Die Geschiedenen
Ein schöner, glanzvoller Frühlingstag war zu Ende gegangen. Zum ersten Male, seit der Winter sich über die Alpen zurückgezogen hatte, lag die Abendsonne warm und voll auf den herausbrechenden Knospen und Blättern; ein angenehmer Abendwind strich über die Gärten hin und trug den Duft der Blüthen, den kräftigen Wohlgeruch der frisch aufkeimenden Pflanzen in’s Weite. Es war, als ob Alles das Erscheinen des Frühlings und mit ihm ein Glück empfinde, an dessen Wiederkehr man gezweifelt, und das nun doch, und darum doppelt schön, ein wirkliches geworden.
In der kleinen Laube eines rings von Häusern umschlossenen Gärtchens saß unter halbbegrünten Ranken von wildem Wein und Jelängerjelieber ein rüstiger Mann von ernstem Ansehen, an dem nur die etwas stark weißschimmernden Haare verriethen, daß er bereits auf der Mittagshöhe des Lebens angekommen war. Ohne diese hätte weder der feurige, nur etwas unruhige Blick, noch die straffe Haltung darauf schließen lassen.
Auf dem Tischchen vor ihm lagen Schriften ausgebreitet, in denen er einige Zeit mit Eifer las und sich verschiedene Bemerkungen daraus aufzeichnete; bald aber schien diese Beschäftigung ihre Anziehungskraft zu verlieren, denn die Hand ließ den Stift achtlos entgleiten und erhob sich, um die Stirne zu stützen, die sich ihr schwer entgegen senkte. Nach dem tiefen Ernste in den Zügen zu urtheilen, mußten es unangenehme Gedanken sein, die hinter dieser bleichen Stirne hausten, und doch schien die Blässe, welche wie zuckend das Angesicht überflog, auch auf ein körperliches Leiden zu deuten. Manchmal wohl ging es darüber hin, wie der Versuch sich aufzuhellen an einem gewitterhaften Tage über den bewölkten Himmel. Es mochte das irgend eine freundliche Erinnerung aus vergangenen Zeiten sein, die wie ein Sonnenstrahl durchblitzte, aber immer wieder behielten die Wolken der Sorge und des Leidens die Oberhand.
Jetzt erscholl aus der andern Ecke des Gärtchens der helle, fröhliche Laut einer Kinderstimme und schreckte den Brütenden empor. Es war der Ruf eines kleinen Mädchens von etwa fünf Jahren, das sich dort im jung keimenden Grase unterhielt, Schneckchen und Würmer zusammenzulesen und die zierliche Verschiedenheit der Blätter und Pflanzentriebe kindisch zu bewundern.
„Sieh nur, Vater,“ rief das Mädchen, in der erhobenen Hand etwas hoch empor haltend, „sieh nur, was ich gefunden habe!“ Damit stürmte sie mehr, als sie lief, der Laube zu, flog die Stufen hinan und stand nun vor dem ernsten Manne, das runde Hütchen, das man ihr wegen des Sonnenbrandes aufgesetzt hatte, in den Nacken zurückgesunken, das blonde, reiche Haar über die Schultern hinabfallend, und die vollen Kinderwangen vom Laufe und von der Freude geröthet.
Mit dem Manne war inzwischen rasch eine sichtbare Veränderung vorgegangen. Der erste Laut der Kinderstimme hatte ihn wie ein Zauberton berührt; es war der Faden, den ihm ein gutes Geschick mitten im Labyrinthe zuwarf, um sich aus dem Irrsal seiner Gedanken zurecht zu finden; eine magnetische Berührung, vor deren erstem Strahle die schmerzlich zuckenden Nerven sich beruhigten. [210] Das Angesicht glättete sich, ein Schimmer von Freude breitete sich darüber und belebte es zu einem ungemein liebenswürdigen Ausdruck. Als das Kind zu ihm gelangt war, hatte er die Papiere zurückgeschoben und beugte sich nun auf die Kleine, die sich zwischen seine Kniee drängte, mit dem Blick unaussprechlicher Liebe herab.
„Was hast Du, meine Anna?“ fragte er. „Laß mich Deinen Fund bewundern!“ Das Kind zeigte eine kleine bunte Muschel, wie sie nur am Meeresstrand vorkommen, und die Ereigniß oder Zufall unter den Kies der Gartenwege gestreut hatte. Der Vater belehrte sie darüber, aber es gelang ihm nicht, die Wißbegierde der Kleinen völlig zu befriedigen, denn sie bestand durchaus darauf, zu erfahren, wie die Muschel, wenn sie im Meere daheim gewesen, bis hierher gekommen sei. Der Vater mußte die Erklärung schuldig bleiben und er that es dadurch, daß er die Aufmerksamkeit des Kindes auf einen andern Gegenstand ablenkte und sie befragte, wie sie den Tag zugebracht habe. Die gesprächige Kleine, an den Beinen des Vaters emporkletternd, ging rasch darauf ein und begann nun eine wohl etwas unklare, demungeachtet aber reizende Erzählung ihrer kleinen Tageserlebnisse.
„Anna ist gutes Kind gewesen,“ sagte sie, „Fräulein Amalie hat es gesagt und hat mich gelobt. Ich habe ihr auch recht sehr geholfen, in der Küche und wie sie Nachmittags am Nähtisch saß. O sie kann mich schon sehr gut gebrauchen, ich kann schon eine Nadel einfädeln und weiß schon, wie man es machen muß, um zu stricken!“
„Das Alles weißt Du, mein kluges Kind?“ erwiderte der Vater mit herzlichem Tone. „Da muß ich Dich allerdings auch loben. Und Du wirst auch so fortfahren? Wirst immer gut und fleißig sein, damit Du mir Freude machst?“
Das Mädchen schlang die Arme um den Hals des Vaters, küßte ihn und schmeichelte. „Anna hat Dich immer lieb – Anna wird Dich nie böse machen – Dich nicht und Fräulein Amalie nicht.“
„Auch die nicht?“ fragte der Vater. „Du bist ihr also sehr gewogen?“
„Ich habe sie fast so lieb wie Dich,“ erwiderte das Kind, „und sie hat mich auch lieb und sagt es mir alle Tage.“
Des Vaters Auge glänzte, als ob es feucht geworden. „Es ist mir lieb, das zu hören,“ sagte er, halb zu dem Kinde, halb vor sich hin. „Und doch – sage mir Anna, hast Du gar keine Erinnerung mehr an Deine Mutter?“
Das Kind wendete das reizende Köpfchen rasch und befremdet nach dem Vater, schwieg einen Augenblick wie nachdenklich, schüttelte dann und sagte: „Hab’ ich denn eine Mutter gehabt?“
Die schon wach gerufene Rührung des Mannes wurde durch die Rede des Kindes so sehr gesteigert, daß er die Thränen nicht zurückzuhalten vermochte. „Ja wohl,“ rief er mit unterdrückter Stimme, „Du hast eine gute, edle, vortreffliche Mutter! Wenn Du größer bist, werde ich Dir viel von ihr erzählen, und Du wirst Dein Leben lang glücklich sein, wenn Du Dich bestrebst, ihr zu gleichen.“
„Und wo ist meine Mutter?“ fragte das Kind. „Warum ist sie nicht bei uns? Ist sie gestorben?“
„Nein,“ antwortete der Vater, immer stärker erschüttert, „– aber krank, sehr krank!“
„Warum ist sie dann nicht bei uns?“ fragte das Kind neugierig wieder. „Laß sie kommen, wir wollen sie alle lieb haben und warten, ich und Du und Fräulein Amalie …“
„Das wird vielleicht noch geschehen,“ antwortete der Vater. „Es ist meine sehnlichste Hoffnung – aber ihre Krankheit ist leider von der Art, daß sie bei uns nicht sein kann. Frage nicht weiter, Dir würdest es doch nicht verstehen – und ich will Dein junges Gemüth nicht mit den Schrecken belasten, die in der Sache liegen und die Du noch früh genug erfährst!“
Das Gespräch wurde durch das Herannahen einer Dame unterbrochen, welche, aus dem Hause kommend, der Laube zuschritt. Es war eine hohe, feine Gestalt von angenehm gerundeten Umrissen und mit anmuthiger Bewegung. Das Gesicht, eben nicht schön, war regelmäßig, und wenn sich auch in den Zügen einige Schärfe ausprägte, that dies ihrem Ausdrucke keinen Schaden; vielmehr gewann sie dadurch ein bestimmtes und entschlossenes Wesen, das Vertrauen erregte. Sie war schlicht, aber mit Wahl gekleidet, hatte über dem einfachen Kattunkleid eine ziemlich grobe Schürze vorgebunden, an der ein Schlüsselbund klapperte, und gewährte so einen vollkommen wirthlichen Anblick, welchem das beinahe frauenhafte Häubchen auf dem dunklen Haare nicht widersprach.
Mit höflichem Gruße trat sie der Laube näher. „Guten Abend, Herr Assessor,“ sagte sie. „Hat der kleine Wildfang Sie wieder in Ihren Arbeiten gestört? Ich komme zu hören, ob Sie das Abendessen hier einnehmen wollen oder droben in der Stube?“
„Es dürfte doch zu kühl werden im Garten,“ antwortete der Assessor. „Die Kleine hat mich übrigens nicht gestört, sondern sehr lieblich unterhalten. Mischte sich auch der unvermeidliche herbe Tropfen darein, so machte mich ihr Geplauder doch auf Secunden lang meine Sorge und mein Kopfleiden vergessen, das sich heute wieder recht fühlbar angemeldet hat. Anna erzählte mir, wie Sie den heutigen Tag miteinander zugebracht haben, und gibt mir dadurch erwünschten Anlaß, Ihnen für die Liebe zu danken, mit der Sie Anna behandeln und in meinem Hause walten.“
Das Fräulein erröthete. „Das ist nicht mehr als meine Pflicht,“ erwiderte sie dann. „War Ihre Gattin nicht meine beste, meine einzige Freundin – ich darf wohl sagen, die Hälfte meines Lebens und meiner Jugend? Was konnte ich nach dem entsetzlichen Unglück, das Theresen betroffen, wohl Besseres thun, als mich ihres verwaisten Kindes und deshalb auch Ihres einsamen Hauses anzunehmen? Ich bin allein auf der Welt; ich habe keine verwandtschaftlichen Beziehungen – ein ähnliches Verhältniß des Dienens wäre überall mein Loos gewesen; ich muß also dem Himmel danken, daß er es mir in Ihrem Hause so freundlich gestaltet hat.“
„Das höre ich mit großem Vergnügen,“ antwortete der Assessor, „und ich kann nur den Wunsch hinzufügen, daß Sie diese Zufriedenheit immer bewahren und mich nie verlassen mögen!“
„An meiner Zufriedenheit wird es nicht fehlen,“ entgegnete Amalie, „aber ob ich Ihr Haus nicht doch verlassen muß, kann ich nicht bestimmen. Ich glaube vielmehr und fürchte, daß es bald geschehen wird und daß ich nicht die Macht habe es zu hindern.“
„Sie erschrecken mich und werfen mir auf einmal einen höchst betrübenden Schatten auf die Zukunft! Wenn Sie selbst zufrieden sind, was könnte Sie aus meinem Hause verscheuchen? Was könnte Sie hindern, das Freundschafts-Opfer, das Sie Theresen gebracht, zu vollenden?“
Das Fräulein schwieg und sah sinnend zu Boden. „Innere Verhältnisse,“ fuhr sie dann fort, „werden mich nicht zwingen, aber der Zwang dürfte wohl von außen kommen. Es ist übrigens gut, daß wir darauf kommen: einmal mußte es doch erörtert werden, und so will ich Ihnen denn sagen, was mir schon lange drückend auf dem Herzen gelegen.“
„Reden Sie.“
„Bezeugen Sie mir erst,“ begann Amalie, „daß ich mich in Ihrem Hause gegen Sie und jede Umgebung genau in den Schranken betragen habe, die meine Stellung mir vorgezeichnet.“
„Immer!“ war die Antwort. „Niemand kann Ihnen auch nur den leisesten Vorwurf des Gegentheils machen! Wohl aber haben Sie mehr gethan – Sie sind meiner Anna in Wahrheit eine zweite Mutter!“
„Ich danke Ihnen für dieses ehrende Urtheil: leider ist es nicht das der Welt, nicht das der Nachbarschaft. Erfahren Sie denn, so peinlich mir diese Mittheilung ist, daß das Gerücht von persönlichen Beziehungen wissen will, in denen ich zu Ihnen stehen soll ...“
„Wirklich? Solche Verleumdung wagt man auszustreuen?“ fuhr der Assessor auf. „Aber sie ist zu boshaft, um geglaubt zu werden! die Absichtlichkeit und Erdichtung liegt auf der Hand, denn weder ich noch Sie haben Anlaß zu dem Gerede gegeben!“
„Gewiß – aber das hindert böse Zungen nicht; sie messen Andere nach ihren eigenen Maßen. Es ist klar, daß etwas geschehen muß, diese Verdächtigung Lügen zu strafen – ich muß Ihr Haus verlassen!“
„Das kann nicht Ihr Ernst sein,“ rief der Assessor sich erhebend, „Anna kann Sie nicht missen, ich kann es ebenso wenig! Den größten Theil des Tages in meinen Beruf gezwängt, muß ich Kind und Haus lediglich Ihnen überlassen – was würde daraus, wenn Anna Ihre liebevolle Erziehung, wenn ich Ihre Klugheit, Ihre unersetzliche Umsicht verlieren müßte?“
„Sie sind zu gütig,“ entgegnete Amalie, „allein gegen die Nothwendigkeit läßt sich nicht ankämpfen. Heute Nachmittag erfuhr [211] ich durch eine Freundin, die mich besuchte, daß das schmähliche Gerede nicht mehr vereinzelt ist – Sie kennen kleine Städte wie die unsrige und die Schmähsucht ihrer Bevölkerung – ich habe daher meinen Entschluß gefaßt und bitte mir zu gestatten, daß ich Ihr Haus verlasse, sobald Sie Jemand gefunden haben werden, der an meine Stelle treten kann.“
Der Assessor schwieg, er konnte den Gründen Amaliens nichts Triftiges entgegnen, und doch war es ihm im höchsten Grade schmerzlich, sich das Gewicht derselben eingestehn zu müssen.
