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Die Gartenlaube (1899)/Heft 26

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Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[804 c]

26. Heft. Die Gartenlaube
Weihnachten 1899
Preis 10 cents.

[804 d]

Inhalt.

Seite
Am heiligen Abend. Gedicht von Paul Härtel. Mit Abbildung von Fritz Bergen. 805
Der König der Bernina. Roman von J. C. Heer (7. Fortsetzung) 806
Johann Heinrich Pestalozzi. Ein Blatt zur Einweihung des Pestalozzi-Denkmals in Zürich. Von Oswald Heidegger. Mit Abbildung 815
In der Christnacht. Novellette von Anna Ritter. Mit Illustrationen von Werner Zehme 817
Das Antoniusfest in Schweina. Von A. Trinius. Mit Abbildung von Richard Starcke 824
Gefälschte Briefe. Ein Bild aus deutscher Geschichte. Von Rudolf von Gottschall (Schluß.) 826
Das Baumschütteln am Andreasabend. Ein Bild aus dem vogtländischen Volksleben von L. Niedel. Mit Illustrationen von Fritz Bergen 829
Vom Weihnachtsbüchertisch 831
Blätter und Blüten: Das Weihnachtsfest der Wiener im Jahre 1227. (Zu dem Bilde S. 821.) – Zum hundertsten Geburtstag Heinrich Heines. – Der Cotta’sche Musen-Almanach für das Jahr 1900. (Mit Abbildung.) – Nikolaustag in den Niederlanden. (Mit Abbildung.) – Altgriechische Gliederpuppe. (Mit Abbildung.) – Zu unseren Bildern.
Illustrationen: Abbildung zu dem Gedicht „Am heiligen Abend“. Von Fritz Bergen. S. 805. – Weihnachtsbescherung. Von Herm. Kaulbach. S. 808 und 809. – Christkinds Gaben. Von G. Mühlberg. S. 812. – Das Pestalozzi-Denkmal in Zürich. S. 813. – Illustrationen zu der Novellette „In der Christnacht“. Von Werner Zehme. S. 817, 818, 819, 820, 822, 823. – Das Weihnachtsfest der Wiener im Jahre 1227. Von H. Lefler. S. 821. – Abbildung zu dem Artikel „Das Antoniusfest in Schweina“. Von Richard Starcke. S. 824. – Friede auf Erden. Von Wilh. Schade. S. 825. – Illustrationen zum Artikel „Das Baumschütteln am Andreasabend“. Von Fritz Bergen. S.829 und 830. – Nikolaustag in den Niederlanden. Von J. Gehrts. S. 833. – Vor Amalfi. Von R. Püttner. S. 835. – Altgriechische Gliederpuppe. S. 836.
Hierzu Kunstbeilage XXVI: „Christikinds Weckruf.“ Von J. R. Wehle.




Kleine Mitteilungen.


Der Freiwillige Erziehungsbeirat für schulentlassene Waisen. In der letzten Reichstagsperiode führte der Kriegsminister von Goßler an der Hand von statistischen Ermittelungen den Beweis über die traurige Thatsache, daß bereits 18 Prozent der eingezogenen Rekruten vorbestraft sind. Für Berlin ist ferner durch die Statistik bewiesen, daß ein Sechstel unserer heranwachsenden Jugend Waisen sind. Diese verwaisten Menschenkinder tüchtig zum Kampfe fürs Leben heranzubilden, hat der Verein des Freiwilligen Erziehungsbeirates in Berlin sich zur Aufgabe gemacht. Leuten in späteren Jahren, die nichts Ordentliches gelernt haben, lohnenden Erwerb zu schaffen, ist sehr schwer. Das Bäumchen biegt sich, doch der Baum nicht mehr, daher ist diese hilfespendende Vereinigung, die die jungen alleinstehenden Menschenkinder arbeitstüchtig hinstellen will, überaus hochzuschätzen und nachahmungswürdig. Der Berliner Verein war der erste der Welt, und die Städte Darmstadt, Kottbus, Tempelburg, Kopenhagen u. s. w. sind demselben gefolgt und nach seinem Vorbilde in gleicher Weise vorgegangen. Dr. Tvernoes aus dem Kopenhagener Kultusministerium hatte den Berliner Verein zu seiner Information besucht und bei der Konstituierung des Vereins, am 4. September 1898, dem Vorstand des Berliner Vereins seinen wärmsten Dank übersandt. Der Berliner Verein zählt 1610 Pfleger und Pflegerinnen. Grundsätzlich enthält sich der Verein jedes Eingriffes da, wo der städtische Waisenrat schon ausreichende Fürsorge getroffen hat, dagegen stellt er sich den Gemeindewaisenräten in Ergänzung von deren amtlicher Thätigkeit zur Verfügung. Trotz seines erst dreijährigen Bestehens besitzt der Verein schon 40000 Mark eisernen und mehrere tausend Mark verfügbaren Fonds, welches Kapital durch Mitgliedsbeiträge, Wohlthätigkeitsfeste und Zuwendung aus Gerichtsstreitigkeiten gesammelt ist. Am 20. Oktober 1898 sind dem Verein die Rechte einer juristischen Person verliehen worden. Der beste Schutz gegen moralischen Verfall ist Arbeitstüchtigkeit. Möchte das Vorbild dieses Vereins auch andere Städte zu gleichem Thun anspornen; über die Thätigkeit des Vereins erteilt der Vorsitzende, Herr Landgerichtsdirektor Dr. Felisch in Berlin, gern nähere Auskunft. Olga Henke.     

Das größte Eisenerzvorkommen der Welt. Schweden ist ein an Eisenerzen sehr reiches, ja wahrscheinlich überhaupt das eisenreichste Land und birgt, da die Industrie mit jedem Jahr mehr Eisen gebraucht und das Eisenerz sehr gut bezahlt wird, große Schätze. Während wir in Deutschland nur zum kleinsten Teil das Eisen, das wir produzieren, aus eigenen Erzen erzeugen können, sondern sehr viel Erze aus Spanien, Schweden und Ungarn einführen müssen, würde die Eisenindustrie Schwedens, selbst wenn sie der unseren gleich wäre, ihre inländischen Eisenerze bei weitem nicht aufbrauchen können. Dazu kommt noch, daß der Eisengehalt schwedischer Eisenerze nahezu das theoretische Maximum, nämlich etwa 65 bis 69 vom Hundert, beträgt, während der Gehalt unserer Erze durchschnittlich nicht mehr als 35 bis 40 vom Hundert ausmacht. Außerdem sind die ersteren auch sämtlich sehr phosphorreich; im Durchschnitt enthalten sie 1 % Phosphor, was bei dem großen Verbrauch von Phosphat in der Landwirtschaft (Thomasschlacke) von großer Bedeutung ist.

Das größte Eisenerzvorkommen der Welt nun, das zur Zeit erschlossen und dessen Vorrat in Gebrauch genommen wird, das von Kirunavara, liegt auch auf schwedischem Gebiet. Man hat dessen Erzvorrat – bis zu einer Tiefe von etwa 200 m – auf 700 Millionen Tonnen berechnet. Wollte man diese Menge auf einem Eisenbahnzug befördern, so würde dieser, der Wagen zu etwa 5 m Länge und 10 Tonnen Tragfähigkeit angenommen, etwa gerade neunmal um den Aequator herumgehen. Der Wert dieses Erzvorkommens nach den jetzigen Preisen würde, die Tonne an Ort und Stelle zu 6 Kronen angenommen, etwas über 4 Milliarden Kronen betragen. Dr –t.     

Stand der Volksbibliotheken in deutschen Städten. Aus einem Bericht des statistischen Amtes der Stadt Dortmund, welcher aus Anlaß einer Rundfrage bei 40 Stadtverwaltungen erstattet wurde, geht hervor, daß sich in diesen 40 Städten insgesamt 149 Volksbibliotheken und 39 Lesehallen befinden. Von den Lesehallen sind 30 mit den Volksbibliotheken verbunden und 9 selbständig. Die meisten Volksbibliotheken, nämlich 27, hat Berlin, dann folgt Hagen i. W. mit 16, Bremen mit 14, Dresden und Hannover mit 12, Leipzig mit 11 Bibliotheken. Lesehallen sind in Frankfurt a. M. und Dresden je 4 vorhanden, in den meisten Orten dagegen nur eine.

In einer Reihe von Orten sind die Leseeinrichtungen städtisch: so in Berlin, Breslau, Charlottenburg, Erfurt, Guben, Hagen, Kassel, Köln und Pforzheim. In den übrigen Städten sind sie von Vereinen gegründet, werden aber von der Stadt unterstützt. Wenngleich diese Erhebungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen, so geben sie doch ein ungefähres Bild über die in den letzten Jahren in Sachen der Volksbibliotheken gethane Arbeit. Es sei hier noch die Zahl der in den größeren Bibliotheken vorhandenen Bände mitgeteilt. Es besitzen Berlin 100520, Dresden 42186, Frankfurt a. M. 35300, München 27743, Breslau 15084, Leipzig 15000, Bremen 14796, Köln 13000, Wiesbaden 12517, Freiburg i. Br. 11500, Hannover 11040 Bände etc.

Reiche Schauspieler. Daß berühmte Künstler der Neuzeit durch ihre Leistungen sich ein ansehnliches Vermögen erworben haben, ist eine bekannte Thatsache. Allerdings haben bei einigen gelegentliche Direktionsführungen dazu beigetragen, vor allem die Gastspielreisen – und da war Amerika das Dorado für alle goldsuchenden Talente; neuerdings ist es noch mehr als früher eine unvermeidliche Station auf dem Wege zum Ruhm geworden. Doch ist der jenseitige Weltteil auch vielen Künstlern verhängnisvoll geworden, einem Bogumil Dawison, der von dort geisteskrank zurückkehrte, einer Magda Irschick, welche bei ihrer ersten Tournee reiche Lorbeeren erntete, bei ihrer zweiten große Verluste erlitt. Dies Schicksal ist freilich hervorragenden Künstlern wie Friedrich Haase und Ludwig Barnay erspart geblieben, welche wohlbehalten und mit gefüllter Kasse von ihren Fahrten übers Meer zurückkehrten. Doch in wie glänzenden Vermögensverhältnissen sich auch diese Meister der darstellenden Kunst, die sich jetzt zur Ruhe gesetzt haben, befinden mögen: einen Luxus wie die großen Schauspieler des alten Roms werden sie sich nicht gestatten dürfen. Der tragische Schauspieler Aesopus soll eine Schüssel besessen haben, welche gegen 18000 Mark wert war und in welcher er seinen Gästen lauter Singvögel auftischte, die durch Gesang oder Nachahmung der menschlichen Stimme bekannt sind und die er einzeln zu ungeheuren Preisen zusammengekauft hatte, nicht als besondere Leckerbissen, sondern um sich diese Konkurrenz aus dem Tierreiche vom Halse zu schaffen. Der Sohn des Aesopus, Clodius, war ein so reicher Erbe, daß er dem Vorgang der Kleopatra nachfolgen konnte und die Perlen aus dem Ohrgehänge seiner Metella, Perlen von unschätzbarem Werte in Essig aufgelöst, seinen Gästen zum Nachtisch kredenzte. †      

Eine schweigsame Dame. In einem nach dem Indischen bearbeiteten Märchen wird von einer Göttertochter Naran-Doger erzählt, die sich in einer Grotte tiefer Meditation ergiebt. Wer sie veranlaßt, zweimal zu sprechen, der gewinnt sie zur Gattin. Merkwürdigerweise gelang es 500 Königssöhnen nicht, die Göttertochter zu zweimaligem Sprechen zu bringen – und sie mußte in der Gefangenschaft dafür büßen. †      

[804 e]


CHRISTKINDS WECKRUF
Nach dem Aquarell von J. R. Wehle

Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 26

[805]

Halbheft 26.   1899.


Am heiligen Abend

Pst! – Es klopft ans Thürlein an -
Gelt, das ist der Weihnachtsmann?
In die Ecke nun mit Schweigen
Und die Augen hübsch bedeckt,

5
Denn sonst könnt’ euch Ruprecht zeigen,

Wie die Birkenrute schmeckt!
Aber wollt ihr folgsam sein,
Bringt er wohl den Sack herein.

Still, ich sag’, er soll sich sputen –

10
Wartet nur ein paar Minuten.

Da – nun ist er in der Thüre!
Hört ihr’s hämmern: „poch“ und „poch“?
Und die hellsten Silberschnüre
Blitzen durch das Schlüsselloch.

15
Flimmergold und Lichterschein -

Immer nur herein, herein! –

Wie das stürmt und stutzt und schaut:
Ueberall ist aufgebaut!
Puppen hier im feinsten Staate,

20
Und ein Kreisel brummt und rennt,

Führt nicht dort ein Zinnsoldate
Gar ein ganzes Regiment?
Hänschen trommelt, bum, bum, bum,
Um den Lichterbaum herum!

25
Lichter, Lichter weit und breit -

Wer erzählt die Herrlichkeit?
Märchenglück und Herzensfrische,
Lieber Gott, wie froh ich bin!
Selbst der Kleinste unterm Tische

30
Singt glückselig vor sich hin:

„Weihnachtsmann, Weihnachtsmann,
O du bist ein guter Mann!“

 Paul Härtel.



[806]
Der König der Bernina.
Roman von J. C. Heer.
(7. Fortsetzung.)


14.

„lhr werdet von mir hören!“

Durch das verschneite Berninagebirge irrte ein Mann, der sein Weib beerdigt hatte, und schrie nach einer guten That – nach einer guten That Cilgia Premont zu Ehren. Und er meinte, er würde nie selig, wenn er den Weg nicht fände, sein Versprechen einzulösen – ihr zu zeigen, daß er der Verworfene nicht sei, für den er im Volk gelte.

„Ihr Berge, ihr wißt es – ich habe getötet – aber nur in bitterster Not! – Sigismund Gruber, werde lebendig – ich will für dich in die Spalte steigen – aber gieb es zu, daß vorher noch ein reiner Schein auf meinen Namen fällt!“

Und er besah seine Hände.

„Sie sind nicht rein genug,“ spricht er kopfschüttelnd. – –

Ja, eine gute That!

Da gehört nicht nur das Wollen dazu, sondern das Erbarmen des geheimnisvollen Höchsten der Welt, daß wir die Gelegenheit zu ihr finden.

Und als es Markus Paltram selbst nicht glaubte, da erbarmte sich seiner das Geschick und schmückte den verfemten Namen des Camogaskers.

Es war nur wenige Wochen nach der Beerdigung Pias. Da lief durch das Engadin, durch alle Thäler des Bündnerlandes eine überraschende Kunde.

Markus Paltram, der Herr der Bernina, hat am Albula sieben Menschen aus einer Lawine gerettet. Und man las die Namen der dem Grab Entrissenen, einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft, die mit einem Saumzug von Chur aufgebrochen war: Adam Näf, Seidenhändler von Aarau, Ludwig Georgy, Kunstmaler aus Leipzig, Frau Elisa Candrei, Gastwirtin von Bormio, mit ihrem siebenjährigen Söhnchen, Giulio Battisti von Bibiana, ein Italienerjunge, der mit einem Murmeltier die Welt durchzogen hatte, und die Säumer Rudolf und Thomas Calonder von Thusis.

In Samaden wurde die That zu Protokoll gegeben und von den Geretteten unterzeichnet.

Und Adam Näf gab folgende Beschreibung dazu:

„Es war am 13. November, ein schöner heller Wintertag, mit Sonne und blauem Himmel. An den jähen Albulabergen glänzte viel neuer Schnee. Die Säumer waren unruhig und trieben die Pferde rasch. Da und dort an den obersten Hängen flog von Zeit zu Zeit ein Wölklein von Schnee auf. In der Höhe herrschte heftiger Windsturm. Kleine Lawinen rissen Furchen in die Hänge. Die Reisegesellschaft sah schon in tiefem Grunde durch die Spalte des Albulaweges einige Häuser des Engadins. Da stoben die Wolken an den Höhen plötzlich stärker auf, die ganze Schneehalde über der Straße begann zu leben und zu rauschen. Die Gesellschaft stürmte vorwärts und verlor den Zusammenhang. Der Schnee begann zu rieseln und zu stäuben und es wurde dunkel – durch das Tosen hörte man die Schreie der andern. Dann bedeckte er die Gesellschaft – doch verloren wir die Besinnung nicht sogleich und spürten nur mit beklemmender Angst, wie die Last über uns größer wurde. Dann schwanden uns die Sinne.“

Markus Paltram aber erzählte: „Ich kam vom Martinimarkt zu Chur, wo ich meine Gemsfelle verkauft hatte. Ich sah die frische Lawine – schaute mich etwas um, Malepart schnupperte im Schnee, und plötzlich kam der Huf eines Pferdes zum Vorschein. Ich wußte, wo die Weger ihre Schaufeln und ihre Werkzeuge in den Felsen bergen. Ich holte sie und in drei Stunden habe ich mit Malepart die Gesellschaft ausgegraben – zuerst die Frau und das Kind – zuletzt den Maler. Ich habe sie mit Schnee eingerieben und zu Atem gebracht – den Maler erst nach anderthalb Stunden.“

Am Schluß des Protokolles steht:

„Nach drei Tagen ist die Gesellschaft heil über die Bernina gezogen.“

Die Rettungsthat ist eine der glänzendsten in den Chroniken des Gebirgs, denn in der steten Gefahr, selbst von neuen Lawinen begraben zu werden, hat sie Markus Paltram vollführt.

Die Kunde davon war der Reisegesellschaft nach Puschlav vorangeeilt. Die Bewohner standen am Weg und grüßten freudig – denn es ist immer etwas Großes, Menschen, deren Leben schon verloren war, in die Augen zu blicken. Es ist fast eine Freude, wie wenn man das Wunder an sich selbst erlebt hätte.

Cilgia sah mit Lorenz vom Balkon auf den kleinen Zug.

Da rief der leichtsinnige junge Maler: „Lebt wohl, Herr Näf – gute Geschäfte im Veltlin! Wenn ich von Rom komme, besuche ich Euch zu Aarau!“

Und er grüßte zum Balkon empor und trat in das Haus Cilgias.

„Gestattet, daß ich Euch einen Gruß meines Retters zu Pontresina bringe und Euch unser Reiseabenteuer erzähle.“

Ludwig Georgy, der unter dem Mantel die Sammetjoppe des Künstlers trug, war ein starkknochiger, rauhbärtiger, herzfröhlicher Geselle, jung und voll Hoffnungen, zum Lachen und Plaudern allezeit aufgelegt. Und wenn er lachte und plauderte, so lag darin eine sonnige Welt von Treuherzigkeit.

Ihn fesselten die Bilder Paolo Vergerios und Katharina Diantis; er bat um die Bewilligung, sie nachzumalen; er schloß mit der Besitzerin der Gemälde Freundschaft; es gefiel ihm im winterlichen Puschlav überaus wohl, und als die Bilder schon lange gemalt waren, ging er nicht fort.

Dafür zeichnete er, was ihm einfiel – Bürgersleute – Ziegen – Häuser – er zeichnete auch Lorenzlein.

Und er blieb immer noch. Er wohnte im alten Gasthaus des Fleckens, aber fast den ganzen Tag war er im Hause Cilgias, nur am Abend setzte er sich mit den Bürgern zum Schoppen und erzählte ihnen fröhliche Geschichten.

Er wußte bald einiges aus ihrem Leben, sie noch mehr aus dem seinen.

Sie verstanden sich gut und immer besser – die Frau und der Maler.

Ludwig Georgy war eines von vielen Kindern einer schlichten Bürgersfamilie. Er war Lehrling bei einem Schreiner gewesen. In einem Neubau hatte irgend ein adeliger Herr Zeichnungen, die er mit flüchtiger Hand hingeworfen, entdeckt, war sein Gönner geworden und hatte ihn einem Maler, einem tüchtigen Meister, zugeführt. Und auf dem Weg nach Rom hatte der angehende Künstler dann die Bekanntschaft des Seidenhändlers Näf gemacht und war mit ihm in die Bündnerberge geraten.

„Malerlein,“ lachte eines Tages Cilgia, „Puschlav ist nicht Rom. – Ihr habt Euch vor einem großen Gönner zu rechtfertigen – ein Ehrenwort gegen Euern Meister einzulösen – –“

„Ihr werft mich also aus dem Hause?“ fragte er lustig.

„Ja – aber hört! – ich wünsche, daß das Malerlein zu Rom seinen Studien lebt – sich nicht verbummelt, nicht um ein Butterbrot zeichnet oder malt, sondern sich erinnert, daß er im stillen Weltwinkel von Puschlav eine Freundin hat, die gern von ihrem Gelde ein Weniges auf den Altar seiner Kunst legt.“

„Frau Cilgia,“ stammelte der Maler hochrot, „versprecht mir nur eins – – –!“ Und er stammelte etwas sehr Närrisches.

„Ihr seid ein Thor,“ unterbrach sie ihn verlegen, „packt Euere sieben Sachen zusammen und werdet ein Künstler! Wer hätte gedacht, daß ein deutscher Bär so leicht Feuer fängt!“

Und herzlich, herzlich lachte sie ihn aus, den jungen Schwärmer.

Am andern Tag ritt Ludwig Georgy gegen Tirano.

Die Erinnerung an ihn warf Sonne, viel Sonne in Cilgias Leben.

Mit warmer Teilnahme begleiteten ihn ihre Gedanken.

Ein Geretteter Markus Paltrams, ein Künstler, an dessen Bildern vielleicht die Augen Tausender von Menschen einst voll Freude hangen!

[807] Wenigstens eine Rose blühte auf dunklem See!

Sie war überzeugt: Ludwig Georgy hat Talent – viel Talent – nur etwas ernsthafter, meinte sie, müsse er noch werden.

Und sie herzte ihren Lorenz: „Bube, daß du mir auch etwas Rechtes wirst!“


15.

Der Frühling kam – der traurigste Frühling des Engadins.

Die letzte Jugend, die den Dörfern geblieben war, zog aus, die einen als Zuckerbäcker, die andern als Angestellte von Bündnercafés in weiten Städten und Landen. Noch andere als Lehrlinge in Kaufmannsgeschäften, einige vielleicht auch wahllos auf gut Glück.

Manche kamen nach einigen Jahren wieder und holten sich aus den zurückgebliebenen Mädchen der Dörfer Frauen, und selbst die weibliche Jugend verlor sich aus dem Thal.

Draußen, in der Welt zerstreut, blühte ein neues Engadin, im Thal aber herrschte das Grauen über die Entvölkerung, denn die einmal fortgegangen waren, kehrten nicht zurück. Was sollten sie in der Heimat suchen?

Ja einige – das war der größte Schmerz der Alten – wurden aus Geschäftsvorteil Bürger fremder Länder.

Wohl sangen die Abziehenden das Lied Konradins von Flugi:

„Dir halt’ ich Treue wie dem Kind
Der Bursch’ die Treue hält,
Der Fischer seinem Boot im Wind,
Das mit ihm steht und fällt.“

Aber das Lied klang den Zurückbleibenden wie Hohn in die Seele.

Die zerfallenden Dörfer waren stumm – viele hatten Mühe, ihre Aemter zu besetzen, denn es fehlten die Männer – und Trauer im Herzen, zog man auf die Landsgemeinde. Mit dumpfer Verzweiflung spürte man es: die Auflösung des Lebens im grünen Hochthal war da. Bald leuchteten die blauen Seen nur noch wenigen Hirten.

Doch gerade in dieser Zeit der äußersten Not hoben die Anhänger des Alten, die österreichische Partei im Bündnerland, die Köpfe. Napoleons Stern war im Sinken – die Reiche, die er gegründet, im Wanken, und nicht nur im Bündnerland, überall in der weiten Welt sprach man von der Wiederherstellung der alten Ordnung und der alten Rechtsverhältnisse. Da mußte doch von Gott und Rechts wegen das Veltlin auf Grundlage der alten Verträge wieder zu Rhätien geschlagen – der Gewaltstreich des Korsen gutgemacht werden.

Man sprach von einem großen Diplomatenkongreß zu Wien, der kommen würde – man rechnete auf die Fürsprache Oesterreichs – auf den Gerechtigkeitssinn der Könige – man wollte frühzeitig genug eine Gesandtschaft in die österreichische Hauptstadt senden, um die Ansprüche Bündens zur Geltung zu bringen.

Und in ihren Träumen lebten die alten Engadiner schon wieder als Herren des Veltlins, wie ehedem – sie waren nicht nur die Regenten im blühenden, fruchtbaren Thal – sie saßen auch wieder wochenlang auf den ihnen widerrechtlich entzogenen Privatgütern – sie fuhren im Herbst zur Weinlese und nahmen von ihren Pächtern den größern Teil der Ernte – und das Engadin war wieder, was es vor der Revolution gewesen war: eine Hochburg vornehm herrenbäuerlichen Lebens in Mäßigkeit und Genügsamkeit, mit den Freuden der Landsgemeinde, der ländlichen Schützenfeste, der Schlittenfahrten und der tollen Fastnacht. Die verderbliche Auswanderung kam dann von selbst zum Stillstand.

Das waren die großen Hoffnungen der Alten.

An ihrer Spitze stand der würdige Landammann, der in seinen jungen Jahren den Glanz des Hofes zu Wien gesehen hatte und ein unerschütterliches Vertrauen in das Wohlwollen Oesterreichs für das Bündnerland und in die Gerechtigkeit des Kaisers setzte. Hinter ihm alle die aristokratischen Bauern und Viehhändler von St. Moritz, dem wohlhabenden Dörfchen auf sonniger Höhe. Und das waren harte Köpfe, ihre Losung: „Wieder das Alte – aber nichts Neues!“

Zwischen dem Landammann und Konradin aber herrschte schwerer Disput. Auch Konradin kannte die Diplomatie, und er traute alten Briefen nicht.

Der Vater grollte: „Ohne meine Erlaubnis ist er heimgekommen, wider meinen Willen hat er sich mit Menja Melcher, der Tochter des alten Widersachers, verlobt! Alles, was ich nicht will, thut er, der Schwärmer, der Poet – der Plebejer – der Revolutionär!“

Der starre Landedelmann hatte sich nie entschließen können, die Gedichte seines Sohnes zu lesen, wenigstens gab er nicht zu, daß er je nach den Versen gelangt – er kenne nur einige davon durch Cilgia. – Aber vielleicht blühte doch in einer versteckten Falte seiner Brust etwas Vaterstolz.

So glaubte wenigstens die wackere Mutter.

Die Gedichte Konradins lebten in allen Häusern, sie waren der Trost des Volkes, das sie mit Erhebung las, nach ihnen wie zur Postille und Chronik griff, wenn es seine Kinder Lesen und Schreiben lehren wollte. Sie gingen mit den Ausziehenden, in ihrem Klange grüßten sich die Engadiner in der Fremde.

Und oft ertönte in die Stille der Nacht eines dieser Lieder. Irgend ein Säumer sang es zur Kurzweil auf einsamem Weg.

Gewiß, das Volk machte sich aus den Liedern mehr als aus dem Dichter. Denn keusch und sparsam ist es in seinem Lob. Von Angesicht zu Angesicht rühmt es keinen, und zu viel traut es einem Verseschmiede nicht.

Aber man horchte doch, wenn Herr Konradin sprach, und legte Wert auf seine Worte.

Nur zu Einem schüttelten die Leute die Köpfe bedenklich: ein Bad, das viele tausend Gulden kostet, will er aus St. Moritz machen. Das paßt zu den Straßen, die man baut und auf denen niemand fahren wird!

Konradin von Flugi aber war voll heiligen Eifers, und der ehemalige Bund der Jugend stand mit männlicher Kraft am Werk.

„Du darfst dich nicht zu weit vorwagen,“ mahnte Lorsa seinen Freund, „wegen deines Vaters nicht!“

Und die Freunde verabredeten, daß Lorsa die Führung vor den Bürgern übernehme. Im stillen warben sie Genossen und hofften, daß in der Maiengemeinde zu St. Moritz eine Mehrheit der Bürger die Errichtung des Bades bewillige.

Aber die Freunde trauten der Gemeindeversammlung nicht ganz: „Der Landammann reißt uns im letzten Augenblick mit der Macht seines Ansehens und der Gewalt seiner Beredsamkeit die Mehrheit hinweg!“

„Die Gemeinde ist durch alte Uebung auf den Tag nach dem großen Markt von Tirano festgesetzt. Wenn wir es einrichten könnten, daß er hinüberritte, mit ihm die hartköpfigsten unserer Bauern – daß sie sich verspäteten und die Gemeindeversammlung ohne sie abgehalten werden könnte!“

Und viele Wochen hindurch sprach niemand mehr von der Errichtung eines Bades in St. Moritz.

Im füllen aber spann sich ein Spiel kühner Bündnerverschlagenheit über die Berge.

Jeder Viehhändler, jeder Bauer bekam seinen Anlaß, auf den Markt in Tirano zu gehen. Jung und alt von St. Moritz wollte über den Berninapaß reiten.

„Man kann die Maiengemeinde nicht abhalten – der Landammann sagt es,“ so ging die Rede.

Was aber den feierlichen, feinen Landammann bewegte, nach Tirano zu gehen?

Ein Brief Cilgia Premonts. In ihrem Haus würde am Tag nach dem Markt die Schule von Puschlav eingeweiht. Es würde die Puschlaver freuen, wenn das Engadin die alte Freundschaft für den Flecken dadurch bezeigte, daß einige angesehene Engadiner daran teilnähmen. Als besondere Ehre würde man es empfinden, wenn der Landammann selbst zu der Einweihung kommen wollte. Er befinde sich in guter Gesellschaft – Pfarrer Taß und Melcher kämen auch.

„Melcher – ja, wenn Melcher hinübergeht, ist keine Gefahr!“

Und eine amtliche Einladung des Podesta gab derjenigen Cilgias Nachdruck.

Aber ein gewisses Mißtrauen blieb dem alten Herrn.

Als indessen am Maitag auch die Jugend des Dorfes über die Bernina zog, da war der Landammann sicher, daß keine Ueberrumpelung stattfinden werde.

Fortunatus Lorsa selber ritt über den Berg.

