Die Gartenlaube (1898)/Heft 7
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7. Heft. | Preis 10 cents. | 14. April 1898. |
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Die arme Kleine. Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach (Anfang) | 197 |
Im Haselnußstrauch. Gedicht von Franz Bechert | 202 |
Ein Kriegsrat im Jahre 1809. Ein Erinnern und Plaudern von Peter Rosegger. Mit Abbildung | 202 |
Wie das erste Deutsche Parlament entstand. Ein Rückblick von Johannes Proelß. Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten. IV. Das Vorparlament (Anfang) |
204 |
Antons Erben. Roman von W. Heimburg (6. Fortsetzung) | 210 |
Die erste Volksheilstätte für Brustkranke in Bayern. Von Dr. Ferdinand May. Mit Abbildungen |
217 |
Auf dem Kynast. Historische Erzählung von Rudolf von Gottschall (Schluß) | 218 |
Blätter und Blüten: Gesellschaft der Waisenfreunde. S. 226. – Das neue Männerasyl für Obdachlose in Berlin. (Zu dem Bilde S. 227.) S. 226. – Ein merkwürdiges Summen in der Luft. S. 227. – Ständchen aus luftiger Höhe. (Zu dem Bilde S. 221.) S. 227. – Photographische Nachtbilder. (Zu dem Bilde S. 228.) S. 227. – Der Panzerkreuzer „Hansa“. (Mit Abbildung.) S. 228. – Walserthalerinnen. (Zu dem Bilde S. 197.) S. 228. – Die Schmollenden. (Zu dem Bilde S. 225.) S. 228.
Illustrationen: Walserthalerinnen. Von R. Mahn. S. 197. – Ein Kriegsrat im Jahre 1809. Von F. v. Defregger. S. 200 und 201. – Abbildungen zu dem Artikel „Wie das erste Deutsche Parlament entstand“. Der „Römer“ in Frankfurt a. M. Friedrich Hecker. G. v. Struve. S. 204. H. v. Gagcrn. Frankfurt a. M. vor 50 Jahren. Von T. T. Siegmund. S. 205. Das Bundestagspalais in Frankfurt a. M. S. 206. Fr. Jucho. K. v. Stedmann. Robert Mohl. S. 207. Ludwig Pfau. Johannes Scherr. Hermann Kurz. Einfahrt Sylvester Jordans in Frankfurt a. M. S. 208. Einzug der Mitglieder des Vorparlaments in die Frankfurter Paulskirche. Von Fritz Bergen. S. 209. Karl Mittermaier. S. 210. – Im Frühling. Von E. Niczky. S. 213. – Abbildungen zu dem Artikel „Die erste Volksheilstätte für Brustkranke in Bayern“. Die Volksheilstätte Krailling bei Planegg in Bayern. S. 217. Caritas vollendet den Bau der Volksheilstätte. Von Hermann Kaulbach. S. 218. – Ständchen aus luftiger Höhe. Von H. Haase. S. 221. – Die Schmollenden. Von R. Warthmüller. S. 225. – In der Sammelhalle des neuen Männerasyls für Obdachlose in Berlin. Von A. Kiekebusch. S.227. – Nächtliches Straßenbild. S. 228. – Der Kreuzer „Hansa“ nach dem Stapellauf. S. 228.
Reisen in alter Zeit. Wer heute im bequemen Eisenbahnwagen durch die norddeutschen Ebenen fährt, der denkt gewiß nicht daran, mit welchen Strapazen eine solche Reise im vorigen Jahrhundert verbunden war, zu der man so viel Wochen brauchte wie heute Tage. In seinen Erinnerungen und Studien „Aus vergangenen Tagen“ (Berlin, Th. Schönfeldt) plaudert Oskar Meding in anregender Weise nicht bloß über Pariser Eindrücke und Künstlergestalten, sondern er entrollt auch einige kulturgeschichtliche Bilder. So teilt er den Bericht des Barons von Bielfeld in seinen selten gewordenen „freundschaftlichen Briefen“ über eine Reise mit, welche dieser im Jahre 1740 unter den damals denkbar günstigsten Verhältnissen und mit Aufbietüng aller Hilfsmittel, welche Geld und hoher Rang zu bieten vermochten, unternahm, und wenn man diesen Bericht liest, möchte man es kaum für möglich halten, daß eine solche Odyssee inmitten des damals doch schon hoch civilisierten Europa möglich gewesen sei. Vor dem Beginn des ersten schlesischen Feldzugs sendete Friedrich der Große den Grafen von Truchses und den Baron Bielfeld in außerordentlicher Mission nach London, um die englische Regierung zu einer Unterstützung seiner Pläne oder mindestens zu einer wohlwollenden Neutralität zu bestimmen. Anfangs Dezember fand die Abreise von Berlin statt und am 6. Januar 1741 erstattete Baron Bielfeld von London aus seinen Bericht an den Staats- und Kabinettsminister von Podewils über die merkwürdige Reise, die fast einem wirklichen Feldzug ähnlich war. Die Herren hatten Köche, Kammerdiener und Lakaien mit sich, fanden überall vorgelegte Relais und hatten sich verproviantiert, wie man es heutzutage zu einer Reise nach Afrika thun würde. Freilich muß man sich, um die Vorgänge der Fahrt zu begreifen, die engen und unbequemen Wagen jener Zeit vorstellen, die auf riesigen Rädern dahinrollten und auf höchst unpraktischen Federn hin und her schwankten. Schon vor den Thoren von Berlin überfiel die Reisenden ein dichter, Glatteis erzeugender Regen; das Glatteis setzte sich an den Aesten der Bäume in den Wäldern und an den Seiten der Landstraße fest, so daß sie erschienen, als ob sie mit Krystall überzogen wären. Die Schwere des Eises machte, daß starke Aeste prasselnd und krachend herabfielen; der Wagen hätte von ihnen leicht zertrümmert werden können. Nach einer unendlich mühevollen Fahrt wurde Gardelegen erreicht, wo man zwei Tage verweilte, um die Wagen ausbessern und um zugleich über den Bedientensitz eine mit Fries gefütterte Decke von Wachsleinwand anbringen zu lassen, da die armen Leute mit einer Eiskruste überzogen und halb erfroren gewesen waren. Dann fuhr man weiter und erreichte ein Dorf Namens Steimke, welches, fünf Meilen von Hannover, an der Oker liegt. Dieser Fluß war gänzlich ausgetreten; soweit das Auge reichte, war alles überschwemmt und mit Eis bedeckt. Die Pferde traten durch das Eis und verwundeten sich die Füße. Das Wasser stieg so hoch, daß es in die Wagen hineinströmte. Mit großer Mühe erreichten die Wagen eine trockene Anhöhe, und hier standen die Reisenden hilflos, von einer eisigen Sündflut umgeben. Graf Truchses ließ zwei Pferde abspannen, er setzte sich auf das eine, mit seinem Geldkasten vor sich, Baron Bielfeld auf das andere, mit dem Portefeuille, welches die diplomatischen Papiere und Aktenstücke enthielt; so kamen beide Herren bald reitend, bald schwimmend bis zu dem Dorfe. Durch große Geldanerbietungen wurden die Bauern bewogen, zahlreiche Vorspannpferde auf die Anhöhe zu bringen, und mit entsetzlicher Mühe wurden die Reisewagen mit den Sekretären und Dienern nach dem Dorfe gebracht. Dort hatten sich die beiden Diplomaten beim Pfarrer einquartiert, der noch nie so gut gelebt hatte wie jetzt, wo er der Gast seiner Gäste war; denn es wurden in der Küche vortreffliche Diners bereitet und der Reiseweinkeller war ausgezeichnet. Am dritten Tage kam von Hannover, wohin die Kunde der unfreiwilligen Gefangenschaft gedrungen, der Drost von Bothmer mit hundert Bauern, um das Wasser in die Gräben zu leiten und die zerstörten Brücken wieder herzustellen. So gelangten sie nach Hannover, aber sie konnten dann nicht einmal Minden erreichen – sie blieben mitten in der Nacht eine Meile vor Minden im Kot stecken. Das Wetter war außerordentlich kalt geworden; die Wagen froren in dem vorher aufgeweichten Erdreich fest – sowohl die Herren wie die Diener waren dem Erfrieren nahe. Postillone ritten voraus, um Vorspannpferde zu besorgen. So wurde der Wagenzug wieder mobil gemacht.