Anna hatte inzwischen mit ihrer Muschel gespielt und dem Gespräche nur halb zugehört – doch begriff sie aus der letzten Wendung, daß es sich um Amaliens Entfernung handelte. Sie hängte sich bittend an Amaliens Kleider und rief, indeß ihr Thränen über die vollen Wangen liefen: „Nicht fortgehn, Amalie! Du darfst nicht fort! Ich will gewiß gut sein, daß Du bleibst!“
„Lassen Sie die Bitte des Kindes auch die meinige sein,“ sagte der Assessor im Vorwärtsschreiten. „Ueberlegen Sie die Sache noch einmal, ein reines Bewußtsein hilft über Vieles hinweg, und ehe einige Tage vorüber sind, fassen Sie keinen festen Entschluß – darauf Ihre Hand!“
Das Abendmahl war kurz, einfach und einsylbig; Jedes war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Anna, von der ungewohnt genossenen Frühlingsluft rasch eingeschläfert, mußte bald zu Bette gebracht werden, und der Assessor blieb, nachdem Amalie mit dem Kinde sich entfernt, allein. Er zog sich in sein Schlaf- und Arbeitszimmer zurück, nachdem er Amalien beim Nachtgruß noch nachgerufen, sie solle das Gastzimmer in Bereitschaft setzen, er erwarte in den nächsten Tagen den Besuch eines alten Universitätsfreundes.
Der lange Abend schlich dem einsam Wachenden träg dahin. Er fühlte sich müde und abgespannt und darum zur Arbeit nicht aufgelegt. Ein Buch, nach welchem er zur Unterhaltung griff, wurde bald wieder weggelegt, es vermochte den Ton nicht anzuschlagen, den seine Gemüthsstimmung verlangte. Er war nie gewohnt gewesen, diese Stunden außer dem Hause zuzubringen, wozu in dem kleinen und nicht sehr wohlhabenden Städtchen auch wenig entsprechende Gelegenheit geboten war. So versank er in träumerisches Brüten und gedachte der Zeit, wo gerade diese Stunden in den immergrünenden Kranz seiner Häuslichkeit die schönsten Blumen geflochten hatten – immer düsterer senkte sich die Schwermuth auf ihn herab, und erst die Lampe, welche zischend ihr Erlöschen ankündete, erinnerte ihn spät, sein Lager zu suchen.
Wenige Tage später saß der Assessor mit dem erwarteten Freunde in seinem Arbeitszimmer beisammen. Es war wieder Abend geworden, eine Flasche Wein hatte die Jugenderinnerungen beider Männer aufgefrischt und das Gespräch lebhaft und munter gemacht. Der Freund, Doctor Weindler, war ein Mann von vorherrschend jovialem Charakter und jener gutmüthigen Derbheit, wie sie bei den Aerzten einer frühern Schule nicht selten zu finden war.
Der Assessor erhob sein Glas, um mit dem Freunde anzustoßen. „Laß uns mit diesem Trunk noch einmal jener reizenden Vergangenheit gedenken,“ rief er, „und dann laß uns zu dem eigentlichen Zwecke dieser Unterredung kommen – zur Gegenwart.“
„Ach ja,“ erwiderte der Doctor, „Du hast mir ja geschrieben, Du hättest mir etwas so Absonderliches zu vertrauen, daß ich aus alter Freundschaft meine Kranken für einige Tage ihrem bessern Geschick anheim gab, um Dir zu Willen zu sein! Aber ich sage Dir, Rudolph, wenn es nicht der Mühe werth ist mit dem Geheimniß, wenn Du mich wegen etwas Unbedeutendem den weiten Weg hast machen lassen, so ist mir Deine übrigens sehr liebe Gesellschaft keine Entschädigung, weder für die weite Reise, noch für die Versäumniß. Also heraus damit, was hast Du auf dem Herzen? Aus Deinem Briefe bin ich nicht klug geworden.“
„So höre,“ antwortete der Assessor, „ich bin überzeugt, Du wirst nicht sagen, daß es sich um Unbedeutendes handelt.“
„Sei dessen nicht gar zu gewiß, Lieber,“ erwiderte lachend der Doctor, „Du warst immer ein etwas überspannter Kauz, und es waren nicht viele Dinge, worin wir sympathisirten – doch der Arzt ist bereit, also mag der Kranke reden.“
Der Assessor begann: „Ich darf als Dir bekannt voraussetzen, daß ich vor ungefähr sieben Jahren mich verheirathet habe …“
„Ich habe es aus der mir geschickten Trauungskarte erfahren,“ entgegnete Weindler, „aber unsere weite Entfernung, und wenn Du so willst, auch die durch Leben und Beruf hervorgebrachte Entfremdung ist Ursache, daß ich von Deinen Familienverhältnissen so viel als nichts weiß. Ich hielt Dich für einen glücklichen Hausvater, bis mich der Eintritt in Dein Haus belehrte, daß es darin nicht ist, wie es sein soll. Bist Du Wittwer? Oder was ist’s mit Deiner Frau? Ich meine, ich habe so etwas von einer Jugendliebschaft munkeln gehört …“
„Das war so recht eigentlich der Fall,“ entgegnete der Assessor; „Therese ist die Tochter eines wohlhabenden und geachteten Kaufmanns in derselben Stadt, wohin mein Vater von seinem Berufe als Gymnasiallehrer geführt worden war. Die Familien waren Wohnungs-Nachbarn; es traf sich also ganz natürlich, daß die Kinder in steten Verkehr und Umgang mit einander kamen, um so mehr, als wir annähernd von gleichem Alter waren. Ein drittes Kind, ein Mädchen, das armen Tagelöhnersleuten im Hause angehörte, schloß sich uns als freundliche Spielgenossin an und bildete zugleich eine Art unparteiischer oder vermittelnder Macht zwischen mir und Theresen. Sie war die beiderseitige Vertraute in unsern nicht selten vorkommenden kindischen Streitigkeiten; darum ward sie auch regelmäßig die Versöhnerin und schien eine Art Stolz darein zu setzen, in solcher Weise zu dienen und gewissermaßen doch zu herrschen. Sie war mehr zurückgezogen und beobachtend, Therese rasch, leidenschaftlich und von rücksichtsloser Offenheit. Es verstand sich unter uns von selbst, daß wir zusammen gehörten; ohne darüber gedacht und gesprochen zu haben, wußten, dachten und empfanden wir nichts Anderes, und unsere Freundin stand wie eine Art Wächter neben dieser Gewißheit. Die reiferen Jugendjahre machten gleichwohl dem liebgewordenen Umgange ein betrübtes Ende: ich mußte fort und kam, da mein Vater inzwischen wegen Beförderung seinen Wohnort veränderte, eine lange Reihe von Jahren hindurch nicht mehr in Theresens Heimath. So schwer mir die Trennung zuerst gefallen war: Studien, andere Erlebnisse und die Zeit drängten das Bild allmählich immer mehr zurück, bis es beinahe ganz verblaßte und nichts davon übrig blieb, als die Erinnerung eines Kinderspiels, wie man so manche gern mit sich herumträgt im Leben … Doch ich thue Unrecht, Dich mit solchen kindischen Dingen zu behelligen! Materiell gleich allen Aerzten wird Dir der Sinn für den feinen Duft eines solchen verwelkten Frühlings abgehen, der gleichwohl nun zu den kostbarsten Juwelen in der Schatzkammer meiner Erinnerungen gehört.“
„Ich werde es Dir nicht verargen, wenn Du Dich kürzer fassen kannst,“ erwiderte lächelnd der Arzt. „Derlei Bekanntschaften im Leben hat wohl Jeder gehabt! Auch ich könnte damit aufwarten; aber mich an diese Tölpeleien zu erinnern, macht mir ebensowenig Vergnügen, als wenn ich meine ersten Schreibhefte wieder durchgehen sollte!“
„Kurz gefaßt also,“ fuhr Rudolph fort, – „nach beendigten Studien, mit der ersten Anstellung in der Tasche, voll Lebenslust und Lebenshoffnung, führte mich eine Vergnügungsreise mit einigen Freunden wieder an die Stätte meiner Jugend. Natürlich gedachte ich dabei auch an Theresen, aber mit nicht mehr als kühler Neugierde, und wollte daher auch nur ganz kurze Zeit in dem Städtchen verweilen. Der Gedanke einer Heirath lag mir im Allgemeinen noch ganz und gar fern; wohl hatte ich hie und da meinen Blick auf Frauen- und Mädchen-Gestalten herumstreifen lassen, – er war immer zurückgekehrt, ohne das leiseste Herzklopfen zu verursachen. So sah ich Theresen wieder – ein blühendes, schönes Mädchen, herrlich entwickelt in jeder Beziehung, die Zierde ihres Geschlechts …“
„Auch damit kannst Du mich verschonen, mein Freund,“ entgegnete der Arzt. „Das versteht sich von selbst! Sie war ein Engel; Du verliebtest Dich in den Engel, der Engel in Dich, und das Ende vom Liede war der gewöhnliche Ausgang aller Lustspiele, eine höchst prosaische Hochzeit!“
„Allerdings war es ein Lustspiel,“ rief Rudolph seufzend, „aber eines der feinsten und entzückendsten Art! Leider, daß, nachdem der Lustspielvorhang gefallen war, die Bühne sich wieder zu einem Trauerspiele öffnete, das nicht erschütternder sein konnte.“
„So schieß’ endlich los!“ rief Weindler ungeduldig. „Du hast mit keinem Poeten zu thun, bei dem Du durch Spannung die Wirkung erhöhen kannst! Sage mir einfach, was es ist mit Deiner Frau – denn darauf kommt es doch hinaus, wie ich merke. Warum hab’ ich sie nicht gesehen? Wo ist sie?“
[212] „Habe nur noch eine kleine Geduld und spiele auch mir gegenüber den Arzt! Du mußt Dir ja doch die Schmerzen des Kranken und ihre Veranlassung erklären lassen! – Wir sahen uns wieder und erkannten Beide im ersten Augenblick, daß alle unsere Jugenderlebnisse nur das Vorspiel dieses Wiedersehens gewesen – wir wußten nun, daß wir uns schon damals geliebt hatten; das erste Wort dieses Bekenntnisses vereinigte uns nicht erst, es zeigte uns, daß wir, ohne es zu ahnen, einander schon angehörten. Unsere Verbindung, der keinerlei Hindernisse im Wege standen, wurde bald vollzogen, und ich führte mit Theresen das Glück in der schönsten Bedeutung dieses Wortes in mein Haus. Niemand war mehr über das Ergebniß erfreut, als unsere Jugendgespielin Amalie. Nach meiner Entfernung hatte sie sich noch inniger an Theresen angeschlossen; sie ward unzertrennlich von ihr und nahm dadurch – anfangs zufällig, dann mit Absicht, an ihrem Unterricht Theil. So wuchs sie mit Theresen heran, eine ernstere liebevolle Freundin, und verweilte in ihrem elterlichen Hause, bis ich Theresen daraus entführte. Wir zogen hierher, Amalie nahm eine Stelle als Erzieherin an, nachdem sie unseren Wunsch, auch ferner mit uns zusammen zu leben, hartnäckig zurückgewiesen hatte. – Meine Ehe mit Theresen war eine von den wenigen, in welchen ein vollendeter Zusammenklang der Gemüther, ein gegenseitiges Sichverstehen und Entgegenkommen zur Erscheinung kommt. Therese war nicht blos eine Hausfrau im tüchtigsten und zugleich im zierlichsten Sinne, sie war ein Musterbild edler Weiblichkeit, durch ihre bloße Berührung auch das Alltäglichste erhebend und verschönernd. Die Häuslichkeit ward meine Welt, und ich habe außer ihr zu leben verlernt. Im freundlichen Austausche unserer Ansichten, in gemeinsamem Lesen entwickelten sich unsere Herzen zu immer steigender Verwandtschaft, und was ja noch fehlte, ergänzte die Allzauberin – Musik. Therese besaß eine zwar nicht starke, aber wundersüße Altstimme, und so flog am Piano die Zeit wie spielend dahin! – Wie spielend – ja, das war der rechte Ausdruck, denn spielend begreift man nicht, wie kostbar die Minuten sind!“
Weindler streifte die Asche von der Cigarre und rückte mit einer Gebehrde der Ungeduld auf dem Stuhle.
