Bald werden diese Vervollklommnungen und Erfindungen durch neue ersetzt, diese Städte zerstört, alle diese Dinge verändert, vergessen werden. Aber die Gedanken, welche diese wenigen Einsamen durch Schweigen wie durch Rede, nicht blos durch das was sie thaten, sondern auch durch das was sie nicht thaten, zu verkündigen suchten, sie werden in Schönheit und Kraft stehen bleiben und sich von Neuem in der Natur organisiren, um sich in neuen, vielleicht höheren und glücklicher gemischten Stoff, als der unsrige ist, zu kleiden, in vollkommener Vereinigung mit dem Weltsystem.“

So der edle Idealist, und vielleicht habe ich zu viel von ihm angeführt, während ich dennoch nicht zeigen kann, was er ist. Denn das ist das Merkwürdigste an ihm. Ich habe nichts gegen seine Jungen — die Transcendentalisten; sie sind erfrischend anzuhören und anzusehen, und sie sprechen manche vergessene Wahrheit mit neuem Leben aus. Sie sind das jugendliche Element im Leben, das immer erneuernd wirkt, und sie sehen manche Schönheit, für deren Wahrnehmung ältere Augen nicht mehr klar genug sind. (Ich erinnere mich gehört zu haben, daß Schelling Jünglinge über fünfundzwanzig Jahren nicht als Schüler annehmen wollte. Er glaubte sie einer unmittelbaren Anschauung und Einsicht unfähig). Aber wenn diese jungen heidnischen Alpisten sagen: „Wir leisten das Höchste!“ so sage ich: „Mit nichten! Ihr thut es nicht!“ Ihr sagt: „Wir sind Götter.“ Ich will sagen: „Steiget von euern Höhen herab, um die Welt göttlich zu machen, so will ich euch glauben. Ihr begnüget euch mit eurer vornehmen, abgeschiedenen Stellung und glaubet genug zu thun, indem ihr auf das Ideal hinweiset. Ach! das Ideal ist niemals unbekannt gewesen. Ihr seid arme, sündige, unvollkommene Menschen wie die Andern, und eure Tapferkeit reicht nicht bis zum Herzen des Christenthums, welches das Ideal nicht blos aufzeigt, sondern auch es erreichen hilft, welches nicht blos Alles duldet, sondern Alles überwindet, nicht still sitzt und groß drein schaut, sondern mit seinen Bekennern kämpft und sie ermahnt: Ueberwindet das Böse mit dem Guten.“

Wollen die Transcendentalisten wirklich etwas Neues, etwas Transcendentales schaffen, so müßten sie etwas Höheres schaffen als das; sie müßten in ihrem Menschenideal eine schönere Gestalt darstellen, als diejenige, die bereits auf der Erde und für die Erde dargestellt ist; den Starken, der zugleich der Demüthige ist, den Sohn des Himmels und der Erde, der Beide zu einer neuen Schöpfung vereinigt. Aber — sie können die Größe desselben nicht einmal verstehen.