[808]

Copyright 1899 by Franz Hanfstaengl in München.
Weihnachtsbescherung.
Nach dem Gemälde von Herm. Kaulbach.

[809] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [810] In Tirano überfiel die jungen Engadiner schon früh am Abend eine auffällige Tanzlust.

„In unsern Dörfern ist doch keine Freude mehr, wir wollen wieder einmal die Nacht durchtanzen!“ Und manche thaten, als hätten sie noch eine Reise nach Bormio oder Chiavenna vor.

Die Alten brachen nach der Heimat auf – sie blieben aber in Puschlav hängen. Denn im alten Wirtshaus war viel Gesellschaft aus dem Engadin.

Andreas Saratz schaute aus dem Fenster und rief jeden herein. „Es kommt mir auf eine Maß nicht an, was wollt ihr auch so früh über den Berg?“

Und die trinkfesten Engadiner sammelten sich. Der Wein wurde immer besser, die Gesellschaft lauter.

„Wir bleiben da und sehen uns morgen das Jugendfest der Puschlaver an. Es ist zu spät, über die Berninahöhe zu reiten. Wir kommen tief in die Nacht!“

„Es ist zu spät,“ wiederholte der Nachbar und kraute sich im Haar, niemand mochte sich vom Trunke trennen.

„Gut, ich sehe mir das Jugendfest auch an!“ So Mann um Mann.

Gleich wie die im Wirtshaus fanden die paar Gäste, die im Garten Cilgia Premonts saßen, nicht die Zeit, sich darum zu kümmern, was auf dem Berninawege ging.

Sie sahen die späten Reiter nicht, die durch eine Hintergasse des Fleckens jagten.

Sie lauschten den Weisen eines Posthorns, das Frau Cilgia zur Verschönerung des Abends in einiger Entfernung blasen ließ.

Und der Podesta plauderte mit dem Landammann, die liebenswürdige, schöne Wirtin unterhielt alle Gäste zusammen.

Melcher war bester Laune. Als er mit Frau Cilgia unter den knospenden Bäumen dahinschritt, sagte er: „Gerecht seid Ihr – Ihr führt den Landammann g’rad’ so anmutig in die Falle wie mich bei der Rückkehr Konradins!“

Sie winkte ihm Schweigen und lachte nur mit den Augen.

Am andern Tag aber zogen bekränzte Kinder mit Musik durch den Flecken Puschlav.

In dem blumengeschmückten Schulzimmer hielt der Landammann eine sehr schöne Rede auf Cilgia Premont. „Ich sage Premont, denn der Name ist uns im Engadin geläufiger und erinnert uns an den edelsten Bürger Puschlavs, dessen unvergeßliches Beispiel von Gemeinnützigkeit durch Euch, edle Frau, fortlebt! So lange wir solche Frauen unter uns haben, brauchen wir um die Zukunft des Bündnerlandes nicht zu bangen!“

Und aus silbernem Becher trank er ihr mit der gehaltenen Liebenswürdigkeit des Edelmannes Gesundheit zu.

Nun saß Cilgia doch auf glühenden Kohlen. Aber das Kinderfest nahm den reizendsten Verlauf. Die Freundschaft der Veltliner und Puschlaver ging in hohen Wogen – und man sprach von den großen Hoffnungen der Wiedererwerbung des Veltlins, denn manche Anzeichen deuteten stark darauf, daß die französische Herrschaft wanke, ja man erwartete bereits, daß die Oesterreicher das Thal besetzen – natürlich nur vorübergehend besetzen würden, um es dann gegen eine mäßige Entschädigung den rechtmäßigen Herren, den Bündnern, abzutreten.

So sprach man mancherlei, und der gemütliche Pfarrer Taß brachte einen Toast aus auf Herrn Konradin, der das Romanische zu einer Dichtersprache emporgeweiht, sie mit unvergänglichen Blumen der Poesie geschmückt habe.

„Daß er heute nicht bei uns ist!“ schmollte Cilgia.

„Er läuft in den Dörfern nach alten Volksgesängen herum – das ist jetzt sein Steckenpferd!“

Der Landammann sprach es in mißbilligendem Ton, am entgegengesetzten Ende der Tafel aber schneuzte sich Melcher.

Man sprach auch von Markus Paltram, und Pfarrer Taß erzählte eine merkwürdige Geschichte:

„Er beginnt wieder zu heilen. Ein gewisser Signore Belloni, ein sehr reicher Mailänder, stürzte am Berninawege und erlitt mehrere Brüche. Man brachte den Hilflosen, der sich nicht rühren konnte, ohne in großen Schmerzen aufzuschreien, zu mir ins Pfarrhaus. Da liegt er nun seit acht Tagen. Er muß schon, wie sich der Unfall ereignete, etwas von Markus Paltram gehört haben. Er verlangte den Mann, der die Schmerzen stillen könne. Da holte der Meßner den grauen Jäger. Er kam. Der Mailänder, der vor Schmerzen halb wahnsinnig war, versprach das Weiße aus dem Auge, wenn er ihm die Schmerzen lindere, etwas Schlaf verschaffe. Paltram wurde heftig: ,Das kann ich nicht, könnte ich es, so thäte ich es doch nicht! – es ist eine schlechte Kunst.‘ Aber er flickt jetzt den Mailänder wie einst die Geißhirtin mit Reiben und Drücken, und in sechs oder sieben Wochen, behauptet er, könne Belloni wieder zu Pferde steigen. Und das Sonderbarste: der Mailänder glaubt ihm wie ein Kind.“

Als der Pfarrer so erzählte, stand neben ihm mit großen Augen der kleine Lorenz, sein gespanntes, fragendes Gesicht verriet, daß er sich kein Wort entgehen ließ.

Plötzlich stürmte er zu seiner Mutter – die etwas verträumt zugehört hatte.

„Mutter, ich weiß, was ich, wenn ich groß bin, werde – etwas Rechtes, Mutter – ein Arzt wie der König der Bernina!“

Und seine Augen leuchteten.

Kam man auf Markus zu sprechen, so ging die Rede nicht leicht aus. Man erzählte, er habe vor nicht langer Zeit im Zernetzer Wald ein junges Bärchen ausgenommen und sein Kind viele Wochen damit spielen lassen, bis das Tier seine Raubnatur zeigte und er es fahrenden Leuten schenkte. Man sprach von seiner Grausamkeit gegen die Bergamasken, von den tollen Sagen, die sie über ihn verbreiteten.

„Die neueste,“ berichtete Melcher, „ist die, daß ein toter Jäger aus dem Gletscher aufstehen und ihn richten werde.“

Die Gesellschaft lachte dazu. Cilgia aber erhob sich blaß – und da fiel es den Herren ein, daß es Zeit sei, heimzureiten.

Als sie die Berninahäuser erreichten, hörten sie sonderbare Mär:

„In St. Moritz sind heute morgen etwa zwanzig junge Bürger aus Italien zurückgekehrt und ist nach überliefertem Recht und Brauch die Maiengemeinde abgehalten worden. Fortunatus Lorsa wurde von ihr als Vorsteher gewählt, bis der alte von Puschlav zurückgekehrt sei. Fast einhellig hat die Gemeinde beschlossen, den Bau eines Bades zu gestatten. Die junge Partei hat die alte Halle schon niedergelegt; das Baugespann für die neue errichtet und es mit Böllerschüssen begrüßt.“

Der alte Landammann zitterte vor Erregung – er konnte lange nicht sprechen. „Diese Beschlüsse sind ungültig!“ stieß er endlich hervor, und er maß Melcher mit Blicken alten Grolls.

„Ihr seht, daß ich nicht dabei war,“ versetzte der Viehhändler kühl. „Es geht mir wie Euch. Die Jungen werfen uns unter das alte Eisen. Sie haben mich gebeten, daß ich nichts zu ihren Plänen helfe!“

„Altes Eisen?“ zürnte der Landammann. „Das wollen wir sehen!“

Umsonst schlug Pfarrer Taß die Töne der Versöhnlichkeit an, der Junker blieb unzugänglich. Er spürte nur den heißen Aerger über die List der Jungen. Er sprach kein Wort, und der Pfarrer fand es für gut, die beiden Gegner nach St. Moritz zu begleiten.

Das Dörfchen war, obwohl es bald auf Mitternacht ging, noch hell erleuchtet. Auf der Höhe des alten Wallfahrtskirchlein stand ein Triumphbogen und darin hing ein Transparent mit einer Inschrift.

Der Landammann war wütend. „Auch den Hohn wagen sie!“ keuchte er.

Als aber die Reiter sich näherten, lasen sie: „Gruß dem Landammann, dem Gesandten des rhätischen Volkes!“

Und vom Kirchlein her trat an der Spitze der Jungmannschaft Fortunatus Lorsa mit gezogenem Hut und bat die Reiter, zu halten.

„Hochzuverehrender Vorsteher!“ begann er. „Wir vom Bund der Jugend des Engadins, wir St. Moritzer vorab, sind durch den edeln Herrn Luzius von Planta und andere bei der Regierung in Chur vorstellig geworden, daß dem Engadin in der Gesandtschaft, die nach Wien geht, ein besonderer Vertreter gebühre, und wir wußten keinen höhern und würdigern Namen vorzuschlagen als den Euern! Heute haben wir die Freude und die Ehre, Euch als den Gesandten des Thales zu begrüßen, und bitten Euch, daß Ihr das wichtige Amt nicht ausschlagt!

[811] Ueber das, was die Jungmannschaft von St. Moritz in Gemeindeangelegenheiten gethan, stehen wir gerne Rechenschaft. Vor allem aber versichern wir Euch, daß wir eine Kränkung verdienter Mitbürger und Vorsteher nicht beabsichtigten, sondern nur von dem brennenden Wunsche geleitet waren; wieder etwas Leben und Verdienst ins Thal zu ziehen und dem Frieden zu dienen!“

Dann wandte er sich zu Melcher:

„Geehrter Mitbürger! – Ein ehemaliger Plan von Euch hat die Zustimmung der Gemeinde gefunden; wir bauen das Bad. Aber wir haben auch etwas, wogegen Ihr immer geeifert und die Mehrheit errungen habt, beschlossen: die alte Kirchenschuld muß abgetragen werden. Für das Recht, das Bad zu bauen, leihen wir der Gemeinde das Geld dazu und bitten Euch, daß Ihr die alte Gegnerschaft gegen die Regelung der Schuld aufgebt. Wir wollen Frieden!“

Jetzt horchte der Landammann auf: Melcher war von der Jungmannschaft getroffen wie er und die junge Partei zog der alten mit dem Beschluß, die Kirchenschuld zu ordnen, einen dreißigjährigen Pfahl aus dem Fleisch.

Das empfand der Landammann dankbar. Dazu: Wien wiedersehen!

„Zieht den Vorteil gegen Euch,“ flüsterte ihm Taß zu. Nur mit ein paar kühlen, grollenden Worten erwiderte der Landammann Fortunatus Lorsa, aber er sprach doch, und der äußere Friede war hergestellt.

Die versöhnliche, für den Landammann ehrenvolle Haltung des jungen Engadins nach der gelungenen Hintergehung brach dem bittersten Stachel die Spitze ab, die Mäßigung der Sieger gefiel manchem Alten. Man spürte es, die Jungmannschaft des Engadins war eine Macht, die man ernst nehmen mußte.

In St. Moritz aber zuckte und wühlte der Groll der Alten.

„Was wollen wir noch, die Jugend steht jetzt am Ambos!“ lachte Melcher.

Doch auch der alte Landammann wollte noch einmal Schmied werden. Die Gesandtschaft nach Wien, wo er einst glückliche Jugendjahre verlebt hatte, wo der Entscheid über die Zukunft des Landes lag, erfüllte sein Sinnen und Denken, und ob er der Jungmannschaft auch äußerlich immer kühl begegnete, war es ihm innerlich doch eine große Genugthuung, daß sie, die jetzt das Regiment an sich riß, ihn für den ehrenvollen Posten eines Gesandten erwählt hatte.

Die Hochzeit Konradins von Flugi mit Menja Melcher war ein Sonnenstrahl in das Leben des Engadins; in der langen Treue der beiden sah das Volk die alte Bündner Zähigkeit, die zum Siege führt. Ein unendliches Glück stand in den vergißmeinnichtblauen Augen Menjas, als sie im Brautkranz ging, und Konradin von Flugi wogte das Herz von Hoffnungen.

Nur eine fehlte dem Fest – Cilgia! Sie wollte den Landammann an dem festlichen Tage nicht an die Falle erinnern, in die sie ihn gelockt hatte. Aber ihre Hand erkannte man an dem Feste doch. Ueberall auf dem Weg, den der Hochzeitszug beschritt, lagen frische Rosen und Nelken, selbst beim Ausritt, der die Gesellschaft am Nachmittag nach Samaden führte.

„So viele und so schöne Blumen hat im Land nur sie!“

Und bald erfuhr man, daß ein ganzer Saumzug die Körbe mit den frischgeschnittenen Rosen und Nelken von Puschlav herbeigebracht hatte. – –

Die Gesandtschaft war abgereist. In St. Moritz aber begann man, den Inn durch ein neues Bett in den See zu leiten und zwischen diesem und dem Berg Rosatsch die köstlichen altberühmten Sauerquellen zu fassen. – An Widrigkeiten und Kämpfen fehlte es nicht, und bei dem großen Mißtrauen gegen das Unternehmen, das viele Tausende von Gulden kostete, war das Geld dafür und für die Kirchenschuld schwer zu beschaffen. Das meiste stammte von Freunden im Ausland.

„Man baut Straßen, auf denen niemand fährt – man errichtet Bäder, in denen niemand badet!“ Das war der landläufige Spott und die Jungmannschaft von St. Moritz erhielt den Spottnamen: „Die Geldverlocher!“

Dafür vertraute das Volk auf die Erfolge der Gesandtschaft in Wien.


16.

Im Pfarrhaus zu Pontresina war lieber Besuch eingetroffen. – Cilgia Premont, wie sie von den Engadinern allgemein genannt wurde, war von Puschlav geritten gekommen, mit ihr ihr Knabe Lorenz und Ludwig Georgy, der Maler, der sich auf der Heimreise von Rom nach Deutschland befand.

Gemeinsam wollten sie morgen der Einweihung des Bades St. Moritz beiwohnen und Ludwig Georgy wollte, ehe er weiter zog, für Cilgia Premont das Kirchlein Santa Maria, für sich selber Markus Paltram, den König der Bernina, malen. Der Naturschwärmer trieb sich jetzt mit Pfarrer Taß irgendwo im Rosegthal herum, Cilgia aber war, von ihrem Ritt ermüdet, mit ihrem Knaben im Pfarrhaus geblieben, im Pfarrhaus, das so viele schöne und schmerzliche Erinnerungen aus ihrem Leben barg.

Da lockte sie der milde Frühsommerabend, der sein Licht über die Gletscher goß, doch noch ins Freie. Wie einst schritt sie gegen Santa Maria empor, grüßte sie die Dörfler; wie einst redeten die Leute hinter ihr und bewunderten die stolze Gestalt, die Augen wie zwei Sonnen. Wie einst setzte sie sich auf die Bank am alten Thor, an dem die Jahrzahl 1497 eingemeißelt ist, und träumte in den Frieden der Berge und horchte dem Rauschen des in Wald und Kluft verborgenen Berninabaches.

Nur eins war anders als ehemals: der Hammer Markus Paltrams klang nicht mehr in die Stille.

Und doch überkam sie der Geist der alten Zeit. Schmerzlich verträumt ließ sie auf der Bank am Thor die fernen Liebestage vorüberziehen.

Etwas verwundert betrachtete der Knabe Lorenz seine Mutter. Als sie ihm aber auf sein Geplauder nur zerstreut antwortete, da lief er an den lustigen Bach, der mit eiligen Wellen gegen Paltrams Hütte perlt, warf Hölzer, die er am Weg fand, hinein und freute sich, daß sie so munter auf den kleinen Wellen tanzten. Bis zu Paltrams Hütte lief er ihnen nach und beschaute sich das ruhig stehende, verwitterte, schwer mit Moos behangene Wasserrad.

Er versuchte, es in Gang zu bringen. Da gesellte sich zu ihm ein leichtes schmales Mädchen mit dunklen Augen und einem herben Mündchen, das ein wenig über seine vergeblichen Bemühungen lächelte.

„Das mußt du so machen,“ sagte sie, und mit einem behenden Ruck an einer Kette leitete sie das Wasser auf das Rad – es begann zu klappern und die beiden jubelten.

„Wie heißest du?“ fragte der Knabe das barfüßige, frische, saubere Kind, das kleiner und jünger war als er.

„Sage mir nur zuerst deinen Namen,“ erwiderte es etwas herb.

„Lorenz Gruber!“

Da antwortete es mit einem hübschen Lächeln:

„Und ich bin Landola Paltram.“

„Wie? Bist du das Kind des Königs der Bernina? – ist das euer Haus?“

„Ja,“ erwiderte sie stolz und mit glänzenden Augen.

„Deinen Vater möchte ich gern sehen.“

„Er kommt jetzt bald vom Piz Languard – wir wollen gegen das Kirchlein hinaufgehen und ihn abholen.“

Als die Kleine die verträumte Frauengestalt am Thor des Kirchleins sah, stutzte sie.

„Es ist meine Mutter!“ versetzte Lorenzlein beruhigend.

„Du hast aber eine schöne Mutter!“ erwiderte die Kleine mit eifersüchtigen Augen. Und ihr kluges Gesichtchen verdüsterte sich wie in einem heimlichen Schmerz.

In diesem Augenblick wandte Cilgia das stolze Haupt. Da zog Lorenz das widerstrebende Mädchen mit sich gegen sie.

„Sage ihr nur guten Abend!“ munterte er Landola auf.

Und die Kleine faßte Zutrauen zu der schönen fremden Frau, ein neugieriges, hoffnungsreiches Lächeln zitterte um Landolas Mund, es war wie stumme Bitte um eine Freundlichkeit.

Sonderbar! Cilgia hatte die Kleine gleich erkannt, ihr Bild gab ihr einen Stich durchs Herz – „Das Kind Pias!“ – sie wollte sich von ihm abwenden.

Aber das schöne hoffnungsreiche Lächeln des feingliedrigen Kindes besiegte die erste Abneigung, sie litt es, daß es sich mit

[812]


Christkinds Gaben.
Nach dem Aquarell von G. Mühlberg.

[813] Lorenz auf die Bank setzte. Etwas scheu that es Landola. Als das Kind sie wie eine Wundererscheinung betrachtete und keinen Blick von ihr wandte, mußte auch Cilgia lächeln.

„Was hast du mit mir, Landola?“ fragte sie gütig und streichelte das reizende Köpfchen.

„Ihr habt so schöne Augen – sind sie neu?“ versetzte die Kleine schüchtern und drollig. Da konnte sich Cilgia nicht enthalten, sie herzte das hübsche Wesen.

In diesem Augenblick kam Markus Paltram vom Bergwald her, im grauen Jägergewand, das Gewehr und einen Gemsbock auf dem Rücken – das menschgewordene Gebirge in seiner Schönheit, in seiner Kraft und seinem geheimnisvollen Reiz.

„Vater!“ schrie Landola und entwand sich den Armen Cilgias.

Er stutzte, eine Blutwelle, ging über sein Gesicht, er bebte vor dem Bild. „Cilgia Premont – Ihr da – und Ihr seid lieb zu meinem Kinde?“

Es war, als gehe ein heiliger Schrecken über den Gewaltigen, und die Kinder sahen einander verwundert an.

Da erhob sich Cilgia in glühender Verlegenheit – sie zitterte wie der Mann vor ihr. „Markus! – Ich muß gehen!“

„O, nur noch einmal mit Euch reden, Cilgia Premont!“ bat er.

„Nicht jetzt, nicht vor meinem Lorenz! Aber ich komme von St. Moritz nach Pontresina zurück, es ist vielleicht gut, wenn wir zusammen sprechen. Es hat mich sehr gefreut, daß mein Wort zu Puschlav so herrliche Früchte getragen – ich danke Euch für die Errettung der sieben Leute.“

„Ich kann alles, wenn Ihr mit mir seid, Cilgia!“

Die Geißen kamen wie einst mit ihren Glöckchen vom Berg, eine übermütige Schar, eine Hirtin führte sie, wie einst Pia, und über die Berge zogen die Rosenschiffe der Abendröte wie einst. In tiefer Bewegung schritt Cilgia hinunter gegen das Dorf.

„Es geht nicht!“ flüsterte sie und blickte nach ihrem Knaben.

Der aber schwärmte für den König der Bernina, den großen Jäger.

Am andern Tage ging Cilgia mit Lorenz, mit dem Pfarrer und dem Maler durch den schönen Lärchenwald, in dem der dunkle Statzersee liegt, nach St. Moritz hinüber zur festlichen Eröffnung des Bades.

Das Pestalozzi-Denkmal in Zürich.

Und wieder leuchtete vor ihnen der lichte See von St. Moritz mit grünen und blauen Strahlen im Kranz grüner Wälder und Wiesen und des weißen Schneegebirges, während das freundliche Dörfchen auf anmutiger Höhe grüßte. Zwei Boote lagen wieder am Ufer, darin standen zwei Männer: der feine Luzius von Planta und Konradin von Flugi, der Dichter. Ein herzliches „Grüß Gott!“ erscholl und die bekränzten Kähne mit den Gästen zogen über den See und glitten ein Stück innwärts empor. In den grünen Wiesen flatterten auf einem stattlichen Neubau die Fahnen.

„So sind denn die Träume unserer Jugend wahr geworden,“ sagte Herr Konradin.

Cilgia aber fuhr sich über die schöne Stirne. Sie dachte an einen Traum, der nicht wahr werden konnte! – –

In der Halle des schlichten geschmackvollen Steinbaus sprudelte der Sauerquell im kristallklaren Bronnen mit einer Mächtigkeit, die zuvor kein Mensch geahnt hatte. Die Quellen zusammen waren ein Bach. Und an der Wand, hinter der die Badezellen lagen, stand als Inschrift das Gedicht, das der große Albrecht von Haller dem Engadin und den Engadinern gewidmet:

„Allhier bekränzt der Herbst die Hügel nicht mit Reben,
Die Erde hat zum Durst nur Brunnen hergegeben.
 Wohl dir, vergnügtes Volk!
Das Schicksal hat dir hier kein Tempe[1] zugesprochen;
Die Wolken, die du trinkst, sind schwer von Reif und Strahl,
Der lange Winter kürzt des Frühlings späte Wochen,
Und ein verewigt Eis umringt das kühle Thal,
Doch deiner Sitten Wert hat alles das verbessert;
Der Elemente Neid hat dir dein Glück vergrößert!“

Mit ein paar Blumen um die Röhren, aus denen die Wasser sangen, mit ein paar Wimpeln auf dem Dach bildete die Inschrift den ganzen Festschmuck des Gebäudes.

Neugieriges Landvolk strömte und kostete die Quelle.

„Das ist ein gutes Zeichen, daß Ihr kommt!“ rief Lorsa Cilgia freudig entgegen und bot ihr den Willkommentrunk.

Köstlich wie einst schmeckten die Wasser.

„Ich bringe Euch noch jemand mit,“ antwortete sie, „den Maler Ludwig Georgy – er ist eben nach zwei Jahren Aufenthaltes von Rom zurückgekehrt und sieht das Engadin zum erstenmal im Sommer. Er ist hingerissen von seiner Schönheit, er will den Morteratschgletscher und die Bernina malen – ich empfehle Euch den Künstler, es ist leicht mit ihm Freund sein!“

Es war ein stilles Fest in St. Moritz, denn unter der Freude wogten die Sorgen. Früher als die Gesandtschaft, die noch in Wien weilte, waren die Freunde ans Ziel gekommen, das Bad war gebaut, aber wird es im vergessenen Engadin Gäste finden?

In seinem Heim wollte Herr Konradin mit Menja die Gäste, welche das Bad besuchen würden, empfangen.

„Junker Konradin von Flugi, der einstige Privatsekretär des Königs von Neapel, der Dichter des Ladins, der erste Gastwirt zu St. Moritz und seine Hausfrau!“ Darauf erhoben die Freunde bei dem kleinen Familienfest ihre Gläser.

Man sprach auch von der Gesandtschaft Bündens, die nun im zähen Festhalten an ihren Forderungen bald ein Jahr in der fernen Stadt weilte. Die Berichte, die sie heimschickte, waren niederschlagend. Verschleppungen, Vertröstungen, Ausflüchte! Unterdessen hatte sich im Veltlin die österreichische Verwaltung festgesetzt, und die österreichischen Beamten thaten nicht so, wie wenn sie es je wieder zu verlassen gedächten. Die wiedererwachten Hoffnungen, daß das Thal in den Besitz der Bündner zurückkäme, verflackerten wie Strohfeuer.

Das dämpfte den Jubel.

Der fröhlichste Gast war der deutsche Maler, der gerade in der Zeit des Gärens und Reifens stand.

„Ich merke, hier ist gut sein – ich bleibe bis zum Herbste da – ich arbeite! – Vor diesen flammenden Bergen, vor den innigen blauen Seen will ich Künstler werden. – Es giebt ja wahrhaftig vom Rhein und Thüringer Wald in Deutschland Gemälde genug – es giebt sie schon vom Vierwaldstättersee, vom Berneroberland. Aber wer hat je Bilder aus dem Engadin gesehen? Da ist eine neue Welt, ich versuche es, ich gründe vielleicht darauf meinen Ruf!“

[814] So sprudelte und jubelte er begeistert, und man trank auf die werdenden Bilder.

Und Cilgia nickte ihm lachend zu.

Da erwiderte der in der Sammetjoppe: „Es lebe das Land, wo Frauen wachsen wie Cilgia Premont und Männer wie Markus Paltram!“

Markus Paltram – wie immer, wenn der Name genannt wurde, sprach man lange über ihn.

Wohl war Markus Paltram der furchtbare Herr der Bernina, aber auch der, der sieben Menschenleben gerettet hatte. Mit scheuer Achtung sah das Volk zu ihm empor. Wenn es stürmt und schneit, wenn die Lawinen gehen und die Runsen krachen, ist er im Gebirge, Tag und Nacht. Er wittert, wo Menschen in Gefahr sind, er führt dem ermatteten Säumer das Pferd, er gräbt die verschneiten Züge aus.

So erzählt man weit und breit. Er muß so viele retten, hat sich die Sage gebildet, wie er auf den Höhen des Gebirges tötet.

„Er ist besser als sein Ruf,“ erwiderte Fortunatus Lorsa; „nennt mir einen einzigen Jäger, den er getötet hat! – Niemand weiß einen Namen, es ist ein leeres, ungreifbares Gerücht. – Er widerspricht ihm nicht, er lächelt dazu, wie wenn es wahr wäre, und gründet sein Königtum der Bernina auf den Aberglauben der Bergamasken, die von jeher alles Thörichte lieber annehmen, als was von gesunden Sinnen ist!“

Aehnlich sprach Herr Konradin.

„Und was sagt Ihr von ihm, Frau Cilgia?“ fragte der Maler.

Sie errötete und schwieg einen Augenblick.

„Die Freunde können es Euch erzählen,“ sagte sie halblaut, „daß niemand unter Markus Paltram schwerer gelitten hat als ich, aber er unter sich selbst noch mehr!“

Und das klang unendlich wehmütig vom Munde Cilgias. Es klang, als ob sie ihn noch immer liebe.

Mit Verwunderung hörten es die Freunde.

Sie hatte es mit Schmerzen gesprochen, damit Ludwig Georgy, der gewiß nicht wegen des Engadins von Rom zurückgekehrt war, aber sie mit seinen blauen fröhlichen Augen verschlang, nicht wieder in die Schwärmerei des letzten Tages von Puschlav verfalle. – –

Und sie kämpfte den letzten schweren Kampf.

Droben beim Kirchlein Santa Maria sah sie Markus Paltram.

„Also Markus, was habt Ihr mir zu sagen,“ flüsterte sie verlegen.

Da kniet der felsenfeste Mann bebend vor ihr.

„O Cilgia, sagt mir noch einmal – Ihr könnt es mir nicht genug sagen, daß Ihr mir verziehen habt! Es ist Oel auf eine Wunde, die immer brennt. – – Sagt: ist zwischen uns kein Glück mehr möglich? – Meine arme kleine mutterlose Landola spricht nur von Euch. – Ihr seid ihr alle Schönheit und Güte, alles seid Ihr dem Kinde – wie mir. – Ihr wißt, was Ihr mit einem guten Wort aus mir machen könnt!“

Als ob sich in seiner Brust eine Lawine löste, sprach er es.

„Steht auf, Markus – dort schlägt mein Bube seinen Reif – er darf uns nicht sehen!“ stammelte Cilgia.

Das Wort „mein Bube“ wirkte auf Markus Paltram wie ein Schlag. Er taumelte auf.

„Ja, die Kinder!“ sagte er wie geistesabwesend. „Ich sah gestern Euern Knaben mit meinem Kinde spielen – das war so sonderbar!“

Da spürte er, wie die goldbraunen Augen Cilgias in unendlicher Trauer und Liebe auf ihn gerichtet waren.

„Gebt mir noch ein spätes Glück, Cilgia!“ – Wort und Blick an dem gewaltigen Manne sind glühende Bitte, seine Hand sucht ihre Hand.

Cilgia atmet schwer, es ist, als wolle sie fliehen – da stößt sie es hervor:

„Es geht mir seltsam – ich sollte Euch verachten – ich sollte von Euch fliehen – und liebe Euch doch!“

„Cilgia!“ keucht Markus Paltram.

Ihre goldbraunen Augen umfloren sich.

„Nur eins – Markus – Auge in Auge – danach entscheide ich: habt Ihr ein reines Gewissen gegen meinen Knaben Lorenz, der den Namen Gruber trägt?“

Markus Paltram wird totenblaß, aber er ermannt sich.

„Cilgia – ich habe diese Frage erwartet – es giebt in meinem Leben keine Todsünde, als die, die ich mit Pia an Euch begangen habe – ihretwegen bin ich der Heimatlose unter den Menschen!“ –

„Das ist verziehen,“ ist ihre Antwort, „aber Gruber?!“ – Halb hofft sie, halb faßt sie der Schreck vor der Antwort, die kommen würde. Alles an ihr ist Beben und Spannung.