Man kam dann nach Herford, doch mußten an jeden Wagen zwölf Postpferde gespannt werden und zwölf Bauern gingen neben den Wagen her, um sie zu stützen und vor dem Umstürzen zu bewahren. In Herford gönnte man sich einige Ruhe am Hofe der Aebtissin – die Wagen mußten repariert werden. Von Herford ging es nach Bielefeld; die Diplomaten kamen dort glücklich an, doch die zweite Kutsche, in welcher ein Sekretär saß, wurde umgeworfen und stürzte im Finstern in einen tiefen Graben. Ein Koffer des Herrn von Bielfeld, in welchem fünf reiche Kleider verpackt waren, für die Feste am englischen Hofe bestimmt, versank im Morast und der eindringende Schmutz verdarb die Galakleider so vollständig, daß sie nicht mehr zu reinigen waren.
Später wurde, wegen der Ueberschwemmung des Rheins, die Reise zu Wasser in großen Rheinkähnen und Jachten fortgesetzt, bis die Reisenden glücklich den Haag und die See erreicht hatten. Die bisher berichteten Reiseabenteuer genügen wohl, um dem heutigen behaglichen Eisenbahnpassagier ein abschreckendes Bild der trostlosen Verkehrsverhältnisse des vorigen Jahrhunderts zu geben und es nicht als eine spöttische Renommage erscheinen zu lassen, wenn man ausruft, daß wir auf diesem Gebiete es jetzt „so herrlich weit gebracht haben“. †
Mas ist die deutsche Handelsflotte wert? Zur Zeit sind nach M. Lindemann von Hamburger und Bremer Reedereien 213 Dampfer im Verkehr befindlich, deren Anschaffungspreis die Summe von 287 Millionen Mark betragen hat. Ihr Buchwert ist natürlich etwas geringer, immerhin macht er, die Tonne zu 220 Mark gerechnet, noch 177 Millionen Mark aus. Dazu kommen noch 57 Millionen Mark für augenblicklich im Bau begriffene Dampfer von zusammen 146200 Tonnen. Beides zusammen ergiebt für die Dampferflotte unserer beiden bedeutendsten Seestädte einen Kaufwert von 344, einen Buchwert von 234 Millionen Mark. Die Dampferflotte unserer übrigen deutschen Seeplätze zusammen wird man mit reichlich einem Drittel dieser Summe, zufolge des statistischen Ausweises, bewerten können, so daß der Buchwert der deutschen Dampferflotte rund 320 Millionen Mark beträgt, während der Kaufwert etwa 140 Millionen Mark mehr, also 460 Millionen Mark ausgemacht haben wird. Hierzu kommen für rund 400000 eiserne Segelschifftonnen, die Tonne zu 130 Mark gerechnet, 52 Millionen Mark, und für rund 175000 hölzerne Segelschifftonnen, die Tonne zu 40 Mark, noch 7 Millionen Mark. Zur Zeit hat also die gesamte deutsche Handelsflotte einen Buchwert von etwa 400 Millionen Mark, gewiß ein beträchtliches Sümmchen. Zu welchen Summen aber würde man erst kommen, wollte man den Wert der Waren berechnen, welche in diesen Schiffen jeden Augenblick auf dem Meere schwimmen! Diese würden den Wert der gesamten Schiffe um ein Vielfaches übersteigen.
Wie lange halten Haarnadeln, Nähnadeln, Schreibfedern etc. Wind und Wetter stand? Von den Versuchen, die von einem Engländer hierüber angestellt worden sind, berichtet die „Eisenzeitung“: Am schnellsten wurden die Haarnadeln vernichtet. Nach 154 Tagen waren sie völlig verrostet, der Wind nahm den Rost auf und blies ihn fort, nach sieben Monaten war keine Spur mehr von ihnen vorhanden. Gewöhnliche weiße Stecknadeln widerstanden achtzehn Monate; bei den messingnen dauerte es nicht einmal so lange, der Grünspan zerfraß sie schon früher. An den Federhaltern waren schon nach 11/4 Jahren die Stahlfedern völlig weggerostet, während die Halter selbst sich nur wenig verändert hatten, was jedenfalls zum Teil mit an der Farbe lag, mit der sie gestrichen waren. Die polierten Stahlnadeln widerstanden ziemlich lange, nämlich 21/2 Jahre. Ein gewöhnlicher schwarzer Bleistift aber war am widerstandsfähigsten. Holz sowohl wie Graphit blieben auch nach längerer Zeit völlig wohlerhalten.
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Halbheft 7. | 1898. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Die arme Kleine.
Im Jänner, am Tage, an dem der Bauernregel nach die
erste Regung des Lebens in den erstarrten Bäumen erwachen
soll, wurde die Kleine geboren. Ihre Eltern hatten
schon drei Söhne, Leopold, Joseph und Franz. Drei Riesen.
Der älteste, der große Junge mit den reichen, braunen Haaren,
den dunklen Augen, den schönen regelmäßigen Zügen,
glich dem Vater. Der zweite, mit dem lichtbraunen Gelock und
den blaugrauen Augen, hatte kein Vorbild in der Familie,
entwickelte sich auf seine eigene Art zu einem kühnen, prächtigen
Menschenexemplar. Der dritte sah der Mutter ähnlich,
hatte ein sanftes Gesicht und war hellblond.