Jetzt genug von den Transcendentalisten. Ich muß jedoch ein Paar Worte von einer Dame sprechen, die diesem Kreis angehört, und deren Namen ich seit meiner Ankunft in Amerika schon oft theils tadelnd, theils rühmend, immer aber mit einer gewissen Auszeichnung nennen hörte, nämlich von Miß Margaret Fuller. Obwohl ohne alle Schönheit und in ihrem Wesen mehr abstoßend als einnehmend, scheint sie seltene Gaben und ein wahres Genie für die Unterhaltung zu besitzen. Emerson sprach mit Bewunderung davon; er sagte: „Die Ueberredung sitzt auf ihren Lippen.“ Gewiß ist, daß sie das Talent gehabt hat, bei ihren Freunden Enthusiasmus zu erwecken, wie kein anderes Frauenzimmer, von dem ich gehört habe. Emerson sagte mit seiner gewöhnlichen, beinahe fürchterlichen Aufrichtigkeit von ihr: „Sie hat manche große Eigenschaften, auch manche große Fehler.“ Zu diesen soll ihr Hochmuth und ihr verachtungsvolles Benehmen gegen Minderbegabte gehört haben. Gleichwohl hat man mir gesagt, daß sie harte Worte bereuen und abbitten konnte. An Hochsinnigkeit und Selbständigkeit des Gemüths, an Stolz und Ehrlichkeit, an kritischer Schärfe war sie eine vollkommene Transcendentalistin. Die „Unterhaltungen“, die sie eine Zeit lang in Boston in einem ausgewählten Kreise gab, werden als höchst interessant geschildert. Mrs. Emerson kann ihre warme Beredtsamkeit und ihren innern Reichthum nicht genug rühmen, und ich glaube, sie wünschte, daß ich ihr mehr gleichen möchte. Sie ist vor einigen Jahren mit meinen Freunden Springs nach Italien gereist und nach ihnen noch dort geblieben. Jetzt ist ein Gerücht hieher gekommen, daß sie eine Verbindung mit einem jungen Manne eingegangen habe (Margaret Fuller ist nicht mehr jung, sie hat beinahe vierzig); und man spricht von einer fourieristischen oder socialistischen Ehe ohne Trauung; gewiß ist, daß die Ehe noch geheim geblieben ist, und daß sie — ein Kind hat. Sie hat selbst davon und von ihrer Mutterfreude geschrieben, aber Nichts von ihrer Ehe; sie sagt blos, daß sie bei ihrer Rückkehr nach Amerika, die auf das nächste Jahr festgesetzt sein soll, Näheres von ihren Angelegenheiten erzählen wolle. Alles das hat Stoff zu allerlei Gerede unter ihren Freunden und Nichtfreunden gegeben. Diejenigen, die ihre Richtung oder Person nicht lieben, glauben das Schlimmste; aber ich werde nie vergessen, mit welchem Ernst einer ihrer Freunde, Mr. W. Russel, sie einmal in einer Gesellschaft in Schutz nahm und blos auf den Grund ihres Charakters jeden Verdacht einer Handlung, die diesen beflecken könnte, zurückwies. Ihre Freunde in Concord — unter ihnen Emersons, Elisabeth H. und eine in Concord verheirathete seelenvolle junge Schwester von Miß Fuller — scheinen in Betreff ihres Benehmens vollkommen ruhig und überzeugt zu sein, daß es sich im Licht des Tages rechtfertigen werde. So Etwas ist schön. Miß Fuller hat in ihren Schriften die Rechte der Frauenzimmer auf freie Entwicklung, sowie mehrere Freiheitsgrundsätze beansprucht, die, obschon den strengsten Moralgesetzen gemäß, gleichwohl selbst in diesem freien Lande Vielen anstößig sind. Ihre Freunde, und unter ihnen die guten, reinherzigen Springs, wünschen, daß ich sie kennen lernen möchte.

„Sie müssen Mrs. Ripley sehen,“ sagte Emerson einmal, „sie ist eine der Merkwürdigkeiten in Concord.“ Und ich sah — eine schöne Matrone mit silberweißem Haar, klaren, tiefen, blauen, jugendfrischen Augen und vieler Weiblichkeit, worin man nicht lesen konnte, daß sie trotz irgend einem Professor Griechisch und Latein, wie auch Mathematik versteht, und daß sie jungen Studenten, die sich nicht durchs akademische Examen durcharbeiten konnten, durch ihre ungewöhnlichen Lehrgaben, sowie durch ihren mütterlichen Einfluß zum Ziele verhilft. Mancher Jüngling segnet ihr Werk an ihm. Einer von ihnen erzählte: „Sie erklärte mir den Euklid, während sie Erbsen aushülste und mit dem Fuß die Wiege ihres kleinen Enkels in Bewegung setzte.“ Ich brachte mit Emersons einen Abend bei Mrs. Ripley zu. Auch in ihrem Haus fanden sich keine Dienstboten vor. Diese Frauen Neuenglands sind tüchtige Frauen, ächte Töchter der Auswandererweiber, die so mannhaft mit ihren Männern ausharrten und arbeiteten, und mit ihnen dieses Reich gründeten, daß sich jetzt über einen Welttheil ausbreitet.

