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Die Geschwister (Johann Gottfried Herder)

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Textdaten
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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Die Geschwister
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aus: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung) S. 361-364
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Erscheinungsdatum: 1797
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: Google und Commons
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[361]

 Die Geschwister.

     Im einsamen Hain auf grüner Wiese
Spielten oft am Mutter-Gottes-Bilde
Eine Schwester und ein Bruder. Unschuld
Spielete mit ihnen, Lieb’ und Anmuth.

5
     Auch die Mutter saß am heilgen Bilde

Oft; und süß erzählte sie den Kindern,
Wie das Jesuskind im Arm der Mutter
Gut einst war und gute Kinder liebte.
„Liebet es uns auch?“ „Ja, wenn ihr gut seyd;

10
Es hört alles, was ich zu euch sage.“

[362]

     Einst am Abend’, als im schönsten Glanze
Unsrer Sonne die Geschwister beide
Sich erfreuten, sprach der rasche Knabe:
„Wenn einmal das Kind, das uns auch liebet,

15
(Spricht die Mutter,) zu uns niederstiege.

Gerne gäb’ ich ihm die schönsten Blumen,“
Sprach die Schwester. „Gerne, sprach der Bruder,
Gäb’ ich ihm die allerschönsten Früchte.
Heilge Mutter, laß das Kind hernieder“

20
     Und die Mutter strafte sie mit Worten

Sanft belehrend. Aber ihr im Herzen
Blieb das Wort; und bald darauf im Traume
Sah sie sich die Mutter Gottes neigen,
Und das Kind mit ihren Kindern spielend.

25
     Lieblich war der Traum. Der Himmelsknabe

Sprach: „Für eure schönen Frücht’ und Blumen
Was soll ich euch geben? Du, o Bruder,

[363]

Spielest bald mit mir auf einer andern
Schönen Au, da will ich süße Früchte,

30
Wie du nie sie kostetest, dir schenken.

Dir, o Schwester, werd’ ich wiederkommen,
Wenn du Braut bist, und den Kranz dir reichen.
Mutter wirst du seyn von guten Kindern.
Gut wie Du, und gut wie Deine Mutter.“

35
     Also träumte sie und wacht’ erschrocken

Auf, und eilte zu dem Bilde betend:
„Kann es seyn, so laß mir meinen Knaben,
Holdes Kind! Wo nicht, dein Will geschehe.“

     Und in Kurzem ward der Traum erfüllet:

40
Denn der Knabe starb. Er sah im Sterben,

(Also sagt er) einen Himmelsknaben
Kommen, und ihm süße Früchte reichen,
Und er koste schon die süßen Früchte.


[364]

     Auch die Tochter wuchs und ward der Mutter

45
Ebenbild. Als am Altar sie kniete,

Eine Braut, erschien ihr im Gebete
Jenes Kind und kränzte sie mit Blumen.
Wie ihr dünkte, waren meistens schöne
Lilien und Rosen in dem Kranze,

50
Wenig dunkle Blumen: und ihr Leben

Ward des Kranzes Abbild, Lieb’ und Unschuld.