„Wenn wir noch einen kriegen,“ sagte Herr von Kosel, „und wenn es so weiter geht in der Schattierung, kommt er mit weißen Haaren zur Welt.“
Er hätte sich übrigens wenig daraus gemacht, wenn einer mit feuerroter Perücke erschienen wäre. Die Angelegenheiten anderer, auch die seiner Kinder, berührten ihn nicht tief; alle lebhaften Interessen, deren er fähig war, konzentrierten sich auf sein eigenes und auf sein zweites Ich, seine Frau.
Die hatte schon ihren dritten Jungen ohne besonderes Entzücken begrüßt. Sie wünschte sich ein Mädchen, ein Kind wenigstens, von dem sie mehr gehabt hätte als nur das Glück, ihm das Dasein zu schenken und es zu betreuen, bis es laufen konnte. Einmal soweit gebracht, waren die Buben ihr auch schon entwachsen und: „Von da an,“ meinte sie, „ist die freiwillige Rettungsgesellschaft völlig imstande, mich bei ihnen zu ersetzen.“ Ihr Jüngster war eben vier Jahre alt geworden, als das ersehnte Töchterlein erschien, langerwartet und – unerwartet. Ende Februar hätte sie kommen sollen, zu Fabian und Sebastian war sie da. Man hatte noch keine Vorbereitungen zu ihrem Empfang getroffen und mußte die Ueberbleibsel der Säuglingsgarderobe ihrer Brüder für sie verwenden. Die kleinste Haube, das winzigste Hemdchen wurden hervorgesucht, sie nahm sich in ihnen aus wie eine Stecknadel im Futteral eines Fernrohrs.
Ihrer Mutter traten Thränen in die Augen, als man ihr die Neugeborene brachte.
„Du arme Kleine!“ sagte sie.
Das war die Vortaufe des Kindleins: „Die arme Kleine“ hieß es fortan, und der schöne Name Angelika, den es drei Tage später durch den Priester in der Schloßkapelle erhielt, blieb ein Paradename, dessen man sich nur bei feierlichen Gelegenheiten bediente.
An die Lebensfähigkeit der überzarten, unreifen Menschenfrucht glaubte anfangs niemand. Nur Apollonia Budik, die Milchschwester und Jugendgespielin Kosels, die schon die drei Löwen oder Bären, wie die jungen Herrchen abwechselnd genannt wurden, aufgezogen hatte, prophezeite: „Sie wird wachsen und gedeihen.“
Die Besorgnisse um das Kind lenkten sich allmählich auch auf seine Mutter. Sie war nach der Geburt eines jeden ihrer Söhne in verjüngter Schönheit wieder aufgeblüht; seit der Geburt der Kleinen kränkelte sie und konnte sich nicht erholen.
[198] „Es wäre Zeit, daß sie endlich gesund würde,“ sagte ihr Mann, und der Arzt erwiderte, das denke er schon ein Jahr lang. Er hätte gern noch etwas hinzugesetzt, aber der Herr winkte halb ängstlich, halb ärgerlich ab, und so trat ein Schweigen ein, das die beiden zugleich unterbrachen, um einander mit der Hoffnung auf den herannahenden Frühling zu trösten. Aber auch dieser brachte keine Besserung. Der Sommer kam, warm, mild und wonnig, ein schöner Herbst folgte ihm. Täglich wurde die Kranke in den Garten getragen und lag dort stundenlang auf einem Ruhebett im Schatten würziger Nadelbäume. Neben ihr stand der Korbwagen der Kleinen und zu ihren Füßen saß Frau Apollonia und strickte. Auf der Wiese jenseit des Weges in gehöriger Entfernung spielten und balgten sich ihre ehemaligen Zöglinge, von einer handfesten Magd überwacht. Sie hatte dafür zu sorgen, daß die Buben die Grenzen ihres Bereichs nicht überschritten und nicht einbrachen in das der Mutter und der Schwester. Es mißlang aber oft, die Jungen waren zu neugierig, die arme Kleine zu sehen, zu sehnsüchtig, die Mutter zu umarmen, von der man sie immer ängstlicher ferne hielt. Sie fühlten sich zurückgesetzt, bestraft, und gerade in der letzten Zeit hatten sie doch kein Unrecht gethan und waren nicht wie gewöhnlich gegen die Mama, sondern nur gegen Apollonia und die Magd ungehorsam gewesen. Der Papa kümmerte sich um sie weniger denn je. Er ging mit zerstreuter Miene umher, rauchte viel, las ein halbes Dutzend Zeitungen und antwortete jedem der Hausleute und jedem seiner Untergebenen, der von ihm eine halbwegs wichtige Entscheidung verlangte: „Das werden wir bestimmen, wenn die gnädige Frau wieder gesund sein wird.“ Wenigstens zwanzigmal im Tage ging er zu ihr hinüber, setzte sich auf ihr Bett, versicherte, daß sie recht gut aussehe, empfahl sich wieder und vergaß regelmäßig die Thür zu schließen.
Auf den Wunsch des Doktors berief Kosel einen Professor aus Wien, der allerlei Ratschläge gab. Sie wurden befolgt, aber ohne den geringsten Nutzen.
Herr von Kosel ließ sich trotzdem in seiner Zuversicht, daß es endlich doch besser werden müsse, nicht irre machen und fragte ganz naiv, wenn der Arzt schwere Besorgnisse äußerte: „Ich bitte Sie, was soll ihr denn geschehen?“
Eines Morgens fühlte sich die Kranke nach einer schlechten Nacht besonders schwach, verlangte aber doch, in den Garten getragen zu werden. „Denn,“ sagte sie, „ins Zimmer läßt man mir meine lieben, wilden Buben nicht und ich möchte sie doch wenigstens sehen.“
Als sie dann mit Apollonia und mit der Kleinen auf ihrem gewohnten Platz untergebracht war und die drei Jungen von weitem herüberwinkten und grüßten, begann sie flehentlich zu bitten: „Gute Poli, hol’ sie mir herüber, meine Rangen! Ich glaube, daß ich heute nicht geschlafen habe aus Sehnsucht, sie wieder einmal in meinen Armen zu halten und nach Herzenslust zu küssen. Und die Kleine leg’ mir auf den Schoß, ich möchte sie ihnen zeigen.“
Apollonia gab nach, allen empfangenen Verhaltungsmaßregeln zum Trotz. Sie brachte den Buben die Botschaft der Mutter, hielt ihnen aber dabei die geballte Faust entgegen: „Ihr dürft kommen, einen Augenblick. Wer Lärm macht, der kann sich freuen! Vor der Mutter sag’ ich nichts, aber was dann geschieht, darauf wartet.“
Ein toller Jubel brach aus: „Zur Mutter, zur Mutter und zur armen Kleinen!“
„Ruhig!“ wetterte Apollonia, „wer nicht ruhig ist, kehrt gleich wieder um. Ihr geht hinter mir.“
Die Jungen brachten es in der Selbstbeherrschung so weit, ein paar Schritte, nicht gerade hinter Apollonia, aber doch neben ihr zu machen. Plötzlich guckten sie einander an – ein Augenwink und vorwärts, alle drei zugleich, wie der Sturm, und die gute Frau Budik schrie und drohte und lief ihnen nach, ohne die geringste Hoffnung, sie einzuholen.