Der Großvater von Elisabeth H. gehörte zu den ersten Pilgern, welche das kleine Schiff „die Maiblume“ an den Strand von Massachusetts trug. Er hat manchmal seinen Kindern erzählt, wie diese Männer, als sie Gesetze für die neue Kolonie stiften wollten, gerne vor ihren Frauen, Schwestern und Töchtern über diese Gesetze sprachen und mit Vergnügen die Ansichten derselben anhörten. Das ist schön und klug. Sicherlich kommt das ritterliche Gefühl und die Liebe, die in Amerika im Allgemeinen für das weibliche Geschlecht vorherrscht, von dieser Würdigkeit und würdigen Behandlung der ersten Frauen her; sicherlich stammt von dieser ersten Gleichheit die Gleichheit an Gewalt und Rechten, die hier im häuslichen und gesellschaftlichen Leben, obschon noch nicht im bürgerlichen, vorwaltet. Ich spreche gern mit Elisabeth H. In diesem jungen Weib ist viel Tiefes und Großes. Und ihre Worte glänzen oft wie Diamanten im Sonnenlicht. Aber sie müssen von der Sonnenwärme hervorgerufen werden.

Von den Personen, die ich bei Emersons sah, interessirte mich ein Professor Scherb, ein Schweizer, von edlem und ernstem Aussehen — auch etwas Ultraidealist in seiner Philosophie. Er hat in der Schweiz gegen die Jesuiten gekämpft und lebt jetzt als Lehrer in Amerika. Endlich machte ich auch die Bekanntschaft des Doktors Jackson, des Entdeckers der einschläfernden Wirkungen des Aethers auf den menschlichen Körper und das Bewußtsein; er hat dafür von unsrem König Oscar eine Medaille erhalten, die mir gezeigt wurde. Er hatte die Entdeckung lediglich durch einen Zufall gemacht, den er beschrieb. Ich pries ihn glücklich, daß er auf diese Art das Mittel zu einer unendlichen Wohlthat für Millionen leidender Geschöpfe geworden sei.

Ich verließ Concord in Begleitung dieses Herrn, der ein Bruder von Mrs. Emerson ist. Aber Concord bleibt meinem Gedächtnis eingegraben; seine schneeige Scenerie, sein blauer, klarer Himmel, seine Menschen, die Transcendentalisten — Alles was ich in Concord erlebte, hörte und sah, und ganz besonders seine Sphinx (Marie L—s Ausdruck für Emerson), bilden in meinem Innern eine Art von Alpenregion, die eine eigenthümliche Zauberkraft für mein Gemüth hat, und zu welcher ich wieder einmal zurückzukommen mich sehne, wie zu den Scenen und Bildern meines Heimathlandes.

Gestern Abend, als ich nach Hause kam, traf ich Marcus Spring, der in Geschäften nach Boston gekommen war. Es gewährte mir eine herzliche Freude, den guten, trefflichen Freund wieder sehen zu dürfen. Nach einer kurzen Besprechung mit ihm und Mr. Sumner fuhr ich mit Marcus zu Alcott's Schlußunterhaltung, wo allerlei kuriose Sachen in Bezug auf die Diät und ihre Wichtigkeit für die Menschheit zum Vorschein kamen. A. bebauptete, alle hohe und heilige Lehrer des Menschengeschlechts seien große Freunde der Diät gewesen und haben sich insonderheit der animalischen Nahrung enthalten. Jemand sagte, Christus habe Fleisch gegessen. Ein Anderer meinte, das lasse sich nicht beweisen. Ein dritter bemerkte, er habe wenigstens Fische gegessen. A. sagte, das könne nicht bewiesen werden. Ich sagte, es „stehe geschrieben.“ Andre stimmten ein. „Gleichviel!“ sagte A. vornehm, „ich weiß etwas Besseres als das Fischeessen.“ A. trinkt offenbar zu viel Wasser und erzeugt blos Nebelgestalten. Er müßte Wein trinken und Fleisch oder wenigstens Fische essen, um Mark und Saft in seine Ideen zu bekommen. Auch Marcus S. machte sich über die Unterhaltung lustig, aber in seiner milden Weise. Unter der Zuhörerschaft befanden sich einige Frauenzimmer mit prächtigen Denkerstirnen, und schöne Gestalten. Ich habe sie noch nie sprechen gehört, und ich wundere mich, daß sie so ruhig dasitzen und zuhören können. Ich für meinen Theil vermag das nicht. Und obschon die Gesellschaft zu einer neuen Serie von Unterhaltungen eingeladen wurde, so ist diese gewiß die letzte, der ich anwohnte.