„Ich habe ihn gerecht gerichtet,“ sagt Paltram ruhig, doch in furchtbarem Ernst. „Ich schwöre es vor Gott – ich habe ein reines Gewissen gegen Gruber. – Hört und urteilt selbst: Ich verfolge eine Gemsenspur am Gletscher – da kracht ein Schuß – ich sehe mich um – entdecke niemand – spüre aber das warme rieselnde Blut am Bein – ich gehe vorwärts. – Da steht in wilden Eisblöcken vor mir Gruber – er hebt schon wieder das Gewehr zum Schuß – ich reiße meins auch an die Wange. – – So knieen wir Blick in Blick auf dreißig Schritt – alles, was ich mit Euch erlebt habe, geht in diesem Augenblick an mir vorüber! – ,Es ist Cilgias Mann,‘ denke ich – ich reiße das Gewehr zurück, stehe auf – ,du kannst nicht auf ihn schießen!‘ – Da kracht sein zweiter Schuß und die Kugel zersplittert neben mir das Eis – ich verliere die Besinnung – stürze auf ihn los – Mann gegen Mann ringen wir – da weiß ich nicht mehr, was ich thue – ein Stoß – er versinkt in einer Gletscherspalte, die voll Wasser steht – ich werfe ihm sein Gewehr nach – ich schleppe mich weiter und wasche meine Wunde an einem Bächlein. – – Als ich wieder einmal über den Gletscher ging, hatte sich die Spalte, in der Gruber lag, geschlossen. – Das ist mein ganzes Geheimnis aus dem Gebirge. – Nun richtet!“

Cilgia war ins Gras gesunken – sie hielt das Gesicht mit beiden Händen bedeckt. „Ich habe es gewußt!“ stöhnt sie. „O hättet Ihr mir an jenem Tag gefolgt, als ich hier Eure Hände nahm und Euch bat: ,Laßt ab von der Jagd!’“

Da hebt sie Markus Paltram empor. „Cilgia!“ sagt er voll innerm Jammer.

„Ich liebe Euch,“ flüstert sie verwirrt, „aber ich darf Euch nicht mehr angehören wegen meines Knaben. Es wäre zu grauenhaft – der Mann im Eis – der Vater meines Lorenz – schweigt um meines Knaben willen!“

Und zitternd drückt sie Markus Paltram die Hand. „Lebe wohl – Markus!“

„Ja, der Mann im Eis,“ wiederholt er dumpf. „Ich fürchte Gruber nicht – sogar in der Nacht habe ich dort gestanden, wo er ruhen muß! Ich weiß nur eins – ich habe ihn gegen meinen Willen töten müssen, das ist der Lohn für meinen Verrat in jener Fastnacht!“

„Lebe wohl, Markus! – sei gut – sei um meinetwillen gut! Nie dürfen wir uns wiedersehen – nie – nie!“

Und gegen das Dörfchen hinab schwankt Cilgia Premont.

Sie sieht die ringsum strahlende Gebirgswelt nicht, sie sieht nur das gräßliche Bild, von dem sich der Schleier gehoben hat. Und sie liebt den, der ihren Mann erschlagen hat! –

In der Einsamkeit des Gebirges aber irrt Markus Paltram.

Ist es ein Gaukelspiel der Hölle, daß er glaubte, auch nur einen Augenblick glaubte, Cilgia könnte je die Seine werden?!

Die Hoffnung lebte nur in seinem heißen Blut, sein Verstand glaubte nie daran. Und er neidete Aratsch und seine Geliebte, denn die dürfen wandern einen ganzen Tag.

Sie aber wird er nie – nie – wiedersehen!

Er steht im fahlen Mondschein am Morteratsch – und die Stadt im Eise schimmert – die Spalten flimmern. Da fällt es wieder über ihn:

„Das Geschlecht Paltram muß untergehen!“

Und eine sonderbare Angst überfällt ihn. Seine kleine Landola hat mit dem Knaben Cilgias gespielt, mit dem Sohne Grubers. Und das kleine heiße Herz hängt an dem Bilde Cilgias. In seltsamen Ahnungen spürt er irgend eine Gefahr für sein Kind. Und wie ist sie ihm lieb, seine Landola!

(Fortsetzung folgt.) 


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Johann Heinrich Pestalozzi.

Ein Blatt zur Einweihung des Pestalozzi-Denkmals in Zürich.
Von Oswald Heidegger.
(Mit dem Bilde S. 813.)

Die goldene Oktobersonne ringt siegreich mit den Vormittagsnebeln, die über den Straßen von Zürich und dem schönen Stromband der Limmat wogen. Da erheben, obgleich die Stadt das Kleid des Werktags trägt, von allen ihren Türmen die Glocken ihr Zusammenspiel. Aus der ehrwürdigen Kirche der ehemaligen Fraumünsterabtei bewegt sich schlicht feierlich ein Zug von etlichen hundert Männern, Behörden, Bürgern und Gästen der Stadt. Sie ziehen zur Weihe eines einfachen Standbildes, das sich frisch vollendet aus den Baumgruppen vor dem Linth-Escher-Schulhause erhebt. Rede und Gesang, auch das helle Jugendlied einer blühenden Schar von Knaben und Mädchen umklingen es, und nun steht es eingefügt in das reiche Bild der stolzen Stadt und begrüßt die Gäste, welche vom Bahnhof kommen, gleich nachdem sie die ersten hundert Schritte gegen den lachenden See gegangen sind.

In lebenswarmer Einfachheit redet das Erzbild, ein Werk des jungen Luzerner Bildhauers H. Siegwart, von schlichter Liebesthat.

Ein schon auf der Höhe der Jahre stehender Mann, dessen kummergebeugte Gestalt, dessen gramvolle Züge sich eigentlich sehr wenig zur bildnerischen Darstellung eignen, dessen Angesicht nichts als ein Strahl unendlicher Herzensgüte verklärt, neigt sich freundlich und milde zu einem armen hungernden Kinde, das er am Wege gefunden hat. Und von der liebenden Hand berührt, erhebt es sein Auge zutrauensvoll zu dem Retter und Helfer.

Das ist das Denkmal. Und jeder, aus welchem Land der Erde er komme, hemmt seinen Wanderschritt vor der bescheidenen Gruppe und grüßt das im Baumkreis ragende Bild. Denn am syenitenen Sockel des Monuments steht der Name „Johann Heinrich Pestalozzi“, ein Name, der nicht nur Zürich, nicht nur der Schweiz sondern der Bildungsgeschichte der Welt angehört.

Indem Zürich Pestalozzi das Denkmal errichtete, hat es eine alte Ehrenschuld an seinen berühmtesten Sohn abgetragen, und das Werk erscheint um so sympathischer, als es einem Manne gilt, der nie für sich, sondern stets nur für andere gekämpft und gelitten hat.

„Schon lang’,“ so schreibt er, „ach, seit meinen Jugendjahren wallte mein Herz wie ein mächtiger Strom einzig und allein nach dem Ziele, die Quellen des Elends zu verstopfen, in das ich mein Volk versinken sah.“ Ueber dem Suchen nach diesem Ziel ist er der Begründer der allgemeinen Volkserziehung geworden, die das ausgehende 19. Jahrhundert für eine der köstlichsten unter seinen vielen Errungenschaften hält.

Die allgemeine Volksschule! – Diese Idee ist heute in den vorgeschrittenen Ländern so in Fleisch und Blut der Bewohner übergegangen, daß wir ihre Verwirklichung und ihren Bestand als etwas durchaus Selbstverständliches hinnehmen, daß wir ein gewisses Maß der Bildung, die alle Schichten des Volkes durchdringt, für die unerläßliche Grundlage eines gesunden Staatslebens halten und das Ansehen einer Nation nach den Opfern bemessen, die sie für diesen Zweck bringt.

Im 18. Jahrhundert aber gab es noch keine Volksschule, sondern der Unterricht der Jugend der Städte war ein totes Buchstabenwesen. Das Volk der Landschaft wuchs vollends in Unwissenheit und Verwilderung auf. So war es in der Schweiz, so in den übrigen Ländern.

Da kam Pestalozzi und lebte mit armen Kindern wie ein Bettler, „um sie wie Menschen leben zu machen.“ Das war im Jahre 1774. Aber was für ein Martyrium hat er nicht ein halbes Jahrhundert lang um den Gedanken der sittlichen und wirtschaftlichen Hebung des Volkes erlitten! Nie ist ein Ringender mehr verhöhnt und verketzert worden als er, und es mutet wahrhaft wehmütig an, daß ihm kaum ein ahnungsvoller Blick auf die Segenssaat beschieden war, die aus seinem Leben voll Selbstverleugnung und Kümmernissen erwachsen ist.

Nicht in der Heimat, die ihn heute stolz den Ihrigen nennt, sondern in der Ferne, nicht in den Niederungen des Volkes, denen die Sorge seines Herzens galt, sondern auf den Höhen der Gesellschaft hat man zuerst die Tragweite seiner Erziehungsgedanken erkannt und in den Dienst des nationalen Aufschwungs gestellt.

Die Nächsten sahen an Pestalozzi nur seine Mißerfolge. Denn aus lauter Mißerfolgen ist der letzte große Erfolg, wie er in dem blühenden Volksschulwesen der Gegenwart zu Tage liegt, hervorgegangen.

Sie kamen aus der Natur und dem Wesen Pestalozzis selbst. Nie ist ein genialer Mann weniger imstande gewesen als er, die herrlichen Erkenntnisse des sinnenden Geistes für die Lebenswirklichkeit fruchtbar zu gestalten, das Gold des Gedankens in die Gebrauchsmünze des Alltags umzusetzen. Sonnenhafter innerer Erleuchtung widersprach eine verwunderliche Ungeschicklichkeit und Hilflosigkeit in der praktischen Durchführung, und daraus hat sich sein fast tragisches Schicksal geprägt.

Er ist gleichsam der Bauherr, der sein Werk in Visionen sah, der in rührender Liebe und bis zum Lebensende die Steine dafür zusammentrug, aber sie selbst nicht hat fügen können. Ausgebaut haben den Dom andere, doch ist kaum ein Stein daran, der nicht sein Zeichen trüge.

Pestalozzi wurde im Jahre 1746 in einem düstern Hinterhaus der wallumgürteten Stadt Zürich geboren; er wuchs als Halbwaise, „ein Weiber- und Mutterkind“, zwischen der Mutter und einer Magd empor, die ihn, um die Höschen zu sparen, nur selten zu den Gespielen auf die Gasse gehen ließen. Als er die Schule besuchte, galt er für blöd, die mit ihm aufwachsende Jugend rief ihn mit dem Spottnamen „Hansheiri Wunderli von Thorlikon“, und er war in seiner großen Gutmütigkeit der Narr aller. Dazu unordentlich und nachlässig und mehr mit einem merkwürdigen Traumsinn als mit der Neigung für ein verstandesmäßiges Erfassen der Dinge begabt. Doch ging er später durch die höheren Schulen Zürichs, und die Lektüre Rousseaus übte einen tiefgreifenden Einfluß auf den zum Manne heranreifenden Jüngling, der sich unter Einwirkung der Rousseauschen Bücher für das Bauernleben entschied.

In der Zeit dieses Entschlusses erlebte er ein wunderbares Glück. Der in seiner Gesichtsbildung häßliche, in seinem Wesen unordentliche junge Mann fand in einer hochsinnigen Nachbarstochter, der feinen und schönen Anna Schultheß, eine Gattin, die mit ihm wie ein gottgesandter Engel durch die bitteren Stunden und Jahre des Lebens ging. Er kaufte eine große Strecke Heideland beim Dorfe Birr im Aargau und baute darauf ein anmutiges Landhaus, den „Neuhof“. Allein bald erfüllte sich das Schicksal, das die Mutter der jungen Frau Pestalozzi prophezeit hatte: „Du wirst mit Wasser und Brot zufrieden sein müssen“. Die bäuerlichen Unternehmungen des jungen phantasiereichen Städters schlugen, wie jedermann erwartet hatte, fehl.

Da, im Jahre 1774 – wer kennt die Gedankengänge einer genialen Seele? – mitten in bitterer Not, kam Pestalozzi auf den sonderbaren Plan, 30 bis 40 verlaufene, heimatlose, von den Eltern schlecht versorgte Bettelkinder zu sammeln und sie in seinem Heim bei Unterricht und Arbeit zu tüchtigen Menschen zu erziehen. Sechs Jahre hielt er, von philanthropischen Freunden etwas unterstützt, die Armenanstalt auf seinem verschuldeten Gut. Dann kam die schwere Zeit, wo er und seine in Wohlstand aufgewachsene Gattin kein Brot mehr im verpfändeten Hause hatten.

Was nun in dieser herzzerschneidenden Armut? – Jedesmal, wenn Pestalozzi im Elend fast ertrank, erwachten seine erhabensten Gedanken. In der bittersten Trostlosigkeit schrieb er im Hause eines Freundes zu Zürich „Lienhard und Gertrud“, eines jener litterarischen Werke, die auf Sturmesflügeln die Länder und die Herzen eroberten. Das in hinreißendem Gemütston geschriebene Buch, das jetzt noch fast Jahr um Jahr neue [816] Auflagen erlebt, ist das Vorbild des deutschen Dorfromans und führt in der Form einer Erzählung den Gedanken aus, daß nur eine in die tiefsten Schichten der Bevölkerung hinunterreichende Erziehung, welche die Gesamtheit der Kräfte und Anlagen der Kinder entwickle und der guten Gesinnung den Vorzug vor dem bloßen Wissen gebe, die Menschheit von den Gebrechen der Zeit erlösen könne.

Mit einem Schlag trug das Buch dem Verfasser Weltruhm ein, aber seine folgenden Werke fanden bei den Zeitgenossen nicht die gleiche Anerkennung; erst die neuere Pädagogik hat auf sie als besonders reiche Fundgruben erzieherischer Anregung nachhaltig aufmerksam gemacht, und achtzehn lange Jahre lebte Pestalozzi mit seiner Gattin als ein von der Menschenfreundlichkeit seiner Schuldner abhängiger Landwirt und pädagogischer Schriftsteller in demütigenden Verhältnissen, unter dem Vorurteile, dem sich nur wenige Freunde nicht anschlossen, er sei ein zwar herzensguter, aber für das Leben unbrauchbarer Thor.

Da kam im Jahre 1798 jener Einbruch der Franzosen in die Schweiz, der die alte Eidgenossenschaft zusammenschlug und auf ihren Trümmern die Helvetische Republik errichtete. Unter den kleinen alten Staatswesen, die der neuen Verfassung den Huldigungseid versagten, befand sich Nidwalden. Zweitausend schlecht bewaffnete Hirten stellten sich sechzehntausend kriegsgeübten Franzosen gegenüber. Ein kurzer Kampf – dann war Nidwalden ein ungeheures Grab. Eine Menge von Waisen, denen Vater und Mutter erschlagen waren, irrte durch die verbrannten Dörfer. Da sandte Legrand, einer der Direktoren der neuen Republik, Pestalozzi nach Stanz, daß er die Waisen sammle. Und vom Dezember 1798 bis in den Juni 1799 war nun Pestalozzi den vier- bis zehnjährigen unterwaldnerischen Kindern, die, mit Ungeziefer beladen, in Lumpen gekleidet, in seine Anstalt traten, alles, Vater und Lehrer, Mutter und Magd. Er selber nannte lebenslang die Tage von Stanz seine segensreichsten. Und obgleich sie seine Gesundheit brachen, Auflösung das Ende des Unternehmens war, gaben sie ihm die Kraft des Selbstvertrauens.

„Ich will Schulmeister werden!“ – Auf dem Schloß Burgdorf im Kanton Bern errichtete er mit Hilfe der Regierung eine Anstalt, in der schweizerische Lehrer in seine Erziehungsmethode eingeführt werden sollten, in jene Methode, die allen Unterricht auf die Grundlage der Anschauung, der sinnlichen Wahrnehmung, auf die naturgemäße Entwicklung in jedem Lehrfach zurückführt und die höchste Aufgabe der Erziehung in der „allgemeinen Emporbildung der natürlichen Kräfte des menschlichen Geistes“ erblickt. Die Begründung dieser Methode, die in der Gegenwart als der Anfang und das Ende aller Unterrichtskunst anerkannt wird, ist das zweite große Verdienst Pestalozzis, die Ergänzung, ohne welche eine allgemeine Volksbildung kaum je hätte Wurzeln schlagen können. Indessen zeigten sich schon in Burgdorf und später im Kloster Münchenbuchsee, wohin die Anstalt verlegt wurde, die natürlichen Mängel Pestalozzis, der, wie schön er auch in „Lienhard und Gertrud“ die sittliche Bedeutung der Ordnung des Haushalts schildert, eine klare haushälterische Lebensordnung nie zu führen vermochte. Die Anstalt ging ihrer Auflösung entgegen und Pestalozzi folgte einem Rufe nach Jfferten (Yverdon) im Waadtlande, wo eine Erziehungsanstalt für Kinder aus allen Ständen gegründet worden war. Und siehe da, der Mann, der zeitlebens nicht orthographisch schreiben konnte, der sozusagen nie über die Grenze seines engen Heimatlandes hinausgekommen ist, wird von Jüngern unterstützt, die im einzelnen seine Ideale klarer auszulegen und der Wirklichkeit des Lebens anzupassen vermögen als er selbst, der erzieherische Prophet des gebildeten Europas.

Bis ins Jahr 1817 vermochte sich das von Pestalozzi geleitete Institut auf der Höhe seines Glanzes zu erhalten, seine Leistungen galten namentlich im Rechnen und Sprachunterricht als unvergleichlich, Pestalozzische Lehrer wurden nach Madrid, Neapel und Petersburg berufen, der Kaiser von Rußland bezeigte ihm persönlich sein Wohlwollen, und Fichte erblickte in ihm und seinem Wirken den Anfang einer Erneuerung der Menschheit. Aber unter der Lehrerschaft entstanden Zwistigkeiten, im Jahre 1825 löste Pestalozzi das Institut auf und siedelte als fast Achtzigjähriger auf den Neuhof zurück.

Das Ende seines Lebens war bittere Enttäuschung, und aller Ruhm von Jfferten entschädigte ihn nicht für die Wahrnehmung, daß die unmittelbare Wirksamkeit seiner Erziehungskunst statt dem verlassenen armen Volke, das er mit der ganzen Leidenschaft seines Herzens liebte, nur den höheren Ständen zu Gute kam. Denn er erlebte es nicht mehr, wie die Segnungen seiner langen Thätigkeit bis in die Tiefen des Volkslebens herniederstiegen.

Er starb, nachdem er seine getreue Gattin schon zwölf Jahre zuvor verloren hatte, am 17. Februar 1827 zu Brugg; er wurde zu Birr in der Nähe des Neuhofes bestattet; im fallenden Schnee sang ihm ein kleines Geleite von Lehrern und Schülern ein Lied ins Grab.

Sind aber auch alle seine äußeren Werke verfallen, so ist doch sein Leben – mit den Augen unserer Zeit gesehen – ein erhebend fruchtbares und gesegnetes gewesen.

Zuerst war es Preußen, das in den erzieherischen Ideen Pestalozzis Mittel und Wege zur nationalen Sammlung und Wiedergeburt suchte und fand, war es der preußische Minister Freiherr vom Stein, der eine Reihe junger Männer nach Jfferten schickte, damit sie, vom Geist Pestalozzis überstrahlt, später in der Heimat eine Schar von Pestalozzianern zu Lehrern der Jugend und des Volkes heranzögen.

Der Versuch trug Früchte: er entfesselte die Kräfte und stärkte das Volk zur höchsten Thatkraft, und den Lebensbedürfnissen sorgfältiger angepaßt, als der unbeholfene Meister es zu thun vermocht hatte, kamen dessen Ideen wenige Jahre nach seinem Tod aus Deutschland in Pestalozzis Heimat zurück, nach der Stadt und dem Kanton Zürich durch den Württemberger Thomas Scherr von Hohenrechberg, den hochverdienten Gründer der zürcherischen Volksschule.

Seither ist die Saat Pestalozzis nirgends so reich in seinem eigenen Sinn und Geiste aufgegangen wie in der Vaterstadt, wie in der Heimat des Pädagogen. Zürichs Opferwilligkeit und Leistungen auf dem Gebiet der allgemeinen Jugendbildung sind ohne gleichen. Von den Hügeln, welche den Kern der Stadt umschmiegen, leuchten die Volksschulhäuser wie Schlösser auf das blühende Gemeinwesen, der Stolz jedes Dorfes ist ein palastähnliches Schulhaus. Und ihren Kindern – auch den Tausenden und Tausenden aus den anderen Ländern – geben Stadt und Kanton durch eine hervorragend gebildete Lehrerschaft unentgeltlichen täglichen Unterricht vom sechsten bis zum fünfzehnten Jahr. Sie geben ihnen unentgeltlich alle Bücher und Lehrmittel, sie tränken die Kränklichen unter ihnen mit Milch, sie führen die Blassen in die Ferienkolonien auf Bergeshöhen in Luft und Sonne, sie leiten die Jugend zu Spiel und Handfertigkeit, und fast unbegrenzt ist Jünglingen und Mädchen, die das schulpflichtige Alter schon überschritten haben, kostenlose Gelegenheit geboten, die Kenntnisse nach Neigung und Beruf zu erweitern. Ebenso sorgen Stadt und Kanton mit hingebender Fürsorge für diejenigen, die Pestalozzi am meisten am Herzen lagen, für die Schwachsinnigen und Verkümmerten; und damit den ärmeren Erwachsenen, so wie es Pestalozzi gewollt, die edeln Genüsse des Lebens zugänglich seien, streut eine große Gesellschaft, die seinen Namen trägt, nicht nur guten Lesestoff in ihre Kreise, sondern vermittelt ihnen entweder zu kleinsten Preisen oder unentgeltlich den Besuch von Volksvorstellungen in den prachtvollen Räumen des Stadttheaters und fein gewählter Konzerte in den Prunksälen der Tonhalle.

So ist Zürich nicht nur die Stadt Pestalozzis, weil der Zufall der Geburt seine Wiege in eines ihrer Häuser gestellt hat, sondern auch in dem höheren Sinne, daß sein Geist aufs lebendigste in ihr webt und lebt.

Das Erzbild, das sich seit dem 26. Oktober vor einem der, schönsten Volksschulhäuser an der lebensvollen Bahnhofstraße erhebt, ist nicht nur ein Denkmal Pestalozzis, es ist auch ein Denkmal des veränderten Volksgeistes, der in Hinsicht auf das blühende Volksschulwesen Zürichs ein symbolisches Wort aus „Lienhard und Gertrud“ erfüllt: „Sie spinnen so eifrig als kaum eine Taglöhnerin spinnt, aber ihre Seelen taglöhnern nicht.“

Erst wenn das große sittliche Ideal, das in diesen schlichten Worten ausgesprochen ist, eine allgemeine Wahrheit unter den Menschen geworden sein wird, ist die Sendung dessen, den sein Volk auf das Piedestal gehoben hat, erfüllt.


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In der Christnacht.

Novellette von Anna Ritter. Mit Illustrationen von Werner Zehme.

Achtung …!“ Der kleine, verwachsene Postbote schob keuchend den schweren Kastenwagen vor sich her. Jetzt um die Weihnachtszeit war’s kein Vergnügen, in Berlin bei der Post zu sein! Das ging von früh bis in die Nacht hinein, Trepp auf, Trepp ab, kaum, daß man mittags sein bißchen Essen hinunterschlingen konnte; dazu die kranke Frau daheim und keinen, der sie ordentlich versorgte.

Mit plötzlichem Ruck klappte er den Deckel zurück und belud sich mit Paketen.

Berger … Berger … Berger! Drei Stück! Der konnte lachen, dem hatte Mutter ordentlich ’was eingepackt, um ihm die einsame Junggesellenweihnacht zu versüßen. Schwer atmend stieg der Mann mit seiner Last die drei teppichbelegten Treppen des feinen Hauses hinauf und klingelte.

„Für – Herrn Assessor.“

„Klopfen Sie nur dort an, der Herr Assessor sind zu Hause,“ sagte Dorchen, das Hausmädchen, und trat zurück, um den Alten vorbei zu lassen.

Ja, der Herr Assessor „waren“ zu Hause. Er hatte sich seinen bequemen Hausrock angezogen, eine feine Havanna angesteckt und schritt, mit einem brennenden Tannenzweige wedelnd, im Zimmer auf und ab.

Das riecht so weihnachtlich, meinte er, beinahe wie bei Muttern.

Bei dieser Beschäftigung überraschte ihn der kleine Postbote, der ihn schon von früheren Gelegenheiten her kannte.

„Hier bring’ ich die Bescherung für den Herrn Assessor,“ sagte er, mit pfiffigen Augen umherblickend. „Drei große Pakete von zu Haus! Ja, wer’s so haben kann!“

Und dann strich er schmunzelnd das außergewöhnliche Trinkgeld ein und nahm mit spitzen Fingern eine Cigarre aus dem Kasten, der ihm freundlich hingehalten wurde.

„Na, dank’ auch schön und vergnügte Feiertage!“ –

Herr Assessor Adolf Berger schob die Pakete einstweilen beiseite. Erst mußte das ganze Zimmer einen festtägigen Anstrich haben, dann wollte er „aufbauen“.

Ueber den Sofatisch hatte er eine weiße Serviette gebreitet, und darauf stand, mit ein paar bunten Glaskugeln behängt, eine kleine Fichte. Ziemlich kümmerlich, wenn er an den Lichterbaum daheim dachte, aber immerhin ein Christbaum, ohne den es für ihn nun einmal kein Weihnachtsfest gab.

Neben dem Bäumchen stand ein weißer Wachsstock, von dem der Assessor mit dem Taschenmesser regelmäßige Endchen abschnitt, denn die Antipathie gegen die gefärbten Paraffinkerzchen war vom Vater auf ihn übergegangen. Wachs mußte es sein, echtes Bienenwachs, das gab dann mit Pfefferkuchen, Punsch und Tannennadeln zusammen jenen unbeschreiblich wundervollen Weihnachtsduft, der die Erinnerung an – ja, an vierundzwanzig selige Weihnachtsfeste in ihm weckte, denn auf die ersten vier seines Lebens konnte er sich beim besten Willen nicht mehr besinnen.

Jetzt waren die Lichtchen alle befestigt. Was noch herumlag, wurde mit schnellem Griff in eine Schublade geworfen, in der schon allerlei bunter Kram friedlich nebeneinander hauste. Dann rückte der Herr Assessor den großen Sorgenstuhl vom Fenster neben den Christbaum, steckte die Flamme unter dem Wasserkesselchen an, stellte den Punschextract daneben, und nun konnte die Geschichte losgehn! –

Es ist ein eignes Ding um eine einsame Weihnacht. Und wenn es einem das ganze Jahr über noch so wohl unter Fremden ist, am Heiligabend will das Herz etwas Liebes, Vertrautes haben, irgend ein altes Gesicht, das auf die Frage „Weißt du noch?“ mit stillem Nicken antworten, oder ein junges, das von künftigen Christfesten mitträumen kann.

Assessor Berger war eine frische, fröhliche Natur, jeder Sentimentalität abhold, und so hatte er, ohne sich lang’ zu besinnen, die Vertretung eines verheirateten Kollegen übernommen, der kürzlich herversetzt war und für die Festtage gern zu seiner Familie reisen wollte. Nun, da er sich in seinem stillen Zimmer umsah, verwünschte er fast die unzeitige Gutmütigkeit, und er hob mit einem kleinen Stoßseufzer das erste der Pakete auf, das sie ihm daheim eingepackt hatten.

„Flach und lang …“ meinte er mit Kennerblick, „werden wohl die gewünschten Oberhemden sein! Wenn sie nur nicht wieder aus der Weste herausrutschen wie die vorigen, ‚selbstgenähten‘, die mich fast zur Verzweiflung gebracht haben …“

Kurz entschlossen schnitt er den Bindfaden entzwei und hob den Pappdeckel ab.

„Nanu?“ Ziemlich betreten starrte er auf den Inhalt der Schachtel: zwei Paar derbe, handgestrickte Strümpfe von einer unheimlichen Länge und abnorm kleinen Füßen, sechs mit „K“ gezeichnete Taschentücher … „Ich heiße doch Adolf!“ – und dann –

Er war ganz rot geworden und deckte etwas Weißes, Spitzenbesetztes diskret wieder zu – „das waren doch bei Leibe keine Oberhemden!“

Neben den Taschentüchern lag ein verschlossener Brief. „Für mein liebes Kind“ stand darauf geschrieben. Es mußten alte Hände und Augen gewesen sein, die diesen Brief zustande gebracht hatten, denn die Schrift war zitterig und die Linien schief.

Noch immer hielt er den fremden Brief in den Händen und sah gerührt die einfachen Worte an: „Für mein liebes Kind.“ Dann legte er die bescheidenen Herrlichkeiten sorgsam wieder zurecht und griff nach der Paketadresse.

„Fräulein Klara Berger.“

„Mein Gott, wie unangenehm! Wie ist solche Verwechslung [818] nur möglich! Aber freilich, um die Weihnachtszeit, und wenn man im selben Hause wohnt …

Denn Straße und Hausnummer stimmten, nur daß Fräulein Berger im Hintergebäude drei Treppen hoch wohnte. Er fing an, sich für die Fremde zu interessieren, die seinen Namen trug und vom Zufall mit ihm in dasselbe Haus verschlagen war. Sonderbar, daß er sie nie gesehen hatte! Wahrscheinlich benutzte sie immer den Seiteneingang, denn er konnte sich nicht besinnen, ihr jemals begegnet zu sein.

Nun, Dorchen würde schon Auskunft geben können, die kannte die Familienverhältnisse aller Hausbewohner bis ins dritte und vierte Glied.

„Dorchen!“

„Herr Assessor!“ Mit eiligen Schritten kam sie den langen Gang heruntergelaufen, daß die Holzabsätze der Pantöffelchen nur so klapperten. Für den Herrn Assessor, da ging sie durchs Feuer, so ’n artiger, netter Herr, wie das war! Und heute, nach dem schönen „Weihnachten“, den er ihr in die Hand gedrückt, wäre sie auch zu einer größeren Dienstleistung gern bereit gewesen.