„Ich bin am Wendepunkt angelangt,“ sagte Rudolph, es bemerkend, „abwärts zum Sturze geht es schneller, als hinauf zum Gipfel. – Unser Glück erreichte den höchsten Grad mit der Geburt meiner Anna; ich sah in ihr ein lebenden Pfand für dessen Beständigkeit, um nur zu bald enttäuscht zu werden. Zwei Jahre – sie werden der Kern und Inhalt meines ganzen Lebens bleiben – zwei himmelvolle Jahre gingen uns so dahin; die Geburt eines Sohnes vermehrte die Zahl unserer Lieben und unserer Freuden … da trat die Katastrophe meines Lebens ein …. Mutter und Kind befanden sich vollkommen wohl, als wir Nachts durch den Brand des Nachbarhauses aufgeschreckt wurden. Die Gefahr war plötzlich da, und in der drohendsten Gestalt, denn nach wenigen Minuten hatten die Flammen schon das Dach über uns ergriffen. Im eigentlichsten Sinne durch Rauch und Feuer, mußte das Kind und die noch zu Bette liegende Mutter weggebracht werden. Zwar gelang es bald darauf, des Brandes Meister zu werden; der größte Theil meiner Habe war gerettet – aber ich hatte verloren, was unersetzbar war. Die vernichtende Wirkung des Schreckens hatte Theresen in ein heftiges Fieber versetzt; sie erkannte Niemand mehr, phantasirte fortwährend und schien am Rande des Grabes zu stehen … Der Knabe starb nach wenigen Tagen … erlaß mir, Dir zu schildern, was ich litt – und doch, was war alles damals Empfundene gegen das, was meiner noch harrte! … Therese genas körperlich – aber vergebens hofften wir, die Klarheit ihres Bewußtseins zurückkehren zu sehen – nach wenigen Tagen blieb nur die entsetzliche Gewißheit … daß sie wahnsinnig geworden …“
Der Erzähler athmete tief auf, schlug die Hände vor’s Gesicht und machte eine Pause, um sich von der angreifenden Erinnerung zu erholen.
[225] Der Doctor zündete die ausgegangene Cigarre wieder an, und indem er einen Schluck aus dem Weinglase that, sagte er: „Das ist schlimm, sehr schlimm! Eine Milchversetzung vermuthlich … verkehrte Behandlung dazu … ich kenne das! – Nun, und weiter?“
„Das Weitere kannst Du Dir denken. Alles, was nur die Kunst der Aerzte vermochte, wurde von mir und Theresens Eltern aufgeboten, kein Opfer wurde gescheut, sie wieder herzustellen – es war vergebens. In sich gekehrt und still brütete sie fortwährend vor sich und hatte sogar für mich und ihre Tochter das Gedächtniß verloren. Zuletzt machten Anfälle von Tobsucht es unvermeidlich, sie in einer Irrenanstalt unterzubringen – war es doch zugleich die letzte Hoffnung, sie wieder hergestellt zu sehen …. O mein Freund, wie soll ich Dir den Auftritt schildern, als sie aus dem Hause schied, das durch sie eine Stätte des Glücks, ein Tempel der Freude gewesen! Als ich sie, die einst lächelnd, blühend, voll Frohsinn und Entzücken in dasselbe eingezogen war, nun verwelkt, gebrochen, zerstört hinausgeleiten mußte in den entsetzlichen Aufenthalt! Ich begreife noch jetzt nicht, wie ich es überlebte!“
Der Doctor blickte ihn theilnehmend an. „Ich glaube Dir’s, lieber Freund; Du bist allerdings bitter heimgesucht. – Aber was gedenkst Du nun zu thun? Was soll ich mit der ganzen Sache?“
„Der Arzt der Anstalt schildert Theresens Zustand unverändert als denselben und gibt keine Hoffnung, daß er ein Ende nehmen werde. Ich habe Zutrauen zu Deinem medicinischen Wissen; deshalb habe ich Dich gebeten, hierher zu kommen, um mit mir die Kranke in der Anstalt zu besuchen, zu beobachten, für ihre Heilung zu wirken und mir den Trost zu geben, daß nicht alle Hoffnung verloren ist.“
„Ich bin herzlich gern zu dem traurigen Dienst bereit,“ erwiderte der Doctor, indem er aufstand und dem Freunde die Hand schüttelte. „Du hast Recht, Du hast mich allerdings nicht wegen etwas Unbedeutendem bemüht, sei daher überzeugt, daß ich alle meine Kraft aufbieten werde, zu helfen oder doch zu lindern. Indessen thut es noth, daß Du Dich selbst zusammen nimmst und Dich Deinem Kummer nicht zu sehr hingibst – das Kopfleiden, von dem Du mir erzählt, verträgt solche Aufregungen nicht … Wann wollen wir aber hin?“
„Ich habe mich für den morgigen Tag vom Dienste frei gemacht; wenn es Dir also genehm ist, kann es morgen geschehen,“ antwortete Rudolph. Als der Doctor beistimmend nickte, erhob er sich und rief: „Laß uns nun die Ruhe suchen, wir werden gesammelter Kraft bedürfen!“
Am andern Morgen, eh’ es kaum hell geworden war, rollte ein Wagen mit den beiden Freunden der Irrenanstalt Wallhof zu, und hielt nach einigen Stunden in einem schönen waldumschlossenen Thalgrunde vor der Thür des verhängnißvollen Hauses.
Als auf das Glockenzeichen der Pförtner öffnete, und aus dem breiten lichten Hausgange, in welchen man hineinsah, ein kühler Luftzug strich, wankte Rudolph und drohte, vor innerer Erschütterung zusammenzubrechen. Weindler ermunterte ihn. „Fasse Dich,“ sagte er, „oder bleibe hier, wenn schon die Erwartung Dich so sehr angreift. Du verträgst den wirklichen Anblick nicht – also laß mich allein gehen, ich bedarf Deiner nicht.“
„Nein,“ rief Rudolph abwehrend, „es war nur ein vorübergehender Schwindel – ich will und muß sie sehen! Es war nichts als eine eigenthümlich beklemmende Empfindung, die mich beim Oeffnen der Thüre befiel … es ward mir so unheimlich, als ob sie sich für mich selbst öffnete! Gott, Gott, wie entsetzlich muß es sein, in solchem Zustande zu leben! …“
Nach einigen Augenblicken raffte er sich zusammen und schritt an des Doctors Seite gefaßt durch die hallenden Gänge. Die Gespräche mit dem Arzte und Vorstand der Anstalt waren bald beendigt, und in kurzer Zeit standen sie vor Theresens Zelle.
„Treten Sie immer ein,“ sagte der Arzt, „Nummer acht ist keine von den gefährlichen Irren. Die tobsüchtigen Anfälle haben sich längst verloren und einer tiefen Melancholie Platz gemacht, die bisher trotz aller Versuche nicht zu verscheuchen war. Alles, sogar die Musik, welche die Kranke so sehr geliebt haben soll, habe ich vergebens angewendet. Sie leidet an dem fixen Gedanken, daß sie bis zum Abend eine bestimmte Arbeit für ihr Kind zu Ende bringen müsse, und so sitzt sie den ganzen Tag über und zupft wortlos an irgend einem Fleckchen Zeug, das man ihr reichen muß, und beginnt morgen, wo sie heute aufgehört hat.“
Man trat ein. In der Fenster-Ecke des weißgetünchten unscheinbaren Zimmers saß, am Boden kauernd, eine weibliche Gestalt mit bleichem ausdruckslosem Gesicht, über das glänzend schwarzes Haar in wirren Flechten herunter fiel. Vor sich auf den Knieen hielt sie ein Stückchen Leinwand, das sie emsig und ohne aufzublicken, in feine Fasern zerzauste. Sie wurde durch den Eintritt der Kommenden nicht gestört und schien sie nicht im Geringsten zu beachten.
Rudolph hatte wieder eine Anwandlung, wie beim Eintritt in das Haus; ohne den stützenden Arm des Freundes wäre er zusammengesunken. „Sammle Dich!“ rief dieser. „Rede sie an; ich will sehen, welche Wirkung Deine Stimme auf sie hervorbringt.“
[226] Der Assessor war todtenbleich; er zitterte, und kalter Schweiß stand in großen Tropfen an seiner Stirn. „Es ist entsetzlich!“ murmelte er vor sich hin. „Dieses Jammerbild und die Engelsgestalt meiner Therese!“ Endlich ermannte er sich, trat ihr einen Schritt näher und rief in einem Tone, der allen Anwesenden in die Seele drang: „Therese! Mein theures, geliebtes Weib – erhebe Dich! Komm’ zu mir, Therese, kennst Du mich nicht mehr?“
Die Wahnsinnige hob beim ersten Laut den Kopf ein wenig nach der Seite empor, blickte aber nicht auf; im nächsten Augenblicke sank sie wieder zusammen und fuhr in ihrer Arbeit fort.
Rudolph ertrug den Anblick nicht länger; er schwankte hinaus, während Weindler mit dem Arzte des Hauses in der Zelle zurück blieb, die genauere Untersuchung der Kranken vorzunehmen und sich die Geschichte ihrer bisherigen Behandlung erzählen zu lassen.
Der Abend brach ein, als die Freunde zur Stadt zurück kehrten. Rudolph war sehr angegriffen und vermied es sichtlich, Weindler um seine Meinung zu fragen, er wollte halb unwillkürlich die Entscheidung so lange wie möglich verzögern. Weindler war der entgegengesetzten Ansicht; rasch sollte geschehen, was doch unvermeidlich war.
„Das Geschäft, wegen dessen Du mich berufen hast,“ sagte er, „ist zu Ende. Meine Kranken rufen mich wieder nach Hause; ich werde keinen Augenblick länger, als unumgänglich nöthig ist, fortbleiben und will morgen mit dem Frühesten abreisen. Laß’ uns daher Deine Angelegenheit noch heut’ in’s Reine bringen. – Du willst mein Urtheil über den Zustand Deiner Gattin hören und würdest mich nicht gefragt haben, wenn Du nicht gerade von mir offene, rückhaltlose Wahrheit zu hören hofftest – die sollst Du denn auch erfahren …“
Eine leidenschaftliche Bewegung Rudolphs hieß ihn inne halten; dann begann er wieder: „Ich habe Deine Frau genau untersucht und beobachtet, habe die trefflich geführten Tagebücher des Arztes geprüft und muß Dir sagen, daß ich hiernach den Zustand Deiner Frau als einen solchen erkläre, zu dessen Heilung Menschenkunst nicht ausreicht. Sie ist, was wir Aerzte sagen – unheilbar!“
Rudolph sank im höchsten Grade erschüttert in den Wagen zurück. „Also nie wieder!“ rief er schmerzlich. „Dieses schöne Leben unwiderruflich dahin, dieser herrliche Geist unerbittlich zerstört! O wie öde liegt nun mein Dasein vor wir – die letzte Hoffnung ist mir genommen!“
Eine kleine Pause trat ein, dann begann der Arzt auf’s Neue: „Sie ist unheilbar – das ist gewiß, und wenn Du die Aerzte der halben Welt zusammen riefest, ihr Urtheil wird das nämliche sein. Die Wissenschaft kann irren, wo es gilt, einzugreifen und die Natur zu bestimmen; aber ihr Ausspruch ist unerschütterlich, wo es sich nur darum handelt, eine Zerstörung festzustellen, welche die Natur selbst begangen hat. – Aber fasse Dich, ertrage das Unvermeidliche als ein Mann! Auch leuchtet mir nicht ein, warum mit diesem Verluste aus der Vergangenheit auch die ganze Zukunft verloren sein soll. Nimm Dich zusammen und betrachte die Verhältnisse ohne alle Sentimentalität und wie sie nun einmal sind. Du bist es Dir selbst und Deiner Tochter schuldig, Dich aus dieser Versunkenheit aufzuraffen. Denke lieber daran, wie Du Deine Verhältnisse ordnen und Dir das neue Glück gründen kannst, dessen Ihr Beide bedürft!“
„Ein neues Glück!“ seufzte Rudolph. „Es ist nicht möglich!“
„Ob es möglich ist, weiß ich nicht,“ rief Weindler, „aber zu versuchen ist es wenigstens. Als Rechtskundiger weißt Du selbst, daß der unheilbare Wahnsinn Deiner Frau Dir das Mittel an die Hand gibt, Dich von ihr zu trennen und ein neues Bündniß einzugehen, das Dich, wenn nicht eben so beglücken, so doch vergessen lassen kann, was Du verlorst.“
„Nein!“ entgegnete rasch der Assessor. „Soll ich mich von ihr lossagen, sie in ihrem entsetzlichen Zustand sich selbst überlassen?“
„Das sag’ ich nicht!“ antwortete der Arzt. „Sorge für sie, wie man für einen Menschen in diesem Zustande sorgen kann; sorge für sie, wie für eine Person, die Dir das Theuerste auf der Welt war, aber sorge dann auch für Dich! Wie kannst Du sagen, das hieße Dich von ihr lossagen? Ist sie nicht bereits von Dir durch eine Kluft geschieden, tiefer und unausfüllbarer als jede andere? Du hast keine Gattin, Deine Tochter keine Mutter an ihr; sie ist nichts mehr als ein vegetirender Körper, der kein Recht hat, Dich in Deinen Lebensentschlüssen zu hemmen, kein Recht, zu verlangen, daß Du um seinetwillen allen Ansprüchen an das Dasein entsagst. Ueberlege Dir die Sache, fasse sie fest in’s Auge: alle Dinge gewinnen ein anderes Ansehen, wenn man sie an sich heran rückt und genau und lange betrachtet. Ich gebe zu, daß der Gedanke Dich im ersten Augenblick verletzt, allein Du wirst finden, daß es im Grunde doch nur falsche Empfindsamkeit ist, wenn Du Dein volles berechtigtes Leben für immer an ein halb erstorbenes knüpfen willst.“
Der Wagen hielt vor dem Hause; Rudolph erwiderte nichts, und mit einem herzlichen Händedruck gingen Beide schweigend in ihre Zimmer. Am andern Morgen nach kurzem, herzlichem Abschiede der Freunde rollte der Wagen mit dem Arzte davon. Das Abends zwischen ihnen Besprochene war nicht mehr berührt worden.