Den 26. Januar.   

Alcott kam gestern Vormittag zu mir, und wir besprachen uns zwei Stunden lang; er erklärte sich im Zwiegespräch besser als in der allgemeinen Unterhaltung, und ich verstand ihn besser als bisher ich verstand, daß wirklich ein wahrer und tiefer Gedanke auf dem Grund seiner Reformarbeit ruht. Dieser Gedanke ist die Wichtigkeit einer ernsten und heiligen Gemüthsstimmung bei Eingehung der Ehe, damit der Bund ein edler sein und ein gutes und schönes Geschlecht erzeugen möge. Seine Veranstaltungen, um diese schöne und heilige Ehe zwischen schönen und guten Menschen zu Stande zu bringen (Andere dürfen nicht in die Ehe treten; ho ho! die große Menge!) lasse ich in ihrem Werth. Sie sind besser und menschlicher, als die Ansichten, welche Plato in seinem Staat für denselben Zweck aufstellt. Und wer will läugnen, daß es besser um die Welt stände, wenn diejenigen, welche die Menschen zur Welt erzeugen, es mit höherem Gewissen, mit größerem Gefühl der Verantwortlichkeit thäten? Die Ehe steht doch im Allgemeinen in dieser Beziehung sehr niedrig. Ein Mann und ein Weib verbinden sich, um glücklich zu werden. Selbstsüchtiges Glück — darüber hinaus versteigt sich gewöhnlich der Gedanke nicht; er erhebt sich nicht zu dem Höheren: „Wir sollen unsterblichen Wesen Leben geben.“ Und das ist doch die höchste Bedeutung der Ehe. (Gatten, die keine Kinder bekommen, können sie dadurch erfüllen, daß sie elternlose Kleine an Kindesstatt annehmen). „Aber warum sprechen Sie das nicht vollständig aus?“ sagte ich zu A. „Es ist von größerer Wichtigkeit als Alles was ich noch in Ihren Unterhaltungen gehört habe, und wirklich von höchster Wichtigkeit für die Gesellschaft.“ Alcott entschuldigte sich mit der Schwierigkeit, welche die Behandlung des Stoffs für eine allgemeine Unterhaltung darbiete, und sprach die Hoffnung aus, seine Ansichten durch Bildung eines kleinen Vereins verwirklichen zu können, worin er vermuthlich als Hohepriester fungiren wird. Wieder ein Traum! aber der Träumer stieg in meiner Achtung bedeutend durch die Wahrheit und den Adel seiner Ansichten in dieser Beziehung. Auch seine Diätnarrheit will ich gelten lassen, nur nicht in ihrer Ausschließlichkeit. Und ich halte mich an den, der ohne Einseitigkeit und mit Beibehaltung des Weins und aller andern Gottesgaben den Menschen zuruft: „Wachet über euch, auf das ihr euch nicht beschweret durch Völlerei und Trunkenheit.“