Joseph war zuerst am Ziele. Fast sprachlos vor Seligkeit umschlang er den Hals seiner Mutter, eifersüchtig drängten sich die jüngeren Brüder heran und der Kranken verging der Atem unter den leidenschaftlichen Liebkosungen ihrer Kinder. Ihre Arme lösten sich, die Kleine geriet in Gefahr, zu Boden zu gleiten. Franz fing sie auf und rief triumphierend: „Ich hab’ sie, ich hab’ sie!“ Die Kleine schlug die Augen auf und sah das dicke, rote Gesicht, das sich über ihr winziges beugte, ruhig und wißbegierig an. „Was bist denn du für ein Ungeheuer?“ schien sie zu fragen. Keuchend kommt Apollonia herbei, nimmt das Kind, legt es in den Korb und ermahnt die Buben, den Rückweg anzutreten. Aber sie schenken ihr kein Gehör, sie umstehen die Mutter, sie küssen ihre Wangen, ihre Hände, und sie lächelt ihnen zu, versucht zu sprechen, vermag es nicht, und jedem der Knaben ist, als habe sie zuerst ihn und dann das Kindchen im Korbe angesehen mit einem inständig flehenden Blick, der es ihm, besonders ihm, seinem Schutze empfahl. Sie riefen wie aus einem Munde: „Ich thu’ ihr nichts!“ Die Mutter lächelte, ein Schauer durchrieselte ihre Glieder.
„Um Gotteswillen, sie stirbt!“ schrie Apollonia auf. Auch die Knaben schauderten vor der plötzlichen Veränderung in den Zügen der Kranken. „Lauf ins Schloß, lauf um den Doktor!“ befahl Apollonia der Magd, die ihr gefolgt war.
Vom Schlosse her kamen Leute, allen voran eilte Kosel. In Verzweiflung warf er sich neben der Entseelten nieder, weinte, schluchzte, beschwor sie um ein Lebenszeichen, um ein Wort. Vergeblich. Ihre letzte, stumme Bitte war zu ihren Kindern gesprochen worden, ihr letzter Blick hatte auf ihren Kindern geruht.
Die grausamste Antwort auf seine ständige Frage: „Was soll ihr denn geschehen?“ hatte Felix Kosel jetzt erhalten. Er empfand den Tod seiner Frau als das größte Unglück, das ihn treffen konnte, und war doch gar nicht darauf eingerichtet, Unglück zu ertragen.
Das Schicksal war ihm bisher immer mild gewesen, er hatte seine Kindheit und seine Jugend zwischen einer zärtlichen Mutter, zwei begeisterungstrunkenen Tanten und seiner Milchschwester verlebt, dieser klugen, braven Apollonia, die ihn im geheimen allerdings manchmal prügelte, aber dennoch mithalf, ihn herzlich zu vergöttern. Der Vater lachte, schimpfte wohl auch über die Weiberwirtschaft, ließ sie aber weiter florieren. Er war ein Mann von rastloser Thätigkeit, dem wenig Zeit übrig blieb für die Familie. Später, wenn sein Bub’ die Kinderschuhe ausgetreten haben würde, sollte alles anders werden, dann gedachte er ihn in die Hand zu nehmen. Felix hatte aber sein zehntes Jahr noch nicht ganz erreicht, als Herr von Kosel bei einer Eisenbahnkatastrophe ums Leben kam. Die Feldwirtschaft seines Gutes Velice wurde einstweilen verpachtet, die Familie zog nach der Provinzhauptstadt, wo Felix erst eine Vorbereitungsschule und dann, ein paar Jahre später als gewöhnliche Menschenkinder, das Gymnasium besuchte. Er machte es durch, ohne Glanz und ohne besondere Schmach, wiederholte nur die dritte und die achte Klasse, beging nicht einen dummen Streich, schloß auch keine Freundschaft. Die Mutter, die Tanten unterließen es nie, ihn vor den „Buben in der Schule“ zu warnen wie vor Klapperschlangen in Jacken und Hosen.
Nachdem er das Gymnasium absolviert hatte, trat er sein Freiwilligenjahr an. Eine schwere Zeit im Leben seiner Götzendienerinnen! Zum Regimente konnten sie ihm nicht folgen. Aber einen alten Diener – er hieß Kopetzky und war des Schreibens mächtig – gab Frau von Kosel ihm mit, einen ehrlichen Spion, der täglich über das Befinden des jungen Herrn, über sein Thun und Lassen nach Velice berichten mußte. Dort saßen die Damen nun wieder alle beisammen und warteten auf die Rückkehr des Lieblings.
Er kam heim. „Ganz unverändert!“ triumphierte seine Mutter. „Ganz der Alte, Gott sei Lob und Dank!“ sagte ihre jüngere Schwester, die fromme Renate.
Nur Charlotte, die jüngste, der Feuergeist in der Familie, die Menschenkennerin, behauptete, einen Reflex von militärischem Wesen an ihm wahrzunehmen, und wer weiß? – vielleicht hatte er Erfahrungen gemacht.
Nun, davon hatte Kopetzky nichts geschrieben, und die Worte ihrer Schwester machten keinen Eindruck auf Frau von Kosel. Es gab etwas anderes, das sie peinigte, ihr den Schlaf raubte und den Appetit. Felix schenkte in neuester Zeit seiner Milchschwester eine auffallende Aufmerksamkeit, hatte Rücksichten für sie, die ihr vermöge ihrer Stellung als „Stütze der Hausfrau“ [199] gar nicht zukamen, war in ihrer Gegenwart heiter und aufgeräumt – ja gesprächig. Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, war seine gute Laune dahin. Frau von Kosel machte nun ganz plötzlich die Entdeckung, daß Apollonia zu einem bildschönen Mädchen aufgeblüht war, mit dem unter einem Dache zu leben eine große Gefahr für die Gemütsruhe eines jungen Mannes bedeuten konnte. Sie faßte einen raschen Entschluß. Eines Abends kam Felix von einem dreitägigen Jagdausflug zurück und fand Apollonia nicht mehr im Hause. Sie hatte sich entschlossen, den Bitten einer alten Tante nachzugeben, die schon oft nach ihr verlangt hatte. „Wie du weißt,“ sagte Frau von Kosel.
Er wußte es nicht, er wurde feuerrot und runzelte die Stirn. Das hätte er seiner Jugendgespielin nicht zugetraut, daß sie imstande wäre, ihn zu verlassen ohne ein Abschiedswort. Eine große Bitterkeit gegen sie ergriff ihn, nach und nach fielen ihm aber eine Menge Entschuldigungen ihrer Handlungsweise und ebensoviele Anklagen gegen seine Mutter ein. Er sprach nicht eine aus, er würgte seinen Groll hinunter. Er wurde nur noch stiller und mehr in sich gekehrt, als man in Velice erfuhr, der armen Apollonia sei es bei ihrer Tante so schlecht gegangen, daß sie sich aus Verzweiflung entschlossen habe, den Heiratsantrag eines alten Steuerbeamten, eines Witwers mit fünf Kindern, anzunehmen.