Ganz atemlos kam sie an. „Wünschen der Herr Assessor etwas?“

„Ja, Dorchen,“ er zeigte auf das mysteriöse Paket, „mir ist da eine sehr unangenehme Geschichte passiert. Der Postbote hat die Pakete verwechselt und mir eins gebracht, das für ein Fräulein ‚Klara Beraer‘ im Hinterhause bestimmt ist.“

„Ach ...“ Dorchen trat interessiert näher.

„Kennen Sie denn das Fräulein?“

„Na und ob,“ Dorchen war förmlich gekränkt, „das ist ’was Feines, Herr Assessor, wenn sie auch nur Directrice in einem Putzgeschäfte ist. Auf hundert Schritt sieht man’s ihr an, daß sie ’ne Dame ist, und wenn sie auch noch so freundlich grüßt, abgeben thut sie sich mit keinem!“

„Ja, aber das Paket, Dorchen …?“

„Geben Sie’s mir, Herr Assessor! Ich trag’s rüber und bestell’ ’ne schöne Empfehlung von Ihnen: der Postbote hätt’s verwechselt.“

Dorchen band sich diensteifrig die Schürzenbänder fest und griff nach der Schachtel.

„Nein, warten Sie, Dorchen. – Das geht doch nicht!“

Adolf Berger zog unschlüssig den weichen blonden Schnurrbart durch die Finger. „Das geht auf keinen Fall! Ja, wenn ich’s nicht geöffnet hätte, aber so … Lassen Sie’s gut sein, Dorchen, ich gehe selbst.“

Er machte sich allerlei im Zimmer zu schaffen, um Dorchens erstauntes Gesicht nicht zu sehn.

„Da müssen der Herr Assessor aber über den Hof und dann wieder drei Treppen in die Höhe,“ sagte Dorchen, die des Assessors Antipathie gegen unnötiges Treppensteigen kannte. „Sie wohnt bei den Buchbindersleuten.“

„Schön! Fräulein Berger ist am Ende noch gar nicht zu Hause.“

„Doch!“ widersprach Dorchen eifrig. „Vor einer halben Stunde ist sie gekommen, und blaß sah sie aus, in ihrem schwarzen Mäntelchen. Lieber Gott, so ’n junges Ding und ganz allein am Heiligabend! Und nun nicht mal ’n Paket von zu Haus!“

Dorchen war ganz Rührung, als sie dem Assessor, der im Nebenzimmer schnell den Rock gewechselt hatte, in den Ueberzieher half. „Die erste Thür links, Herr Assessor, und tüchtig klingeln – wenn der Mann bei der Arbeit ist, überhört er’s oft.“

Die Pappschachtel sorgsam unter dem Arm, ging Adolf Berger über den beschneiten Hof. Es war und blieb eine fatale Sache, dem jungen Mädchen das geöffnete Paket zu überbringen. Aber vielleicht hatte sich Dorchen doch geirrt und sie war noch nicht zu Hause – die Geschäfte schlossen ja erst spät heute.

Er sah scheu an den Wänden des Hinterhauses empor. Drei Treppen hoch waren zwei Fenster erhellt, und an dem einen glaubte er einen Schatten zu entdecken, als ob dort, hinter der Gardine versteckt, eine Frau lehne, eine schmale, schlanke Gestalt.

Nachdenklich ging er die Treppen hinauf. Eigentlich war’s ein rechter Unsinn, daß er selbst gegangen war. Dorchen hätte das ebenso gut und besser besorgen können, und schließlich bekam er noch spitze Bemerkungen von der kleinen Putzmamsell. Denn was die „Dame“ anbetraf – man kannte das ja …

Die Treppen ächzten leise unter seinem Schritt.

„Verdammte Höhe!“ brummte der Assessor ärgerlich. „Hätte ich mir ersparen können!“

Aber endlich war er oben und zog die Klingel, erst leise, dann, Dorchens Weisung eingedenk, noch einmal energischer.

Eine ältliche Frau in großer Hausschürze öffnete und behielt die Thüre halb in der Hand, den vornehmen Besuch neugierig musternd.

„Was steht zu Diensten?“

„Ist Fräulein Berger vielleicht zu Hause?“

Adolf Berger ärgerte sich, wie unsicher seine sonst so kräftige Stimme klang, und fuhr in unmotivierter Heftigkeit fort: „Ich habe dem Fraulein ein Paket zu überbringen, das fälschlich bei mir abgegeben worden ist!“

„Bitte,“ sagte die Frau und deutete auf die nächste Stubenthür. „Klopfen Sie man dreist an, das Fräulein is g’rad’ von’s Geschäft heimgekommen.“

Und dann sah sie hinter ihm her.

„Hübscher Mann; und pikfein! Daß aber unser stilles Fräulein so ’ne Bekanntschaften hat …“

Kopfschüttelnd schloß sie die Thür hinter sich, indes der Herr Assessor bescheiden klopfte.

„Herein …“ Es klang sehr leise, dies Herein, als würde es von einer thränenverschleierten Stimme gerufen.

Und dann stand Adolf Berger, den Hut in der Hand, auf der Schwelle der kleinen Hinterstube und machte seine ehrerbietigste Verbeugung.

„Verzeihen Sie, mein Fräulein, daß ich es wage, Sie aufzusuchen …“ er begriff seine Dreistigkeit nun selbst nicht mehr, „es ist da eine Verwechslung vorgekommen … Ich heiße nämlich auch Berger … Assessor Berger“ – eine abermalige Verbeugung – „und da wir in demselben Hause wohnen …“

Sie hatte ihn mit keinem Worte unterbrochen. Still und blaß stand sie unter der kleinen Hängelampe, die Hände auf die Tischplatte gestützt und den Kopf gesenkt, daß der volle Lichtschein auf ihren blonden Flechten lag.

Assessor Berger meinte, nie etwas Holderes, Rührenderes gesehen zu haben als dies schmale Gesichtchen unter dem goldenen Heiligenschein.

„Gestatten Sie,“ er trat zögernd einen Schritt näher, „daß ich Ihnen hier Ihr Paket …“

„Ach, Gott sei Dank!“ Eine kleine Hand streckte sich ihm entgegen, und die Augen, mit denen sie ihn nun ansah, hatten wirklich geweint.

[819]

Als sie sah, daß die Schachtel geöffnet war, erschrak sie wohl, nahm aber seine Entschuldigung mit freundlichem Lächeln auf: „Es schadet nichts.“

„Es ist gewiß von zu Haus,“ sagte er, in krampfhaftem Bemühen, die Unterhaltung noch ein wenig hinzuziehen.

Da nickte sie eifrig. „Ich hab’ mich so gebangt, als ich nicht den kleinsten Gruß vorfand. – Wenn man zum erstenmal so allein ist am Heiligabend …“ sie errötete plötzlich über ihre Redseligkeit – was mußte er nur denken?

Er aber griff die Worte hastig auf.

„Ganz verlassen kommt man sich vor,“ bestätigte er in komischer Verzweiflung, „und immer muß man nach Haus denken, wie sie nun wohl alle um den Christbaum sitzen, wie jedes seine Geschenke betrachtet … Das ist ein Küssen und Händedrücken, ein Jubeln und Lachen …“

„Und doch auch wieder so feierlich,“ setzte sie ernsthaft hinzu. Sie hatte ihm mit leuchtenden Augen zugehört, gerade so war’s ihr selbst zu Mute gewesen.

„Wollen Sie sich nicht einen Augenblick setzen?“ Sie deutete schüchtern auf einen Stuhl; er war doch ihretwegen die drei Treppen heraufgestiegen.

Dankbar nahm er den Sitz an.

Wie gemütlich es hier oben war! Hinter allen Bildern steckten grüne Zweige, das Theetischchen war gefällig gedeckt, und dort am Fenster stand wahrhaftig auch ein Bäumchen und ein weißer Wachsstock daneben. Alles wie bei ihm, nur noch eine Nummer kleiner, bescheidener.

Sie war seinen Blicken gefolgt. „Das Bäumchen hab’ ich mir gestern selbst mitgebracht. Es ist hübsch gewachsen,“ sagte sie, die Zweige auseinanderbiegend, „und ich hatte mich darauf gefreut, es anzuputzen. Wie aber so gar nichts da war von Mütterchen, da ist mir die Lust vergangen … es hätte mich doch nur traurig gemacht.“

„Darf ich Ihnen die Lichtchen schneiden, Fräulein Berger?“

Er stellte den Hut hin und holte eifrig sein Taschenmesser hervor. „Da, sehen Sie – es klebt noch Wachs daran: ich habe vorhin für mein eigenes Bäumchen einen Wachsstock zerteilt. Nun habe ich eine Fertigkeit darin – großartig, sage ich Ihnen!“

Nach sekundenlangem Zögern holte sie lächelnd den Wachsstock und reichte ihn dem Assessor hin. „Wenn’s Ihnen Freude macht,“ sagte sie freundlich.

„Wie kommt es, daß Sie keinen Urlaub haben, Fräulein Berger?“ fragte er, eifrig arbeitend. „Dürfen Sie sich nicht einmal zu Weihnachten die kleine Erholung gönnen, heim zu fahren?“

„O doch, man hat es mir sogar angeboten. Aber Mutters Wohnort ist weit von hier und Reisen kostet Geld. Die Ausgabe wäre zu groß gewesen für meinen kleinen Beutel.“

Sie sagte es mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit, die ihm weh that. Wieviel Sorgen und Entbehrungen, wieviel Leid und Not waren wohl nötig gewesen, die junge Seele dort zu solch entsagender Weisheit zu erziehen!

Ein Weilchen stand sie neben ihm, seiner Arbeit zusehend, dann ging sie zum Fenster und schaute hinaus. Es hatte wieder angefangen zu schneien, die Flöckchen wirbelten gegen die Scheiben und türmten sich dann auf dem Fensterbrett zu einer kleinen Mauer auf. Tief unten aber, im engen Hausgärtchen, hatten sie Wege und Stege längst verwischt, aus der glatten, weißen Fläche ragten nur noch die Büsche mit dicken Schneekappen hervor.

„Wie schön muß es jetzt draußen im Lande sein,“ meinte das Mädchen träumerisch.

„Von unserem Stübchen aus können wir meilenweit über die Felder sehen, und die Obstbäume reichen mit den Zweigen bis an die Fenster. Hier sieht man nur Häuser und immer wieder Häuser …“

Wie sehnsüchtig ihre Stimme klang.

„Sie sollten einmal in den Tiergarten gehen, Fräulein Berger,“ sagte er, fleißig an seinen Lichtchen schnippelnd, „da ist’s jetzt märchenhaft schön!“

Sie schüttelte traurig den Kopf. „Wann denn? In der Woche hab’ ich nicht Zeit zum Spazierengehen und Sonntags, da sind so viel geputzte Menschen überall …“

Sie brach ab und sah erschrocken zu ihm hinüber. Das Messer war ihm tief in die Hand geglitten, und nun quoll das Blut in großen Tropfen hervor.

„Thut’s weh?“ Sie beugte sich mit blassem Gesichtchen über seine Hand, und dann lief sie zur Kommode und holte ein kleines Bündel weißer Lappen hervor.

„Gutes, altes Leinen,“ versicherte sie wichtig. „Mutter hat’s mir für alle Fälle mitgegeben. Sie sollen sehen, das hilft gleich!“

Mit flinken Fingern riß sie Verbandstreifen ab, tauchte ein Läppchen in kaltes Wasser und band es um den verwundeten Daumen.

Er hatte ihr lachend wehren wollen, aber dann war’s ihm doch ein eigentümlich wohliges Gefühl gewesen, sie so um sich beschäftigt zu sehen und die Fingerchen zu betrachten, die vor lauter Schreck und Mitgefühl förmlich zitterten.

Als der Verband kunstgerecht fertig war und sie die Enden des Fadens, in Ermangelung einer Schere, schnell entschlossen mit ihren spitzen Zähnchen durchbiß, faßte Assessor Berger mit raschem Griff nach ihren Händen.

„Danke schön, Fräulein Klärchen!“

Sie war ganz rot geworden und trat einen Schritt von ihm fort.

„Aber bitte! Thut’s auch gewiß nicht mehr weh?“

Dann kam es ihr zum Bewußtsein, wie lange er nun schon hier sei und wie sonderbar überhaupt dieser ganze Besuch war, und was Frau Prieke wohl denken würde.

Er merkte ihr die peinlichen Gedanken an, sie waren gar so deutlich auf ihrem Gesichtchen geschrieben.

Seufzend stand er auf. Die Aussicht, den Rest des Abends allein zu verbringen, hatte wenig Verlockendes, und überhaupt – sie war solch süßes Geschöpfchen, zurückhaltend und zutraulich zugleich …

„Fräulein Klärchen, ich habe eine große Bitte! Sagen Sie einmal Ja!“

Mit scheuen Augen sah sie zu ihm auf. Was wollte er nur?

[820] „Es ist ein ganz harmloser Wunsch,“ sagte er beruhigend. „Sie brauchen nicht solche Rotkäppchenaugen zu machen. – Lassen Sie uns noch ein Stündchen zusammen durch das weihnachtliche Berlin gehen.“

„Nein, nein …“ sie schüttelte ängstlich abwehrend den Kopf, „das geht nicht … das kann ich wirklich nicht. Ich bin noch niemals abends ausgegangen, seit ich hier bin …“

In komischer Feierlichkeit hielt er ihr den verbundenen Daumen entgegen.

„Ich habe mein Blut in Ihrem Dienst vergossen, Fräulein Berger, und Sie schlagen mir die kleine Bitte ab!“

In all ihrer herzbeklemmenden Angst mußte sie lachen. Er sah gar so drollig aus. Und vielleicht hatte er recht – es war doch gewiß nichts Böses dabei, wenn sie sich von ihm noch ein Weilchen herumführen ließ in den flimmernden, blitzenden Straßen. Eine unbändige Sehnsucht kam jählings über sie, eine Sehnsucht nach der kühlen, klaren Winterluft, nach dem Knirschen des Schnees unter ihrem Schritt, nach Licht und Frohsinn, nach einem Menschen, mit dem sie plaudern könnte …

„Es ist schon so spät,“ sagte sie zögernd, halb bang, halb nachgebend, „um zehn Uhr müßte ich ganz sicher zu Hause sein …“

Er unterdrückte mühsam einen Freudenschrei, er durfte ihr zaghaftes Zutrauen nicht erschüttern mit seiner tollen Fröhlichkeit.

„Punkt zehn Uhr sind wir zu Haus, natürlich,“ sagte er, so vernünftig als möglich. „Ziehen Sie flink ihren Mantel an …“

Sie strich mit den Händen zärtlich über das Paket. „Ich möchte doch erst … es ist von der Mutter!“

Eine warme Weichheit war in ihren Augen und in der Stimme, sobald sie der Mutter erwähnte.

„Dann will ich unten auf Sie warten, Fräulein Klärchen. In einem Viertelstündchen vielleicht, sonst bleibt uns so wenig Zeit,“ bat er herzlich.

Sie nickte ihm zu. „Ich werde pünktlich sein.“


In wahrem Sturmschritt, immer drei Stufen auf einmal nehmend, raste er die Treppen hinab und im Vorderhause wieder empor, daß er das ahnungslose Dorchen, welches im Halbdunkel des Treppenhauses gerade einen kleinen Klatsch mit der Köchin des zweiten Stockwerkes abhielt, beinahe über den Haufen rannte.

„Gott, Herr Assessor, was hab’ ich mich erschreckt!“

Er stammelte etwas, das eine Entschuldigung bedeuten sollte, aber seine Gedanken waren ganz wo anders.

„Da will ich dem Herrn Assessor man gleich den Spiritus wieder anstecken. Ich hab’ ihn vorhin ausgepustet, es hätte sonst leicht ein Unglück geben können.“

„Danke schön, Dorchen, lassen Sie nur – ich gehe noch einmal fort.“

Dorchen riß erstaunt die runden Augen auf. Drin im Zimmer standen die Pakete, noch gar nicht aufgemacht, die selbstgeschnittenen Wachslichter waren noch gar nicht angebrannt worden, und da wollte er fort? Er war doch sonst nicht so! Sollte etwa – –

Dorchen hätte beinahe laut heraus geschrieen über die Idee, die grell und leuchtend in das Chaos ihrer grübelnden Gedanken fiel und mit einem Schlage auch das Verworrenste klärte: „Verliebt!“

War er nicht drüben gewesen, im Hinterhaus? Hatte er nicht – Dorchen sah der Sicherheit halber nach der Uhr – eine volle halbe Stunde dort oben zugebracht? Und nun wollte er ausgehen, vielleicht gar mit …

Jedenfalls nahm sie sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen, und als Adolf Berger, mit dem Paletot auf dem Leibe und einem Herzen voll widerstreitender Gefühle unter der Weste, hinunterging, um Fräulein Klärchen Berger zu treffen, stand am geöffneten Fenster seines Wohnzimmers eine kleine dralle Person und spähte mit scharfen Augen auf die Straße hinab.

„Stimmt!“ sagte Dorchen sehr befriedigt, als sie die Hausthüre mit dumpfem Schlag zuklappen hörte und neben dem grauen Paletot etwas Schmales, Leichtfüßiges hinwandeln sah. Und dann riegelte sie das Fenster sorgsam zu und sah noch einmal nach dem Kachelofen.

„Verliebte Leute brauchen zwar nicht viel Hitze,“ meinte sie sachverständig, „aber zur Nacht wird’s kalt, und einen Schnupfen soll ihm der Ausflug nicht eintragen.“


Ja, es „stimmte“ wirklich, obgleich für Klärchen Berger das Fortgehen nicht so einfach gewesen war.

Zuerst hatte sie ihre Christbescherung aufgebaut, jedes einzelne Stückchen ans Herz gedrückt und unter heißem Erröten erwogen, ob „er“ auch wirklich nichts von all den intimen Sachen gesehen habe.

Dann hatte sie Mütterchens Brief gelesen, unter Thränen und Küssen, und doch lange nicht aufmerksam genug, wie sie sich später reuevoll eingestand. Und als sie sich endlich zum Spaziergang rüstete, da war sie wohl zehnmal in Versuchung gewesen, Hut und Umhang wieder hinzulegen und still zu Haus zu bleiben.

Wenn Mütterchen eine Ahnung von ihrem Vorhaben hätte …

Ob er der Mutter wohl gefallen würde? Gute, ehrliche Augen hatte er – das Mädchen träumte still für sich hin – ja, die hatte er wirklich, und wenn er lachte, konnte er aussehen wie ein Kind.

Wie sonderbar: gestern hatte sie noch gar nichts von ihm gewußt, und heute war’s ihr, als wären sie gute, alte Bekannte, und nun machte sie sich sogar bereit, mit ihm in den Weihnachtsabend hinauszugehen!

Bis jetzt hatte sie von der ganzen Weihnachtspracht noch so gut wie gar nichts gesehen, sie getraute sich ja kaum, vor einem der herrlichen Schaufenster stehen zu bleiben, aus lauter Angst, angeredet zu werden. Und nun sollte sie das alles genießen dürfen im Gefühl eines festen, sicheren Schutzes …

„Frau Prieke!“

Die Buchbindersfrau unterbrach ihre Arbeit am Herd. „Was giebt’s denn, Fräulein?“

„Frau Prieke, Sie haben doch den Herrn gesehen, der mir vorhin das Paket brachte …?“

Die brave Frau nickte etwas steif, a conto des langen Herrenbesuchs. Sie hielt auf die Reputation ihrer Zimmerdamen, und so eine stille, feine, wie das jetzige Fräulein, hatte sie noch gar nicht gehabt. Wenn sich da aber etwas anbändeln sollte mit

[821]

Nach einer Aufnahme von R. Lechner (Wilh. Müller), k. u. k. Hofmanufaktur für Photographie in Wien.

Das Weihnachtsfest der Wiener im Jahre 1227.
Nach dem im neuen Wiener Rathauskeller befindlichen Gemälde von H. Lefler.

[822] Abendbesuchen, Spaziergänger: und solchen Wippchen, dann hatten sie die längste Zeit bei einander gelebt!

„Ach, Frau Prieke …“ Klärchen zog in hilfloser Verlegenheit die Handschuhe ein paarmal aus und an, „wenn Sie wüßten, wie oft er sich entschuldigt hat wegen des Pakets! Am Ende konnte er doch gar nichts dafür, daß er’s aufgemacht hat, und ein anderer hätte es einfach durch das Mädchen herübergeschickt …“

Da die Buchbindersfrau nur zustimmend nickte, sprach Klärchen eifrig weiter. „Von seiner Mutter hat er auch erzählt, das muß eine zu liebe Frau sein und … finden Sie ’was dabei, liebe, gute Frau Prieke, wenn wir uns noch ein Stündchen lang die Schaufenster zusammen ansehen? Ich hab’ so Lust, einmal herauszukommen, und der Herr Assessor hat versprochen, mich pünktlich wieder abzuliefern ...“

Frau Priekes Gesicht hatte sich zusehends aufgehellt. Nun, da sie die unschuldigen jungen Augen in solch brennender Frage auf sich gerichtet sah, nahm sie bedächtig die Brille von der Nase und putzte und hauchte mit großer Umständlichkeit daran herum.

„Jh wo, Fräuleinchen! Gehen Sie man ruhig noch ein bißchen die Leipziger Straße lang, zu sehen giebt’s da genug! Und wenn der Herr von drüben Sie begleiten will, so ist da auch weiter nichts bei, denn was ein anständiges Fräulein ist, die kann in Gottes Namen mit irgend wem spazieren geh’n. Ich hab’ mich auch wohl, ehe das mit Prieke und mir perfekt wurde, von diesem oder jenem meiner Bekannten Sonntag abends ausführen lassen, und es ist mich deshalb noch lange keine Perle aus meiner Krone gefallen.“

Sie hatte nicht übel Lust, sich in Jugenderinnerungen zu verlieren, aber Klärchen hörte die Turmuhr schlagen. Schon halb Neun! Und er wartete gewiß unten …

„Adieu, Frau Prieke … schönen Dank! Und Punkt Zehn bin ich da.“

Sie faßte die gutmütige Frau rundum, dann lief sie mit flinken Füßen davon.

Unten aber, im dämmernden Hausflur, stand sie hochatmend einen Augenblick still, klappte den Kragen hoch und zog die schwarze Pelzkappe tiefer in die Stirn, ehe sie über den knisternden Schnee des Hofes hinüber schritt zum Vorderhause.

Der Assessor, der ihr in strahlender Erwartung entgegenging, konnte trotz eifrigsten Bemühens von ihrem Gesicht nichts weiter entdecken als ein paar hochrote Öhrchen zwischen Haar und Mantelkragen und ein schmales Nasenspitzchen, auf das der Zufall gerade einen großen Chenilletupf des dunklen Schleiers placiert hatte.

Schauderhafte Mode, dachte Adolf Berger im stillen, aber er war innerlich zu froh und glücklich, um sich durch irgend etwas den Genuß der Stunde trüben zu lassen.

Wie das verkörperte böse Gewissen ging sie neben ihm her, mit gesenkter Stirn und kleinen Schritten, ängstlich einen halben Meter Seitenabstand innehaltend.

Auch die Unterhaltung wollte zuerst nicht recht in Gang kommen: Klärchen gab kurze, stockende Antworten, als habe sie innerlich noch gegen ein Gefühl der Unfreiheit anzukämpfen.

Er aber fand sie gerade in ihrer Verwirrung unbeschreiblich reizend.

In ritterlicher Art half er ihr über die erste Verlegenheit hinweg, indem er lebhaft zu plaudern begann. Und wie sie allmählich zutraulich wurde, war es ihm ein leichtes, durch gelegentlich hingeworfene Fragen die einfache Geschichte ihres jungen Lebens aus ihr herauszulocken.

Er wußte sehr bald, daß sie vor nicht langer Zeit ihren Vater verloren hatte, und daß dieser Amtsrichter gewesen, aber eines unheilbaren Leidens wegen schon lange vor seinem Tode hatte pensioniert werden müssen. Auch das hörte er heraus, daß es bitter schwer gewesen war, mit den kleinen Mitteln ein anständiges Leben zu führen und dem Kranken die notwendigsten Erleichterungen zu verschaffen.

„Ich hab’s damals heimlich mit dem Sticken versucht,“ erzählte Klärchen, „aber es bringt so wenig ein, ich habe auch oft wochenlang auf Bestellungen warten müssen. Da bin ich denn auf die Idee gekommen, mich im Putzmachen zu versuchen, Mutter sagte immer, ich hätte eine glückliche Hand.“

„Das glaube ich,“ sagte Adolf Berger leise und warf den kleinen Händen, die so geschickt Wunden zu verbinden wußten, einen zärtlichen Blick zu.

Sie hatte es nicht gehört. „Vater durfte nichts von meinem Verdienst wissen,“ plauderte sie weiter, „er war so eigen darin! Und mir ist’s im Anfang auch nicht einerlei gewesen, für fremde Menschen zu arbeiten,“ gestand sie freimütig, „man hat doch auch seinen Stolz. Aber wie ich älter geworden bin, hab’ ich eingesehn, daß Arbeiten keine Schande ist, und als dann der Vater starb, hab’ ich’s der Mutter abgebettelt, daß ich mir hier eine Stellung suchen durfte. Es ist mir schnell geglückt, ich bin schon Directrice in einem kleineren Geschäft, und wenn’s so weiter geht,“ meinte sie, ihn glücklich ansehend, „kann ich zum nächsten Christfest mit ruhigem Gewissen heimfahren.“

Still schritt er neben ihr her, ihren kindlich offenherzigen Worten lauschend; es ging ein Hauch der Reinheit und Schönheit von ihr aus, der seine Seele fast andächtig stimmte. Und während sie in ahnungslosem Vertrauen ihr Denken und Hoffen vor ihm bloßlegte, wuchs ein starkes, heiliges Gefühl in seinem Herzen auf.

Nur als sie von ihrem „Alter“ sprach, lächelte er, und ein schalkhaft prüfender Blick huschte über sie hin. Lieber Gott, blutjung sah sie aus mit dem roten Hauch, den die Winterluft auf ihre Wangen gezaubert hatte! Den Schleier hatte sie nun doch hinaufgeschoben.

„Halt,“ sagte er, plötzlich den Schritt hemmend, „wir laufen da plan- und ziellos in den Straßen umher und vergeuden unsre kostbare Zeit. Also vor allen Dingen – Programm! Was wollen Sie sehen? Den echten, rechten Berliner Weihnachtstrubel, oder den Tiergarten im Schnee?“

Sie bog den Kopf mit einem sehnsüchtig verlangenden Ausdruck tief in den Nacken.

„Also Tiergarten,“ deutete er jubelnd die stumme Antwort. Wie es ihn verlangte, aus der gleichgültigen Menge herauszukommen, mit ihr allein zu sein unter den schweigenden, schimmernden Bäumen!

„Kutscher ...“ Ehe sie’s hindern konnte, hatte er sie in den offenen Wagen gehoben und wickelte sorgsam die Decke um ihre Füße.

„So, nun lehnen Sie sich hübsch fest zurück und machen Sie die Augen weit auf, Fräulein Klärchen, wir sehen uns das bunte Treiben nun von oben herunter an.“

[823] Sie gehorchte willenlos wie ein Kind. Es war so neu und so süß, sich umsorgt und behütet zu wissen, mitten in dem großen, fremden Berlin.

Der Wagen kam nur langsam vorwärts, es war ein Laufen und Drängen in den Straßen, ein Hin- und Herschieben von Handwagen und Karren, daß die Fuhrwerke oft in langer Reihe minutenlang stillstehen mußten.

Aber heute vergaßen selbst die Droschkenkutscher das Fluchen; ein jeder war angesteckt von der allgemeinen Fröhlichkeit, überall gab’s lachende Gesichter.

Leute, die sonst gewiß nichts tragen mochten, gingen heute mit Paketen beladen; Püffe und Stöße wurden als etwas Selbstverständliches ohne den geringsten Aerger hingenommen; Kinder trippelten an der Hand Erwachsener daher, selige Erwartung in den großen Augen, und über allem wirbelten und tanzten die Flöckchen, schufen die Wandernden zu lebendigen Schneemännern um und verliehen selbst den nüchternsten Mietskasernen einen Schimmer von Eigenart und Eleganz.

Die beiden jungen Menschen waren unversehens in die fröhlichste Weihnachtsstimmung hineingeraten, lachten und plauderten und sahen so glücklich aus, daß manch einer der Vorübergehenden ihnen in Neid oder Freude nachblickte.

Als sie an der Ecke der langen strahlenden Friedrichstraße ausstiegen, um die „Linden“ herunter zu Fuß in den Tiergarten zu wandern, da war Assessor Berger völlig eingeweiht in Fräulein Klärchens Familienverhältnisse, und diese wieder wußte so Bescheid auf dem Gutshofe seiner Eltern, als sei sie von Kind auf dort ein- und ausgegangen.

Beim Aussteigen bot er ihr den Arm. „Sie gehen sicherer,“ redete er ihr fast väterlich zu, als er ihr Zögern bemerkte.

Da legte sie still ihr Händchen auf seinen Arm.

Fast ohne eigenes Zuthun wurden sie von der wogenden Menge weiter gedrängt und geschoben und atmeten erleichtert auf, als sie durch das Brandenburger Thor in die dämmernde Stille des Tiergartens kamen. Es war des Lärms und der Lichter fast zu viel gewesen im Gewühl der Straßen.

Wie durch einen Zauberschlag standen sie nun inmitten der Märchenpracht des Winters. Der Schnee hatte allen Bäumen eine phantastische Form gegeben, schimmernde Pfeiler und Spitzbogen schienen in eine unendliche Einsamkeit zu locken, und die sonst so plumpe Viktoria der Siegessäule schwebte geheimnisvoll hoch über dem träumenden Winterreich, als käme das Christkindlein selber vom Himmel geflogen, um seinen Geburtstag einmal wieder auf Erden zu begehen.

Klärchens plauderlustiger Mund war verstummt. In unbewußter Hingabe lehnte sie sich fester auf des Assessors stützenden Arm, während ihre Gedanken in die Heimat flogen, um wie zwitschernde Schwalben ein vor der Zeit ergrautes Haupt zu umkreisen.