Tage und Wochen gingen in gewohnter stiller Weise vorüber; nur daß Rudolph noch zurückgezogener, noch einsylbiger geworden war, als früher. Er blieb, wenn er zu Hause war, fast immer abgeschlossen in seinem Arbeitszimmer, in welches Niemand ungerufen kam, als Anna. Diese zog er denn auch in jeder Weise an sich, und suchte sie und sich allmählich von der bisherigen Art des häuslichen Lebens und insbesondere von dem Umgange mit Amalien zu entwöhnen. Es war am klügsten, wenn sie dieselbe nach und nach entbehren lernte, denn Rudolphs Entschluß stand fest. Er wollte dem Wunsche Amaliens, das Haus zu verlassen, kein Hinderniß entgegen setzen, und hatte schon seinen Plan gemacht, wie es nach ihrer Entfernung werden sollte. Er hoffte, mit einer zuverlässigen alten Dienstmagd, die ihm empfohlen worden, die Besorgung des Haushaltes selbst überwachen zu können; für sich selbst bedurfte er ja so wenig, und was Anna an dem bildenden und belehrenden Umgange der Erzieherin verlor, das sollte ihr seine ausschließende Liebe, seine verdoppelte Zärtlichkeit ersetzen.
Wohl waren die Mahnungen des Freundes in seinem Gemüthe nicht wirkungslos verhallt; unter der Frische des ersten Eindrucks erschien seine Darstellung als klar unwiderleglich. So sehr sein Gefühl sich dagegen sträubte, er mußte sich selbst gestehen, daß seine eigenen Gedanken schon hier und da denselben Weg eingeschlagen hatten, daß der Ausweg ein vor Recht und Gesetz tadelloser war – dennoch reichten nach Weindlers Abreise wenige Stunden des Alleinseins hin, ihn wieder umzustimmen und ihm das, was sein Verstand billigen mußte, als herzlose Härte erscheinen zu lassen. Erweicht blieb er vor dem Piano stehen, dem Therese so süße Töne zu entlocken gewußt hatte und das seit ihrer Entfernung stumm und verschlossen dastand – er langte von der Wand oberhalb seines Schreibtisches ein von Theresen gesticktes Uhrkissen herab, das aus ihren Haaren gebildet seinen Namenszug trug. – Beim Anblick der holden Liebespfänder gelobte er sich aufs Neue, das Unvermeidliche mit Fassung zu ertragen. Er verzichtete auf jedes weitere Lebensglück, als das, welches in Anna’s Entwicklung ihm entgegenblühte.
Diese fühlte die eingetretene Veränderung sehr schwer; sie hing an Amalien wie an einer Mutter und wollte durchaus den ständigen Umgang mit ihr sich nicht schmälern lassen. Sie liebte ihren Vater, aber sie liebte Amalien ebenso sehr, und wenn dessen Ernst trotz aller Güte und Herzlichkeit sie ferne hielt und einschüchterte, flog der mütterlichen Freundin alle Lust und Freude des Kinderherzens entgegen. Es gab Auftritte, denen alle Vorsicht Rudolphs den darin liegenden Stachel nicht zu nehmen vermochte, und wenn die Verhältnisse sich gleichwohl ruhig und anständig abwickelten, war es nur Amaliens Werk. Ohne die mindeste Gereiztheit oder Bitterkeit zu verrathen, verständig und besonnen und doch geschmeidig wie immer, wußte sie die schärfsten Kanten zu brechen oder zu umgehen und ging mit weiblicher Feinheit auf Rudolphs unausgesprochenen Plan beistimmend und fördernd ein, während sie andererseits wieder ihr ganzes Benehmen so einzurichten wußte, als geschähe all’ dieses absichtslos, und als habe sie keine Ahnung von dem, was man vorhabe.
Rndolph bemerkte und empfand dies mit lebhaftem Dank, und doch wieder mit Unbehagen, es machte Amalien nur um so mehr in seiner Achtung steigen und erhöhte seine Verbindlichkeiten gegen sie, deren er doch am liebsten sich entledigt hätte. Er nahm sich daher vor, bei Amaliens Abschied die Sache zur Sprache zu bringen.
Als er eines Abends vom Gerichte nach Hause kam, wo ihm [227] die neugedungene alte Wirthschafterin mit zudringlicher Höflichkeit die Thüre öffnete, traf er Anna in Thränen schwimmend und auf seinem Arbeitstisch ein versiegeltes Päckchen. Es enthielt die Schlüssel, welche Amalien übergeben gewesen waren, ihre Abrechnung bis zum letzten Augenblick und ein kurzes freundliches Abschiedsbillet. Sie traue sich, schrieb sie, die Festigkeit nicht zu, aus dem ihr so liebgewordenen Hause so ruhig zu scheiden, wie es um Anna’s willen nöthig sei; darum habe sie, auf seine Zustimmung zählend, es vorgezogen, dem Abschiede durch eine unvermuthete und etwas frühere Entfernung auszuweichen. Sie zeigte Rudolph an, daß sie auf dem benachbarten Gute einer adeligen Familie eine Stelle als Erzieherin angenommen habe, und schloß mit der Bitte, ihrer in liebender Freundschaft zu gedenken.
Rudolph konnte Amaliens Benehmen nicht mißbilligen; gleichwohl berührte es ihn unangenehm, denn es blieb dadurch so Vieles zwischen ihm und ihr unausgeglichen, was er sich für den Abschied vorgenommen hatte, zu thun. Auch liebte er, durch seinen Beruf an eine streng ordnungsmäßige Abwicklung aller Verhältnisse gewöhnt, derlei rasche und unvermuthete Ereignisse nicht, weil sie sich mehr oder minder störend in seine wohlüberdachten Pläne und Berechnungen drängten. Indessen, es war geschehen; er beruhigte Anna, so gut es gehen wollte, mit dem Versprechen, Amalien besuchen zu dürfen, und ging der Neugestaltung feines Hauses mit entschlossener Zuversicht entgegen.
Je fester aber diese Zuversicht gewesen, desto empfindlicher war die Reihe bitterer Enttäuschungen, die der neue Zustand ihm täglich, ja stündlich bereitete. Er fühlte sich beengt, ja geradezu verletzt durch die Menge und Art peinlicher Kleinigkeiten, die alle ihre Lösung von ihm, der in einer ganz andern Sphäre lebte, erwarteten – deren Nichtbeachtung sich empfindlich rächt, die aber, von der Sorge einer Hausfrau überwacht, gar nicht oder doch nur selten in den Gedankenkreis des Mannes hinüberspielen. Der Unterschied zwischen dem Walten einer liebenden Hausfrau und der eigensüchtigen Thätigkeit einer Miethlingshand war ihm nie so klar und überzeugend entgegen getreten. Während Amaliens Anwesenheit hatte er nichts davon empfunden; auch sie war mit Liebe an ihrer Stelle gestanden.
Unterschleif jeder Art begegnete ihm und widerte ihn unsäglich an, nicht sowohl wegen des Schadens, den er dadurch erlitt, als wegen des gemeinen Sinns, wegen des mißbrauchten Vertrauens, das sich darin kund gab. Bald konnte er sich auch der Wahrnehmung nicht verschließen, daß jene Pünktlichkeit und Sauberkeit des Hauses abnahm, welche, von Theresen geschaffen und von Amalien bewahrt, ein Lebensbedürfniß für ihn geworden war. Mit Grauen sah und bedachte er, welchen Einfluß solcher Umgang und solches Beispiel auf Anna haben müßte, und mußte zweifeln, ob seine angestrengteste Sorgfalt und Liebe auf die Dauer im Stande sein werde, denselben aufzuheben. Zwar hatte er, um während der Zeit, in welcher ihn der Dienst in Anspruch nahm, sein Kind gut aufgehoben zu wissen, dafür gesorgt, daß Anna eine nahe gelegene Erziehungsanstalt besuchte, allein er fühlte täglich schmerzlicher, daß sie dort, wie im Hause selbst, fremden Händen übergeben war. Sein einziger Trost war Anna’s Liebe und Anhänglichkeit an ihn, die sich nun, da sie allein auf ihn angewiesen war, mit jedem Tage steigerte. Sie konnte den Augenblick seiner Heimkehr fast nie erwarten und war dann unzertrennlich von ihm. Aber auch hier war ihm bald die Ueberzeugung unabweislich, daß das Mädchen zur vollen entsprechenden Entwicklung weiblicher Anleitung bedurfte, die auf weiblicher Anschauung und weiblichem Wesen beruht. Am peinlichsten waren ihm die vielen Fragen, mit denen ihn Anna gleich allen lebhaften Kindernaturen bestürmte, und worunter jene wegen Amalien und ihrer dem Kinde unbegreiflichen Entfernung am häufigsten und dringendsten wiederkehrten.
Die Sache erreichte ihren Gipfel, als Anna nicht unbedenklich erkrankte und nun doppelt die Sorge einer liebenden Mutter vermißte, während ihm der Gedanke, sie allein und hülflos daheim lassen zu müssen, geradezu unerträglich wurde.
So war es natürlich, wenn die frühern Gedanken, so ernst sie zurückgewiesen worden waren, unwillkürlich und in immer kürzeren Zwischenräumen wieder auftauchten. Ein über ganz andere Dinge geschriebener Brief Weindlers, der eben während Anna’s Krankheit eintraf, reifte die Entscheidung. In einer Nachschrift hieß es: „Ich habe noch immer nichts über eine Wendung Deiner Familienverhältnisse vernommen, muß also annehmen, daß Du noch nicht die Kraft des Entschlusses in Dir gefunden hast und Alles beim Alten ist. Habe ich ganz in den Wind geredet? Ich meine, das sollte schon um Deines lieben Kindes willen nicht sein!“
Damit hatte er den allerempfindlichsten Punkt getroffen; von ihm aus betrachtet, hatten alle Gründe des kaltblütigen Arztes, die jetzt mit neuer Stärke vor seine Erinnerung traten, ein anderes und zwar ein doppelt überzeugendes Ansehen. Fast jeder Tag legte ein Sandkorn neuer Unannehmlichkeiten in die schwankende Wagschale, bis sie sank. Der Plan einer Scheidung wegen Theresens unheilbarem Wahnsinn ward zum Entschlusse und sollte zur That werden.
Nach einer langen schlummerlosen Nacht trat Rudolph vor den Arbeitstisch, nahm das Uhrkissen mit Theresens Haaren herab und sah es lange mit den heißgewachten ermüdeten Augen an. „Ich werde Dir und Deinem Andenken nicht ungetreu!“ rief er, seine Lippen auf die verblichene Locke drückend. „Ich scheide nicht von Dir! Ich verbinde mich Dir noch inniger, denn es ist Dein geliebtes einziges Kind, Dein Ebenbild, wegen dessen ich den verhängnißvollen Schritt thue! Bleibe stets um mich als segnender Engel, wie Du nicht aufhören wirst, in meinem Herzen zu wohnen!“
Beruhigter hängte er das Kissen wieder an seine Stelle, schloß Anna, die zum Morgengruße hereingehüpft kam, mit innigem Kusse an sich und ging an’s Werk.
Die Zeugnisse der Aerzte über Theresens Unheilbarkeit waren bald in aller Form und vollkommenster Uebereinstimmung erlangt; die nicht zweifelhafte Entscheidung des Gerichts ließ ebenfalls nicht lange auf sich warten, und Rudolph war von seinen Banden befreit, ehe er auf den neuen Zustand noch vollständig sich vorbereitet hatte. Lange und mit eigenthümlich gemischten Empfindungen hielt er das inhaltschwere Blatt in der Hand. Er hatte besorgt, dieser Schritt werde ihn, wenn er gethan sei, wie ein begangenes Unrecht innerlich mit Theresens Andenken entzweien – zu seiner Ueberraschung fand er gerade das Gegentheil in sich. Sie stand ihm immer noch nahe, wie eine theure unglückliche Schwester, für die er in gleicher liebevoller Weise gesorgt haben würde – zugleich aber empfand er mit angenehmem Behagen, daß eine schwere Last ihm abgenommen war. Er war der Welt und sich selbst wiedergegeben.
Dem ersten Schritte folgte naturgemäß der zweite. Rudolph dachte an Wiederverehelichung, und es war wohl begreiflich, daß seine Gedanken sich zunächst auf Amalien richteten. Wohl hatte er flüchtig hier und da die bekannten Kreise überblickt, er fand nichts, was ihn zu fesseln vermocht hätte, und kehrte immer zu ihr zurück. Das Gefühl, das er für Theresen gehabt und noch in sich trug, konnte und wollte er seiner Erwählten nicht mehr entgegen bringen – von Amalien durfte er hoffen, daß sie, mit den Verhältnissen vertraut, sich mit dem freundlichen und herzlichen Wohlwollen begnügen werde, das ihn schon mit der Jugendgespielin vereinigt hatte und das in gleicher Stärke wie in gleicher Dauer unter allen Verhältnissen bewährt geblieben war.
Der inzwischen herangekommene Winter war vorüber; es war wieder Frühling, und Rudolph benutzte den ersten heitern Tag des wieder erwachten Naturlebens, um Anna den längst versprochenen Besuch bei Amalien machen zu lassen. Mit einer der Lehrerinnen, die er darum gebeten, ließ er das entzückte Kind nach dem Landgute fahren, wo sie sich befand, und übergab ihm den Brief, der seine Bewerbung enthielt. Es schien ihm bedeutungsvoll, daß sie ihn aus der Hand des Kindes empfange; dessen Stimme sollte es gleichsam sein, die sie in sein Haus und an seine Seite rief.