Alcott schenkte mir zwei Bücher. Sie enthalten Gespräche, die zwischen ihm und verschiedenen Kindern geführt würden zu einer Zeit, wo er eine Schule hielt, welche die Schule par excellence werden sollte. Der Punkt, von welchem A. bei der Bildung der Kinder ausgeht, ist, daß er ihre höhere Natur zu erwecken und ihnen eine hohe Achtung für dieselbe einzuflößen sucht, damit sie sie lieben und immer ihr gemäß handeln. Darum stellt er ihren Blicken frühzeitig das Ideal des Menschen oder den Idealmenschen in Christi Person dar. Jede Zusammenkunft mit den Kindern beginnt damit, daß Alcott ein Kapitel aus der Heiligen Geschichte vorliest. Wenn dies vorüber ist, fragt er die Kinder: „Was war in euren Gedanken (oder in eurer Seele), während ihr das hörtet?“ Mehrere antworten dann recht naiv und unmittelbar. A. leitet sie sofort zum Nachdenken darüber, welche Tugend in der gegebenen Erzählung oder Geschichte sich geoffenbart habe, dann müssen sie auch das Gegentheil nennen, sich besinnen, ob sie dasselbe bei sich finden u. s. w. Verschiedenes Gutes und Denkwürdiges kommt dabei vor, und Vieles, was für das Bewußtsein der Kinder entwickelnd ist. Manches Wort von thauähnlich ursprünglicher Frische kommt von den Kinderlippen, aber auch viel Kindisches und Unbefriedigendes von den Kindern sowohl als von dem Lehrer. Jedenfalls ist dies eine Methode, die für die Schule im Großen nicht wohl paßt, über die aber Vater und Mutter sich besinnen sollten. „Was war in deiner Seele, in deinem Herzen?“ was können nicht weise und liebevolle Lippen mit diesen Worten, wenn sie Abends nach dem Schulbesuch, den Arbeiten, den Spielen, den Sorgen und Freuden des Tags ausgesprochen werden, im Bewußtsein des Kindes zu seinem Frommen heraufrufen?

Als Alcott gegangen war, kam Emerson und blieb eine gute Stunde bei mir. Er wirkt immer wie eine stärkende Macht auf mich. Und gleichwohl schwimmt auch seine Welt in einem Element der Auflösung und hat keine festen, unwandelbaren Gestalten oder Grenzen. Es ist wunderlich, wie eine so kräftige und konkrete Natur bei einer so losen und auflösenden Weltanschauung stehen bleiben kann. Aber — Emersons Denkungsart kann ich bemeistern; vor seinem Geist, seiner Natur muß ich mich beugen. Emerson war jetzt auf dem Weg nach Neu-York, wohin er eingeladen ist, um Vorlesungen zu halten; er hat versprochen, mich bei seiner Rückkehr wieder zu besuchen. Ich muß doch einmal eine gründliche Besprechung mit ihm haben, sowohl über die religiöse Frage als über Amerikas Zukunft. Ich verspüre auch einige Kampflust gegen ihn. Denn noch nie sah ich einen Löwen in Menschengestalt, ohne mein Löwenherz schlagen zu fühlen. Und ein Kampf mit einem solchen Geist ist immer ein Genuß, selbst wenn man keinen Sieg gewinnt.

Was Alcott betrifft, so weiß ich nicht, welcher Geist des Widerspruchs mich treibt, mich ein wenig mit ihm zu necken und über ihn lustig zu machen. Ich schätze doch aufrichtig die Bestrebungen des schönen, guten Idealisten, und wenn ich Etwas gegen ihn gesagt habe, so meine ich von Emersons tiefer Stimme den Vorwurf zu hören: „Unter all dem Lärm und Geräusche des Tags für materielle Zwecke wollt ihr nicht ein paar vereinsamte Stimmen ertragen, welche für Gedanken und Grundsätze sprechen, die nicht verkäuflich oder vergänglich sind?“ — Ach ja, wenn sie nur ein wenig vernünftiger wären !

