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Die Harfe bei Sommerau

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Textdaten
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Autor: G. Berthold
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Titel: Die Harfe bei Sommerau
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 510
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
vgl. Serie Deutschlands merkwürdige Bäume ab 1883
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[499]

Die Harfe bei Sommerau.
Nach der Natur aufgenommen von G. Berthold.

[510] Die Harfe bei Sommerau. (Mit Abbildung, S. 499.) In der Gegend von Zittau – fünf Viertelstunden von dieser freundlichen Stadt entfernt – auf dem zur gräflich Einsiedel’schen Standesherrschaft Reibersdorf gehörigen Sommerauer Reviere birgt sich in grünem Waldesdunkel eine in ihrer Art, wo nicht einzig dastehende, so doch höchst seltene Naturmerkwürdigkeit, welche aber das Schicksal so mancher andern Merkwürdigkeit theilt, von den Umwohnenden wenig gekannt ober wenig beachtet zu werden, obgleich sie der allgemeinen Beachtung sehr wohl würdig ist.

Es ist diese Merkwürdigkeit eine Tanne mit sieben – eigentlich acht – Wipfeln, deshalb im Volksmunde gewöhnlich die „siebenwipflige Tanne“ genannt, vielfach aber auch mit dem poetischeren und sehr wohl verdienten Namen „Harfe“ belegt; denn gleich einer riesigen Harfe steigt sie empor, und die Hand, welche ihre Saiten rührt, ist die des Sturmes, wenn er durch die Waldung braust.

Diese Tanne steht auf dem bezeichneten Reviere unweit der böhmischen Grenze bei dem sogenannten „Buschhäuschen“, einem gräflichen Jagdhäuschen. Der Mutterstamm hat über der Wurzel zweihundertdreißig Centimeter Umfang. Ein Meter höher entspringt dem Mutterstamme der erste Stamm, der an seinem Ursprunge hundertsiebenunddreißig Centimeter Umfang besitzt und dann schlank und kraftvoll entwickelt bis zu einer Höhe von vierundzwanzig Meter emporstrebt. Der zweite Stamm ist niedrig geblieben und verdorrt, während der dritte und vierte Stamm gleich dem ersten kraftvolle Entwickelung zeigen. Dann folgt eine Stelle, an welcher – wie die vorhandenen Reste zeigen – ein gleichfalls wohlentwickelter Stamm emporstrebte, der aber verdorrte und vom Sturme abgebrochen wurde. Der sechste Stamm ist der kleinste in der Reihe. Von hier steigt der Mutterstamm, erst einen leichten, nach aufwärts gekrümmten Bogen bildend, dann gradlinig, wieder empor und bildet so den siebenten Wipfel. Dieser Theil des Mutterstammes hat in bedeutender Höhe, gleich einem Ornament an der Harfe, nach auswärts noch ein Stämmchen getrieben, welches den achten Wipfel bildet und das noch fortzuwachsen scheint, wenn anders der Mutterstamm bei seinem hohen Alter noch Kraft genug hat, alle ihm entsprossenen Stämme gleichmäßig zu nähren. Hingegen ist der erste Stamm, wie sein kahler Wipfel zeigt, leider in langsamem Absterben begriffen. Das Alter dieser Tanne wird auf hundertachtzig bis zweihundert Jahre geschätzt.

Bezüglich der Entstehung dieser Abnormität geht die Ansicht bewährter Forstleute dahin, daß der Stamm in seiner Jugend durch irgend einen Zufall – wahrscheinlich durch starke Schneelast – niedergedrückt wurde und der zu dichte Holzbestand in seiner Umgebung ihn hinderte, seine Aeste in naturgemäßer Weise auszubreiten, so daß nur die freistehenden Aeste fortwachsen konnten, die dann nach und nach zu förmlichen Stämmen sich ausbildeten, was bei der Tanne nicht so selten sein soll. Aber ein Exemplar, welches solche kraftvolle Entwickelung und Schönheit zeigt und dabei ein so hohes Alter erreichte wie unsere „Harfe“, gehört unbedingt zu den größten Seltenheiten; erfahrene Forstmänner und Reisende, die schon zahlreiche Reviere durchstreiften, versicherten einstimmig, noch nie etwas Aehnliches angetroffen zu haben.

Von Zittau aus ist der Besuch der „Harfe“ ein angenehmer Spaziergang über Groß-Poritsch (interessante Kunstziegelei) und Ullersdorf. Von dem „Buschhäuschen“ aus erreicht man in etwa zwanzig Minuten das hochgelegene böhmische Grenzdörfchen Kohlige und von da aus das dem Grafen Clam-Gallas gehörige hochromantische, wohlerhaltene Ritterschloß Grafenstein und weiterhin das Grenzstädtchen Grottau.

G. Berthold.