Rudolph glaubte an Amaliens Entschluß, so wie er sie kannte, nicht zweifeln zu dürfen; gleichwohl erwartete er mit Bangen den Augenblick, bis Anna Abends zurück kam, und mit ihm selbst befremdlichen Herzklopfen empfing er den Antwortbrief, den sie brachte. Er gewann es über sich, ihn uneröffnet bei Seite zu legen und dem freudig verworrenen Berichte des Kindes zu lauschen, das von den erlebten Herrlichkeiten und von dem Wiedersehen Amaliens nicht genug zu erzählen wußte. Erst als sie, müde von den überwältigenden Eindrücken, vorzeitig eingeschlafen, erbrach er in der Einsamkeit seines Zimmers das entscheidende Siegel.
Er kannte Amaliens Handschrift; der Brief war klar und fest geschrieben – höchstens hier und da verrieth ein minder ruhig geführter Strich, daß die Hand, die ihn führte, etwas gezittert haben mochte. „Sie bieten mir Ihre Hand,“ schrieb sie, „und verhehlen [228] mir nicht, daß Ihr Herz Theresen gehört und gehören wird. Entgegen mache auch ich Ihnen kein Hehl daraus, daß nach meiner Ueberzeugung eine ohne Zustimmung des Herzens eingegangene Ehe jederzeit zum Unheil führt; und wenn Sie das bei meiner sonstigen Anschauung – die Ihnen, wie Sie schreiben, als verständig bekannt ist – etwas befremdlich finden, werden Sie das Uebergewicht des Verstandes dennoch sogleich wieder erkennen, wenn ich Ihnen sage, daß ich, im Widerspruche mit dieser Ueberzeugung, die mir ohne Herz gebotene Hand nicht zurückweise. Ich habe drei Gründe, dies zu thun: das Andenken meiner theuersten und einzigen Freundin Therese, die Liebe zu ihrem einzigen mutterlosen Kinde und – doch den dritten Grund erlauben Sie mir bis nach der Hochzeit zurückzubehalten. – Bis nach der Hochzeit! Es ist also entschieden – ich will es mit Ihrem Wohlwollen wagen und nenne mich zum ersten Male, aber für immer – die Ihrige – Amalie.“
Der Brief war für Rudolph eine neue Beruhigung; eine Bestätigung, daß er in der verhängnißvollen Wahl nicht fehlgegriffen hatte – die ruhige Klarheit desselben machte einen günstigen Eindruck; er erinnerte sich mit Vergnügen, wie sie dieses Wesen während ihres frühern Zusammenlebens fortwährend ungetrübt und rein zu erhalten gewußt hatte, und es gab ihm Bürgschaft für die Wiederkehr eines, wenn nicht glücklichen, so doch nicht unseligen Zustandes.
Es überraschte Niemand, als sich im Städtchen die Nachricht verbreitete, Rudolph habe sich mit Amalien verlobt; wenn auch Manche den Kopf schüttelten, ging doch das allgemeine Urtheil dahin, daß es das Klügste war, was der Assessor hatte thun können. Die Hochzeit ward in der Stille gefeiert und die Trauung auf dem Landgute, wo Amalie gelebt hatte, vollzogen. Von dort führte Rudolph seine Gattin in sein Haus, in angenehm freudiger Stimmung und unter dem Jubel Anna’s, die sich vor Freude nicht zu fassen wußte, daß die geliebte Freundin wiedergekehrt war, daß sie nun für immer da bleiben sollte und daß sie nun sogar ihre Mutter geworden war. Es lag in den Verhältnissen, daß das Kind nur eine unklare Vorstellung davon hatte, was und wer eine Mutter sei; aber sie trug in dem jungen Gemüth einen so starken dunklen Drang nach der Liebe einer Mutter verschlossen, daß die bewiesene Liebe ihr Amalie längst zur Mutter gemacht hatte. Jetzt kam auch das ihr bis dahin versagte geheimnißvolle Wort hinzu und erfüllte das Kinderherz mit der reinsten Glückseligkeit.
Als Rudolph mit Amalien zum ersten Male in der wiederbetretenen Wohnung allein war, ergriff er ihre Hand und zog sie an die Brust. „Laß nun denn,“ rief er, „mit diesem ersten Kusse das Gelöbniß unseres Lebens erneuen! Möge der Himmel es hören und vor Stürmen bewahren, wie sie über uns schon dahin gegangen – der Name Therese aber sei sein Losungswort.“
„So sei es!“ erwiderte Amalie in Rudolphs Armen, den Kopf an dessen Brust gelehnt. Er blickte in ihre klaren, zu ihm emporschauenden Augen herab und schloß sie enger an sich.
„Und jetzt, nach der Hochzeit,“ sagte er lächelnd, „darf ich jetzt den dritten Grund erfahren, dem ich Dein Jawort verdanke und den Dein Brief mir verschwieg?“
Amalie antwortete nicht. Tiefer barg sie das Gesicht an die Brust des Gatten, und eine feine, tiefe Röthe flog über Wangen, Hals und Nacken.
„Nun?“ fragte er wieder und dringender. „Darf der Schleier vor diesem Geheimnisse noch nicht fallen?“
Amalie zögerte noch einen Augenblick; dann richtete sie sich auf und sah ihn mit offenen, freien Augen an. „O Ihr Blinden,“ sagte sie, „denen das Herz des Weibes ein ewiges Räthsel bleibt! – Der dritte Grund ist … weil ich Dich liebe, weil ich Dich geliebt habe, so lang ich Dich kenne, so lang ich denken kann …“
Ueberrascht blickte Rudolph auf das erröthende Weib, aber die Ueberraschung war eine freudige. Im Grunde seines Wesens trägt jeder Mensch eine Faser der Eitelkeit, und die Gewißheit, Liebe eingeflößt zu haben, ist die schönste Schmeichelei für sie. „Ist es möglich?“ rief er, „und diese Liebe hast Du in Dir verschlossen gehalten, daß auch nicht der schwächste Funken ihr Dasein verrieth?“
„O doch – ich kann mich solcher Standhaftigkeit vor mir selber nicht rühmen – aber es war gut, daß unachtsame Augen eben so wenig sehen – als blinde. Ohne die jetzt eingetretene Wendung wär’ es auch mit mir zu Grabe gegangen … Der Freundin habe ich den Geliebten geopfert; ich habe ihn dahin gegeben, um ihrem Kinde Mutter sein zu können – dem Gatten darf ich ja mein Geheimniß und mich selbst zum Opfer bringen …“
„Und es soll vergolten werden,“ erwiderte Rudolph mit weit wärmerem Kusse, als der erste gewesen war, und in seinem Herzen ging die Morgenahnung eines Gefühles auf, das er an seinem Horizonte längst für immer hinabgesunken geglaubt hatte.
Tags darauf traf ein Brief von Weindler ein, mit allerlei eingestreuten Spöttereien, aber mit entschiedner lauter Billigung des gemachten Schrittes und einem Anhängsel von jovialen, darum nicht minder herzlichen Glückwünschen. Diese erfüllten sich auch.
In Rudolphs Hause war mit Amalien, wie die Ordnung und das Gedeihen, so auch der Friede und die Heiterkeit wieder eingezogen. Er lebte und athmete wieder auf; die Schwermuth entschwand allmählich, das quälende Kopfleiden ward seltener – die Arbeiten seines Berufs, bis dahin nicht selten eine widrige, erdrückende Last, wurden ihm wieder Bedürfniß und Freude, und das Gefühl ihres Gelingens steigerte den Erfolg. Amalie blieb sich immer gleich; nie leidenschaftlich, aber immer warm, theilnehmend und anregend waltete sie wie ein freundlicher Geist in dem neu erstandenen Hause.
Am allerschönsten zeigte sich aber ihr günstiger Einfluß in der Entwicklung und Ausbildung Anna’s, die geistig und körperlich in der erwünschtesten Weise fortschritt. Sie blühte förmlich auf in dem warmen Luft- und Licht-Strom von Liebe, der das Haus durchdrang und sie umwehte. Verstand und Gemüth erschlossen sich immer bedeutender und harmonischer in ihr und ließen immer mehr die Ähnlichkeit hervortreten, die sie im ganzen Wesen mit ihrer unglücklichen Mutter hatte. Unter den hervortretenden Zügen machte sich auch ein hartnäckiger Trotz geltend, der indeß unter so kluger Leitung zu weiser Festigkeit sich zu gestalten versprach. Da die neue Ehe kinderlos blieb, trat auch kein Zwischenfall ein, welcher dabei irgendwie zu stören vermocht hätte, und Anna erhielt und verdiente die ungetheilte Aufmerksamkeit, Sorge und Liebe beider Gatten.
Mehr als zwei Jahre waren in dieser Weise ungestört und vergnügt vorübergegangen; das alte Verhältniß befestigte sich immer mehr, und mit Rudolphs Beförderung zum Rath wurde auch die äußere Stellung der Familie eine noch behaglichere. Treu wurde auch das Gelöbniß gehalten, daß das Andenken Theresens in dem Hause ein heiliges bleiben sollte; ihr Name war wirklich in gewissem Sinne dessen Losungswort, und selten verging ein Tag, an welchem nicht Rudolph und Amalie im Gespräche ihrer gedachten; keiner aber verfloß, ohne daß Amalie dem Kinde von seiner Mutter erzählte, sobald sie einmal im Stande war, das ganze Verhältniß und das Unglück zu begreifen, von dem ihre Mutter betroffen worden war. Sie hielt es für ihre Pflicht, in dem Kinde das Bild der Mutter zu erwecken und so recht lebendig zu machen, damit sie ihr wenigstens im Bilde bekannt und von ihr geliebt würde. Anna ging auch mit der ganzen ererbten Leidenschaftlichkeit ihres Wesens darauf ein, und die arme nie gesehene Mutter in ihrem bejammernswürdigen Zustande, in der schrecklichen Einsamkeit des Irrenhauses wurde bald die stete stille Sehnsucht ihrer Gedanken, der stehende dunkle Hintergrund ihrer Vorstellungen. Mit Begier hatte sie es daher auch aufgegriffen, als der Vater ihr das verwaiste Piano der Mutter übergab, und ihre Fortschritte auf demselben gehörten wirklich in’s Gebiet des Unglaublichen.
[241] An einem Abend im Hochsommer saß Rudolph auf dem Sopha unweit des geöffneten Fensters, durch welches die laue, duftige Luft in das halb dämmrig gewordene Zimmer drang. Er hatte Anna so eben wieder von der Mutter erzählt und dann aus einem hervorgesuchten Notenhefte ihr ein Lied bezeichnet, das sie stets mit Vorliebe gesungen hatte. Das Mädchen, das in der letzten Zeit ungemein rasch über das Kindermaß hinausgewachsen war, saß jetzt am Piano, um das Lied mit noch etwas unsicheren Fingern zusammen zu suchen. Es gelang wider Erwarten, und schüchtern setzte sie dann auch mit der Stimme ein, aus deren Tone Rudolph den Gesang Theresens an sein Herz dringen fühlte. „Du hast Deine Sache gut gemacht, Anna!“ rief er. „Wiederhole die Strophe … mich verlangt, sie nochmal zu hören.“
Sicherer begann jetzt die kleine Tänzerin wieder, und die einfache Melodie klang recht wehmüthig ernst durch die Dämmerung.
Ungehört von ihr und von dem Zuhörer hatte sich die im Rücken Beider befindliche Thüre geöffnet, und geräuschlos war eine Frauengestalt eingetreten, deren Umrisse das Zwielicht nur schwach erkennen ließ.
Jetzt endete das Lied; Anna schlug mächtig den Schluß-Accord an und während er verhallte, saß Rudolph, die Hand vor die Augen gedrückt, wie träumend in dem Sopha zurückgelehnt. Halblaut und fast unbewußt sprach er die Schlußzeilen des Liedes nach:
Viel Pfade zieh’n bergauf, thalab,
Sie münden all’ im stillen Grab:
Darin zu ruhn ist Schlafengehn …
„Und das Erwachen – Wiedersehn!“ schloß, ihn unterbrechend, die eingetretene Frauengestalt mit leiser, vor innerer Bewegung zitternder Stimme.
Entsetzt sprang Rudolph auf und starrte, keines Wortes mächtig, die vor ihm Stehende an. Es war eine hohe, schlanke Erscheinung, in ein unansehnliches dunkles Gewand gehüllt – von dem Antlitz war nichts erkennbar, als dessen todtenhafte Blässe, durch reiches, nur nachlässig geordnetes Haar von tiefstem Schwarz noch greller hervorgehoben.
Auch Anna flog herbei und schmiegte sich erschreckt an den Vater.
„Du erkennst mich nicht mehr,“ sagte die Frau … „ach, ich verarge es Dir nicht – aber ich, ich erkenne Dich wieder! Du bist mein Rudolph noch – das ist noch die liebe freundliche Wohnung, in der wir so glücklich waren …“
„Therese …“ stammelte Rudolph vernichtet … er erkannte die Unglückselige, aber er vermochte ihr plötzliches Erscheinen nicht zu begreifen – in einem entsetzlichen Moment zog blitzgleich Alles, was sich daran knüpfen mußte, an ihm vorüber … die Gedanken begannen ihm zu kreisen … wüthender als je riß plötzlich der lang verbannt gewesene Schmerz an den Nerven des Kopfs …
„Und dies hier …“ fuhr Therese fort … „ist dies …? O mein Gott rede, daß ich das unsägliche Glück glauben lerne … das ist Anna, mein süßes Kind? – O komm’ an mein Herz, mein Kleinod! Komm in die Arme Deiner Mutter, die Dich so lang entbehren mußte! O bringt mir Licht, daß ich mich überzeuge – Licht, daß ich Deine holden Züge sehe und Dich wieder erkenne, wie mein Herz Dich kennt trotz der Dunkelheit …“
Erschreckt wich Anna vor der eingedrungenen Unbekannten zurück, als sie sich ihr näherte. Ihre Klugheit ließ sie den Ruf nach Licht zur Ausflucht benutzen – sie eilte an den Tisch und hatte im Augenblick die schon bereit stehenden Kerzen angezündet.