Das war wohl jetzt über die Bibel geneigt und las aus dem Weihnachtsevangelium manches heraus, was nur für die einsam alternde Frau zwischen den Zeilen geschrieben stand: zitternde Nachklänge einer schönen, längst versunkenen Zeit und schüchterne Sonnenstrahlen einer Zukunft, die von einer reinen, von blondem Haar umrahmten Mädchenstirn ausgehen sollten.

„Mutter, ach, Mutter –“ es stieg ihr wie ein Schluchzen in der Kehle herauf, und sie war doch lange nicht so glückselig gewesen wie heute. Sie hätte immer so weiter gehen mögen ins schlafende Land hinein, immer weiter fort von all den Menschen, nur von dem einen nicht, der so sicher neben ihr dahin schritt.

Auch dem Manne war’s eigen zu Mute. In übermütiger Laune hatte er sich in das kleine Weihnachtsabenteuer gestürzt: das junge Ding, das sich so ruhig seinem Schutze anvertraute, hatte ihm nur ein paar leere Stunden ausfüllen, den einsamen Abend mit seinem Geplauder beleben sollen, und nun war’s ihm, als fiele von dieser Christnacht ein breiter Schein wärmenden Lichtes in seine Zukunft hinein, als habe ihm das Christkind nie eine seligere Gabe beschert als diese kleine, an Arbeit gewöhnte Hand, die so hingebend auf seinem Arm lag.

„Klärchen …“

In jähem Schreck suchte sie sich zu befreien, aber er hielt sie fest. Und wie er für das, was in seiner Seele erwacht war, schlichte, innige Worte tiefster Ueberzeugung fand, widerstrebte sie nicht mehr, sondern legte ihr weinendes Gesicht mit dem Ausdruck seligen Geborgenseins an seine Brust.


[824]

Das Antoniusfest in Schweina.

Von A. Trinius.0 Mit Illustration von R. Starcke.

Wo am Nordwesthange des Thüringer Waldes über den jäh niederstürmenden Dolomitklippen Schloß Altenstein, das schöne Sommerheim des Herzogs von Sachsen-Meiningen, sich aufbaut, rieselt in der Tiefe, vom Gebirge zur Werra sich schlängelnd, der Bach Schweina, an dessen Ufern der Marktflecken gleichen Namens sich hinzieht. Die Kirche von Schweina birgt noch das Erbbegräbnis der einstigen Besitzer vom Schlosse Altenstein, der Hunde von Wenckstein, von denen einer damals den von Worms heimkehrenden Reformator Luther mit aufhob und heimlich zur Wartburg geleitete. Die Kirche war einst dem heiligen Laurentius geweiht und das Gemeindesiegel zeigt den Märtyrer noch mit dem Bratroste. Am Laurentiustage, dem 10. August, fallen zahlreiche Sternschnuppen vom nächtlichen Himmel hernieder, welche altenglische Kalendarien die glühenden Thränen des heiligen Laurentius getauft haben. Was Schweina, selbst über Thüringen hinaus, so überaus interessant erscheinen läßt, ist eine Reihe von alten Gebräuchen, deren Sinn und Ursprung oft tief hinein in altheidnische Zeit zurückgreifen. So bestand in Schweina noch bis zur Einführung der neuen Gerichtsordnung die Stabsgerechtigkeit. Der weiße Stab ging Hütte für Hütte um, die Männer zum Gedinge rufend. – Zur Kirmse wird in dem das Dorf durchziehenden Festzuge noch immer ein Widder mit vergoldeten Hörnern und blumengeschmückt mitgeführt. Eine schöne Sitte aber, an der ebenfalls heute noch festgehalten wird, ist das Antoniusfest. Es findet auf dem nachbarlichen Antoniusberge – im Volksmunde Thoniusberg oder Thungelsberg geheißen – statt, auf dem sich einst nach Einführung des Christentums die erste Kapelle erhoben hatte, dem heiligen Antonius geweiht. Nicht jenem Heiligen von Padua, sondern dem Schirmherrn der für den ländlichen Haushalt so wichtigen Schweine.

In jener grauen Vorzeit blühte besonders hier herum die Schweinezucht, deren Ertrag den Klöstern im Werrathale zu gute kam. Hirtenvolk saß in schlichten Waldhütten und trieb die dortigen Schutzbefohlenen auf die fette Eichelmast. Diese Hirten nun, dem Stamme Thüringer Angeln angehörend, feierten alljährlich zur Wintersonnenwende ihr Neujahrsfest. In der längsten Nacht des Jahres, die Nacht der Mütter benannt, weil man sie sich als die Mutter des jungen Jahres dachte, wurden ringsum Freudenfeuer angezündet, und man schmauste und zechte, bis im Osten der neue Tag aufrauschte.

Unter der Herrschaft der katholischen Kirche wandelte sich mit der Zeit die Mutternacht in die Weihnacht. Die uralte heidnische Sitte aber hat sich als Autoniusfest bis heute in Schweina erhalten. Bis zur Einführung der Reformation sammelte man sich bei lohenden Feuern auf dem Antoniusberge. Man sang das ehrwürdige Klosterlied „Als ich bei meinen Schafen wach’“ weit hinaus in den dunklen Thalgrund, in welchem auch Möhra ruht, die Wiege Luthers. Dort mag oft der Knabe Luther den Feuerschein betrachtet haben, wenn er zur Weihnachtszeit aus Eisenach hinübergewandert kam, bei Sippe und Freundschaft die Ferien zu verleben. In späterer Zeit hat dann Luther die alte Klosterweise in das herrliche Lied umgeschaffen: „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her!“ Die alten Klänge sind aber dieselben geblieben, nur der Text wandelte sich.

In der Adventszeit beginnt es unter der Jugend Schweinas höchst unruhig zu werden. Kein Besen, kein Strohwisch ist mehr sicher vor der Beutegier der Jugend. Alles wird hinauf zum beackerten Antoniusberg geschleppt, wo man bereits in freien Stunden eine Art Altar oder Turm aus Feldsteinen und Moos aufgeführt hat. Daraus ragt eine hohe Stange empor, an deren Spitze einige Reisigbündel befestigt sind. Für sich selbst aber hat jeder Junge eine Stange zurecht gemacht, die ebenfalls mit Besenreisig oder Spänen gekrönt ist.

Sobald nun das Christfest eingeläutet ist und die Dämmerung beginnt, auf Berge und Thal sich niederzusenken, geht’s den Antoniusberg hinan. Und nun loht und flammt es oben auf in breiter, leuchtender Glutsäule, rund um aber schwirrt und hüpft, irrt und wirbelt es durcheinander, ein beweglicher Kranz kleiner Lichter. Heller und heller erstrahlt der Berggipfel, während sein Fuß in Dunkel gehüllt bleibt. Und dann erbraust von frischen Knabenstimmen Luthers hinreißendes Lied „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her’“ Auf der Dorfstraße aber stehen die Alten und denken der Tage, da sie es selbst so gehalten nach ererbtem Brauche.

Sobald das Lied beendet ist, beginnt der Fackeltanz, übermütiger denn zuvor. Dann geht’s langsam hinab ins Dorf, während eine Fackel nach der anderen verlischt. Auf dem Markte wird noch ein Kirchenlied gesungen. In den Hütten ist man heute noch lange wach, und Lust und Jubel tönt überall. Um Mitternacht schlagen die Glocken vom Turm, dazwischen hallt Gesang und Trompetenschall. Noch liegt die Nacht auf der Welt, da rufen die Glocken zur Frühmette. Ueber den Schnee hin flimmern die hellen Spitzbogenfenster des ehrwürdigen Kirchleins. Drinnen aber, umschwebt vom Lichterglanze, verkündet ein Waisenknabe im weißen Chorhemde der versammelten Gemeinde das jubelnde Freudenwort: „Euch ist heute der Heiland geboren!“ –

So feiert Schweina sein altehrwürdiges Antoniusfest.


[825]

Friede auf Erden!
Nach einer Originalzeichnung von Wilh. Schade.

[826]
Gefälschte Briefe.
Ein Bild aus deutscher Geschichte.
Von Rudolf von Gottschall.

(Schluß.)


Von Tag zu Tag wurde der König verschlossener: jetzt, wo der einzige fehlte, gegen den er sich aussprechen konnte; seine Laune wurde immer unerträglicher. Grumbkow beugte sich knirschend unter den unverständlichen Zorn seines Herrn, aber Fürst Leopold von Dessau, der schon in seiner Jugend mit dem König auf kameradschaftlichem Fuße stand, ein Feuerkopf, den alles leicht erbitterte und verletzte, wollte sich diese offenbaren Zeichen des Mißtrauens und der Ungnade nicht länger gefallen lassen.

Eines Tags, als der König sich in sein Gemach zurückgezogen hatte, folgte ihm der Dessauer auf dem Fuße und trat unangemeldet und rücksichtslos ins Kabinett zu ihm. Der König sah sich allein mit ihm, dem er das Schlimmste zutraute, und griff nach seinem Degen; er war gefaßt darauf, sich gegen einen Mörder zur Wehr setzen zu müssen. Bei dieser Bewegung trat Leopold erschrocken zurück, riß seinen Degen von der Seite und warf ihn weit von sich weg.

„Das kostbare Leben Eurer Majestät zu bedrohen, bin ich weit entfernt; ich komme zu bitten, daß Sie es uns allen erhalten mögen! Ich sehe, daß ein geheimer Gram seit einiger Zeit Ihnen am Herzen nagt und daß auch ich mit anderen Augen als sonst angesehen werde. Woher kommt das? Ich fühle mich frei von jeder Schuld. Haben Sie aber einen Verdacht gegen mich, so unterwerfe ich mich willig jeder Untersuchung. Ja, ich entkleide mich meines Reichsfürstenstandes und will bloß als Unterthan behandelt werden; habe ich mich gegen Euer Majestät vergangen, so stehe mein Kopf dafür ein!“

Diese leidenschaftlichen Worte, der Ausdruck innerster Ueberzeugung, der Ausbruch eines warmen Gefühls versetzten den König in heftige Bewegung. Eine Zeitlang stand er schwankend und unschlüssig, innerlich kämpfend, nach Atem ringend; dann erwachte in ihm die alte Zuneigung zu dem Jugendfreund, er fiel ihm um den Hals, sah ihn starr an und fragte mißmutig: „Sprecht’, ist es denn wahr? Darf ich Euch trauen?“

„Das dürfen Euer Majestät,“ rief Leopold, indem er sich dem Könige zu Füßen warf, „mein Leben hab’ ich Ihrem Dienste geweiht, mein Blut will ich zum Zeugnis dafür hergeben!“

Der König hob ihn auf und schloß ihn noch einmal warm ans Herz. „Wohl denn, ich will Euch trauen! Hört mich an und sagt dann selbst, ob mir nicht genug Ursache zum Verdacht gegeben worden ist. Der Ungar, von Clement, bisher in den feindlichen Kabinetten von Wien und Dresden beschäftigt, doch jetzt ihnen untreu geworden aus Fürsorge für mein Wohl, für meine Person und Krone, hat mir Briefe gezeigt, in denen von allerlei Anschlägen wider mich die Rede ist. Darunter befinden sich Briefe des Prinzen Eugen, die Euch als Mitwisser nennen!“

„Schwerenot!“ rief der Dessauer, „das ist infam.“

„Man will mich gelegentlich mit Eurer guten Hilfe aufheben, den Kronprinzen auch, und diesen katholisch erziehen lassen!“

„Prinz Eugen von Savoyen,“ sagte der Dessauer, „mein alter Waffenfreund, mag dies oder jenes gegen uns auf dem Herzen haben; doch das wird er ausfechten in offenem Waffengange. Niemals würde er sich zu solchen Betrügereien und Hinterlisten hergeben, niemals kann er jene Briefe geschrieben haben. Und wie konnten Sie glauben, Majestät – pardon, doch das platzt so heraus! –, daß ein bewährter Feldherr wie ein Strauchdieb und Straßenräuber sich in den Hinterhalt legen würde?“

„Nun, dergleichen geht ja jetzt vor in Schweden und Frankreich,“ versetzte der König, „man muß ja alle Tage sich an den Kopf fühlen, ob er noch auf den Schultern sitzt!“

„Schwerenot,“ rief Leopold, der im Tabakskollegium gewohnt war, sein Lieblingswort auch dem König gegenüber nicht zu verschlucken, „dieser Clement muß ein abgefeimter Betrüger, ein vollkommener Schurke sein, daß er solche Dinge zu behaupten und falsche Zeugnisse zu schmieden wagt! Lassen Sie mich verhaften, Sire! Ich will so lange in Haft bleiben, bis der Elende, der mich so schmachvoll angeklagt hat, mir gegenüber steht. Man wird seiner doch habhaft werden können!“

„Er wird von selbst wiederkommen,“ meinte der König. „Dann mögt Ihr für seine Verhaftung sorgen!“

„Wir müssen seiner habhaft werden um jeden Preis!“ versetzte der Dessauer. „Legen Sie die Angelegenheit in meine Hand und unterstützen Sie mich durch ein Schreiben an den Betrüger!“

Der König fühlte sich in einer eigentümlichen Stimmung: erleichtert von der Beklommenheit, die ihn gepeinigt hatte, und doch wieder von leisen Zweifeln bewegt, indem er sich das Bild dieses Clement zurückrief, der ihm so vertrauenswürdig in seinem edlen offenen Wesen erschienen war und noch immer erschien. Doch der Würfel war einmal gefallen und der Dessauer erhielt freie Hand.

Der Domprediger Jablonski, als die unverdächtigste Persönlichkeit, mußte nach dem Haag reisen unter dem Vorwande, dort ein Werk über die reformierte Kirche veröffentlichen zu wollen. Er suchte Clement auf und teilte ihm mit, daß der König großes Verlangen habe, ihn wiederzusehen; er wünsche ihn dringend über Dinge zu sprechen, die sich schriftlich nicht erledigen ließen; nachher solle seiner Abreise nichts im Wege stehen. Nicht lange darauf kam der Major Dumontin, welcher als ein entschlossener Offizier dem Domprediger beigegeben worden war, zu Clement mit einem Briefe des Königs, in welchem dieser ihn einlud, sofort zurückzukommen, und wenn er sich nicht solange von seinen Geschäften in den Niederlanden trennen könne, wolle der König ihm bis Cleve entgegenreisen. Clement machte nicht die geringsten Schwierigkeiten und erschien wieder in Berlin.

Diesmal empfing ihn der König in seinem Kabinett, hinter einem Vorhang lauschte der Dessauer. Friedrich Wilhelm war wieder schwankend geworden – so bereitwillig, so ohne Zögern war der Ungar seiner Einladung gefolgt! Hätte er ein böses Gewissen, so wäre er doch draußen in voller Sicherheit geblieben! Und Clement benahm sich mit der größten Unbefangenheit und Treuherzigkeit!

„Es scheint doch nicht ganz richtig zu sein mit Seinen Angaben,“ sagte der König; „von einer Unternehmung des Wiener Hofes verlautet noch immer nichts!“

„Die Kabinette,“ versetzte Clement, „behalten ihre Trümpfe oft lange in der Hinterhand, das wissen Euer Majestät so gut wie ich. Doch ich habe Ihnen, Sire, ja die Urkunden vorgelegt!“

„Zeig’ Er mir sie noch einmal,“ sagte der König, „ich will sie noch einmal prüfen.“

„Ich habe die Schriften im Haag zurückgelassen bei einem Bekannten, den ich verpflichtete, sie niemand als mir auszuliefern; doch wenn Sie befehlen, werde ich sie selbst wieder herholen.“

Der König zögerte. „Die Wahrheit muß ans Licht kommen. So reis’ Er denn! Doch ich gebe Ihm einen Begleiter mit!“

Clement verbeugte sich und verließ das Kabinett des Königs.

Er war kaum hinaus, da trat Fürst Leopold zornglühend hinter dem Vorhang hervor. „Schwerenot! Majestät lassen den Halunken wieder entwischen! Halten Sie ihn fest, das sind Sie mir schuldig, Sire! Sie greifen doch sonst gehörig zu – warum diese Sammetpfötchen bei einem solchen Subjekt?“

„Nur Geduld, Vetter! Mißtrauen darf man ihm nicht zeigen, sonst ist unser Spiel verloren. Und ohne die Briefe können wir nichts anfangen. Gewiß – Ihr seid unschuldig! Aber warum sollte es nicht andere Verräter in meiner Umgebung geben? Aus den Fingern hat sich der Clement das alles gewiß nicht gesogen. Er hat einige falsche Angaben eingeschmuggelt; doch wenn wir die andern zusammenziehen, kann’s noch eine Summe zum Erschrecken geben!“

Leopold verließ den König betroffen und achselzuckend.

„Der Clement hat die schwarze Magie im Leibe,“ sagte er zu Grumbkow, „er hat den König verhext!“


Im Pavillon der Frau von Blasspiel strahlte eine Ampel, die einen farbigen Schein in den dämmernden Raum warf. Ungeduldig ging die Hofdame auf und ab – ihr Herz klopfte heftig [827] unter der leichten Hülle, die sie hier an Stelle des schweren Hofkleides trug. Sie lauschte, ob nicht irgend ein Schritt draußen auf dem knirschenden Kies vernehmbar werde.

Endlich kam Clement. Charlotte rief: „So hab’ ich dich wieder!“ und schloß ihn mit glühender Leidenschaft ans Herz.

„Wenn ich zurückgekehrt bin in die Höhle des Löwen,“ sagte Clement, „so trägt dein Zauber die Schuld – ich fange an, seine Tatzen zu spüren! Man hat ihn gegen mich aufgehetzt, doch ich habe glücklicherweise einen magnetischen Blick, der das Untier im Bann hält.“

„Und Eure Waffen sind indessen hier geschmiedet worden,“ versetzte die Hofdame, indem sie einen Schlüssel aus dem Busen nahm und einen Wandschrank öffnete, der unkenntlich in die Mauer eingefügt war, „dieser Stoß Papiere hier kommt von Heidekamm, dieser von Bube, dieser von Lehmann – allerlei Staatsgeheimnisse und genug Handschriften, um den Teufel an die Wand zu malen!“

Clement griff hastig nach den Papieren und begann, sie mit kundigem Blick zu durchfliegen. Aber die toten Buchstaben tanzten bald vor seinen Augen, jetzt wo die lebensvolle Schönheit an seiner Seite stand, in den junonischen Augen das Feuer der Leidenschaft.

„Ich habe für dich gekämpft,“ sagte sie, „denn es ging hier hart her in deiner Abwesenheit! Daß dieser Leopold von Dessau mit seiner bärbeißigen Offenherzigkeit ein gefährlicher Jntriguant ist, das weiß ich jetzt mit Bestimmtheit, denn ich kann selbst ein Liedlein davon singen. Kaum warst du fort, so erkrankte der König in Brandenburg, wo er gerade Truppenschau hielt; die Krankheit schien ernst und schwer zu sein; die Königin wurde hinberufen und ich war die einzige Dame, die sie als Begleiterin mitnahm. Sobald sie angekommen war, händigte er ihr ein versiegeltes Paket ein, in dem, wie er sagte, sein Testament enthalten sei, das sie zur Regentin aller seiner Länder ernenne; sie solle die Sache geheim halten, damit nicht diejenigen, die er von der Regentschaft ausgeschlossen habe, ihn beunruhigten, damit er in Frieden sterben könne. Doch Fürst Leopold und Grumbkow hatten Kunde davon erhalten und erschienen in Brandenburg – o, sie waren sehr liebenswürdig gegen mich und boten mir eine große Summe an, wenn ich die Königin bewegen würde, daß sie die hohen Herren in den Regentschaftsrat aufnähme; sie kannten meinen Einfluß auf die Königin und wollten ihn nützen, wenn sie mich auch haßten von Herzensgrund! Ich wies ihr Geld zurück, sagte ihnen einige Schmeicheleien, hinter denen sie wohl ein leises Hohngelächter bemerkt haben werden; ich machte der Königin Mitteilung und diese erzählte alles dem König. Als aber die edlen Genossen sich zum König drängen wollten, da empfing sie die Königin und bedeutete sie, der König sei jetzt nicht für sie zu sprechen und sähe es am liebsten, wenn sie Brandenburg sofort verließen – o, die Königin hat einen Stolz – vor dem werden sie alle klein! Der König, mit dem es sehr schlecht zu stehen schien, wandte sich inzwischen an einen Regimentsmedikus, der die Sache energisch angriff und ihn durch eine wahre Pferdekur wieder herstellte.“

„Nun, und die beiden Waffenbrüder?“

„Sind wieder ein Herz und eine Seele mit ihm. Dieser König ist ein Schwächling, ein schwankes Rohr, der sich als Tyrann drapiert, damit man das windelweiche Unterfutter nicht merkt.“

„So verzweifl’ ich noch nicht! Was ich in den Briefen festgehalten habe, das sind Aeußerungen des Prinzen Eugen und der andern, ich habe in Buchstaben dem flüchtigen Wort Dauer gegeben. Morgen früh muß ich fort – doch ich kenne die Furcht nicht! Wir sehen uns wieder – und jetzt bis zum Abschied keine Politik mehr, das ist ein unselig Handwerk – selig macht nur, was Herz zu Herzen zieht – die Liebe!“


Wochen vergingen – Clement besorgte im Haag seine diplomatischen Geschäfte. Major Dumontin, der ihn von Berlin herbegleitet hatte, ließ ihn gewähren, doch mahnte er zuletzt an die Rückkehr. Clement sträubte sich durchaus nicht, packte sorgfältig die beweiskräftigen Briefe und Akten zusammen, die er durch einige neue vermehrt hatte: Heidekamm, Lehmann und Bube hatten ihn ja mit Schreibmustern versehen, die er sorgfältig kopierte.

Nun trat er mit Major Dumontin die Rückreise an, leichten Sinnes, wie es schien, doch nicht ganz ohne Bedenken. Als sie in Cleve auf preußischem Boden angekommen waren, schien er sich eines andern zu besinnen, er erklärte dem Major, daß er noch einige Papiere im Haag vergessen habe und noch einmal dorthin zurückkehren müsse, um sie zu holen. Mochte dies wirklich der Fall oder nur ein Vorwand sein – der Major, welcher zwar den Befehl erhalten hatte, kein Mißtrauen zu zeigen, und im Haag danach verfahren war, glaubte jetzt, dieser Order nicht weiter Folge leisten zu müssen, er nahm eine strenge Miene an, verbot die Rückreise, und Clement, so gefügig er sich auch wieder zeigte, hatte doch jetzt das Gefühl, daß er wie ein Gefangener behandelt werde.

In Berlin angekommen, wurde er beim Minister von Marschall zu Tisch eingeladen; doch er war noch nicht beim Dessert angekommen, als der Minister sich erhob, Clement für verhaftet erklärte und ins Gefängnis abführen ließ. Während seiner Abwesenheit hatten Fürst Leopold und Grumbkow den König wieder ganz in ihre Gewalt bekommen; auch daß es stille war von all den Plänen und Anschlägen gegen ihn, daß auch kein leises verdächtiges Zeichen auf eine von Wien und Dresden aus gegen ihn gerichtete Verräterei hinwies, kam ihnen zu Hilfe.

Leopold verlangte die strengste Untersuchung, mit welcher der Generalauditeur von Katsch beauftragt wurde, einer der strengsten und gefürchtetsten, aber auch ungerechtesten Richter, welcher kein anderes Ziel kannte, als die Angeklagten schuldig zu finden, und unermüdlich darin war, ihnen eine Falle zu stellen. Er verhörte Clement noch am Tage seiner Verhaftung in der Hausvogtei in Spandau. Dem Verhör wohnte der König bei, und merkwürdigerweise schwand währenddessen sein Groll gegen den Angeklagten, der sich aufs gewandteste und freimütigste verteidigte und immer wieder auf die schriftlichen Urkunden hinwies, deren Unechtheit zu beweisen selbst ein so strenger Untersuchungsrichter wie Herr von Katsch nicht imstande war. Der König wollte schon befehlen, daß der Angeklagte wieder freigelassen werde; doch Herr von Katsch, der seine Opfer krampfhaft festhielt, setzte sich mit großer Entschiedenheit zur Wehr.

„Noch giebt es Mittel, Geständnisse zu erzwingen! Die Justiz ist noch nicht bankerott! Sire – erlauben Sie mir, beim nächsten Verhör diese starken Mittel anzuwenden!“

Der König gab mißvergnügt seine Zustimmung, und beim nächsten Verhör erschienen unholde Gesellen, die Henker mit ihren Marterinstrumenten, mit Peitsche und Daumenschrauben, mit der pommerschen Mütze und dem gespickten Hasen, und, wie’s Brauch war, übernahm es der oberste dieser Justizgehilfen, dem Jnkulpaten die Bedeutung jedes Marterwerkzeugs auseinanderzusetzen und seine Gebrauchsanweisung zu geben. Clement war mutig genug, dem Tode ins Auge zu sehen, aber schon vor dem Bilde dieser körperlichen Martern schreckten seine Nerven zurück; er warf sich dem Könige zu Füßen und bekannte, er habe die Briefe selbst geschrieben, das ganze Komplott sei seine Erfindung gewesen; er flehte den König an, ihn nicht den fremden Höfen auszuliefern.

Doch nicht einmal dieses eigne Geständnis überzeugte den König von Clements Schuld. Die Furcht vor der Folter konnte es erpreßt haben, und dann – warum sollte er sich vor den fremden Höfen fürchten, wenn er nicht die Geheimnisse derselben ausgeplaudert hätte? Und wenn er sie ausplauderte, war es nicht ein Dienst, den er dem Könige leistete? Und so kam immer wieder das Gefühl des Königs ins Schwanken, und leise Regungen zu Gunsten des Angeklagten verwirrten stets von neuem sein Urteil. So bei einem anderen Verhör, wo Clement bekannte, er habe alles nur gethan, um sich eine Summe Geldes zu verdienen, mit der er sich zurückziehen und ein ruhiges Leben beginnen wollte. Wußte der König nicht, daß er damals die angebotene Summe von 10 000 Thalern zurückgewiesen hatte? Und wenn er jetzt so gegen sich selbst zeugte und sich der Habsucht anklagte, war dies nicht eine offenbare Lüge?

Wieder erschienen im Verlaufe der Untersuchung die Henkersknechte, als es galt, durch ein Geständnis Clements seine Mitschuldigen zu erfahren. Doch dazu bedurfte es der Daumenschrauben nicht und nicht des gespickten Hasen – Clement zögerte [828] keinen Augenblick, den Herrn von Heidekamm, den Residenten Lehmann und den Sekretär Bube preiszugeben. Genossen im Unglück zu haben, ist ja eine stille Genugthuung. Doch diese Bereitwilligkeit des Delinquenten hatte zur Folge, daß über Berlin eine Schreckensherrschaft heraufbeschworen wurde.

Der König geriet in hochlodernden Zorn über die Untreue seiner Beamten; morsch und angefressen erschien ihm der ganze Staat, alle, die höchsten wie die geringsten, verdächtig. Heidekamm und Lehmann hatten Angaben gemacht, durch welche viele angesehene Würdenträger, Hofherren und Edelleute schwer beschuldigt wurden. Jetzt ging der König ans Werk, das ganze Nest auszuheben. Wie der Sturmwind, der an den Dächern und Fenstern rüttelt, fegte des Königs Zorn durch Berlin. Es war einer der unheimlichsten Tage, die Berlin je erlebte; der König ließ alle Thore schließen; selbst die Bauern, die in die Stadt gekommen waren, um ihr Getreide zu verkaufen, durften nicht wieder hinaus.

Patrouillen durchzogen bei Tag und Nacht die Straßen; einmal stellte sich der König selbst an die Spitze und leitete eine Haussuchung und Verhaftung. Personen, die bis vor kurzem noch an des Königs Tafel gespeist hatten, mußten nach Spandau wandern, wo die Kasematten sich überfüllten.

Ein Tag des Zorns! Nur wenn er mit durch die Straßen patrouillierte, konnte der König dem Ingrimm, der ihn zu ersticken drohte, Luft machen; jedes Opfer, das seine Soldaten packten, war ihm wie eine Herzenserleichterung.

Indessen wirkten auch die stillen, staatsrettenden Mächte mit besonderem Eifer: die Geheimräte des schwarzen Kabinetts, das unter Herrn von Katsch stand, waren in fieberhafter Thätigkeit; alle Briefe, die ins Ausland gingen, wurden erbrochen, so auch ein Brief der Frau von Blasspiel an den sächsischen Minister Flemming. Das war ein köstlicher Fund für den Dessauer; damit konnte er seine Feindin vernichten. Er verabredete mit Katsch, daß dieser den Brief dem Könige überbringen solle, während der Fürst zugegen war. Und so geschah’s! Der Brief mit den energischen Schriftzügen der schönen Dame hatte einen ebenso energischen Inhalt: sie beschwerte sich über das grausame und tyrannische Verfahren gegenüber Clement und beklagte das Geschick derjenigen, welche jetzt leben mußten, wo die Zeiten Neros und Caligulas zurückgekehrt seien. Der König fuhr auf wie von einer Natter gestochen.

„Ruft mir das Weib her, sogleich! Sie soll nicht erst Toilette machen, ich werde schon dafür sorgen, daß sie ordentlich angekleidet wird, wie die Gevatterinnen im Spinnhaus!“

Und Frau von Blasspiel erschien, stolz und hoheitsvoll wie immer, und sah mit verächtlichem Blick auf den Dessauer und Grumbkow.

„Habt Ihr das geschrieben?“ rief der König, indem er ihr den Brief an Flemming zeigte.