Neulich einmal wohnte ich Abends einer großen „party“ von Bostons fashionabler Gesellschaft bei Mrs. Bryant bei. Ich befand mich wohl, die Gesellschaft war schön, elegant, sehr artig, und der Abend war mir angenehm. Einen andern Abend war ich bei einer andern großen „fashionabeln Partie“ in einem andern Hause. Ich befand mich unwohl und die Gesellschaft erschien mir mehr geputzt und aristokratisch als angenehm. Ich sah auch einige Gestalten, wie ich sie in den Salons der neuen Welt und ganz besonders in den Salons Neuenglands nicht zu finden geglaubt hätte, so aufgeblasen, hochmüthig und unschön waren sie; in ihren Blicken und Gestalten stand „Geldbrotzthum“ zu lesen. Man sagte mir, Mrs.*** und ihre Schwester haben ein Jahr in Paris zugebracht. Sie hätten von da, außer den Moden, etwas Pariser Grazie und Lebensart mitbringen sollen. Geldstolze Leute haben es in der Civilisation gerade so weit gebracht wie unsre Lappländer, die keinen andern Werth anerkennen, als den des Reichthums, und die das Verdienst eines Mannes nach der Zahl seiner Rennthiere bemessen. Ein Mann mit tausend Rennthieren ist ein sehr großer Mann. Die Geldaristokratie ist die niedrigste und roheste, die sich denken läßt. Um so schlimmer ist sie, in ganz unmäßigem Grade, in der neuen Welt daheim. Man kann auch den vollkommen üblichen Ausdruck über einen Menschen hören: „Er ist so und so viele Dollars werth.“ Aber die Besten hier verschmähen solche Ausdrücke. Sie würden niemals die Lippen eines Marcus Spring, eines Channing oder Downing beschmutzen. In Bezug auf das fashionable Leben muß gesagt werden, daß es hier nicht als das Höchste angesehen wird. Man hört von Leuten sprechen, die über der Mode (above fashion) stehen, und mit diesen meint man die Bevölkerung der höchsten Klasse. Es ist mir klar, daß sich hier allmälig eine Aristokratie bildet, die hoch über der gewöhnlichen[WS 8] der Geburt, des Vermögens oder der gesellschaftlichen Verbindungen steht, und die Aristokratie des wirklichen Verdienstes, der Liebenswürdigkeit und des Charakters ist. Allgemein ist sie indeß noch nicht. Es ist bis jetzt noch ein kleines Häuflein. Aber dieses wächst an und die Idee greift um sich.

Bei einem kleinen gemüthlichen Mittagessen bei Professor Howe[WS 9] war ich mit Laura Bridgeman zusammen, dem blinden und taubstummen Mädchen, das durch die Art, wie Professor Howe[WS 10] ihre denkende Seele erweckte und durch die rührende Erzählung, welche Charles Dickens in seinen „Amerikanischen Reisebemerkungen“ davon gab, berühmt geworden ist. Sie ist jetzt 20 Jahre alt, hat eine feine wohlgebildete Figur und ein Gesicht, das man hübsch nennen kann. Ueber den Augen hat sie eine grüne Binde. Als sie meine Hand ergriff, gab sie durch Zeichen zu verstehen, daß sie mich für ein Kind hielt. Eine der ersten Fragen, die sie an mich richtete, war, wie viel Geld ich für meine Bücher erhalten habe. Eine ächte Yankeefrage, die meine Wirthsleute sehr belustigte. Gleichwohl verhinderten sie das Mädchen, dieselbe weiter zu verfolgen. Ich fragte Laura (durch das Frauenzimmer, das sie immer als Dolmetscherin begleitet), ob sie glücklich sei. Sie antwortete mit einer Lebhaftigkeit und einem Versuch Laute von sich zu geben, welche bewiesen, daß sie gar nicht genug sagen konnte, wie glücklich sie sich fühlte. Sie soll auch beinahe immer heiter sein. Die beständige Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, womit sie verpflegt wird, macht, daß sie nichts von Mißtrauen gegen die Menschen weiß, sondern ein Leben der Liebe und der Dankbarkeit lebt. Doctor Howe,[WS 11] eine der dunkeln Gestalten, welche Alcott als Erzeugnisse der Nacht verdammt, nämlich von dunkler Farbe, dunkeln Augen, schwarzen Haaren und einem prächtigen energischen Gesicht, ist allgemein für seine glühende Menschenliebe bekannt, die ihn gedrängt hat, für die Griechen, sowie für Polens Freiheit zu fechten, und sich zuletzt Derjenigen anzunehmen, deren körperliche Sinne gebunden und gefesselt sind. Seine Bekanntschaft ist mir seiner Persönlichkeit wegen theuer. Ich habe indeß nicht viel Gelegenheit, mich seiner Gesellschaft zu erfreuen. Er scheint mir, wie auch ich, durch die überwiegende Kraft des Klimas und der Nahrung im Lande zu leiden. Seine Frau ist ein allerliebstes Weib mit reichen Naturgaben, feiner Bildung und vieler Naturfrische. Ein paar schöne kleine Mädchen, roth und weiß wie Milch und Blut, weich wie Baumwolle, frisch und schön wie Thautropfen auch in der Kleidung, kamen gegen das Ende des Mittagessens und schmiegten sich kosend an den düstern energischen Vater. Es war ein Gemälde, von dem ich wünschte, daß Alcott es gesehen hätte.