Frau von Kosel erwartete, daß ihr Sohn mit ihr darüber sprechen, ihr vielleicht Vorwürfe machen würde. Er blieb stumm und das beunruhigte sie mehr, als der ärgste Zornesausbruch gethan hätte.
Die kühle, trockene Frau, der niemand imponierte, die sich nie um das Urteil anderer gekümmert und sich ihr eigenes nie hatte beeinflussen lassen, kam dem schönen schweigsamen Sohn gegenüber um alle Sicherheit. Sie hatten ihr ihn doch sehr entfremdet in dem einen Jahre. Er sprach nicht, aber er handelte ihr jetzt oft entgegen und beharrte auf seinen Beschlüssen mit dem Eigensinn des Schwachen.
Stille Jahre verflossen.
Einige Monate brachte Kosel regelmäßig auf Reisen oder in Wien zu, den Rest der Zeit in Velice. Er ließ das Gut durch seine Beamten bewirtschaften, ging auf die Jagd, las Zeitungen und fand sich des Abends am Spieltisch seiner Mutter und seiner Tanten ein. Die Damen würden das Whist erfunden haben, wenn es nicht ein anderer vor ihnen gethan hätte, vermochten aber trotz aller Mühe nicht, Felix in die Feinheiten dieses edlen Spieles einzuweihen.
„Er hat keinen Spielgeist,“ meinten seine Mutter und Renate. Charlotte allein wußte: er hat auch keinen andern. Diese Erkenntnis schädigte ihre Liebe für ihn aber nicht im geringsten.
Jedesmal, bevor er verreiste, ermahnten ihn die Tanten: „Komm’ als Bräutigam zurück!“ Sie wußten, es war der innigste Wunsch seiner Mutter. Er überlegte lange, bevor er ihn erfüllte, und als es endlich geschah und er heimkehrte und ihr die große Nachricht brachte, bebte seine Stimme:
„Bevor der Fasching zu Ende geht, bin ich verheiratet, liebe Mama. Mit Fräulein Friederike Beckmann. Die Tochter des Arztes. Ja, Mama. Du kennst ihn. Im ganzen Land kennt man ihn und achtet ihn.“
Frau von Kosel lehnte sich zurück in ihre Sofaecke, zum erstenmal in ihrem Leben wandelte es sie an, als ob die Sinne ihr vergehen wollten. „Eine Doktorstochter? … Das kann ja nicht sein. Das kann dein Ernst nicht sein.“ Angstvoll starrte sie ihn an. Er hielt ihren Blick nicht aus. Der seine flackerte scheu umher, aber die zuckenden Lippen sprachen mit wohlbewußter Grausamkeit:
„Es ist. Und die kannst du nicht verschwinden lassen.“
Das traf sie ins Innerste. So hatte er ihr nicht verziehn, trug ihr durch all die Jahre nach, daß sie ihm die Gelegenheit zu einer thörichten Liebelei aus dem Wege geräumt? Und hatte geschwiegen die ganze lange Zeit und hatte seinen Groll in sich verschlossen und der Groll hatte die Liebe und das Vertrauen aufgezehrt! Sie empfand das als ein furchtbares Unrecht, das er ihr anthat, und wie kindischen Trotz, daß er sein Herz wieder an eine Unebenbürtige hing, eine Unebenbürtige zur Frau wählte. Aber sie hatte sich daran gewöhnt, ihm nachzugeben, und seinen Eigensinn so lange genährt, bis er sich beinahe zu einer Willenskraft herangebildet hatte. Die starke Frau war ohnmächtig geworden, dem schwachen Sohn gegenüber. Sie beugte ihr Haupt, sie fügte sich, sie sprach: „Bring sie mir.“
Eine unbezwingliche Rührung ergriff sie: „Bring mir aber auch meinen Sohn, den ich verloren habe, wieder.“
Er stand auf, küßte ihr die Hand und sagte in seiner abgebrochenen Weise und eher befangen als bewegt: „Ich dank’ dir … ich werd’ ihr gleich schreiben … ihr gleich die gute Nachricht geben.“
Er ging aber nicht geraden Weges nach seinen Zimmern, sondern über den Bogengang zum Turm an der Ecke des Schlosses, in dem die Tanten sich sehr traulich und mit vielem Geschmack eingerichtet hatten. Den Sibyllenturm nannte ihn Frau von Kosel.
Ein Freudenschrei aus zwei Kehlen empfing Felix, als er in den Salon der Tanten trat. Renate strickte eben Jagdstrümpfe für ihn, Charlotte kopierte seine letzte Photographie wunderhübsch in Oelminiatur.
Der bequemste Fauteuil wurde an den Tisch gerückt für den Herzensliebling, der nach einigen einleitenden: Wie geht’s? Ah schön! nicht ohne Stocken seine große Neuigkeit vorbrachte.
Die Tanten hatten ihm mit unbeschreiblicher Spannung zugehört und nicht gleich gewußt, ob er im Ernst oder im Spaß spräche.
„Eine Doktorstochter?“ rief Renate mit den Worten ihrer Schwester. „Ach geh!“
Er aber versetzte: „Wartet nur, gute Tanten, wartet, ihr werdet schon sehen!“ Und als er ihnen so herzlich, als er’s überhaupt zuwege brachte, seine Braut empfahl, kamen Renaten Thränen der Rührung in die Augen. Charlotte liebte seine Erwählte jetzt schon und versprach, sie gegen die ganze Welt in Schutz zu nehmen.
Als die zukünftige Herrin von Velice drei Tage später dort erschien, in Begleitung ihrer Eltern, am Arme ihres Verlobten, der die Reisenden auf der Eisenbahnstation abgeholt hatte, war der erste Eindruck auf alle Damen der einer grenzenlosen Ueberraschung. Die Doktorstochter, das wurde ihnen klar auf den ersten Blick, bedurfte ihres Schutzes nicht.
Die drei, die ihr mit so verschiedenen Gefühlen entgegengegangen waren, standen vor einer wahrhaft sieghaften Ueberlegenheit. Sogar Frau von Kosel gestand sich, daß von Herablassung, der Braut ihres Felix gegenüber, nicht die Rede sein könne. Sie war schön, gewinnend, wohlerzogen und bewegte sich in ihrer Wohlerzogenheit nicht wie im Staatsgewande, sondern wie im Alltagskleide.
Die Ehe Felix Kosels wurde sehr glücklich. Es dauerte lang’, bis Friederike zur Erkenntnis kam, daß sich hinter der männlichen und adligen Erscheinung ihres Mannes ein zaghaftes und dürftiges Wesen verbarg, und da sie sich keiner Täuschung mehr über ihn hingeben konnte, war ihre starke und treue Zuneigung schon zu tief eingewurzelt, um erschüttert zu werden, nur einen anderen Charakter nahm sie an. Aus einer Liebe voll Bewunderung und Erwartung wurde eine nachsichtige und fürsorgliche und auch eine dankbare Liebe. Er hatte nicht viel zu geben, aber alles, was er hatte, gab er ihr. Für andere blieb allerdings nichts übrig.