Unwillkommene Klarheit lag auf der Gruppe, die mit so verschiedenen Gefühlen sich gegenüber stand.
„Sie ist’s! Es ist mein Kind!“ rief Therese und wankte mit ausgebreiteten Armen auf Anna zu – aber die Erschütterung ihres Wesens war zu stark – mit einem tiefen Seufzer brach sie in das Sopha zusammen.
Rudolph war noch immer wie versteinert.
„O wie danke ich Dir diese edle Liebe und Ausdauer!“ rief Therese wieder, indem sie den Blick ermattet in dem angenehm geschmückten Zimmer umhergleiten ließ. „Sie hat Alles bewahrt! Ich finde Alles wieder, wie ich es verließ! … Aber schweige nicht so, Rudolph … Sage auch Du mir, daß Dein Herz mich willkommen heißt! Sage mir’s zum Troste … ach, ich habe ja so viel, so unaussprechlich gelitten!“
Rudolph rang mit sich selbst – das Wort des Willkommens wollte nicht aus seinem Herzen, und das entscheidende der Wahrheit wagte er nicht auszusprechen. „Therese,“ stammelte er endlich … „Du hier … jetzt … in solcher Weise … ich begreife nicht … Anna, was stehst Du so fern? Begrüße diese Frau – es ist Deine Mutter!“
Anna hatte bis zu diesem Augenblick der Unbekannten gegenüber gestanden; sie ahnte die Wahrheit – das Herz krampfte sich ihr zusammen bei dem erschütternden Anblick derer, die sie geboren – mit hochfliegender Brust, die Hände fest davor in einander geklammert, [242] horchte sie der Entscheidung – jetzt nach dieser Rede des Vaters war kein Zweifel mehr! Die unglückliche Mutter, die sie unbekannt in ihrem Leiden geliebt, die das stete Ziel ihrer geheimen Sehnsucht gewesen, sie stand vor ihr – ihre ganze Seele flog der rührenden blassen Leidensgestalt entgegen – mit dem Aufschrei: „Mutter – meine Mutter!“ stürzte sie zu ihren Füßen hin und verbarg schluchzend das Gesicht in ihrem Schooße.
Therese zog sie zu sich empor und überdeckte sie mit glühenden, athemlosen Küssen. „O keine Worte mehr,“ rief auch sie unter stürzenden Thränen, „an diesem Herzen fühle ich, daß ich willkommen bin!“
Eine Secunde lang waltete Schweigen im Zimmer; draußen wurde die Hausglocke gezogen und tönte gellend in die unheimliche Stille.
„Verzeih’ mir, Rudolph,“ sagte Therese jetzt, „verzeihe meiner Ungeduld, Euch wieder zu sehen, daß ich Dich so plötzlich überfallen habe. Mein Erscheinen hat Dich erschreckt … ach, ich weiß ja wohl, daß ich nicht mehr jene Therese bin, die Du einst die Deinige nanntest – aber Du kannst Dir denken, was in mir vorging, als ich durch ein entsetzliches Ereigniß meine Besinnung wieder erhielt, – als ich mich an jenem entsetzlichen Orte erkannte, – als es mir zu entfliehen gelang! Hätte ich zögern können, zu Dir zu eilen? Verzeihe mir um meiner Leiden willen – nach so langer Zeit wieder laß mich am Schlage Deines Herzens fühlen, daß Du mir meine Stelle darin bewahrt hast … .“ Sie ging auf Rudolph zu und breitete die Arme aus, ihm an die Brust zu sinken … er vermochte in der Qual, die ihn durchtobte, nur wieder ihren Namen zu stammeln.
Da öffnete sich die Thüre; in dem Spalt wurde der Kopf des Dienstmädchens sichtbar, das in gleichgültigem Tone rief: „Der Herr Rath und Fräulein Anna möchten in’s Wohnzimmer kommen. Die Frau Räthin ist nach Hause gekommen.“
Therese taumelte in das Sopha zurück … Sie war noch bleicher geworden und ihr Auge starrte erschreckend. „Wer?“ lallte sie, „habe ich recht gehört? … Rudolph … es ist noch jemand in Deinem Hause, die diesen Namen trägt …? O nun, nun begreif’ ich Alles! Nun weiß ich, warum kein armes Wort des Grußes von Deinen Lippen will! Ich war lebend eine Todte für Dich – ich bin auch in Deinem Herzen gestorben!“
Das Wort der bittersten Enttäuschung war ausgesprochen – es war der heftigste Schlag des Gewitters, das auf Rudolphs Seele lag; er befreite sie und gab ihm die Fähigkeit des Denkens und Handelns zurück. Tief aufathmend, aber gefaßt, wendete er sich Theresen zu, um zu begütigen und zu erklären.
Ihr Entgegentreten verhinderte ihn daran. Sie hatte sich gesammelt und stand in würdiger Haltung vor ihm. „Verzeihen Sie, mein Herr,“ sagte sie mit gewaltsamer Ruhe, „ich hatte vergessen, daß über meiner Abwesenheit, die mir ein Augenblick geschienen, Jahre vergangen sind … ich habe keine Rechte mehr an Sie!“
„Therese,“ rief Rudolph innig, „nicht diesen Ton! Ich schwöre Dir …“
„Beschwören Sie nichts, mein Herr,“ erwiderte sie, „ich habe erfahren, was Eide bedeuten! – Kein Wort mehr … ich würde meiner Würde damit vergeben. Leben Sie wohl und verzeihen Sie mein Eindringen in ein Haus, worin keine Stelle mehr ist für mich. Ich bestrafe mich selbst für meine Uebereilung, indem ich es schweigend verlasse und nicht einmal zu wissen begehre, wer mich verdrängt hat.“ Sie machte einen Schritt gegen die Thüre zu, als dieselbe aufging und Amalie, über das lange Ausbleiben der Ihrigen befremdet, eintrat.
Therese erkannte die Jugendfreundin augenblicklich; ebenso schnell errieth und durchschaute sie den Zusammenhang. „Du bist’s?“ rief sie. „Dich treff’ ich hier? O, nun weiß ich Alles! Nun seh’ ich, Du hast den Dank abgetragen für alle Liebe, die ich zu Dir trug von Jugend auf! Freilich, Dir mußte es leicht werden, mich zu verdrängen – im Bunde mit meinem eigenen Andenken hast Du Dich in ein treues Herz geschlichen, und mich daraus verdrängt –“
Die peinliche Scene lähmte alle Betheiligten. Auf Amalien hatte Theresens plötzliches Erscheinen seine erschütternde Wirkung nicht verfehlt, aber auch bei diesem gefährlichen Anlaß bestand ihr klarer und verständiger Geist die Probe. In dem Bewußtsein, daß sie sich auch nicht die leiseste unreine Regung vorzuwerfen hatte, sammelte sie sich schnell und erwiderte gelassen: „Therese, so sehr Dein Erscheinen die Verhältnisse dieses Hauses verwickeln mag – ich begrüße Dich im Leben und in der Genesung mit jener wahren Liebe, die stets für Dich in meinem Herzen war … ich begreife Dein Leiden, Deinen Schmerz … ich fühle ihn mit und verzeihe Dir Deine Vorwürfe. Blick’ um Dich, sieh auf Gatten und Tochter … das ist meine Antwort.“
„Ich fühle, daß ich kein Recht habe, Jemand Vorwürfe zu machen,“ entgegnete Therese mit eisiger Kälte, „darum will ich Sie auch von dem Vorwurfe meiner Gegenwart befreien.“
Rudolph war in das Sopha gesunken, Amalie trat neben ihn – sie fühlte bei seinem Anblick nur zu gut, daß es doppelt galt, ihre Aufgabe bei ihm zu erfüllen. Therese schritt der Thüre zu; Anna, an ihren Arm gehängt, folgte zögernd.
„Anna!“ rief Rudolph schmerzlich, als er es bemerkte. „Wo willst Du hin?“
Hoch aufgerichtet trat Therese vor das Mädchen, als wollte sie dasselbe schützen und verdecken … „Alles habt Ihr der Verlassenen und Verstoßenen geraubt – freut Euch des Besitzes, auf den ich verzichte, aber was mein ist vor Gott und Welt, mein Kind, sollt ihr mir nicht entreißen.“
Anna stellte sich neben sie; der Trotz ihres Wesens brach aus ihrer ganzen Haltung hervor – sie war ganz das Bild der Mutter im Kleinen, sie gehörte offenbar zu ihr, sie hatte das empfunden und gewählt und schien entschlossen, sich ebenfalls zur Wehre zu setzen. „Ich gehe mit meiner Mutter,“ rief sie – und stand, hastig von dieser fortgezogen, an der Thüre.
Dort wandte sie sich, blickte mit vorstürzenden Thränen nach dem Vater und Amalien und flog in deren ihr weit entgegen gebreitete Arme. Einen heißen Kuß drückte sie auf die Lippen des Vaters und auf Amaliens Wangen – dann riß sie sich los, eilte der Mutter zu und war mit ihr verschwunden.
Die Zurückbleibenden fanden keine Worte, das Vorgefallene zu besprechen. Rudolph’s bis zur gänzlichen Betäubung gesteigertes Kopfleiden machte es unerläßlich, ihn sogleich zur Ruhe zu bringen. Die Nacht verging unter schweren Sorgen, und noch der Morgen traf Amalien schlaflos und leidend, aber gefaßt neben dem Lager des Leidenden.
Das Wiedererscheinen Theresens, ihre unerwartete Heilung konnten nicht verfehlen, allgemeines Aufsehen zu erregen. Die nächsten Tage brachten die Erklärung des fast wunderbaren Ereignisses.
In dem Irrenhause zu Wallhof war nächtlicher Weile ein Brand ausgebrochen und hatte in dem vielfach aus Holz gefügten Gebäude so ungeheuer rasch überhand genommen, daß es nach wenigen Stunden nur ein Trümmerhaufen war, und nicht einmal alle darin verwahrten Kranken gerettet werden konnten. Mehrere wurden verbrannt aufgefunden, Andere vermißt, und es war ungewiß, ob auch sie den Tod in den Flammen gefunden, oder ob sie diesem und dem Irrenhause durch die Flucht entkommen waren.
Theresens Zelle hatte sich in dem obern Stockwerke etwas abseits befunden, um ihr die Aussicht über die schönen Baumgruppen des Gartens zu gewähren, an denen sie manchmal ein Gefallen zu zeigen schien. In der durch den Brand entstandenen gräßlichen Verwirrung war sie in der entlegenen Zelle von den Wärtern und Aufsehern vergessen worden, und als man sich ihrer erinnerte, war es bereits nicht mehr möglich, durch die brennenden und einstürzenden Gänge zu ihr vorzudringen. Schlaflos in dem dunklen Gemache sitzend, sah sie dasselbe von den herandringenden Flammen allmählich immer heller und heller erleuchtet, ohne daß sie dadurch aus ihrem stumpfen Brüten aufgeweckt worden wäre. Endlich wurde die Helle blendend, die Hitze des Brandes machte sich bereits fühlbar, und nun erst begann in ihr eine Ahnung der Gefahr, in der sie schwebte, instinctmäßig aufzudämmern. Sie stand auf, bewegte sich gegen die Thüre, und als sie dieselbe verschlossen fand, taumelte sie mit wildem Aufschrei zurück und gegen das Fenster hin. Nun bemerkte sie den massenhaft durch die Ritzen und Fugen hereinqualmenden Rauch, hörte über sich das Krachen der einstürzenden Dachbalken, das wilde Geprassel der entfesselten Flammen und begriff mit einem Male, wie durch einen Blitzschlag, was vorging.
Es war gewissermaßen die Fortsetzung jener Nacht, welche sie [243] in ihren bisherigen Zustand versetzt hatte, und wie dort der Anblick des Feuertodes ihr die Sinne zerrüttete, so war es die unmittelbare Nähe desselben Schreckbildes, die das Band ihres Geistes gewaltsam abriß und ihr das Bewußtsein wiedergab.
Der erste vernünftige Gedanke war ihr Gatte, ihr Kind. Sie sah und hörte nichts von Beiden; sie rief – keine Stimme antwortete. Sie begriff nicht, wo sie sich befand und wie sie dahin gekommen war. Auch war ihr nicht viel Zeit zur Ueberlegung vergönnt; Unter und über ihr begannen bereits die Wirkungen des Feuers immer sichtbarer zu werden, und wenn sie nicht lebend die Beute der Flammen werden wollte, blieb ihr kein anderer Ausweg, als durch das Fenster. Mit der Riesenkraft der Verzweiflung rüttelte sie an demselben, bis die Vernagelung brach; von der Todesangst gehetzt, schwang sie sich hinauf und sprang, obwohl vor dem Abgrunde schaudernd, in die Tiefe. Glücklicherweise wurde die Heftigkeit des Falles durch die unten befindliche weiche Erde von Gartenbeeten gemildert, so daß sie unverletzt den Boden erreichte.