Ich gedenke noch ungefähr 14 Tage hier zu verweilen, um die Homöopathie ihr Werk an mir vollenden zu lassen. Mein guter Doctor kommt alle Tage zu mir und schon sein Anblick ist eine Freude für mich. Ich bin unbeschreibbar dankbar für das Gute, was ich von der Homöopathie empfangen habe und noch empfange, und ich denke beständig daran, wie wohl sie Dir bekommen wird. — — Reich werde ich wohl hier nicht werden, mein Kind, denn ich habe weder Zeit noch Lust etwas zu schreiben. Indeß kommt auch, Dank sei es der amerikanischen Gastlichkeit, meine Reise nicht so hoch, als ich geglaubt hatte. Und wenn einige meiner Freunde hier zu befehlen hätten, so würde sie mich gar nichts kosten, sondern ich würde auf Kosten des amerikanischen Volks leben und reisen. Aber das ist gar zu viel. Heute ist es abscheuliches Wetter, ein wahrer Gußregen und starker Wind. Ich habe mich beinahe darüber gefreut in der Hoffnung in Frieden bleiben zu dürfen, allein ich konnte doch einige Besuche nicht abweisen, wovon der eine die Absicht hatte mich in eine Abendgesellschaft zu bringen, der andere mich zu bestimmen, daß ich einem Portraiteur sitzen möchte. Aber beide bekamen ein Nein. Eben jetzt bekam ich das allerschönste Bukett von einer jungen Freundin, eine Menge schöner kleiner Blumen im Kelch einer großen schneeweißen Calla aethiopica. Ueberhaupt vergehen nicht viele Tage, ohne daß ich von bekannten oder unbekannten Freunden schöne Blumensträuße erhalte. Dies ist sehr artig und hübsch gegen eine Fremde. Und dazu sage ich niemals nein, sondern bin immer herzlich dankbar, sowohl für die Blumen, als für die gute Meinung.

Jetzt Adieu mit dieser langen Schwatzepistel und ein herzliches Adieu an Dich, meine Holde!


  1. Hier sehen wir Emersons größte Schwäche. nämlich daß er den Sieg übersieht und den Sieger nicht erkennt.
  2. So ist es geschehen und so geschieht es noch fortwährend in der Kraft des Getödteten und des Auferstandenen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Komma hinzugefügt.
  2. Vorlage: angeuehm.
  3. Vorlage: Stomhenge
  4. Vorlage: verzeihent
  5. Vorlage: nich,
  6. Anführungszeichen ergänzt
  7. Anführungszeichen hinzugefügt.
  8. Vorlage: gegewöhnlichen
  9. Vorlage: How
  10. Vorlage: How
  11. Vorlage: How
Achter Brief Die Heimath in der neuen Welt. Erster Band
von Fredrika Bremer
Zehnter Brief
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