Er fühlte kaum eine Lücke in seinem Leben, als seine Mutter nach kurzer Krankheit starb und die Tanten Velice verließen.
Sie waren nach dem Tode ihrer Schwester mit bleichen Gesichtern und rotgeweinten Augen vor ihren Neffen und vor ihre Nichte getreten und Charlotte hatte gesprochen:
„Ihr werdet gewiß viele Kinderchen bekommen und viel Platz für sie brauchen und Gesellschaft genug haben an euch selbst und an ihnen. Wir wollen fort, meine Teuren, wünschen uns schon lang’, die Welt zu sehen, wir sagen euch Lebewohl.“
Herr von Kosel war erstaunt und auch ein wenig betrübt, Frau von Kosel schloß eine der Schwestern nach der andern ans Herz.
„Geht, wenn die Wanderlust euch treibt! Eure Wohnstätte in der Heimat werdet ihr deshalb nicht verlieren. So lang’ ihr die Augen offen habt, seid ihr Herrinnen im Sibyllenturm, und wer ihn betritt, ist euer Gast.“
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[201] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [202] Dabei blieb’s. Die zwei Schwestern erlangten nach und nach in der Kunst zu reisen eine solche Virtuosität, daß sie mehr als einmal für Engländerinnen gehalten wurden.
Jedesmal wenn wieder eine Taufe in Aussicht stand, kamen sie nach Velice zurück und fanden ihr Zuhause immer aufs liebevollste gepflegt und aufs schönste zu ihrem Empfange geschmückt. Eine freudige Ueberraschung war es für sie, nach der Geburt Josephs, Frau Apollonia Budik als oberste Leiterin im Kinderzimmer angestellt zu finden. Ihr Mann war in den letzten Jahren völlig schwachsinnig geworden, und ihre Stieftöchter hatten sie vor die Thür gesetzt. Sie blieb ihnen zeitlebens dankbar dafür; sie hatte nur heimzukehren, nur einige Wochen im Schlosse zuzubringen gebraucht, um das Vertrauen Frau von Kosels zu erringen und von ihr in das verantwortliche Amt eingesetzt zu werden, das sie vortrefflich verwaltete.
Auch bei der Taufe der armen Kleinen waren die zwei Tanten zugegen gewesen und hatten dann für noch längere Zeit als gewöhnlich Abschied genommen. Der Ehrgeiz, auch fremde Weltteile kennenzulernen, war in ihnen erwacht. Eine Pilgerfahrt nach Jerusalem bildete den Schluß ihrer größten Reise. Und dort lagen sie vor dem Heiligen Grabe auf ihren Knien, im heißen Gebete für die Ihren, zur selben Stunde, zu der im Garten von Velice das Leben erlosch, auf das sie alle Segnungen des Himmels herunter flehten.
(Fortsetzung folgt.)
Im Haselnußstrauch ist Hochzeit heut’;
Schon prangt sein dunkles Geäst
Im blütenschimmernden Feierkleid –
Herbei, ihr Gäste, zum Fest!
Vom Sonnenstrahle geweckt
Manch Mücklein flattert freudig herzu
Und findet den Tisch hier gedeckt.
In braungeringeltem Sammetpelz
Manch Käferlein auch, manch Immelein,
Das selig sich träumt in den Mai.
Mit leuchtenden Schwingen vom Walde naht
Ein Falter als letzter Gast;
Hernieder vom Tannenast.
Und sieh, da putzt sich voll froher Lust
Mit schimmernden Löckchen der Strauch,
Und aus dem Gelock es golden stäubt,
Und drunter, gar winzig und rosenzart,
Ein Kelchlein an jedem Zweig:
Die haschen den goldenen Blütenstaub
Und betten ihn lind und weich,
Sich leise zu regen beginnt,
Bis keimendes, knospendes Leben warm
Sich schaukelt im Maienwind,
Bis unter dem samtenen Sommerlaub
Bis raschelnd im Herbste Zweig an Zweig
Voll goldener Nüsse hängt.
Franz Bechert.[1]
- ↑ Vom Verfasser dieses Gedichts, der als Kürschnermeister dem Handwerkerstand angehört, hat die „Gartenlaube“ schon wiederholt poetische Beiträge veröffentlicht, welche, wie das vorstehende, sich durch eine sinnige Naturbetrachtung auszeichnen.
Ein Kriegsrat im Jahre 1809.
(Mit dem Bilde S. 200 und 201.)
Was ist im Menschen natürlicher und mächtiger, die Liebe zur Nation oder die Liebe zur Heimat? – Diese Frage giebt zu denken. Die Nomadenvölker einer früheren Kultur lehren das erstere, die neueren Kulturvölker das letztere. Wenn der heutige Mensch die Heimatsscholle verlassen könnte, um sich seiner Nation örtlich anzuschließen, so wären unsere nationalen Fragen durch geographische Verschiebung der Völkerschaften lösbar.
Eines der gewaltigsten Beispiele von der Liebe zur heimatlichen Scholle und zur Freiheit in den alten Sitten des Landes haben ja die Tiroler geliefert in ihrem großen Befreiungskämpfe gegen die Bayern und Franzosen. Nicht so sehr die politische Seite, als vielmehr die Opferlust für die alte freie Heimat hat diesen merkwürdigen Kampf so menschlich groß gemacht. Von den drei Zündfunken: Gott, Kaiser und Vaterland war sicher letzterer der mächtigste. Selbst der Fremde, der heute nach Tirol kommt, begreift es, wie man für dieses wunderbar herrliche Land sein Leben lassen kann, und wäre es auch nur durch einen touristischen Sturz vom Felsen. Und erst, wenn es das Vater- und Mutterland ist! Das Land des alten Gottesglaubens, der süßen Jugenderinnerungen, der herben Arbeit, der redlichen Besitztümer und der teuren Gräber! –
In entlegener Almhütte haben sie sich versammelt, Anderl, der Sandwirt, der rotbärtige Kapuziner, der Seppel vom Rinn, Peter der Mahrwirt und andere. Bauern, Hirten, Pferdehändler, aber auch Beamte und Lehrer waren herbeigeeilt, um Rats zu pflegen. Die Bayernherrschaft im Lande, behaupteten sie, sei nicht mehr auszuhalten. Gar in Haus und Kirche mische sie sich drein und wolle alten Landesbrauch abbringen und fremde Sachen einführen überall. Man könne nicht einmal mehr beten, schon darum nicht, weil die gefalteten Hände sich immer zur Faust krampften. Aber den „Boarn-Klacheln“ würde man noch den Herrn zeigen; sie hätten nichts zu suchen in Tirol. – Ein Netz von Vertrauensmännern war schon seit langem gespannt gewesen durch das Land, vom Inn bis zur Etsch, von der Trisana bis zur Drau. Die Post- und Landwirtshäuser waren zu diplomatischen Kammern geworden; auf grünen Almen hatten sie unter dem Vorwande des „Scheibenschießens“ ihre Kampfübungen abgehalten, in den Heuscheunen die Waffen verborgen, in den Felshöhlen ihr Pulver versteckt. So gerüstet, konnten sie schon herausfordernd auftreten gegen die „fremden Zodeln“, die als Beamte mit starker Soldatenbesatzung sich niedergelassen hatten, um das von Bonaparte ihnen hingeworfene Alpenland zu regieren. Diese Herren zogen also die Ketten strammer, ließen jeden Versammlungsort, selbst die Gotteshäuser, mit Bütteln bewachen und drohten mit schärferer Besetzung des ganzen Landes durch bayrische und französische Truppen.