„Ja, Majestät!“

„Ich wundere mich, daß man in den Gemächern der Königin das Erröten verlernt hat!“

„Ich erröte nicht, die Wahrheit zu sagen. Ihr Verfahren gegen Clement, Majestät, ist grausam und despotisch, würdig der Ratgeber an Ihrer Seite. Fürchten Sie die Verräter, die Ihnen und dem Kronprinzen nach dem Leben trachten; man will Sie beide während der Vorstellung der Seiltänzergesellschaft, deren Leistungen so oft den künstlerischen Sinn Eurer Majestät entzückte, aus dem Wege räumen; im Theater und im Schloß soll gleichzeitig eine Feuersbrunst angelegt, der Markgraf von Schwedt auf den Thron gesetzt werden. Der Fürst Leopold behauptet, der Armee sicher zu sein.“

Der König erblaßte – wiederum das alte Märchen, und diese gefährliche Schlange umzüngelte ihn jetzt, nachdem er die andere kaum abgeschüttelt! Fürst Leopold ballte die Faust gegen das Weib, aller Galanterie vergessend. Doch Katsch trat vor mit strenger Miene: „Beweise, Beweise!“

„Für so schändliche Verleumdung!“ rief Grumbkow.

„Juristische Beweise verlange ich,“ sagte Katsch, „sonst sollen Sie Ihre Lügen eingestehen! Sie sind reif für die Folter, Madame!“

„Gewiß, Nero und Caligula hatten ihre Henkersknechte stets zur Hand!“

Da schoß das Blut dem Könige ins Gesicht – purpurrot, ein fast schreckhafter Anblick. Er erhob die Hand wie zum Schlag – langsam ließ er sie sinken.

Frau von Blasspiel wurde sogleich nach Spandau abgeführt.

Und doch war des Königs Glaube an Clements Schuld durch ihre Mitteilungen wiederum erschüttert worden. Er wollte um jeden Preis Klarheit haben. Er hatte schon früher ein Kabinettsschreiben an den Prinzen Eugen geschickt, in welchem er ihn von den Beschuldigungen unterrichtete, die gegen ihn vorgebracht worden waren. Zwar wurde erklärt, daß man denselben nicht glaube, doch schien dies mehr eine Höflichkeitswendung zu sein; der Ton des Schreibens war sehr herausfordernd. Auch an den König August von Sachsen-Polen war ein solches Schreiben ergangen und ihm bedeutet worden, daß er sich anderer Organe als der bisherigen bedienen müsse, wenn er mit dem König von Preußen verhandeln wolle. Jetzt schickte Friedrich Wilhelm seinen Adjutanten von Brock nach Dresden und Wien, um Klarheit in diese unselig verwirrte Angelegenheit zu bringen. An beiden Orten wurde die Anklage entschieden zurückgewiesen.

Prinz Eugen erklärte, er stehe an der Spitze des kaiserlichen Kriegsheeres, doch mit Banditen habe er nichts zu schaffen. Es sei wahr, Clement habe eine Zeitlang in seinen Diensten gestanden, aber er habe nie einen Brief an ihn geschrieben, die Handschrift sei gefälscht. Und ähnlich lautete der Dresdner Bescheid. Der König mußte begütigende Schreiben an beide Höfe richten, in denen allerdings wiederum auch nur zu seiner Entschuldigung die Wahrscheinlichkeit der ihm gemachten Mitteilungen hervorgehoben wurde.

Doch merkwürdigerweise war er selber noch immer nicht überzeugt: er verfiel bisweilen wieder in seine früheren Zweifel. Da griff der ungerechte Richter aufs neue zu seinem Gewaltmittel, der Folter, mit welcher er auch so galant gewesen war, die Frau von Blasspiel zu bedrohen: Clement sollte in Gegenwart des Königs dessen Handschrift kopieren, und wenn er dabei nicht seine ganze Kunst aufbot, so sollten die Henker ihm etwas zu Hilfe kommen. Doch Clement zögerte nicht, von seiner Geschicklichkeit eine glänzende Probe zu geben. Der König war aufs äußerste überrascht, als er die Handschrift Clements von der seinigen gar nicht zu unterscheiden vermochte. –

Die Untersuchung nahm ihren Fortgang. Das Gericht mußte den ungarischen Edelmann nach seinem eigenen Geständnis als Staatsverbrecher zum Tode verurteilen. Der König wollte ihn begnadigen; er sei ein Ausländer, nicht wie die anderen in seinen Diensten gewesen. Der Fürst Leopold und Grumbkow erklärten, daß der Kaiser von Oesterreich und der König von Polen mit Recht eine volle Satisfaktion verlangten, und so stand der König ab von seinem Vorhaben.

Doch eine unerklärliche Sympathie zog ihn immer wieder zu dem nunmehr verurteilten Verbrecher. Und so begab sich das merkwürdige Schauspiel, daß er alle Tage nach Spandau zu einem Plauderstündchen mit ihm fuhr und sich von ihm allerlei aus seinem bewegten Leben erzählen ließ. Clement, obschon dicht vor einem schmachvollen Tode stehend, hatte nichts von seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit verloren und wie einem guten Kameraden teilte er dem König aus dem Schatze seiner Erinnerungen allerlei Wichtiges und Ergötzliches mit.

Der König war dankbar dafür und sagte ihm mit aufrichtigem Bedauern: „Könnte ich Euch retten, so machte ich Euch zum Geheimen Rat; so aber muß ich Euch rädern lassen!“

Doch er milderte das Urteil und ließ es beim Galgen bewenden. Lange schob er die Vollstreckung hinaus, als könnte noch irgend etwas dazwischen kommen, was dem Delinquenten Rettung brächte, doch er mußte dem Drängen seiner Umgebung nachgeben, und so wurde am 18. April 1720 das Urteil an Clement vollzogen.

Heidekamm wurde auf dem Neumarkt schimpflich des Adels entsetzt, Lehmann vor dem Spandauer Thore hingerichtet. Bube hatte sich im Gefängnis selbst ums Leben gebracht und die Blasspiel saß im Spinnhause. Clement wurde auf dem Armensünderkarren an das Spandauer Thor gefahren und unterwegs mit glühenden Zangen gezwickt, eine Verschärfung der Strafe, welche des Königs Gnade nicht beseitigt hatte. Doch kein Schrei des Schmerzes kam von seinen Lippen bei diesen zerfleischenden Brandwunden; er [829] hatte noch die Kraft, unter dem Galgen zum Volke zu sprechen, eine Vergünstigung, die ihm gewährt worden war. „Eine so harte Strafe,“ sagte er, „verdiene ich nicht; denn ich habe nur das gethan, was Minister und andere Staatsbeamte täglich ungestraft ausüben. Dennoch bin ich ein großer Sünder und habe Gott für mein Unglück zu danken; ich halte deshalb die sechzehn Monde, die ich im Gefängnis in Spandau zubrachte, für die schönste Zeit meines Lebens, da ich dort von so großen Irrungen zur rechten Erkenntnis zurückgeführt worden bin!“ –

Ueber allen diesen Vorgängen schwebt noch heute ein dichter Schleier; des Königs rätselhafte Zuneigung und sein ebenso rätselhaftes Schwanken läßt sich nur aus der ganzen Lage der Zeit und der Unklarheit der politischen Verhältnisse erklären. Clement, ein junger Mann von Kopf und feurigem Ehrgeiz, der in der Welt eine Rolle spielen wollte und schon sehr früh in viele Geheimnisse der Kabinette eingeweiht war, der die ganze Verworfenheit der damaligen Politik, welcher ein jedes Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke recht war, kannte und teilte, hatte seine verräterischen Enthüllungen gewiß nicht ganz aus der Luft gegriffen, aber er hatte gelegentliche Aeußerungen der Gegner des preußischen Königs in nachgemachten Schriftstücken festgehalten und dunkle Absichten, welche in den Köpfen seiner nächsten Umgebung spukten, zu verraten gesucht. Und wenn er mit einer ruchlosen Doppelzüngigkeit in Wien und Dresden gegen Preußen hetzte, während er in Preußen wiederum durch halb erdichtete Enthüllungen die Feindseligkeit gegen Sachsen und Oesterreich schürte, so that er dies nicht bloß aus Großmannssucht und Freude an diplomatischen Verwicklungen, deren Fäden er in der Hand hielt. Er stand im Dienste einer weitschauenden Politik seines ersten Brotherrn, des Fürsten Ragoczy, und des spanischen Ministers Alberoni, und wünschte Oesterreich in Zwiespalt zu setzen mit Preußen, wenn es ging, diese ganz zu entzweien, damit die Pläne jener beiden in Italien desto ungestörter zum Siege geführt würden.


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Alle Rechte vorbehalten.
Das Baumschütteln am Andreasabend.
Ein Bild aus dem vogtländischen Volksleben von L. Riedel.
Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Bei der Annemarie, einer alten Witfrau, ist Hutzenstube.[2] Schon seit zwei Stunden sitzen vier Mädchen, die Jda, die Mine, die Christel und die Rieke, an ihren Spinnrädern und lassen die Spindeln schnurren. Manch lustiges Runda, manch ernstes Lied haben sie schon gesungen, manch Herzensgeheimnis ausgetauscht – und das allergeheimste dabei doch verschwiegen. Jetzt schaut bald die eine, bald die andere verstohlen nach den Fenstern. Nun müssen sie doch bald kommen? Eben stimmt die Jda wieder an:

„Mädchen, wenn ich dich erblicke,
Find ich keine Ruh nicht mehr,
Jeder Tag und jede Stunde
Ist für mich keine Freud’ nicht mehr –.“

Da fallen von außen kräftige, wenn auch etwas rauhe Männerstimmen in den Gesang ein, und bald treten fünf Burschen in Werktagskleidern, nur ein reines Strickkoller über die Hemdärmel gezogen und eine neuwaschene blaue Schürze umgebunden, mit freundlichem „Guten Omd b’samm!“ zur Thür herein.

Es ist der Lieb[3], der Franz, der Friedrich, der Wilhelm und der Hansehret[4]

Die drei erstgenannten sind einheimische Bauernsöhne, der Wilhelm ein ebensolcher aus einem Nachbardorfe, der aber hier im Orte als Knecht dient. Der Hansehret jedoch hat eine eigene kleine Wirtschaft und betreibt, soweit ihm Zeit dazu bleibt, das Wagnerhandwerk. Er hat schon die Dreißig hinter sich. Seiner alten Mutter zulieb ist er bis jetzt unverheiratet geblieben. Nachdem aber durch deren Tod der Platz für eine junge Frau im Hause frei geworden, macht er der Christel, die er schon lange vorher in sein Herz geschlossen hat, ernsthaft den Hof. Freilich kann er sich vorläufig großer Erfolge seines Liebeswerbens nicht rühmen. Der Lieb ist der erklärte Schatz der Jda, während zwischen Friedrich und Franz einer- und den beiden Mädchen Mine und Rieke anderseits noch kein festes Verhältnis besteht, aber wohl bald bestehen wird. Wilhelm ist nur mitgegangen, weil er nichts anderes vor hat. Er bläst meisterhaft die Mundharmonika und ist als Musikant immer und überall willkommen.

Mit der Arbeit ist’s in der Hutzenstube vorbei, sobald die Burschen eingetreten sind. Es wird geneckt herüber und hinüber, es werden Neuigkeiten erzählt, und bald stimmt Wilhelm ein lustiges Runda an:

„Mei Voter hots g’sogt
Und mei Mutter sogt’s aa,
Ich söll noch naht heiern[5],
Ich wär’ noch ze klaa.“

Alle wiederholen trällernd die Melodie unter Musikbegleitung Wilhelms, und dann singt der Franz:

„Wenns deine Leit net leiden wölln
Und meine wöllns net hom, net hom,
Do muß ich dich üm Mitternacht
Vun’ Buden runtertroong![6]

Und bei der Wiederholung der Melodie faßt der Lieb seine Jda um den Leib und tanzt mit ihr durch die Stube. Die übrigen Burschen und Mädchen ordnen sich ebenfalls rasch zu Paaren, der Wilhelm bläst, und so wird der schönste Rutscher „heruntergerissen“. In dieser Weise geht die Unterhaltung fort, bis die Geisterstunde anhebt und die alte Annemarie sich einmischt: „Vergeßt’s fei net, ihr gunge Leit’, heit is Andreasomd; wu is denn’s Blei?“

Freilich, freilich haben sie das mitgebracht. Annemarie bringt den schon bereit gelegten alten Blechlöffel herbei, und nun nehmen die geheimnisvollen Fragen ans Schicksal ihren Anfang und die ebenso geheimnisvollen Antworten in Form wunderlicher Figuren erfahren die sonderbarsten Auslegungen.

Die Christel hat ein Ding gegossen, das man mit einiger Phantasie wohl für ein Rad ansehen kann; jawohl ein Rad! Aufmerksam betrachten es alle, Jda stößt Christel bedeutungsvoll mit dem Finger an und deutet stumm auf Hansehret, der die Figur ebenfalls mit freundlich blinzelnden Augen betrachtet, während Rieke ihr leise, doch so, daß alle es hören können, in die Ohren wispert: „Es werd doch net epper an’n Schmied bedeiten!“

Christel erglüht wie eine Pfingstrose und über Hansehrets ehrliches Gesicht zieht ein Schatten.

[830] Jetzt hat eine andere eine abenteuerliche Figur gegossen, und während man sich eifrig um den Tisch drängt und in allerhand Erklärungen versucht, schleicht Christel still hinaus. Nur Hansehret bemerkt ihr Fortgehen, eilt rasch ans Fenster, das nach seinem Hause zu liegt, öffnet es auf einen Augenblick, horcht kurz hinaus und lächelt still für sich hin. Er weiß, was sie jetzt beginnen wird, er kennt sie und ihre ganze abergläubische Familie ganz genau, er weiß, daß sie jetzt eine weitere heimliche Frage an das Schicksal richten will – und er hat vorgesorgt, daß die Antwort zu seinen Gunsten ausfällt. –

Ach! seufzt die Christel leise, wer wird’s sein? Der Hansehret oder der Schmied drüben an der Straße zum nächsten Dorfe? Einer von beiden allemal, das Rad hat’s sicher angezeigt – ein Wagner oder ein Schmied. Aber wer war der rechte? Ach! Der Schmied, der wär’ ihr schon bald lieber. Er war so hellauf zu jeder Zeit, er konnte so schöne Lieder singen, die er von weiter Wanderschaft mit heimgebracht hatte. Und wie er erzählen, und wie er tanzen, und wie er – ach! ein einzigmal war’s geschehen – wie er küssen konnte! Das Herz pocht ihr schneller, sobald sie an jene seligen Minuten gedenkt. Freilich, freilich – er sollte auch etwas leicht sein! Ob’s aber wahr, ob’s so schlimm ist, wie die Leute sagten? … Und er würde ihr doch auch folgen und anders werden, wenn’s ja wahr sein sollte! … Aber wenn er ihr nun doch nicht folgte? … Ihre Mutter hatte ihr schon manches Beispiel von solchen lustigen Liebhabern erzählt – ach! …

Ja, da war der Hansehret schon ein anderer – so gesetzt, so verständig und so gut dazu! Aber wenn er sang, so klang’s, wie wenn eine alte Thüre knarrt. Und beim Tanzen – wie oft hatte sie schon aufgeschrieen, wenn er sie gar zu sehr auf die Füße trat! Gut und ordentlich war er allerdings. Auch hätten ihre Leute es gar gern gesehen, wenn sie ihn genommen hätte. Ach, wenn sie doch wüßte, wer der rechte wär’! … Drum will sie hinaus in den Garten, Baumschütteln gehen; vielleicht giebt ihr das Schicksal einen Wink, wohin sie sich halten soll, ’s ist ja Andreasabend heute. Und sie geht dem ein wenig entfernten Garten zu, immer sinnend, langsam, Schritt für Schritt aus Furchtsamkeit – es ist ja Geisterstunde – aber immer weiter und weiter, bis sie vor Lauschern sicher zu sein glaubt. „Nu, in Gottes Name!“ spricht sie und tritt knapp an ein Kirschenbäumchen, das die Annemarie vor Jahren mit dem Häuschen von einem Vetter geerbt – ein Erbbäumchen muß es unbedingt sein! – und schüttelt den Baum, indem sie spricht:

„Bäumlein, Bäumlein, ich schüttle dich,
Komm, Feinslieb, und rege dich,
Laß deine Hündlein beilen,
Wo ich Tag und Nacht kann sein.“

Dann horcht sie und lauscht. Vor dem Hause, in das sie als Frau einziehen wird, soll nun der Hund anschlagen. Ach! seufzt sie und tritt einen Schritt zurück. Nichts regt sich in der Richtung nach der Schmiede, aber um so lauter bellt der Hund Hansehrets, den sie genau an der Stimme erkennt. Lieber Gott – sollte der Hansehret doch der ihr Bestimmte sein? Ein braver Bursch ist’s gewiß! Nach einigem Zaudern und Sinnen schüttelt sie noch einmal, ihr Sprüchlein wiederholend. Wieder bellt es nur in Hansehrets Hof, und als sie zum dritten Mal schüttelt, ist’s genau ebenso. Alles Widerstreben also ist vergebens, er ist ihr einmal bestimmt, der Hansehret! … Nachdenklich geht sie zum Hause zurück, immer und immer noch einmal aufhorchend, fast wären ihre Thränen geflossen. Ja, gut ist der Hansehret! sucht sie sich zu trösten. Wenn’s einmal so sein soll, muß sie sich halt drein ergeben. Und ehe sie noch die Hausthüre erreicht, hat sie sich frommgläubig in ihr Schicksal gefügt.

Ach, hätte sie sein Treiben gesehen, ehe er abends von seinem Hause fortgegangen war; wie er die alte Strohpuppe, die im Sommer seine Kirschen hatte vor den Sperlingen schützen sollen, neu angezogen und aufgeputzt und auf eine Stange gesteckt hatte; wie er die Scheuche vorsichtig um die Hausecke getragen und an den Kirschbaum gelehnt hatte, so daß der Kettenhund ihn selbst nicht gesehen, wohl aber den Strohmann hatte gewahren müssen; wie er gebrummt und gemurrt hatte, die Aufmerksamkeit des Tieres zu erregen; und wie der Hund dann wütend auf das Gespenst losgefahren war, das er doch nicht hatte erreichen können und nun unverwandt anstierte und anbellte die ganze Nacht: aus wär’s gewesen, rein aus, keinen Blick hätte sie mehr für ihn gehabt, den Betrüger!

Aber sie weiß nichts davon und hört still und ergeben ihm zu, als er sie freundlich und unbefangen anredet. Und als ihm später die anderen Mädchen vorwerfen, daß sein Hund ein garstiger Spektakelmacher sei – ein Zeichen, daß sie auch ihr Bäumchen geschüttelt haben – da denkt sie sich nichts Unrechtes bei seinem pfiffigen Lächeln. Heut’ zum erstenmal darf er den Arm um sie legen, als er sie, ihr Spinnrad am linken Arme tragend, nach Hause begleitet.

Bald ist das Verlöbnis geschlossen und Christel gewinnt ihren Hansehret von Tag zu Tag lieber. Immer mehr lernt sie sein gutes Herz verstehen und schätzen und wundert sich über sich selbst, daß sie je einen anderen ihm hatte vorziehen können, gar noch den Schmied, den liederlichen, den schlechten Kerl, wie sie ihn seit einiger Zeit nur noch nennt. Sie war mit ihrem Hansehret zu Tanze gewesen. Eben waren sie zu einem Strupfer[7] angetreten, da hatte der hinter ihnen stehende Schmied zu seiner Tänzerin, auf Christel zeigend, gesagt: „Schau, hätt’ ich auch haben können! Ach, kann die schön schmaruzeln.“[8]

„So?“ hatte die gefragt. „Was hast du denn nicht zugegriffen?“

„Ich mocht’ nicht,“ hatte er entgegnet. „Zum Andreasabend war ich baumschütteln, da hab’ ich dahüben eine alte Gans schreien hören und eine alte Gans möcht’ ich nicht!“

„Hätt aber ganz gut zu dir alten Gansert gepaßt,“ hatte der Hansehret, hochrot vor innerem Zorne, ihm zugerufen.

„Was bin ich?“ war der Schmied wild aufgefahren. Es wäre zu erbittertem Kampfe gekommen, hätte sich nicht die Christel rasch dazwischen geworfen, ihren Hansehret zum Tanze fort- und noch vor Beendigung desselben zum Saale hinausgezogen. Auf dem Nachhausewege hat sie ihn besänftigt – und in vierzehn Tagen wird die Hochzeit sein.


  1. ein überaus fruchtbares Thal im alten Thessalien.
  2. Spinnstube, Rockenstube.
  3. Gottlieb
  4. Johann Ehrhard.
  5. noch nicht heiraten.
  6. vom Boden heruntertragen.
  7. Walzer.
  8. schmeicheln.

[831]

Vom Weihnachtsbüchertisch.

I. Für die Jugend. Ein gutes Buch, ein guter Freund! Selbst unsere Kleinen wollen nicht ohne diese freundliche Kameradschaft sein und begrüßen sie, wenn die Weihnachtstanne brennt, mit dem Gepatsch der Händchen. Für sie bietet F. Loewes Verlag (W. Effenberger) in Stuttgart drei reizende Gaben, für die Kleinsten, welche die Bücher gleich auch auf ihre Zähigkeit probieren, ein unzerreißbares Bilderbuch: „Tiere aus Haus und Hof“ mit 12 guten Farbdruckbildern von Chr. Votteler und passenden Begleitreimen, sodann ein durch seine schöne Ausstattung hervorragendes „Großes Tierbilderbuch“, 12 Farbdruckbilder des gleichen Künstlers mit illustriertem Text, der das Leben der verschiedenen Tiere in dem kindlichen Verständnis angepaßten Versen schildert, und endlich in 6. veränderter Auflage das in humorvoller Art gehaltene, mit „alten lieben Reimen“ geschmückte Kinderbuch „Allerlei Schnickschnack“, das 6 Farbdruckbilder und 36 Textabbildungen nach Originalzeichnungen von Oskar Pletsch, dem feinsinnigen Illustrator des Kinderlebens, enthält. Nicht minder Freude werden in der kleinen Welt die elegant und solid ausgestatteten Bilderbücher des Verlages J. F. Schreiber in Eßlingen erregen, so „Kinderlust“, ein Bilderbuch auf Pappe mit hübschen Begleitversen von Cornelie Lechler, ein „Militärisches Bilderbuch“ mit 16 Bildertafeln in Farbendruck und 6 Bildertafeln in Tondruck, die die wichtigsten Waffengattungen der deutschen, der österreichisch-ungarischen und anderer Armeen darstellen, „Ich kann schon französisch“, ein von Lothar Meggendorfer illustriertes Büchlein von Helene Schaupp-Horn, das den Kleinen an Hand seiner Bilder einen gewissen Vorrat an französischen Wörtern und Sätzchen, von denen es zugleich die Uebersetzung giebt, vermitteln will. Besonders aber werden die Bilderbücher dieses Verlags, die mit beweglichen Figuren ausgestattet sind, das Entzücken weitester Kinderkreise sein, das humoristische Album „Die Frau Bas“ von Lothar Meggendorfer, das mit seinen dreifach zerschnittenen Blättern die Zusammenstellung von viertausend verschiedenen Köpfen, hübschen und häßlichen, gestattet, das komische Bilderbuch „Der Verwandlungskünstler“ mit Illustrationen des gleichen Zeichners und Versen von Georg Böttcher, das Verwandlungsbilderbuch „Bubenstreiche“ ebenfalls von Lothar Meggendorfer und das prächtige Aufstellbilderbuch „Im zoologischen Garten“, dessen Menschen- und Tierfiguren sich in der That zu einem plastischen Lebensbild entwickeln lassen. Für Kinder, die sich in der schweren Kunst des Lesens bereits einige Fertigkeit erworben haben und gleichsam an der Schwelle der eigentlichen Jugendlitteratur stehen, legt der Verlag F. Loewe in Stuttgart einige Bände vor, die, aus dem Volksschatz der deutschen Litteratur geschöpft, uns Erwachsenen wie ein Gruß aus eigener Jugendzeit erscheinen. Da sind „Till Eulenspiegels lustige Streiche“, die Georg Paysen Petersen für die Jugend neu bearbeitet, E. Klimsch mit Einschalte- und Textbildern geschmückt hat, die fröhlichen „Reisen und Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen“, die E. D. Mund mit trefflichem Verständnis für die Bedürfnisse der Kinder neu erzählt, dann Ludwig BechsteinsNeues Märchenbuch“, in einer sorgfältigen Bearbeitung von Max Pannwitz, sowie „Deutsche Kindermärchen“ von Grimm und Bechstein, Bücher, zu denen verschiedene Künstler eine stattliche Zahl von Farbdruck- und Textbildern beigesteuert haben. Führen uns die letztgenannten zwei Werke in den Phantasiegarten des deutschen Volkes, so geleiten uns die „Märchen Wilhelm Hauffs“, die der Verlag in zwei von Fritz Bergen reich illustrierten Ausgaben und Zusammenstellungen vorlegt, in den Zauberwald des Morgenlandes, wo Khalif Storch sein Wesen treibt.

Besonders begehrt und beliebt sind bei der lesekundigen reifern Jugend die sogenannten Jahrbücher, die ihren Inhalt möglichst mannigfaltig gestalten, die verschiedenartigsten Bedürfnisse der jungen Welt durch die Vereinigung eines reichen Stoffes von Erzählungen, Bildern aus der Geschichte und dem Leben hervorragender Männer und Frauen, aus der reichen Welt der Tiere und Pflanzen, der Natur überhaupt befriedigen, dabei Auskunft über allerlei nützliche Beschäftigung geben und auch dem Scherz und Spiel der Jugend volle Beachtung schenken. Eine Reihe solcher Sammelwerke für die Jugend legt die Union, Stuttgart, auf den Weibnachtstisch, als Mädchenbuch besonders „Das Kränzchen“, das auf die heurige Weihnacht in elfter Folge aus der reichillustrierten Wochenschrift für junge Mädchen, als die es sonst erscheint, zum stattlichen Bande von über siebenhundert Seiten zusammengestellt ist. An größeren Erzählungen bietet es treffliche Beiträge von Bernhardine Schulze-Smidt und Luise Glaß, von jener die Geschichte „Annele“, von dieser „Schattenblümchen“, dazwischen ist eine Menge kleinerer Erzählungen, Gedichte, Sprüche, Aufsätze aus der Naturwissenschaft, Geschichte, Kunst, Länder- und Völkerkunde eingestreut und eine Fülle von Artikeln giebt Anleitung zur Beschäftigung und weiblichen Handarbeit, zu Unterhaltung, Scherz und Spiel. Ein Gegenstück zu diesem Mädchenjahrbuch bildet das reichillustrierte Knabenjahrbuch „Der gute Kamerad“, das in dreizehnter Folge vorliegt. Die novellistische Führung dieses Bandes haben Max Felde und C. Matthias mit den Erzählungen „Addy, der Riflemann“, einem spannenden Lebensbild aus der Zeit der Kämpfe zwischen Weißen und Indianern, und „Mit vollen Segeln“, den reichen Erinnerungen eines alten Seebären. Dazu bringt „Der gute Kamerad“, dessen Inhalt so recht auf das mutige Knabenherz gestimmt ist, eine Fülle von Mitteilungen aus den Gebieten des Heerwesens, der Marine und Luftschiffahrt, Belehrungen über einzelne Abschnitte der Geschichte, über Naturkunde und Gesundheitspflege, Anleitung für Spiele im Freien, sowie Aufgaben und Rätsel. Ein Knabenjahrbuch für ein noch reiferes Alter ist „Das neue Universum“ mit seinem Anhang „Häusliche Werkstatt“, die eine Menge Anregung zur Selbstbeschäftigung giebt. Es pflegt nun in zwanzigster Folge mit Wort und Bild besonders die interessanten Gebiete der Erfindungen und Entdeckungen, der Technik, des Verkehrs und des kolonialen Lebens, aber auch die charakterbildende Erzählung. Bescheiden nimmt sich neben diesen reich ausgestatteten Bänden der Union die vom Verlag E. Kempe in Leipzig zu einem Jahrbuch zusammengestellte Zeitschrift „Jugend-Gartenlaube“ aus, doch enthält auch sie hübsche Erzählungen und belehrende Aufsätze.