Der Lärm und das Geschrei der Löschenden, der Aufruhr des ganzen Hauses gestattete ihr, unbemerkt in dessen untere Räume zu gelangen und von dort einen Ausweg zu suchen. Um sich her sah sie mehrere ihrer bisherigen Leidensgenossen, die von den Wärtern fortgeführt, manchmal auch gewaltsam fortgeschleppt wurden – bei ihrem Anblick ward ihr auf einmal klar, wo sie sich befand, und in welchem Zustande sie bisher gelebt hatte. Zwischen dem gegenwärtigen Augenblicke aber und jenem, der sie in diesen Zustand gestürzt hatte, war für ihren Geist ein Zwischenraum nicht unterscheidbar. Es konnten ihrem Gefühle nach höchstens Tage sein, daß sie von den Ihrigen getrennt war, und sie pries Gott aus tiefster Seele, daß er das schreckliche Uebel, wenn auch durch ein nicht minder schreckliches Heilmittel, von ihr genommen und sie dem Leben, der Besinnung wiedergegeben hatte.
Trotz ihrer Schwäche und ihrer durch das Erlebte gesteigerten Abspannung dachte sie nicht daran, sich den Aufsehern des Hauses zu zeigen – ihr erster und einziger Wunsch war, die Ihrigen wiederzusehen. Dem brennenden Hause entronnen, wanderte sie rastlos auf dem ihr aus früherer Zeit im Allgemeinen bekannten Wege nach der Stadt zu. Sie wußte, daß dieselbe nur wenige Stunden entfernt sein konnte – so lange, hoffte sie, würden ihre Kräfte wohl ausreichen, und dann …. mit einem Meere von Entzücken überschauerte sie der Gedanke! … dann – in ihrem Hause, am Herzen ihres Mannes, beim Lächeln ihres Kindes, jedem Glücke zurückgegeben, dachte sie bald die entsetzliche Zeit zu vergessen, die schon jetzt wie ein verworrener, nur halbverständlicher Traum hinter ihr lag.
So erreichte sie beim Morgengrauen die Stadt und wurde nun bald durch die sonderbaren Seitenblicke, mit welchen die einzeln vorübergehenden Arbeiter oder Landleute sie musterten, daran erinnert, daß ihr Aeußeres sich wohl in einem Zustande befinden mochte, der es nicht räthlich machte, die Stadt unvorbereitet zu betreten. Die Fensterscheiben eines Landhauses vor den Thoren dienten ihr zum Spiegel; sie fuhr zurück, erschreckt von ihrem Aussehen, wie von der Zerrüttung ihrer Kleider. Es wurde ihr klar, daß sie, ohne aufzufallen, so nicht in die Stadt gelangen konnte. Sie mußte befürchten, daß ihr Hindernisse entgegengestellt würden, und so entschloß sie sich, den Abend abzuwarten und unter dem Schutze der Dämmerung unbeanstandet ihre Wohnung zu erreichen.
In einem dichten, unweit der Stadt gelegenen Wäldchen brachte sie den Tag in fieberhafter Erwartung zu, ohne Nahrung, als die, welche sie aus ihrem sehnsüchtigen Herzen schöpfte – ohne andere Stärkung, als einen tiefen Schlummer, in welchen allgemach die Natur sie wider ihren Willen versenkte. Ungemein gekräftigt und beruhigt, erwachte sie, als die Sonne bereits zu sinken begann. Noch wenige kurze Viertelstunden, und sie durfte sich unbesorgt auf den Weg machen. Nachdem sie, so gut es möglich war, ihr Haar und ihren Anzug geordnet, trat sie in das Thor und schlüpfte durch die ihr nicht fremden Hintergäßchen an den dunklen Wänden hin bis an den Platz, wo sie ihre Wohnung wußte. Unbeachtet gelangte sie bis dahin; unangehalten betrat sie das Haus und die zufällig offen stehende Wohnung.
... Als sie es, ihrer schönen Hoffnungen beraubt, am Arme ihrer Tochter schwankenden Schrittes wieder verließ, hatte sie keine bestimmte Vorstellung dessen, was sie thun wollte – sie wollte nur fort, so weit als möglich fort! Hätte sie nicht am Arme die Hand des Kindes gefühlt, nicht seine Stimme gehört, sie wäre in Versuchung gewesen, sich in die Zelle und ihre dumpfe Bewußtlosigkeit zurück zu sehnen – so grenzenlos elend fühlte sie sich. Anna mußte für sie denken und sie dachte für sie, denn in ihrem Innern war eine jener ungeheueren Umgestaltungen vorgegangen, welche oft in einem Momente den Knaben zum Jüngling, das Mädchen zur Jungfrau machen. Von ihr geleitet, suchten und fanden sie Unterkommen in einem nahen Gasthause und reisten vor Tagesanbruch in Theresens Heimath ab, wo nach Anna’s Bestätigung Theresens Vater noch am Leben war.
Um dem Greise und sich eine Scene des Wiedersehens zu ersparen, wie sie solche bereits erlebt hatte, schrieb ihm Therese von einer der letzten Stationen aus, theilte ihm das Vorgefallene mit und zeigte ihre Ankunft an. Sie wurde mit schmerzlicher Freude aufgenommen – denn das Haus des alten Mannes war einsam geworden durch den Tod seiner Frau, welche wenige Wochen zuvor dahin gegangen war, ohne den Trost, ihre Tochter der Welt wiedergegeben zu wissen. In der wie vom Tode erstandenen, ihm wie neugeborenen Tochter, in dem lieblichen Enkelkinde schlossen sich für den Rest seines Lebens noch zwei Spätrosen auf, deren Anblick ihn verjüngte und die bittere Beigabe vergessen machte, mit der ihr Blühen erkauft ward.
Umgeben und getragen von der Liebe des Vaters und Anna’s, trat auch in Theresens stürmisch fluthendem Gemüth nach und nach die Ruhe der Ergebung ein; sie fand sich in die neue, ungewohnte Lage zurecht und begann das Vorgefallene, Rudolphs Entschluß, seine Verbindung mit Amalien und die Gründe zu Beidem mit kälterem Blute zu betrachten und zu würdigen – aber in der Tiefe ihres Gemüths grub sich eine haßerfüllte Bitterkeit immer fester ein, je mehr sie äußerlich bemüht war, dieselbe zu verbergen. Den milderndsten Eindruck machte Anna auf sie, als sie nach und nach die vortreffliche liebevolle Pflege und Erziehung erkannte, die das Mädchen erhalten hatte, und als sie aus dessen Erzählungen erfuhr, daß ihr Name und ihr Gedächtniß in dem Hause niemals vergessen worden war. Sie schrieb in ihrer Vorstellung das Alles Rudolph und seinem überwiegenden Einflüsse zu, mit ihm waren daher ihre Gedanken in der Stille zur Versöhnung geneigt – aber bei der bloßen Erinnerung an Amalien wallte ihr Innerstes mit einer Heftigkeit auf, die jede Ahnung von Annäherung mit Abscheu von sich wies.
Auch aus Rudolphs Hause war das Glück entflohen, um nicht wiederzukehren – es war wie ein blitzgetroffener Baum; die verschont gebliebenen äußeren Zweige trieben und keimten noch, aber die stolze Krone, das Herz des Stammes, war gebrochen. Ueber die ersten peinlichen Tage und Wochen nach dem Vorgefallenen half Rudolphs Krankheit hinweg, die jede Erörterung unter den Gatten unmöglich machte. Während dessen hatte Amalie Zeit, sich die Lage und deren Pflichten vollkommen deutlich zu machen; sie rief sich das klare Recht ihrer Stellung lebendig vor die Seele und war entschlossen, es behauptend bei Rudolph auszuharren. Sie hatte das Gesetz für sich, und mit dem Gesetze die mächtige Stimme ihres Innern, daß nicht sie es so geleitet hatte, wie es gekommen war. Es war eine dunkle Fügung des Himmels; sie lebte der Ueberzeugung, daß er auch lösen werde, was er zu verwirren für gut befunden.
Das Einzige, was sie beängstigte, war der Zweifel über den Eindruck, welchen die erschütternden Ereignisse auf Rudolph hervorgebracht hatten, und den sie nur unsicher zu erkennen vermochte. In den Zwischenräumen, in welchen seine Fieberphantasien nachließen, lag er erschöpft und todesmatt mit geschlossenen Augen da, als wisse und empfinde er auch jetzt noch nicht, was um ihn und mit ihm vorgehe. In diesem Zustande war also über die Zustände seines Innern um so weniger etwas zu erfahren, als sie die kargen Momente der Erholung nicht stören und ihn schonen wollte. Aber auch die wirren Reden und Ausrufungen während der Fieberanfälle gaben keinen Grund zu bestimmten Vermuthungen; es hatte sogar den Anschein, als sei ihm auch während derselben ein Rest von Besinnung geblieben, vermöge dessen er Amaliens Anwesenheit erkannte und vor ihr zu verbergen suchte, was in ihm vorging. Eine dunkle Ahnung davon schauerte durch das Herz seiner Pflegerin und lehnte sich unwillig gegen die kalte Regel auf, die der Verstand vorschreiben wollte.
Rudolph genas; noch einmal widerstand die kräftig angelegte Natur den mörderischen Schlägen, womit das Leben auf sie eindrang; [244] die erschütterten Nerven spannten sich noch einmal zu dem lange verweigerten Dienste. Aber die Genesung war nur eine körperliche; die Heiterkeit des Geistes, die ihn in den letzten Zeiten durchströmt und gehoben hatte, war dahin – verwischt, wie der Flügelstaub des Schmetterlings, den eine rohe Hand auch nur eine Secunde lang gefaßt hielt. Auch für den Riß, der sich zwischen den beiden Gatten gebildet hatte, gab es keine Heilung mehr.
Vergebens war Amaliens redlichstes Bemühen, durch immer gleiche Milde und Sicherheit das gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen, ihre Thätigkeit fand keine Erwiderung an Rudolph, der nicht unfreundlich, aber verschlossen und düster neben ihr dahinging. Er kämpfte mit sich selbst, Amaliens wohlwollenden, herzlichen Ton zu erwidern, er machte sich Vorwürfe, daß er es nicht vermochte; er zürnte über sich selbst wegen des offenbaren Unrechts, das er dadurch gegen sie beging – aber er konnte nicht anders. Theresens Stimme klang ihm an’s Ohr, wenn er wie sonst zu ihr reden wollte; Theresens Gestalt trat wie zürnend und abwehrend vor ihn, wenn er sich ihr nähern wollte – sein Herz war getheilt, und der Verstand scheute sich, den Zwiespalt zu heben, der ihn zu verwirren drohte.
Die zwischen Beiden entstandene Leere war um so fühlbarer, als auch die durch Anna’s Verlust gebildete unersetzliche Lücke sich täglich und stündlich in schmerzlichen Erinnerungen geltend machte. Amalie hatte das Kind wie ein eigenes geliebt; auch ihr fehlte das liebenswürdige Kind überall, aber sie ertrug die Trennung um Theresens willen; wußte sie doch, daß es ihr nun Alles sein mußte, daß es wohl das einzige Band war, sie wieder mit dem Leben zu vereinen. Rudolphs Empfindung dagegen war die entgegengesetzte: er fand es von Tag zu Tag unerträglicher, sein Kind entbehren zu müssen, er rechtete mit sich selbst darüber, daß es so war; er dachte nach, ob es denn nicht anders sein könne – in seinem Hause war nur der Körper, Geist und Herz zogen ihn dahin, wo er Mutter und Tochter wußte und deren Zusammensein mit aller Leidenschaft einer zügellos gewordenen Phantasie ausmalte.
[257] Amalien konnte Rudolphs Gemüthsstimmung nicht entgehen – sie erkannte klar, daß dieses Verhältniß unhaltbar war, aber ehe sie sich entschloß, zu handeln, mußte sie gewiß wissen, daß keine Täuschung obwaltete.
Sie erhielt diese Gewißheit bald. Bald nach jenem verhängnißvollen Abende hatte sie bemerkt, daß das von Theresen gestickte Uhrkissen mit ihren Haaren von seiner Stelle über Rudolphs Schreibtisch verschwunden war. Sie fragte nicht darnach, aus zarter Schonung, aber sie freute sich einen Augenblick an der Hoffnung, Rudolph könnte dasselbe entfernt haben, um sich eine herbe Erinnerung zu ersparen. – Als sie einmal zu etwas ungewöhnlicher Stunde Rudolphs Zimmer betrat, hatte er weder ihr Pochen noch ihr Eintreten gehört, und stand von ihr abgewendet vor dem Schreibtische. In der Hand hielt er das vermißte Uhrkissen und starrte mit leidenschaftlichen Blicken darauf hin. „Gewiß,“ murmelte er halblaut und rasch vor sich hin, „Du würdest mir verzeihen, wenn Du wüßtest, was ich leide! Mit diesen Locken hast Du mich gebunden für die Ewigkeit … es hält mich noch, das selige Band! Es zieht mich zu Dir – ich schwebe im Geiste um Dich … es ist nur der hülflose Körper, den die Sclavenkette zurückhält …“
Amalie zuckte schmerzlich zusammen – aber sie zog unbemerkt und geräuschlos die Thüre wieder zu und schritt leise von dannen. Sie wußte genug. Von nun an war es ihr einziger Gedanke, das Verhältniß zu lösen, das Rudolph an sie fesselte – er sollte um ihretwillen keine Sclavenketten tragen; er sollte so frei sein, als ob sie ihm nie begegnet wäre – ungehindert von ihr sollte er zu Theresen zurückkehren können, um bei ihr das Glück zu finden, das sie ihm nicht mehr zu gewähren vermochte.