„Sollen nur kommen!“ sagte Peter, der Mahrwirt, jetzt in der Almhütte.
Der Sandwirt setzte bei: „Im Namen des heiligen Herzens Mariä, wenn’s Ernst wird, rucken wir aus.“
War ein alter Kohlenbrenner da, der wackelte mit dem Kopf – es sei eine bedenkliche Sach’! „Was werden wir armen Bergleute ausrichten gegen die wilden Boarn, gegen den grauslichen Bonaparte! Unser Herrgott weiß es –“
„Daß du ein feiges Luder bist!“ unterbrach ihn ein klobiger Hirte. „Geh du zu deinem Kohlenhaufen, ist gescheiter. Wo Männer zusammenkommen, hast du nix zu thun.“
„Ah na,“ antwortete der Alte, „fortschaffen laß ich mich nit. Ein Tiroler bin ich wohl doch!“
Jetzt kam ein Bauer aus dem unteren Innthal an – rasch, hastig trat er ein. Er wußte Neuigkeiten. – Bei Kufstein und durch den Paß Strub seien bayrische und französische Truppen eingebrochen, thäten sengen und brennen, daß es ein Graus ist! Kein Haus und kein Mensch sei vor ihnen sicher. Die Tabernakel [203] thäten sie ausrauben in den Kirchen, bei Kitzbühel an der Straße stehe ein Muttergottesbildnis, harauf hätten sie geschossen wie auf eine Scheibe!
„Was sagst? Was sagst?“ harrschte der alte Kohlenbrenner, „auf die Muttergottes?“ – Ein langes Messer riß er aus der Scheide. Blaß war er bis über die Lippen. Fortrasen wollte er – „Boarn derstechen!“
„O du närrischer Wastel!“ rief ihm der Sandwirt zu. „Wenn wir’s so machen wollten, na, da möchten wir freilich nichts ausrichten.“
„Weil’s halt gegen unsere lieb Frauen geht, hat er doch Kurasch, der Kohlenbrenner,“ sagte der Kapuziner und hieb dem Alten wohlgefällig die Hand aufs Knie.
Sprach der Ander!: „Kurasch allein ist halt zu wenig, da heißt’s auch gescheit sein.“
„Das denk’ ich wohl auch,“ sagte der Seppel vom Rinn. „Wir müssen die Höllteufel erst weiter herkommen lassen. In die Bergschluchten herein! Aus den Schachen hinabpfeifen mit den Kugeln! Von den Bergen Steine niederlassen! In den Klausen die Wasserwehren aufbrechen! Da werden wir schon was ausrichten. Unser Tirolerland selber hilft Krieg führen.“
„Und unsere liebe Frau wird uns auch nit verlassen,“ sagte der Rotbart.
„Verhoff’s!“ versetzte Peter, der Mahrwirt. „Aber – will ich sagen – wir dürfen uns auch nit auf sie verlassen. Heißt das, wir müssen selber machen was wir können. Und jeder so viel, als wenn er ganz allein wär.“
Sie hielten die Hände hin, faßten sie, drückten sie derb: „Das wird sich nit fahlen!“
„Ich für mein Teil weiß schon was,“ fährt der Peter fort.
„Pulver in den Jaufenhöhlen, so viel als der Will,“ sagt der Sandwirt.
„Ich brauch keins,“ antwortet der Mahrwirt, „ich schieß’ die Berge los.“
„Wie ist das gemeint, Peter?“
„Das werdet ihr schon sehen.“
So redeten sie und besprachen alles. Ob sie fertig wären, im „Puschterthal“ und im oberen Innthal? „Die Puschterthaler, das sind stade Locherln, die kommen nit vorwärts!“ rügte der Sandwirt.
„Im Zillerthal sind sie bereit.“
„Im Stubaithal auch.“
„Die Etschthaler warten schon hart auf den Tanz!“
Der Sandwirt weist auf einer alten Landkarte die Marschlinien, die Uebergänge, die Versammlungspunkte und bestimmt Stellen, die zum Angriff sich eignen. Jeder wußte irgend einen Vorschlag. „Das thät’s, das kunnt ma probieren!“ sagte der Sandwirt zum einen; „das ist zu dumm!“ zum andern.
„Männer!“ rief plötzlich ein knochiger Holzknecht, „redet’s nit so lang und geht’s glei mit. ’s Pulver dersparen wir fürs Gamselschießen. Den Boarn schlagen wir die Schädel mit dem Kolben ein!“
„Bedank’ mich für den guten Rat!“ spottete ein bärtiger Grobschmied.
„Zum Lachen ischt’s!“ schrie der Sandwirt auf. „Was glaubst denn, Schmied? Handgemenge nur, wenn die gleichen Waffen sein. Die Boarn und Franzosen, die sein dir ein bissel anders gestellt, mein Lieber, als wir! Vor Augen kommen dürfen wir ihnen nit! Von hinterwärts! Immer von hinterwärts, merkt’s euch das! Als ihnen einmal in den Schuß laufen – lieber zehnmal flüchten. Aber nit flüchten zum Nachgeben, nur zum Rasten und dann wieder voran! Mit dem Waffenzeug wären wir so weit bei einander. Fuhrwerk, wenn wir noch mehr hätten! Wer zurück muß, nit in sein Haus, nur ins Hochgebirg’! Da heroben in den Hütten sind Rüben und Erdäpfel. Wer sein Vieh auf die Almen bringen kann, der soll’s gleich thun. Und Weib und Kind wohl auch. Haus und Hof leer stehen lassen, sich nichts draus machen, wer’s nimmer sieht.“
„’s ischt wohl eine harte Zeit!“ seufzt ein Waldbauer und schneuzt sich heftig in sein blaues Sacktuch.
„Zum Dunner!“ sagt ein anderer, „Wenn’s mich trifft, ich rait’s fürs Sterben ab.“
„Dumme Rederei!“ verwies ihn der Sandwirt. „Scharfschützen, wer sagt denn was vom Sterben! Rösser, wenn du noch auftreiben kannst, und Bergkarren. Und beim Pulver, gebt’s mir mit dem Feuer achting, ich sag’ euch’s!“
„Und meine hölzerne Kanon’ wär’ nit zu brauchen?“ fragt der Wagnermeister von Pfunds, der aus Ahornholz eine Kanone verfertigt und mit wuchtigen Eisenreifen beschlagen hatte.