Die selbständige Erzählung nimmt wohl den weitesten Raum im Reich der deutschen Jugendlitteratur ein. Zwei billige ansprechende Bändchen dieser Art sind die von der Union, Stuttgart, in ihrer Universalbibliothek für die Jugend herausgegebenen Erzählungen W. O. von Horns: „Hans Joachim von Zieten“, „Der Brand von Moskau“ und „Der Herr ist mein Schild“, „Admiral Ruiter“, vier beliebte Stücke aus der ältern deutschen Jugendlitteratur. Einer freundlichen Aufnahme dürfen auch die beiden neuen Bünde der „Vaterländischen Jugendbücherei“ Julius Lohmeyers, die im Verlag von J. F. Lehmann in München erscheint, sicher sein. Im einen hat Gustav Schalk die „Großen Heldensagen des deutschen Volkes“ Nibelungen, Gudrun und Dietrich von Bern für die Jugend neu erzählt, im andern führt uns E. Wuttke-Biller „Lina Bodmer“, eine Heldin der deutschen Befreiungskriege, in fesselnder Darstellung vor. Die Erzählungen für die männliche Jugend zeigen, dem Geist der Zeit entsprechend, der besonders nach den Vorgängen in fernen Weltgegenden späht und sie mit erhöhter Aufmerksamkeit verfolgt, einen kräftig entwickelten Zug zur Darstellung exotischer Lebensverhältnisse. Als alte, noch aus der eigenen Jugend vertraute Bekannte begrüßen wir auf diesem Gebiet zuerst Coopers unverwüstliche „Lederstrumpf-Erzählungen“, die der Verlag von Gustav Weise in Stuttgart in der Neubearbeitung von Klaus Bernhard in einem stattlichen, mit Buntbildern geschmückten Prachtband neu herausgegeben hat und die mit ihren Jndianerabenteuern gewiß jetzt noch wie einst leicht entzündbare Knabenherzen in Flammen zu setzen vermögen. Das thut auch das in F. Loewes Verlag in Stuttgart erschienene Buch „Die Goldsucher von Klondyke“, in dem C. von Barfus die mit der Entdeckung der berühmten Goldfelder verbundenen Erlebnisse eines jungen Deutschen in patriotischem Ton und warmen Farben erzählt. Zwei altbekannte Namen auf dem Gebiet des exotischen Jugendromanes sind Karl May und Friedrich J. Pajeken mit ihren spannenden Werken, die auch von den Erwachsenen gern gelesen werden. Beide haben als Schauplatz ihrer neuesten Werke den amerikanischen Westen erwählt, während aber Pajeken in seinem „Bill, der Eisenkopf“, einem Buch, das wie das vorgenannte bei Loewe in Stuttgart erschienen ist, in die Prairie- und Jndianerromantik der sechziger Jahre zurückgreift und die durch den Bau von Eisenbahnen völlig veränderten Verhältnisse nur streift, führt uns Karl May mit seiner von der Union in Stuttgart herausgegebenen Erzählung „Der schwarze Mustang“, mit starker realistischer Kraft die Schicksale deutscher Auswanderer schildernd, in das moderne Leben des Westens hinein. Und endlich verdient unter den exotischen Jugendbüchern ein warmes Wort der Empfehlung die im gleichen Verlage in zweiter Auflage erschienene Erzählung Franz Trellers, „Der Letzte vom ,Admiral‘“, die an den reichbewegten Schicksalen eines jungen Hamburgers ein fesselndes Bild modernen Seelebens und eine Art Robinsonade entwickelt. Eine Erscheinung für sich bilden in der Litteratur für die Knaben und Jünglinge die der Belehrung dienenden, mit technischen und wissenschaftlichen Abbildungen ausgestatteten „Illustrierten Taschenbücher für die Jugend“, welche die Redaktion des „Guten Kameraden“ bei der Union in Stuttgart herausgiebt. Bis jetzt sind sechs Bandchen erschienen, nämlich „Berufswahl: Armee und Marine“. „Aquarium und Terrarium“. „Liebhaber-Photographie“. „Der junge Elektrotechniker“. „Kleine Sternkunde“ und „Jugendtheater“, Werkchen also, die sich in den Dienst der Wissenschaft und des praktischen Lebens stellen. Bereits an die Backfische der Mittelschulen wenden sich mehrere im Verlag von Gustav Weise erschienene frische Erzählungen. „In den Ferien“ von Jda Kunitz hält in befriedigendster Weise was der Titel verspricht. Bertha Clement entführt uns aus den heimischen Landen nach Damaskus und Jerusalem, um allerdings ihre Heldin das Hauptschicksal, die Hochzeit, in München erleben zu lassen. Von der gleichen Verfasserin stammt eine Erzählung, „Die Rosenkette“, mit der sie den Cyclus eines in seinen drei Teilen selbständigen und doch wieder verbundenen Mädchenromans zum schönen Abschluß bringt. Das vierte dieser Bücher ist „Das Stiftskind“ von Agnes Hoffmann, welche dann Freude und Leid eines mitten unter würdigen Stiftsdamen aufwachsenden überaus sympathischen Mädchens in anziehendster Weise schildert und vor dem Altar zum glücklichen Schlusse führt. Für das gleiche Alter bestimmt ist die mit allerlei anziehenden Mädchengestalten belebte, eine Fülle von Mädchenschicksalen entwickelnde Erzählung „Das Montagskränzchen“ von Luise Glaß, einer Lieblingschriftstellerin des „Kränzchens“, deren Redaktion mit dem Bande die „Kränzchen-Bibliothek“ eröffnet. Im gleichen Verlag, der „Union“ in Stuttgart, ist der 24. Band vom „Jugendgarten“ erschienen. Dieses reich ausgestattete längst eingebürgerte Unternehmen, das alljährlich zu Weihnachten erscheint, bietet neben gutgewählten Erzählungen und Gedichten allerlei gediegene Beiträge belehrender Art in anregender Abwechslung. Der neue Band enthält über 200 ein- und mehrfarbige Illustrationen.

[832] II. Für Erwachsene. „Leberecht Hühnchen gehörte zu den Bevorzugten, denen eine gütige Fee das beste Geschenk, die Kunst glücklich zu sein, auf die Wiege legte; er besaß die Gabe, aus allen Blumen, selbst aus den giftigen, Honig zu saugen.“ Diese Worte, mit welchen Heinrich Seidel den liebenswürdigen Helden mehrerer seiner liebenswürdigsten Erzählungen vorstellt, sind bezeichnend für den Dichter selbst, dessen Poesie dem Leser in so anmutig heiterer Weise zu Gemüt führt, daß zum Glücklichsein vor allem gehört, die eigenen Ansprüche ans Leben im Einklang zu halten mit den Verhältnissen, über die man verfügt. Alle die vielen, welchen bereits Leberecht Hühnchen und seine Gesinnungsverwandten gute Bekannte sind, werden sich mit uns freuen, daß „Heinrich Seidels erzählende Schriften“ gegenwärtig im Verlag der J. G. Cottaschen Buchhandlung in Stuttgart in einer Gesamtausgabe erscheinen, die nach Gediegenheit der Ausstattung und Wohlfeilheit des Preises sich den Volksausgaben anschließt, welche im Laufe der letzten Jahre die Werke von Grillparzer, Anzengruber, Auerbach, Riehl im gleichen Verlage erlebten. In der zierlichen, längst beliebten Geschenkausgabe, in welcher die Erzählungen und Gedichte Seidels bisher erschienen, hat sich im gleichen Verlag ein neuer Band eingestellt: „Reinhard Flemmings Abenteuer zu Wasser und zu Lande“. In seiner kraftvollen niederdeutschen Eigenart gemahnt der in dieser lustigen Knaben- und Schelmengeschichte waltende Humor an Fritz Reuter, ohne daß dieser Anklang dem originellen Reiz der Erfindung Abbruch thäte.

Auch sonst steht ein gut Teil der uns vorliegenden Erzählungen im Zeichen des Humors. Er herrscht vor in „Richard Leanders Sämtlichen Werken“ (Leipzig, Breitkopf u. Härtel), wie er im besondern dieses Autors köstliche Märchen „Träumereien an französischen Kaminen“ auszeichnet, und nicht minder in Victor Blüthgens neuer Gabe „Das Weihnachtsbuch“ (Leipzig, Ernst Keils Nachf.), welche allerlei Weihnachtliches in Vers und Prosa enthält, darunter mehrere Erzählungen, die schon beim Erscheinen in der „Gartenlaube“ unsere Leser erfreuten; mit seinem reichen poetischen Inhalt voll Weihnachtsstimmuug, seinen Kunstbeilagen und Textillustrationen, ist es so recht berufen, auf vielen Bescherungstischen das „Weihnachtsbuch“ zu bilden. Der neue Band der Schriften von Hans Arnold: „Christel und andere Novellen“, mit Illustrationen von W. Claudius (Stuttgart, A. Bonz u. Komp.), umfaßt zehn kleinere Geschichten, deren herzerfrischender kräftiger Humor zumeist dem Familienleben entstammt. Auf einer humoristischen Grundidee beruht auch der neue Roman, den Peter Rosegger dieses Jahr seiner großen Gemeinde bietet: „Erdsegen. Vertrauliche Sonntagsbriefe eines Bauernknechts“ (Leipzig, L. Staackmann). Die „Sonntagsbriefe“ sind von einem modernen Städter geschrieben, der sich als Knecht auf einem kleinen Bauerngut in Steiermark verdingt hat, um das Landleben gründlich kennenzulernen: die rauhe Arbeit dort, der Verkehr mit arbeitsamen schlichten Menschen macht ihn glücklich und heiter. Auf demselben Stimmungskontrast beruht „Martinhagen. Eine Geschichte abseits der Heerstraße“ von Julius Stinde, mit 30 Federzeichnungen von R. Knötel (Berlin, Freund u. Jeckel). In dieser fein humoristischen Erzählung erlebt ein anspruchsvolles Mädchen aus Berlin, das als Gouvernante auf einen Pachthof kommt, durch den Einfluß ihrer neuen Umgebung, seine sittliche Läuterung. Eine originelle Satire auf moderne Kleinstädterei, im Stil an Jean Pauls „Siebenkäs“ erinnernd, ist die „Spießhagener Geschichte“ „Heinrich Zwiesels Aengste“ von Heinrich Steinhausen (Berlin, G. Grote). „Unter lachender Sonne“ heißt bezeichnend ein Band lustig erfundener, flott erzählter Humoresken von Max Hartung (Berlin, O. Janke). Warme Empfindung und sinnige Gemütsart sprechen sich anmutend aus in den Novellen und Skizzen „Erlauschtes und Erträumtes“ von Else Hofmann (Leipzig, P. List).

Vor Amalfi. Von R. Püttner.
Aus dem Cotta’schen Musenalmanach für 1900.

Auf der „Sonnenseite des Lebens“ spielt sich auch das schöne Liebesidyll ab, das dem zuerst in der „Gartenlaube“ erschienenen, nun als Buch vorliegenden Roman „Das Schweigen im Walde“ von Ludwig Ganghofer (Berlin. G. Grote) seinen eigentümlichen Zauber verleiht. Aber auch tragische Schatten fallen auf dies sonnige Lebensbild aus dem bayrischen Hochland. Noch mehr ist dies der Fall in Adolf Wilbrandts Roman „Der Sänger“, dessen Held ein Mainzer Schlossergesell ist, den ein freundlich Geschick auf die Höhen einer beglückenden Künstlerlaufbahn emporführt. Noch einen zweiten Band bietet der Cottasche Verlag von Wilbrandt. Er enthält die zwei kleineren ergreifenden Erzählungen „Erika“ und „Das Kind“. Wie die letztere ist unseren Lesern auch der machtvoll spannende, die Schrecken der Wüste und die Herrlichkeit der Hochalpenwelt packend schildernde Roman „Montblanc“ von Rudolf Stratz schon bekannt, der als Buch nun auch im genannten Verlage erschienen ist, in welchem J. C. Heers tiefpoetischer Schweizer Alpenroman „An heiligen Wassern“ gegenwärtig bereits in vierter Auflage im Druck ist. Ernste und heitere Geschichten aus Tirol vereinigt der gehaltvolle Band „Ueber Berg und Thal“ von Rudolf Greinz (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt). In den Schwarzwald dagegen versetzt uns „Die Thalkönigin“ von Hermine Villinger, die hier aus romantischen Voraussetzungen ein Werk kraftvoller Charakteristik entwickelt hat (Stuttgart, A. Bonz u. Komp.). Genaue Kenntnis der Landschaft und Bevölkerung des Elsaß und ein frisches ansprechendes Erzählertalent offenbart in dem bei Cotta erschienenen Roman „Stille Wasser“ Hermann Stegemann. Ein neuer Name, an den sich Hoffnungen knüpfen! Das letztere gilt auch von den Verfassern zweier im gleichen Verlag erschienenen Romane, die uns mitten hinein in die Kämpfe führen, welche im letzten Jahrzehnt das politische und soziale Leben im deutschen Vaterlande bewegt haben. Ernst Heilborn schildert in „Kleefeld“ das Schicksal eines hohen Regierungsbeamten, der nach Bismarcks Rücktritt seine Entlassung nimmt und dann in einem kleinen Hause eines Berliner Vororts, in welchem ihm die Jugendgeliebte den Haushalt führt, ein friedliches Alter findet. Der Kampf ums „Frauenrecht“, der hier gestreift wird, schlägt die Grundaccorde an in dem dramatisch bewegten Roman „Der Weg zur Erkenntnis“ von Wilhelm Arminius. Die Heldin ist die Tochter eines unschuldig Verurteilten; das begründet den Fanatismus, mit dem sie für die Frauenrechte eintritt und von dem sie dann durch schmerzliche Erfahrungen befreit wird.

Ein sozialer Roman ist auch derjenige, den der Verlag der „Gartenlaube“, Ernst Keils Nachfolger, als Neuheit auf den Weihnachtsbüchertisch legt: „Schloß Josephsthal“ von Marie Bernhard. Das Werk hat bei seinem ersten Erscheinen in diesen Spalten allgemeines Interesse erregt, das gleich sehr der sympathischen Charaktergestaltung der Heldin, die als Erbin ihres reichen Vaters die Wohlthäterin seiner Arbeiter wird, wie der spannenden kriminalistischen Verwicklung galt, welche der an dem Fabrikanten verübte Mord zur Folge hat. Verwandt in der Tendenz mit diesem Werk unserer beliebten Mitarbeiterin ist „Der Armenpastor“ von Arthur Sewett (Dresden, C. Reißner), dessen Held sich als Seelsorger praktisch an der Lösung der sozialen Frage versucht und das Mädchen seiner Liebe, die Tochter eines stolzen Großindustriellen, zu gleichem Wirken begeistert. Im Keilschen Verlag erschienen auch in 2. Auflage die Geschichte in Briefen von R. ArtariaDas erste Jahr im neuen Haushalt“, die im Gewande eines unterhaltenden Romans jungen Hausfrauen vortreffliche Unterweisung giebt, und der Roman aus Weimars Blütezeit „Brausejahre“ von A. v. d. Elbe, in welchem Goethes erste Erlebnisse in Jlmathen poetische Darstellung erfuhren. In frühere Zeiten versetzen uns auch die kulturhistorischen Novellen aus dem Handwerkerleben „Aus eigener Kraft“, ein Buch, das der Verfasser Eduard Braunfels mit Recht als „goldenes Buch für Meister, Gesellen und Lehrlinge“ Es ist vom Verleger Udo Beckert in Stuttgart mit [833] zahlreichen Illustrationen ausgestattet worden. In eine noch ältere Geschichtsperiode greift A. Kleedehn zurück, der uns in dem Roman aus der Hohenstaufenzeit „Die Geschwister von Neuffen“ (Dessau, A. Haarth) die Kämpfe zwischen den Ghibellinen und Welfen heraufbeschwört, insbesondere die Zeit der Eroberung von Weinsberg durch Konrad III. Die Gesckwister von Neuffen sind zwei Brüder aus dem stolzen Rittergeschlecht, das damals auf dem Hohenneuffen, der ältesten und stärksten Burg im Schwabenlande, saß.

Diese Burg Hohenneuffen ist seit Jahr und Tag der Gegenstand eifriger Durchforschung seitens des Württembergischen Landeskonservators Eduard Paulus, in welchem das Schwabenland einen poetischen Verherrlicher besitzt, der zugleich als einer der gründlichsten Kenner seiner glanzvollen Geschichte gilt. Unter dem Titel „Der Alte vom Hohen-Neuffen“ reicht der Dichter dem deutschen Volke einen vollen Strauß neuer Berglieder, deren herbkräftiger Duft von ganz eigenartigem Reiz ist. In einzelnen dieser Lieder läßt er die Vorzeit der großartigen Burgtrümmer des Neuffens lebendig werden, dessen Entstehung er in die Zeit des Gotenkönigs Theodorich zurückverlegt.

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Bei der Kräutlerin.
Nach dem Gemälde von J. Gisela.

Im Cottaschen Verlag, wie dieser Band, sind auch die „Lieder eines Zigeuners“ von Georg Busse-Palma erschienen, einem jüngeren Bruder von Carl Busse, der diesen schwung- und temperamentvollen Poesien eine Einleitung vorausgesandt hat. Die so schnell zu allgemeiner Anerkennung gelangten, schon früher hier besprochenen „Gedichte“ von Anna Ritter liegen bereits in 5. Auflage vor. Von idealer Gesinnung beseelt sind die formenschönen „Gedichte“ von Albert Geiger, die im gleichen Verlag wie die vorstehenden erschienen sind. Die „Neuen Gedichte“ von Emil Rittershaus und die „Gedichte“ von Ernst Scherenberg, beides Sammlungen, die so vieles enthalten, was die Poesie des deutschen Familienlebens wiederstrahlt und zuerst in der „Gartenlaube“ ans Licht trat, wurden in neuer Bearbeitung und sehr gefälliger Ausstattung vom Keilschen Verlag zum sechsten Male herausgegeben. Das gleiche erfreuliche Schicksal erlebte im Cottaschen Verlag „Ein deutsches Hausbuch“ von Oskar von Redwitz, in welchem echter Patriotismus und warmes Familiengefühl ebenfalls eine wahrhaft herzerhebende Sprache führen. Begeisterte Vaterlandsliebe belebt auch die Dichtungen „Unter dem Zollernaar“ von Otto Franz Gensichen (Berlin, Alexander Duncker). Die neuen vermehrten Auflagen der Gedichte von H. BulthauptDurch Frost und Gluten“ (Oldenburg, Schulzesche Hofbuchhandlung) und der „Neuen Balladen“ von Heinr. Vierordt (Heidelberg, C. Winter) bestätigen die erfreuliche Thatsache, daß auch diese Dichter den verdienten Erfolg finden. Bei E. L. Kling in Tuttlingen erschienen die Gedichte „Rosen und Dornen“ von Paul Cornel, aus dessen Nachlaß herausgegeben von Herm. Kloß. Die Herausgabe dieses Bandes ist nicht nur ein schönes Denkmal der Freundschaft; er verhilft auch einem wirklich talentvollen Dichter von echtem Patriotismus und volkstümlichem Wesen zur Anerkennung. Die „Hundert Kinderlieder“ von Johannes Trojan (Berlin, Freund u. Jeckel) und „Kinderlieder und Reime“ von Julius Lohmeyer (Leipzig, Th. Grieben) verdienen im Familienkreise ein herzliches Willkommen. Den Freunden der lyrischen Poesie seien weiter empfohlen die „Dichtungen“ von Herm. Krone (Halle, O. Hendel), „Leuchtende Tage“ von L. Jacobowski (Minden, J. C. C. Bruns). Sanges- und hoffnungsfrohe Jugend äußert sich in dem Musen-Almanach Berliner Studenten für das Jahr 1900 „Dem neuen Jahrhundert“ (Berlin, H. Walther). Die Auswahl der Werke Julius Mosens, die Dr. Max Zschommler in vier Bänden herausgegeben und mit einer Lebensgeschichte versehen hat (Leipzig, A. Strauch), ist des Dichters würdig, dem die Nation die genialen Epen „Ritter Wahn“ und „Ahasver“ verdankt. Wie dieser Sammlung wünschen wir der 3. verbesserten und vermehrten Auflage der „Gesammelten Werke des Grafen Adolf Friedrich Schack“ in 10 Bänden, mit ihrem Reichtum bedeutender Dichtungen jeden Genres, weiteste Verbreitung.

Echt poetische Anschauungskraft offenbart die geschichtliche Schilderung „Paris 1870/71“ von Karl Bleibtreu, die mit Illustrationen von Chr. Speyer bei C. Krabbe in Stuttgart erschien. Heinrich v. Sybels längst anerkannte klassische „Geschichte der Revolutionszeit“ hat bei Cotta eine wohlfeile Ausgabe erfahren, die das bedeutende Werk weiteren Kreisen zugänglich macht. Wahrhaft lebensvolle Darstellung und klare Uebersichtlichkeit zeichnet die „Preußische Geschichte“ von Hans Prutz aus, von welcher im gleichen Verlag die ersten 2 Bände [834] (bis 1740 reichend) vorliegen. Von unterhaltend belehrenden neuen Büchern, die sich zu Christgeschenken eignen, schildern nicht weniger als drei: Reisen um die Erde. „Um die Erde. In Wort und Bild“ betitelt unser Mitarbeiter Paul Lindenberg seine anschaulichen frischen Schilderungen, welchen zahlreiche Illustrationen beigegeben sind (Berlin, F. Dümmlers Verlag). Wilhelm Brand, ein anderer geschätzter Mitarbeiter, berichtet nicht minder lebendig von seiner „Reise um die Welt“ (Leipzig, B. Elischer Nachf.). Nach Tagebüchern und mit 46 Illustrationen des Korvettenkapitäns E. Kohlhauer hat H. de Méville den Band „Um die Erde mit S. M. S. ‚Leipzig‘ zur Flaggenhissung in Angra-Pequena“ (Berlin, K. Siegismund) herausgegeben. Von den „Wanderungen durch die deutschen Gebirge“ bietet Karl Kollmann den 3. Band: „Von der Elbe bis zur Donau“ dar (Köln, P. Neubner). Die lebendigen Schilderungen sind durch 38 Vollbilder ergänzt. Von allen Freunden Italiens wird ein neues Werk gern begrüßt werden, das uns die Wunderwelt und die Wirklichkeit des alten viel gepriesenen Kulturlands jenseit der Alpen mit frischer Begeisterung und dabei gründlicher Sachkenntnis schildert: Friedrich NoacksItalienisches Skizzenbuch“ (Stuttgart, Cotta).

Von den uns vorliegenden größeren Illustrationswerken sind die „Illustrierte Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ (Stuttgart, Union Deutsche Verlagsgesellschaft), die in Lieferungen erscheint, und die Bildermappe „Deutschlands Ruhmestage zur See“ von Hans Petersen erst kürzlich in der „Gartenlaube“ besprochen worden. Die „Lichtbild-Studien“ von Alfred Enke, welche in eleganter Mappe 30 Heliogravüren umfassen (Stuttgart, Union), sind ein glänzender Beweis für die Vollkommenheit dessen, was die vorgeschrittene photographische Technik im Dienste einer wahrhaft künstlerischen Auffassung und Ausübung zu leisten vermag. Das Resultat der Lichtbild-Studien Alfred Enkes ist ein Prachtwerk von echtem Kunstwert; Anmut und Schönheit in reizvollem Wechsel labt das Auge beim Betrachten dieser Landschaften und Genrebilder. Sehr originell wirkt die von Heinrich Lefler im Rokokogeschmack und mit köstlichem Humor illustrierte Ausgabe von Andersens Märchen „Die Prinzessin und der Schweinehirt“ (Wien, Gesellschaft für vervielfältigende Kunst). Gleichzeitig bietet der Verlag von Paul Neff in Stuttgart den zahllosen Verehrern von Andersens Märchen eine Prachtausgabe derselben, mit zahlreichen ganz reizenden Illustrationen von Hans Tegner, einem Landsmann des Dichters. Die Märchen sind neu übersetzt von Pauline Klaiber. „Sang und Klang im neunzehnten Jahrhundert“ ist der Titel eines schön ausgestatteten großen Bandes, welcher eine Auswahl der schönsten Kompositionen der hervorragendsten Meister unseres Jahrhunderts vereinigt, eine orientierende Einleitung von Hans Merian mit 18 Porträts ist denselben vorangestellt (Berlin, Verlagsanstalt Pallas). Echte Christfeststimmung atmet das zweiaktige Weihnachtsstück „Beerenlieschen“ von A. Danne (Weimar, J. Sernau), dessen ansprechende Musik von K. Goepfart gewiß gern überall, wo man gute Hausmusik pflegt, willkommen geheißen wird.

Das Weihnachtsfest der Wiener im Jahre 1227. (Zu dem Bilde S. 821.) Geschichtschreiber und Poeten haben das goldene Zeitalter Wiens unter der Regierung des glorreichen Babenberger Herzogs Leopold VII begeisterungsvoll gepriesen. Dieser edle Fürst, der „Vater des Vaterlandes“, der im Sängerkrieg auf der Wartburg „die Sonne deutscher Lande“ genannt und dessen Hofhaltung mit König Artus’ Hof verglichen wurde, erhob sein geliebtes Wien in einer dreißigjährigen Friedensepoche zu Macht und Ansehen. Er gab den Wienern weise Gesetze, war ihnen stets ein milder, wohlwollender Herr und beschützte die Künste des Friedens, sowie das Handwerk und den Warenaustausch mit fernen Ländern. Dadurch zog ein bisher ungekannter Wohlstand in die Donaustadt ein und mit dem Wohlstand die Freude, die der daseinsfrohe, sangeskundige Wiener gar bald zur höchsten, anmutigsten Lebenskunst auszubilden wußte. Die herrlichen Fruchtgelände ringsum spendeten dem emsigen Fleiße ihrer Bebauer reichlichen Segen; aus allen Teilen der Erde kamen Kaufleute, welche die Sicherheit des Verkehrs und die Gastfreundschaft der Stadt zu schätzen wußten, und brachten herrliche Gebilde der Kunst, schwere Brokatgewänder und zierlichen Schmuck unter die reiche Bürgerschaft. Dadurch wurde der Stolz und die Prachtliebe der Wiener noch gehoben, und die Reimchroniken wissen für die Festlust jener Tage nicht genug der preisenden Worte zu finden. Auf den gottbegnadeten Sänger Walther von der Vogelweide machte dies Leben voll verfeinerter Kultur einen so tiefen Eindruck, daß er gestand, am Herzogshof „ze Wienne“ erst „singen und sagen“ gelernt zu haben. Von Leopold dem Glorreichen sang er:

„Sein Lob ist nicht ein Loblein: er mag, er hat, er thut.“

Von diesem volksgeliebten Herrscher erzählen die Chroniken, daß ihn einstmals im Alter die Lust anwandelte, das schöne Christfest inmitten seiner Wiener zu begehen. Er kam aus seiner Burg, die erst jüngst an der Stelle hingebaut war, wo sie auch heute noch steht, und ritt auf seinem Zelter durch die verschneiten Straßen der Stadt. Die Fenster der Häuser strahlten in festlichem Lichterglanz und allenthalben war ein geschäftiges Drängen zu sehen. Und als sich mit Windeseile die frohe Nachricht verbreitete, daß der geliebte Herr in ihrer Mitte weile, da strömten die Wiener aus ihren Häusern und umringten ihn mit freudigem Gejauchze und drängten sich herzu, ihm Hände und Füße oder den Saum seines Kleides zu küssen. Bald hatten sich auch die Zünfte eingefunden und kamen in feierlichem Aufzug herbei, um dem Herrscher durch Ueberreichung von Christgeschenken aller Art zu huldigen. Der edle Fürst war tiefgerührt von all diesen herzlichen Zeichen der Liebe und Verehrung. Diesen Augenblick hat der Maler Heinrich Lefler in seinem Gemälde, das eines der Wandfresken des neuen Wiener Rathauskellers bildet, festgehalten. Die Komposition ist äußerst sorgfältig durchgeführt. Die eine Hälfte des Bildes nimmt die hoheitsvolle Gestalt des greisen Herzogs ein, der, in einen langen Hermelinmantel gehüllt, die Huldigung seiner treuen Wiener gerührt entgegennimmt. Er ist von seinem schlohweißen Zelter abgestiegen und richtet an den vor ihm knieenden Bürgermeister ernste Worte des Dankes, aber auch der Mahnung, welche die Umstehenden ernst und feierlich stimmen. Die weiße Schneedecke hebt die Farbenwirkung des schön gruppierten Bildes. B. Ch.     

Zum Jubiläum des Lieds von der Glocke. Von allen lyrischen Schöpfungen Schillers ist das „Lied von der Glocke“ wohl das volkstümlichste, großartigste und wirkungsreichste. Es wurde vom Dichter vor hundert Jahren im Jahrgang 1800 des Cottaschen Musenalmanachs zuerst veröffentlicht. Schiller war damals Redakteur dieses für die Blütezeit unserer klassischen Litteratur so bedeutsamen Unternehmens, in welchem auch seine schönsten Balladen gleich denen Goethes zuerst an die Oeffentlichkeit traten. Das Lied von der Glocke bildet den Schluß in dem Musenalmanach für 1800; gleich einem Gruß an das nahende neue Jahrhundert wirkte es damals auf die deutsche Welt. „mit der Freude Feierklange“ das Evangelium des Friedens verkündend. Als das Hohelied des deutschen Familienlebens hat es seitdem von Geschlecht zu Geschlecht seinen Segen entfaltet; für das süße Hoffen der ersten Liebe, für das Walten der Hausfrau im häuslichen Kreise, für das Ringen des Mannes mit dem feindlichen Leben hat in unzähligen jungen Seelen das Lied von der Glocke das erste ahnungsvolle Verständnis geweckt.

Diese Dichtung war nicht, wie Schillers Lied „An die Freude“, das Werk einer unmittelbaren Inspiration. Lange hat sich der Dichter mit dem Plan für sie herumgetragen. Wie seine Schwägerin Karoline v. Wolzogen erzählt hat, verdankte er die Idee zu dem Plan der Zeit, in welcher er der glückliche Bräutigam seiner Lotte war. Im Jahre 1788, das dem Dichter die Berufung zum Professor der Geschichte nach Jena brachte, wohnte er im Sommer in dem Dorf Volkstedt bei Rudolstadt in innigem Verkehr mit der Familie v. Lengefeld. Vor den Thoren von Rudolstadt lag eine Glockengießerei. Er besuchte sie öfter, „um von diesem Geschäft eine Anschauung zu gewinnen“. Der Weg führte über blühende Wiesen. „Das Schönste sucht er auf den Fluren, womit er seine Liebe schmückt“ – dieser Vers ist ein Nachhall jener Tage. Mehr als zehn Jahre dauerte es, bis der Plan zur Ausführung kam. Andere größere Aufgaben lenkten ihn von ihm ab. Im Sommer 1797 schrieb er an Goethe, er sei jetzt an sein Glockengießerlied gegangen. Er fügte hinzu, daß er in Krünitzens Encyklopädie einen Artikel über den Glockenguß gefunden habe, von dem er sehr viel profitiere. Dort fand er auch die Notiz, daß auf dem Münster der Stadt Schaffhausen sich eine große Glocke befinde, welche die Umschrift trage: „Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango“. Diese Worte „Ich rufe die Lebenden, ich beklage die Toten, ich breche die Blitze“ wirkten sehr anregend auf Schillers Phantasie – sie wurden zum Motto der Dichtung. Aber noch zwei Jahre dauerte es, bis die „Massen“ der poetische Vorstellungen, die das Thema in ihm geweckt hatte, „in Fluß“ gerieten. Die Arbeit am „Wallenstein“ nahm ihn zu sehr in Anspruch. Ein neuer Aufenthalt in Rudolstadt verhalf dann dem Plan zu seinem Recht. Am 30. September 1799 war das Gedicht vollendet. Als es im Musenalmanach erschien, begegnete es durchaus nicht allgemein der gebührenden Würdigung. Im romantisch gestimmten Kreis der Brüder Schlegel fand man diese Art lehrhafter Poesie zu prosaisch und machte sich lustig über sie. [835] Goethe aber erkannte sogleich ihren vollen Wert und Wilhelm v. Humboldt schrieb: „In keiner Sprache ist mir ein Gedicht bekannt, das in einem so kleinen Umfang einen so weiten poetischen Kreis eröffnet, die Tonleiter aller tiefsten menschlichen Empfindungen durchgeht und auf ganz lyrische Weise das Leben mit seinen wichtigsten Ereignissen und Epochen wie ein durch natürliche Grenzen umschlossenes Epos zeigt.“ Außerordentlich reich ist der Gehalt des Gedichtes an Sprüchen der Weisheit, die Schillers hohen Geist und liebevolles Herz gleich schön offenbaren und die so schlicht und klar im Ausdruck sind, daß sie sich schon dem Verständnis des reiferen Kindes leicht erschließen. Mit feierlichem Klange senken sie sich der Jugend unvergeßbar ins Herz und werden zu segenspendenden Geleitworten auf dem Gang durchs Leben. J. Pr.