Welchen Weg sollte sie dazu wählen? Zu einer vom Gesetze vielleicht gestatteten Scheidung fehlte jeder Grund – zu einer Unwahrheit wollte sie nicht greifen, auch war es zweifelhaft, ob Rudolph zu einem solchen Schritte seine Zustimmung geben, ob er nicht Stolz genug besitzen würde, ein solches Opfer von ihr zurückzuweisen. Auch das unvermeidliche Aufsehen, das ein solcher Schritt mit sich bringen mußte, stellte sich ihr abmahnend entgegen. Bald war es ihr klar: was geschehen sollte, war auf diesem Wege unmöglich, es mußte vielmehr natürlich und ohne alle Auffallenheit kommen, wie irgend ein anderes Ereigniß des Tages.
Sie kannte nur einen Weg, der zu diesem Ziele führte, und sie beschloß, ihn zu gehen, nicht in einer leidenschaftlichen Wallung, sondern mit voller Ueberlegung, mit der bewußtesten Ruhe – sie beschloß, zu sterben.
Wenn sie ihr ganzes Leben zurück dachte, konnte sie in Wahrheit sagen, daß es eine stete Aufopferung für die Freunde ihrer Jugend gewesen; sie wollte jetzt, wo sie allein trennend zwischen Beiden stand, das letzte Opfer bringen und ihr Glück neu begründen. Niemand, am allerwenigsten Rudolph und Therese, sollte ahnen, was sie gethan; ihr Tod sollte ein natürlicher sein, von keiner Absicht, sondern von einem traurigen Zufalle veranlaßt.
Das Herannahen des Winters reifte ihren Plan, indem es ihr die Möglichkeit der Ausführung zeigte. Die kalten Herbstnächte gaben ihr Veranlassung, sich, wie es auch wohl früher geschehen war, Kohlen in den Ofen ihres Schlafzimmers stellen zu lassen. Das wurde zur täglichen Anordnung, und so konnte es Niemand auffallen, wenn sie eines Morgens vom Kohlendampf getödtet gefunden wurde, denn Jedermann mußte annehmen, daß sie aus Versehen den Ofen zu schließen unterlassen hatte.
[258] Der Entschluß stand fest und der Tag der Ausführung war bestimmt; aber ihr Benehmen blieb unverändert dasselbe, und der aufmerksamste Beobachter hätte kaum ein Anzeichen ihres finsteren Entschlusses zu bemerken vermocht. Rudolph war ein solcher nicht; seiner Befangenheit entging es unschwer, wenn hie und da in Amaliens einfachen Worten der Ton tieferer Rührung hörbar wurde. An dem festgesetzten Tage zog sie sich ruhig, wie sonst, in ihr Schlafzimmer zurück, öffnete den Ofen, damit der Kohlendampf einströmen konnte, und begab sich gelassen zur Ruhe. In leisem, aber innigem Gebete kam es über sie … die Sinne vergingen ihr … sie wußte nicht, ob im Schlafe, oder im beginnenden Tode …
Heftige Schläge an die Thüre schreckten sie empor; sie fühlte eine schwere Beklemmung auf ihrer Brust lasten, wie bleiern lagen die Glieder – aber sie vermochte noch, sich empor zu raffen, als sie die Stimme des Dienstmädchens vernahm, die laut und dringend um Hülfe rief. Sie öffnete, und das Mädchen trat ein. „Um Gotteswillen, gnädige Frau,“ schrie sie unter lautem Weinen, „denken Sie sich das Unglück! Der Herr ist fort …“
„Was sagst Du?“ rief Amalie.
„Fort, sag’ ich Ihnen,“ erwiderte das Mädchen, „rein verschwunden! Ich höre die Thüre gehen, und weil ich mir nicht einbilden kann, wer das sein soll, gehe ich aus meiner Kammer und sehe den gnädigen Herrn, wie er eben die Stiege hinabläuft, in seiner Hausjacke, ohne Hut … Ach, wenn er sich nur nichts zu Leide thut!“
Amalie hörte sie schon lange nicht mehr; sie war dem Zimmer Rudolphs zugeeilt. Das Mädchen aber ließ sich nicht irre machen. „Und wie es hier riecht!“ sagte sie, „man kann ja kaum Athem holen … um Gotteswillen, die gnädige Frau hat den Ofen zu schließen vergessen! Na, da bin ich gerade zu rechter Zeit gekommen! Das hätte ein noch größeres Unglück geben können!“
Amalie kam todesbleich aus dem Zimmer Rudolphs zurück, er war nicht zu finden, und auch keine Spur ließ errathen, weshalb und wohin er sich entfernt haben mochte. Die Schilderung des Mädchens ließ befürchten, daß sein Kopfleiden wiedergekehrt sei und sich bis zu einem Grade gesteigert hatte, den die Aerzte längst als sehr möglich voraus befürchteten. Augenblicklich wurde Lärm gemacht, nach allen Richtungen wurden vertraute Leute ausgesandt, den Entflohenen zu suchen. Sie kehrten alle unverrichteter Dinge zurück, und als nach der winterlich durchstürmten Nacht ein eisiger Morgen anbrach, war es fast zur Gewißheit geworden, daß Rudolph entweder selbst den Tod gesucht habe, oder unfreiwillig von ihm ereilt worden sei.
Vernichtet kniete Amalie an ihrem Bette, auf das sie sich schon zum Tode gelagert hatte, und sandte ein heißes, wortloses Gebet zum Himmel.
…. Am andern Tage Abends saß Therese mit Anna und dem alten Vater um den Ofen versammelt. Draußen fiel der Schnee in feuchten Flocken, ein kalter Wind rüttelte unheimlich an den Fenstern, und es wäre recht traulich gewesen in der warmen behaglichen Stube, wären die Herzen ihrer Bewohner dafür offen gewesen. Der Alte war eingenickt, denn Therese schwieg, sie hatte einen ihrer bösen Tage, die hin und wieder kamen und an denen der unversöhnte Zwiespalt ihres leidenschaftlichen Gemüths sich durch schwere Verstimmung rächte. Auch Anna schwieg; ihre Gedanken waren bei dem fernen Vater, zu dem ihr Gefühl sie immer mehr im Stillen hinzog, als das Erlebte die Frische der Neuheit verlor und dahinter die Erinnerungen alle emportauchten, die ihr bewiesen, wie sehr er sie geliebt.
Plötzlich wurde ein rascher Tritt die Stiege herauf hörbar und näherte sich ungestüm der Thür. Erschrocken sprangen die Frauen auf, auch der Alte erwachte, als die Thüre, heftig aufgerissen, an die Wand schlug. Auf der Schwelle stand Rudolph, bleich, verwildert, in dürftigem, zerrissenem Gewand, Eis und Schnee im durchfrorenen Haar – ein entsetzliches Bild des Wahnsinns.
Therese schrie laut auf und wollte entfliehen; aber sie vermochte es nicht, denn schon lag der Unglückselige zu ihren Füßen, hatte ihr Gewand ergriffen und rief im herzzerreißendsten Tone: „Sie sind hinter mir! Sie verfolgen mich! Sie wollen mich von Dir wegreißen, wollen mich wieder in das Gefängniß zurückschleppen! Ich habe meine Ketten zerbrochen – ich bin frei, Therese – ich will keine Ketten mehr tragen … ich will nicht mehr zurück in’s Gefängniß … o .. o, es ist so finster, so entsetzlich finster in dem Gefängniß …“
Der Auftritt war zu erschütternd, als daß ihm gegenüber die Regung des Hasses oder irgend ein Bedenken Stand halten konnte. Therese brach in Thränen aus, Anna wollte laut jammernd sich neben dem unglücklichen Vater niederwerfen, als dieser sich wieder halb von den Knieen erhob und zu kreischen anfing: „Sie kommen! Da sind sie schon! Hörst Du sie nicht schon hinter mir? … o schütze mich vor ihnen … laß mich nicht von Dir, Therese …“
Er wollte aufspringen zu neuer Flucht, aber die erschöpfte Kraft hatte ihr Ende erreicht; sie hatte im Feuer des Wahnsinns ausgehalten und ihn auf dem weiten Wege durch Kälte und Unwetter geführt – jetzt ließ sie mit einem Male nach; mit aller Schwere des Körpers stürzte Rudolph zusammen und blieb wie entseelt liegen.
Das Dringende der Lage gab keiner langen Erwägung Raum; Rudolph wurde auf ein Lager gebracht, und der herbeigerufene Arzt erklärte mit bedenklichem Kopfschütteln, vor der Hand sei Ruhe das Einzige, was er anordnen könne. Anna wich nicht von der Seite des Vaters; Therese war kälter – sie gedachte, daß der Kranke nur für die erste Zeit der unvermeidlichen Sorge bei ihr verbleiben könne, und daß für seine Unterkunft an einem andern Orte gesorgt werden müsse. „Ich werde seine Frau von dem Geschehenen in Kenntniß setzen,“ sagte sie zu ihrem Vater, „seine Frau mag bestimmen, wohin er gebracht werden soll.“
Der Brief an Amalien ging ungesäumt ab. Inzwischen entzog auch Therese sich der traurigen Aufgabe nicht, den Kranken zu pflegen, der regungslos und in fortdauernder Bewußtlosigkeit dalag. Da – an seinem gramvollen. Lager, in der stillen Dämmerung des Krankenzimmers, bei dem Tone der bangen Athemzüge, die sich aus seiner gemarterten Brust emporarbeiteten, da stieg das Andenken an die eigenen langen Leidensjahre mildernd vor ihrer Seele empor. Zurücksinnend gedachte sie der vergangenen Zeiten – ein rosig beleuchteter Zug, schwebten die Tage der Kindheit, die Jahre ihres Glücks an ihrer Seele vorüber … unter ihnen und überall in sie verflochten die lächelnden Bilder von Amalien und Rudolph … und von der innern Erweichung brach die Rinde, die noch um ihre Gefühle gelegen war. Erleichtert, beruhigt, erhob sie sich, faßte Rudolphs fühllose Hand und rief: „Von jetzt an sei Friede, zwischen uns Allen!“
Dem schönen Gelöbnisse folgte die Gelegenheit, es zu erproben, auf dem Fuße. Von Anna geleitet, trat Amalie in das Zimmer. Einen Augenblick standen die beiden Frauen unsicher und befangen einander gegenüber; dann eilte Therese mit ausgebreiteten Armen auf Amalien. „Vergeben Alles und vergessen!“ rief sie im zärtlichsten Umfangen. „Möge der Himmel über uns nach seinem Gefallen walten – Friede sei von jetzt an zwischen uns!“
Amaliens Festigkeit war erschüttert, wie noch nie – Hand in Hand traten sie an das Lager des Leidenden; wechselnd und vereinigt pflegten und bewachten sie ihn, und das gleichgeliebte Kind zweier Mütter stand, sie Beide noch inniger verbindend, zwischen ihnen. Rudolphs Zustand blieb geistig der gleiche; er kam nicht zu sich, aber die Zerstörung des Körpers stand darüber nicht still – er verfiel sichtbar und täglich mehr und mehr, und es bedurfte nicht der Bestätigung des Arztes, um zu erkennen, daß seine Laufbahn zu Ende gehe.
Eine letzte Hoffnung hatte man auf des Kranken vielerfahrenen und bewährten Freund gebaut, und er hatte auch nicht gezögert, sich einzufinden, als er das Schicksal des Freundes erfuhr. Weindler war vielleicht nie so befangen an ein Krankenbett getreten, aber auch er schied ohne Hoffnung. „Armer Freund!“ sagte er, „das waren der Schläge zu viel für Deine empfindlichen Organe! Es mag wohl sein, daß man manch feineren Genuß darüber entbehren muß – aber es ist doch ganz gut, wenn man mit etwas gröberen Nerven geboren wird! ..“
Ergriffen, wie selten, nahm der Arzt Abschied von den Frauen. „Haben Sie Acht,“ sagte er, „er wird in diesem Zustande bleiben bis an’s Ende. Dann wird er einen hellen Augenblick haben und mit ihm hinübergehen.“
Und so kam es. Wenige Tage nachher bewegte sich Rudolph ungewöhnlich hastig und wiederholt; wie ein Schleier flog es von den starren Zügen weg, der Mund wurde weich und ein tiefer Seufzer stieg aus der todeswunden Brust. Therese und Amalie standen zu beiden Seiten des Lagers und beobachteten in ängstlicher Spannung jeden Athemzug des geliebten Kranken. Jetzt begannen [259] seine Lippen sich zu bewegen, und leise, aber wohlverständlich lispelte er in kurzen Absätzen:
Viel Pfade zieh’n bergauf, thalab,
Sie münden all’ im stillen Grab;
Darin zu ruhn ist Schlafengehn …
– „Und das Erwachen – Wiederseh’n!“ rief Therese, leise über ihn gebeugt. Auch Amalie neigte sich zu ihm. Wie von elektrischem Schlage berührt, öffnete Rudolph die Augen: er sah die Beiden über sich, las in ihren schmerzverklärten Zügen die Versöhnung … er erblickte Anna in Thränen aufgelöst neben ihnen …. und auch über seine Züge glitt ein lächelnder Schimmer des Entzückens, wie mitten in finsterer Waldeinsamkeit ein verlorener Sonnenstrahl sich Bahn bricht. Dann sank er zurück; Theresens Kuß nahm ihm den letzten Hauch von den Lippen; Amalie und Anna weinten auf seine erstarrenden Hände. Hand in Hand folgten sie dem Befreiten zum Grabe; Hand in Hand in unzertrennlicher Freundschaft gingen sie Beide bis zum eigenen Grabe.