Deutsch-Samoa. Seit zwanzig Jahren bildeten die Samoainseln den Gegenstand fortwährender Streitigkeiten zwischen den Großmächten Deutschland, England und den Vereinigten Staaten von Amerika. Diese gaben wiederholt Anlaß zu Kämpfen zwischen den Häuptlingen, die bald von dieser, bald von jener Macht bevorzugt wurden. Durch eigenmächtiges Vorgehen englischer und amerikanischer Beamten haben sich zuletzt die Verhältnisse derart zugespitzt, daß die Wahrung deutscher Rechte auf Samoa von der deutschen Regierung als Ehrensache betrachtet werden mußte. Nun ist es der deutschen Diplomatie gelungen, die Samoafrage in einer völlig befriedigenden Weise zu lösen. Vorbehaltlich der wohl nicht zu bezweifelnden Zustimmung der Vereinigten Staaten, wurde zwischen Deutschland und England ein Vertrag abgeschlossen, der geeignet ist, den Samoawirren für immer ein Ende zu bereiten. Nach demselben verzichtet England auf jedes Anrecht auf die Samoainseln, die zwischen Deutschland und Amerika geteilt werden, und zwar derart, daß die Inseln Upolu und Savaii, sowie die anliegenden kleinen Inseln als freies Eigentum an Deutschland übergehen, während die Insel Tutuila mit ihren Nebeninseln den Amerikanern zufällt. Deutschland ist somit in den Besitz des größten und wichtigsten Teils der Samoainseln gelangt. Ihr Kulturmittelpunkt ist ja seit langem die Insel Upolu mit dem Hauptort Apia. Sie weist die stärkste Bevölkerung auf, etwa 16 000 christliche Einwohner, darunter etwa 300 Europäer, und sie ist mit etwa 880 qkm Flächenraum die zweitgrößte des Archipels, zweifellos auch die fruchtbarste. Savaii, westlich von Upolu gelegen, ist die größte der Samoainseln, mit ihren Nebeninseln umfaßt sie 1707 qkm, auf denen etwa 13 000 Menschen wohnen, sie hat aber keinen Hafen, sondern nur einen Ankerplatz, Mataatu an der Nordküste. Was von Samoa in amerikanischen Besitz gelangt, ist räumlich nicht groß. Die Insel Tutuila umfaßt nur 139 qkm, und ihre Einwohnerzahl wird auf höchstens 4000 geschätzt; noch kleiner ist die Tutuila benachbarte östlichste Insel der Samoagruppe Manua oder Tau mit nur 58 qkm Umfang. Allerdings besitzt Tutuila in Pago-Pago einen vortrefflichen Hafen.

Karte der Samoainseln.

Deutsche Händler und deutsche Pflanzer waren es, die auf Samoa als Pioniere der Kultur auftraten. Es unterliegt nunmehr keinem Zweifel, daß unter dem ungeschmälerten Schutze der deutschen Flagge für die paradiesischen Eilande eine neue glücklichere Aera anbrechen wird. Die Eifersüchteleien der Häuptlinge und die inneren Wirren und Kriege werden sicher aufhören und Handel und Plantagen einen kräftigen Aufschwung erleben.

Was Deutschland für den Verzicht auf Samoa England geboten hat, schädigt die deutschen Interessen in der Südsee keineswegs. Deutschland verzichtet auf alle Ansprüche auf die Tongainseln und auf Savage-Island, die südwestlich und südlich von Samoa liegen, aber dort wiegen englische Interessen vor; ferner tritt Deutschland von den in seinem Besitze befindlichen Salomoninseln Choiseul und Isabella an England ab, aber diese Eilande haben sich für uns als ziemlich wertlos erwiesen. Das Recht, dort Arbeiter zu werben, bleibt übrigens den Deutschen gesichert.

Zum Hundertsten Geburtstag Heinrich Heines. Am 13. Dezember 1799 kam zu Düsseldorf am Rhein ein Dichter zur Welt, dem der deutsche Liederschatz eine Fülle köstlicher Gaben zu danken hat, der Dichter der „Lorelei“ und der „Jungen Leiden“, aus dessen „Buch der Lieder“ Schubert, Schumann, Felix Mendelssohn, Robert Franz und andere große Musiker die Texte zu vielen ihrer bezauberndsten Weisen entnahmen. Dieser Dichter, in dessen Liedern zumeist die Schwermut eines unglücklichen Herzens waltet, war zugleich einer der witzigsten Köpfe des Jahrhunderts, in dessen Schriften sich neben keckster Laune ein satirischer Geist offenbart, der ihm von seinen Bewunderern den Namen des „deutschen Aristophanes“ eintrug.

Bewundert viel und viel gescholten war Heine während seines Lebens und nach seinem Tode. Manche Patrioten nahmen Anstoß an seinem Hohn über deutsche Zustände und an seiner Sympathie für französisches Wesen. Die Männer, welche eine sittliche Bildung des Volkes anstrebten, mißbilligten den leichten frivolen Ton so mancher seiner späteren Gedichte und hoben hervor, daß dem Charakter des Dichters das feste Rückgrat fehle und daß sein schwankender und irrlichterierender Geist nur dazu beitragen könne, die deutschen Gemüter zu verwirren. Sie übersahen dabei oft, daß Uebertreibung im Wesen der Satire liegt und daß Heines bewegliches Talent nicht so kerzengerade einherschreiten konnte wie Charaktere aus einem Gusse. Heine muß aus seiner Zeit und seiner subjektiven Eigenart heraus begriffen werden, will man gerecht sein. In den von ihm hinterlassenen Memoiren über seine Jugendzeit, die vor 15 Jahren zuerst in der „Gartenlaube“ erschienen (herausgegeben von E. Engel, Jahrg. 1884, S. 100 u. f.), hat er uns einen tiefen Einblick in die Verhältnisse gewährt, aus denen er hervorging. Auch die Erinnerungen, welche Heines Bruder Maximilian, Heinrich Laube, H. Rohlfs, Arnold Ruge, Ludwig Kalisch in der „Gartenlaube“ früher erscheinen ließen, waren wichtige Beiträge zum Verständnis der „Zerrissenheit“ seines Wesens, die in den allgemeinen Zuständen des „Vormärz“ begründet war. Die Verehrer des Dichters fragten nicht ängstlich nach seinem politischen oder sonstigen Glaubensbekenntnis. Hat doch selbst der junge Bismarck, der mit Heine durchaus keine Seelenverwandtschaft hatte, ihn in seinen Briefen gern citiert. Und die Kaiserin von Oesterreich, die dem Dolch eines Mörders erlag, hat dem Dichter ein Denkmal gesetzt in ihrem Zaubergarten auf der Insel Korfu, das die homerischen Gewässer umfluten.

Ueber Bleibendes und Vergängliches entscheidet die Zeit; sie ist der strengste Censor. Von manchem Dichter, der bei seinen Zeitgenossen in hohem Ansehen stand, lebt bald nach seinem Tod nur noch ein einziges Werk in Wirklichkeit weiter. Bei Heine ist das Bleibende und Vergängliche schwer zu sondern. Es haftet selbst dem Besten, was er geschaffen, mancher vergängliche Flitter an, der nur einer vorübergehenden Zeitepoche als glänzend und blendend erschien. Doch die Zeit streift diesen Flitter ab oder läßt ihn sich gefallen, wenn die Bedeutung des Werks so groß ist, daß man über störenden äußeren Behang hinwegsehen kann. Das gilt selbst von mancher Prosaschrift Heines, deren Wirkung ursprünglich nur für die Kämpfe des Tags berechnet war. Dies gilt vor allem vom ersten seiner Reisebilder, der „Harzreise“, deren liebenswürdige Frische und Stimmungsfülle immer neue Leser unwiderstehlich ergreift. Als lyrischer Dichter nimmt Heine einen hohen Rang ein. Nach Goethe und Eichendorff hat Deutschland keinen größeren Liederdichter gehabt. Manche Lieder sind von einheitlichem Guß, von bezauberndem Schmelz; in anderen stört die ironische Wendung am Schlusse. Diese Ironie gehört einer Zeit des „Weltschmerzes“ an, in welcher ein gereizter Humor der Verzweiflung an die edelsten Empfindungen seine Fragezeichen heftete. Oft aber äußert sich darin auch nur der Humor, der ein gutes Recht dazu hat, die Ueberschwänglichkeit der Empfindung an die kargen Voraussetzungen unserer irdischen Existenz zu erinnern. Nun hat Heine gerade hierin Schule gemacht; das alles war so leicht zu kopieren! Doch die Kopien schadeten dem Original. So tiefgreifend war indes Heines Einfluß, daß auch begabte Dichter von einer sonst selbständigen Eigenart sich demselben nicht zu entziehen vermochten. Gar mancher von ihnen, wie Emanuel Geibel, hat dies dankbar stets anerkannt. So sind auch Heines größere satirische Dichtungen, sein „Deutschland, ein Wintermärchen“ und sein „Atta Troll“ nicht der Vergessenheit anheim zu geben. Sie tragen so viele geniale Züge, daß sie einen bleibenden Wert besitzen. Ihre Schärfe ist freilich nur aus der Zeit heraus zu erklären, in der sie entstanden; das Deutschland des Heineschen Wintermärchens ist glücklicherweise das heutige nicht mehr; vieles, was der Dichter verspottete, hat der Sturm der Zeit fortgeweht; zu den Mächten aber, die den Sturm entfesselten, gehörten Heines Witz und Satire. Tief Ergreifendes enthalten Heines letzte Gedichte, die im „Romanzero“ und später erschienen. Er schuf sie als Schwerkranker in seiner Matratzengruft. Es ist wahr: hier und dort weht die Stickluft der Krankenstube, und es fehlt auch nicht an den Cynismen, mit denen die menschliche Bedürftigkeit ihr Elend fortzuspotten sucht. Doch welch ein genialer, unter Thränen lächelnder Humor beseelt viele dieser Gedichte! Eins derselben, welches die Passionsblume besingt, gehört zu dem Großartigsten, was Heine geschaffen hat, und erfüllt den Leser mit tiefem Mitleid für das schließliche Schicksal des Dichters, der in der trüben Zeit der Metternichschen Patriotenverfolgung den Satz schrieb: „Das deutsche Wort ist unser heiligstes Gut, ein Grenzstein Deutschlands, den kein schlauer Nachbar verrücken kann, ein Freiheitswecker, dem kein fremder Gewaltiger die Zunge lähmen kann, die Oriflamme in dem Kampf fürs Vaterland, ein Vaterland selbst demjenigen, dem Thorheit und Arglist ein Vaterland verweigern.“

Bei der Kräutlerin. (Zu dem Bilde S. 833.) In dem buntbewegten Straßenleben Wiens bilden die „Kräutlerinnen“, die an ihrem „Standl“ Gemüse und Obst verkaufen, ein besonders charakteristisches Element. In aller Herrgottsfrühe, wenn es kaum dämmert, sind sie schon geschäftig. Sie kaufen von den Landleuten, die mit ihren schwerbeladenen Wagen bereits nach Mitternacht am Platze sind, ihre Waren ein, die dann gar kunstvoll auf dem Standl oder in Körben und Butten zu einladender Besichtigung aufgebaut und ausgebreitet werden. Kaum ist der Bau vollendet, so trippelt auch schon die erste [836] Küchenvestalin herbei, um ihn wieder abtragen zu helfen. Eine echte Kräutlerin ist für die meisten der Mädchen, die an ihren Stand regelmäßig zum Einkauf kommen und mit ihr feilschen und plaudern, eine einflußreiche Beraterin in allen Angelegenheiten. Merkwürdige Träume gelangen noch „wacherlwarm“ vor den Richterstuhl der Kräutlerin. Ist sie selbst noch jung, dann giebt es ein Zischeln und Lachen; dann wird manche lustige Intrigue ausgeheckt und mancher Aufsitzer beraten. Die Kräutlerin muß für den „schröcklichen“ Traum der Tini, in dem die ausgefallenen Zähne eine große Rolle spielen, eine glückliche Deutung finden, sie muß aber auch den Traum der praktischeren Madam’ Korntheuer in spielreife Lottonummern umsetzen; sie muß der Mali einen guten Platz bei einem kinderlosen Ehepaar verschaffen und muß, wenn Pfingsten, das liebliche Fest, kommt, die Kinder ihrer Kundschaften zur Firmung führen. Sie ist aber auch die Ortspolizei und das Auskunftsbureau der Straßenzüge, an deren Kreuzung sie ihr „Standl“ hat. Wenn ein Unglücklicher, von Hunger und Krankheit geplagt, zusammenstürzt, so ist sie die erste Samariterin, die hilfespendend herzueilt. B. Ch.     

Nikolaustag in den Niederlanden. (Zu dem untenstehenden Bilde.) Er ist ein würdiger Herr, der heilige Nikolaus, wenn er, mit Mitra und dem brokatbesetzten Mantel angethan und den Bischofsstab in Händen, in den Niederlanden von Haus zu Haus zieht und sich Bericht erstatten läßt, wie sich die Kinder betragen haben. Ganz ungerechtfertigter Weise legt ihm der „Struwwelpeter“ ein großes Tintenfaß zu, in das er die Kinder stecken soll. Der Volksglaube weiß davon nichts.

Nikolaustag in den Niederlanden.
Nach einer Originalzeichnung von J. Gehrts.

Noch ist es nicht völlig Abend, da lauschen die Kleinen schon bei jedem Geräusch, bei jedem lauten Schritt, ob wohl der Nikolaus naht. Kein Spiel kommt zustande, so gern sie sich die Zeit kürzen möchten. Endlich klopft es an die Thür. Es ist der Gefürchtete. Alles horcht ängstlich auf. Seine ernsten Worte schüchtern ein, und ein lebhafter Schreck prägt sich auf den frischen Gesichtern aus. So schlimm indessen, wie ihn die Mutter macht, um die losen Buben zur Folgsamkeit anzuhalten, ist er doch nicht. Er verspricht ihnen sogar etwas, wenn sie heute abend noch recht gut folgen!

Jetzt ist er glücklich wieder hinaus. Die Kinder atmen auf und haben keine Ruhe, bis die Schuhbürste nebst der Wichsschachte! herbeigeholt ist. Nun geht es an ein Putzen der Schuhe, bis die kleinen Hände pechschwarz sind und auch die Gesichter bedenkliche Spuren der eifrigen Thätigkeit ausweisen – denn Nikolaus giebt ja bekanntermaßen etwas auf blankes Schuhwerk. Endlich sind alle fertig. Darauf zieht man nach der Eßstube, auf deren großem Tische bald fünf Paar glänzend schwarzer Schuhe stehen. Ein Schuh wird mit Hafer, ein anderer mit Heu gefüllt, und in einen dritten kommt ein Stück Mohrrübe, alles für den Esel des Nikolaus. Dann wird die Stube sorgfältig verschlossen, und der Vater muß feierlich geloben, ganz gewiß keine Menschenseele hineinzulassen.

Aber der Nikolaus ist eben kein gewöhnlicher Mensch. Trotzdem auch das Schlüsselloch verstopft ist, findet er einen Weg nach dem Heiligtume. Und sogar der Esel muß Eingang gefunden haben; denn wer hätte sonst alle sieben Stühle umwerfen und die halbe Tischplatte ausheben sollen?

Voll Ungeduld warten die Kinder am Morgen, bis auch der Vater am Kaffeetisch erscheint; noch ehe er den Morgenimbiß zu sich genommen hat, muß er in Gegenwart des gesamten Haushaltes das Zimmer öffnen. Die Kinderschar stürmt hinein und fällt beinahe über die vielen Stuhlbeine, die den Weg versperren. Aber doch gelangt jedes glücklich zum Tische! Und – o Wunder! – trotz der verschlossenen Thüren sind die Schuhe mit Zuckerwerk gefüllt! Hafer, Heu und Mohrrübe sind verschwunden, der Esel muß sehr hungrig gewesen sein. Allerdings liegt auch eine Rute auf dem Tuch. Aber deren Lage ist so vieldeutig, daß keins der kleinen Blondköpfchen auf sie Anspruch erhebt, sondern jedes behauptet, bei seinen Schuhen habe sie nicht gelegen. Nächstes Jahr muß Nikolaus mit seinen Winken deutlicher sein. A. T.     

Der Cotta’sche Musenalmanach für das Jahr 1900. Wieder ist ein Band des schon in seinem Aeußeren so anmutenden Büchleins eingetroffen, dessen frühere Jahrgänge unter dem deutschen Christbaum einen bevorzugten Platz gefunden haben und dem das Verdienst gebührt, die Lyrik wieder in den Salons und Boudoirs zu Ansehen gebracht zu haben. Auch der neue Jahrgang weist neben den Poesien sechs höchst ansprechende Kunstbeilagen auf: das schöne italienische Landschaftsbild „Vor Amalfi“ von R. Püttner (vergl. die Abbildung Seite 832), den interessanten „Studienkopf“ von Fritz Reiß, das stimmungsvolle „Waldeinsamkeit“ von Alfred Enke, das rührende Genrebild „Heimatlos“ von R. E. Kepler, das lebendig gruppierte Tierbild „Gemsen“ von J. v. Pausinger und die „Heilige Nacht“ von A. Zick, das uns himmlische Verklärung und andächtige Hirten zeigt und das sich nach der Farbenglorie der italienischen Meister zu sehnen scheint. Was die Dichter betrifft, so haben sich die Getreuen der früheren Jahrgänge, die Veteranen sowohl wie auch die strebsamen Jünger, wieder eingestellt, und daneben taucht auch manch neuer Name auf. Von den Erzählungen in Prosa ist „Mater dolorosa“ ein stimmungsvolles Lebensbild mit tragischem Abschluß. H. Keller-Jordan schildert ein wahrhaft ergreifendes Mutterschicksal. Desto heiterer ist die zweite Erzählung „Das stumme Klavier“ von Ernst Muellenbach. Die Liebe des Professors zu seiner Hörerin ist mit vielem Humor geschildert und die Rolle, die das stumme Klavier dabei spielt, sehr ergötzlich. Die Dichtungen in metrischer Form beginnen mit zwei größeren Cyklen. „Hans Habenichts“ von Prinz Emil von Schönaich-Carolath behandelt die Sage von einem tapferen Ritter, dem ein Bürgermädchen untreu wird und der gegen die Geldsäcke in den Städten tapfer sein Schwert zückt; es ist in einer volkstümlich derben Tonart gedichtet und reich an Bildern von markiger Anschaulichkeit. Der „Gast der Einsamkeit“ von Max Haushofer hat zum Gegenstand eine Alpenwanderung, welche uns schöne Bilder vorführt. Die Führerin ist eine lebensvolle Gestalt, keine nüchterne allegorische Figur. In drei Balladen besingt Albert Möser die Lady Cecil Richmond, die bis ins höchste Alter um ihren Tänzer in Brüssel, den Herzog von Braunschweig, trauert, der bald nach jenem Tanz bei Quatrebras fiel. Heinrich Vierordt pflegt wieder mit Glück die moderne Ballade: „Ein Schwabenritt“ ist eine Episode aus dem Kriege von 1870, „Der treue Gumbiller“ knüpft an den Selbstmord des Königs Ludwig II von Bayern an. „Die beiden Selbstmörder“ von Ernst Eckstein ist ein ernstes, desselben „Frühlingsmorgen“ ein heiteres Stimmungsbild. Unter den Balladendichtern sind noch Albert Matthäi, Martin Beerel, Bernhard Hofmann vertreten; unter den Verfassern lyrischer Gedichte Martin Greif, E. Paulus, C. Weitbrecht, Karl Woermann, Isolde Kurz, Wilhelm Hertz, Hans Hofmann, H. Bulthaupt, J. Rodenberg, Ernst Ziel, Rudolf v. Gottschall, Albert Geiger u. a. Hermann Linggs Muse ist diesmal dem Preis des Erfindergeistes und der Naturkräfte zugewendet, die wie die Elektricität das Leben neugestalten. Wilhelm Jordan führt wuchtige Hiebe gegen thörichte moderne Stichwörter, wie das Epigonentum; ein schwunghaftes patriotisches Lied ist der Beitrag „Unsere Schiffe“ von Max Hartung. Die „harmlosen Sonette“ von Julius R. Haarhaus haben sehr scharfe satirische Spitzen. Die Reimsprüche von Ernst Ziel und Julius Grosse enthalten viel Sinniges und Treffendes. †     



Kleiner Briefkasten.

A. Z. in Valparaiso. Jahn und Friesen waren die Mitstifter des im November 1810 geschlossenen „Deutschen Bundes“, der übrigens nur für den Feind geheim, dagegen dem König Friedrich Wilhelm III wohl bekannt war. Sie finden Ausführlicheres darüber in der sehr lesenswerten Schrift „Friedrich Friesen“ von Carl Euler (Verlag von A. Pichlers Witwe und Sohn in Leipzig und Wien), die soeben in beträchtlich erweiterter neuer Auflage erschienen ist.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Erst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[836 a] ----

Die Gartenlaube.
Beilage zu Heft 26, 1899 / ANZEIGEN


J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. in Stuttgart.


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Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.

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Allerlei Winke für jung und alt.

Eine Puppenstube. In der Zeit vor Weihnachten, wenn alle Leute ihre Geheimnisse haben, giebt es auch eines bei meinen jungen Freunden Fritz und Mariechen. Fritz ist zwölf Jahre alt, die Schwester eben vierzehn, und das Geheimnis ist eine selbstausgedachte Puppenstube für die zwei kleinen Schwesterchen. Alles wird selbst gemacht, ich helfe nur ganz wenig. –

Muster zur Verzierung der Möbel.

Den Rohbau hat der Tischler gemacht, zwei Stuben mit breiter Verbindungsthür, die große Wohnstube mit zwei Fenstern, das Schlafzimmer mit einem. Ein Falz für die Fenster ist vorgesehen, statt der Thüre giebt’s eine Portiere. Die Sparbüchse rappelt ganz befriedigend, also holt man sich ein kleines Töpfchen voll hell- oder auch mahagonibrauner Oelfarbe beim Drogisten und streicht damit den Boden zweimal an. In der nächsten Tapetenhandlung hat die Mutter einen kleinen Rest von einer hübschen einfarbigen Tapete, blaugrau, erhalten. – Es giebt auch sehr nette gemusterte Buchbinderpapiere, farbige und goldbedruckte, zu diesem Zweck. Zum Tapezieren schneidet man sich erst die Stücke für die Wände zurecht, – Fenster und Thüren genau zu bemessen! – streicht dann mit Buchbinderkleister die Rückseite des Papiers mit breitem Pinsel an und drückt sie an den Wänden mit einem Tuche fest; eine schmale dunkle Borte oben herum macht sich fein. Bei diesem Geschäft helfen beide Künstler zusammen – allein geht’s schlecht.

Schrankthüre.

Das Glas für die aus einem Stück bestehenden Fenster hat der Glaser dem Falz entsprechend zugeschnitten; sie werden festgekittet oder mit Hilfe eines schmalen Leinwandstreifens eingeleimt. Fritz schneidet aus dünner Lederpappe schmale Streifen zur Umrahmung der Fenster zurecht und sieht sich ein wirkliches Fenster genau an, ehe er die Streifen festleimt, um es recht wahrscheinlich zu machen; auch ein Kreuzstück kann der Scheibe aufgeklebt werden. Ueber dem Fenster werden, ganz wie für die großen Vorhänge, kleine Ringschrauben und Haken angebracht und eine Querstange darin befestigt, die den oben übergeschlagenen Vorhang hält. Eine Vorhangsgalerie aus Pappe verdeckt die Stange. Wie Fritz das alles befestigt, kann ich nicht genau berichten – er hat lang herumprobiert, bis es hielt. Dann kommt Mariechens Kunst ins Spiel – sie bestickt den überfallenden Rand der Gardine mit einem feinen roten Börtchen – ganz dünner Kongreßstoff ist gut dafür – und franst das letzte Ende aus; der untere Rand wird ebenso verziert.

Die Möbel selbst zu machen, ist eine Kunst für sich. Wir haben sie fertig auf dem Jahrmarkt gekauft, von hellem leichtesten Holz, und schmücken sie nur mit lustigen bunten Blumen aus. Unsere obenstehende Abbildung zeigt ein Musterkärtchen solcher Blumen, sie werden entweder wie bei der Thüre des Schränkchens (s. Abb.) regelmäßig angeordnet oder leicht hingestreut, auf Rückenlehnen der Stühle, Kommodeschiebladen, auf die Seitenteile des Wandbretts, von dem wir später sprechen – nur nicht zu viel! Die Möbel erhalten schmale rote Rändchen oder dunkle Punkte mit dem Brennstift, reihenweise hingesetzt. Da Mariechen seit drei Jahren Zeichenstunde hat, macht das Aufzeichnen der kleinen Blumen keine Schwierigkeiten; ich brenne ihr die Konturen, die aber ebensogut mit Feder und brauner Farbe gezeichnet werden können. Fließt die Farbe auf dem Holz, so streicht man dieses erst mit leichter Gummilösung an, zeichnet die Blumen auf, wenn der Anstrich trocken, malt sie mit Wasserfarben bunt aus und übergeht zuletzt alles mit einem Schellackfirnis.

Verzierter Teller.

Den Teppich giebt ein Restchen von dunklem Plüsch. An die Wand kommt ein stilvolles Schüsselbrett, mit einigen Querleisten, wie man es für Puppenküchen hat. Wir verzieren es auch mit roten Rändchen und stellen einige gebrannte Holzteller darauf (s. Abb.) und ein paar Zinnteller, die wir aus gewöhnlichen Holztellerchen herstellen, welche ganz glatt mit dünnem Stanniol, aus einer ehemaligen Bonbonniere, überzogen werden. Kleine Töpfchen und Krüglein sind billig zu kaufen, die hängen und stellen wir zierlich auf. – Mariechen stickt Tisch- und Büffettdecken, die sie mit selbstgehäkelten Spitzchen besetzt, und ich steuere noch einige Bilder an die Wand bei – Schiefertäfelchen von kleinstem Format, bemalt und mit vergoldeten Rahmen.

Vorhang.

Das Schlafzimmer wird ganz licht tapeziert, Betten, Waschtisch, Schrank etc. hellresedagrün angestrichen, und zwar mit Email- oder Oelfarbe, und sehr vorsichtig, damit das Geheimnis sich nicht an den Kleidern verrät; die Vorhänge von gelblichem Rosa mit kleinen Rüschen von Seideband besetzt. Wir können noch für einen alten Taschenspiegel einen Rahmen aus Pappe verfertigen und diesen vergolden, und können Erfindungen machen, so viel wir wollen.

So sieht unsre Puppenstube aus. Ich möchte meinen unbekannten jungen Freunden in der weiten Welt auch so ein „Geheimnis“ wünschen, das für Geber und Empfänger gleichviel Freude in sich schließt. J.     


Allerlei Kurzweil.


 Silbenrätsel.
Die Erste und Zweite vom Himmelszelt
Verbreiten Segen in Flur und Feld;
Auch schenkt in ihnen man guten Wein
In manchem Städtchen dem Zecher ein.

Wer in der Schweiz die Dritte erklimmt,
Fest in die Hand den Alpenstock nimmt;
Als Ort sie auch an den Neckar sich schmiegt,
Als Schloß an herrlichem See sie liegt.

Das Ganze ist in dem fernsten Land
Als fleißige deutsche Stadt bekannt:
Man sieht ihre Waren in jedem Raum,
Wo Kinder umjubeln den Weihnachtsbaum.
 F. Müller-Saalfeld.


Verschiebungsaufgabe.

Nachstehende elf Titel dramatischer Werke sind untereinander zu schreiben und alsdann so lange seitlich zu verschieben, bis zwei in gleichen Abständen voneinander befindliche senkrechte Buchstabenreihen wiederum den Titel einer (deutschen) dramatischen Dichtung namhaft machen.

DIE LAUNE DES VERLIEBTEN, DIE JUNGFRAU VON ORLEANS. MINNA VON BARNHELM, MISS SARA SAMPSON, DER NACHWAECHTER, DIE HERMANNSSCHLACHT, DIE GESCHWISTER, DER SCHATZ DES RHAMPSINIT, GOETZ VON BERLICHINGEN, DER SOHN DER WILDNISS, GYGES UND SEIN RING.


 Wechselrätsel.
Mit D steht es voll Blüten
Am trocknen Wegesrand.
Mit F ist es dem Sänger
Und auch dem Arzt bekannt.
Mit M wird es in England
Zu holdem Spiel verwandt.


 Logogriph.
Herr X von der Oper, ein schrecklicher Prasser,
Der singt es mit B. hat’s mit H gegen Wasser
Und freut sich. wie jeglicher durstige Zecher,
Strömt’s feurig mit N aus dem F in den Becher.


 Initialaufgabe.
Man suche die Gegensätze nachfolgender zwölf Wörter. Bei richtiger
Lösung nennen alsdann die Initialen der gefundenen Gegensätze, in
der hier gegebenen Reihenfolge gelesen, eine überaus nützliche Erfindung
des 19. Jahrhunderts.

1. streitsüchtig, 2. heiter, 3. hinfällig, 4. vorteilhaft,
5. verschwenderisch, 6. säumig, 7. knapp, 8. falsch, 9. heidnisch,
10. öffentlich, 11. rund, 12. schweigsam.
  Oscar Leede.




Die Auflösungen der Rätsel und Aufgaben auf dem Umschlag von Halbheft 25 erscheinen im nächsten Halbheft.

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VERLAG von ERNST KEIL'S NACHFOLGER G. m. b. H. in LEIPZIG.


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Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.