„Alles ischt zu brauchen,“ antwortet der Sandwirt. – „Weiß noch einer was? Nit. Also die Karten habt’s ang’schaut. Ausgeredet ischt’s. So wollen wir jetzt halt noch einen dazu einladen.“
Sie verstanden ihn. Ihre schweren Hüte zogen sie vom Kopf und beteten laut ein Vaterunser. –
Wenige Tage später ist ganz Tirol in hellem Aufruhr gewesen.
Ein beispielloser Kampf, heldenhaft und schlau – betend und jauchzend haben sie die Feinde erschlagen und vertrieben. Und auf dem Berge Isel haben die Tiroler am fünfzehnten August 1809 einen Napoleons-Geburtstag gefeiert, wie der korsische Welteroberer bis zur Zeit wohl keinen erlebt hatte. Dann saß zu Innsbruck in der Kaiserburg einer, der unterschrieb die neuen Verordnungen und Landesgesetze mit schwerfälliger Hand: „Andres Hofer, Komandant von Dirol“.
Wenige Monate später aber, mitten im Winter, da sitzt derselbe Andres Hofer als Flüchtling in einer öden Berghütte der Passaieralpen. Ein hoher Preis ist auf seinen Kopf gesetzt. – Die Bayern und Franzosen überfluten Tirol, sie marschieren plündernd und brandschatzend über den Brenner gegen das paradiesische Thal von Brixen hinab, wo Peter, der Mahrwirt, sein Heimwesen hat.
Dem Peter, der auch als Flüchtling im Gebirge umherstreift, fällt nun jene Sache ein, die er sich einst ausgedacht, aber bisher noch nicht zur Ausführung gebracht. Es hatte ihm zu sehr davor geschaudert. Nun aber, da der Feind das Herz Tirols, und auch das seine getroffen, versammelt er eine Anzahl entschlossener Männer. – Durch die wilden Engschluchten des Eisak, wo heute die Brennerbahn geht, einst aber auf enger Straße Kaufherren, Fürsten und Kardinäle gezogen, wo auch Wolfgang Goethe gewandert gegen sein geliebtes Italien durch jene schattendunklen Schluchten fluteten die feindlichen Scharen. Und dort war es, wo Peter, der Mahrwirt, mit seinen Mannen hoch am steilen Berghang die unerhörte That vollführte. Am Hange, der nach unten durch Buschwerk verdeckt war, zog er mittels aneinander gebundener Baumstämme Wagerecht eine lange Brücke hin und belastete sie mit Erdreich, Geröll und Gestein bis hoch hinan. Und als die Feinde unten heranmarschierten, arglos mit klingendem Spiele, da ließ er auf ein gegebenes Zeichen die Bänder abhauen; die ungeheuere Lawine fuhr zur Tiefe und begrub fünfzehnhundert Soldaten. Der Eisak, so erzählt die bauende Sage, staute sich gegen Sterzing hinauf, und als er den Schuttwall durchbrach, wälzten sich die Leichen hinaus ins Brixnerthal.
Diese Gewaltthat des Mahrwirtes war aber geschehen nach dem Wiener Friedensschluß, der die Bayern zu endgültigen Herren von Tirol gemacht hatte. Peter wurde gefangen und zu Bozen als Rebell gerichtet. Sein Richter, der französische General Baraguay, wollte dem Manne wohl, der seine Heimat so übermenschlich verteidigt hatte, er ließ ihm nahe legen, daß Peter durch eine Angabe, als habe er zur Zeit der That vom Friedensschluß keine Kenntnis gehabt, sein Leben retten könne. Peter antwortete: „Ich habe aber vom Friedensschluß gewußt und mit einer Lüge kaufe ich mein Leben nicht.“ – Dann ist er erschossen worden. Zur selben Zeit, als zu Mantua auch Andreas Hofer sein Leben lassen mußte – aus Treue zum Heimatland.
Diese Geschichten sind groß wie antike Heldensänge. Nimmer kann man an sie denken, ohne daß einem warm wird hinter dem Brustfleck. In meinem Buche „Peter Mayr, der Wirt an der Mahr“, habe ich die herrlichen Männer poetisch zu fassen gesucht; sie sind in ihren geschichtlichen Zeit- und Raumverhältnissen dem Dichter gegenüber kaum weniger spröde, als sie es dem Feinde gewesen. Der Bildner bannt sie leichter in den Raum. Im Anschauen von Meister Defreggers Gemälde „Ein Kriegsrat im Jahre 1809“ ist mir wieder das Herz aufgegangen und also dieses Plaudern geschehen über längst Bekanntes und doch immer neu Erhebendes – über die Helden von Tirol.
[204]
Wie das erste Deutsche Parlament entstand.
Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten.
Nirgends hatte sich der kolossale Umschwung der deutschen Zustände von den ersten Märzerrungenschaften bis zu den letzten Zugeständnissen in Wien, Berlin und Hannover so vollständig und Schritt für Schritt wiedergespiegelt wie in Frankfurt a. M., dem Sitz des Bundestags. Und kein anderes städtisches Gemeinwesen hatte an diesem Umschwung ein solches Lebensinteresse wie die Freie Reichsstadt, die bis zum Ende des alten Reichs deutscher Nation so oft der Schauplatz glänzender Kaiserkrönungen und Reichsversammlungen gewesen war, und der nun von der neuzubegründenden Reichsherrlichkeit glänzende Zukunftsbilder entgegenblinkten. Wohl hatte sie es vor dreiunddreißig Jahren mit Genugthuung begrüßt, als die Gründer des Deutschen Bundes auf dem Wiener Kongreß sie zum Sitz der obersten Bundesbehörde erhoben. Sie hatte dann in dieser Eigenschaft sogar in erhöhtem Maße als früher im großen politischen Leben eine Rolle gespielt. Längst aber empfand die freireichsstädtische Bürgerschaft den als Ehre begrüßten Vorteil als Fluch; die Schmach, die der Bundestag als gefügiges Werkzeug Metternichs auf sich gehäuft, fühlte man mit Schmerz auf dem guten Ruf der Vaterstadt lasten. So wurden denn in Frankfurt die ersten Anzeichen der Bewegung, welche neben dem Bundestage ein Deutsches Parlament erstrebte, mit begeisterungsvollem Jubel begrüßt, und mit noch größerer Spannung als im übrigen Deutschland wurde von hier aus die Entwicklung verfolgt, welche unter der Gunst der Märztage der verheißungsvolle Plan nahm. Der Geist der nationalen Freiheitsbewegung besaß in Dr. Reinganum, dem Jugendfreund Börnes, in Dr. Mappes, der mit Uhland innig befreundet war, in Frankfurt schon lange energische Führer. Unter dem harmlosen Namen „Das Montagskränzchen“ bestand ein Verein, in welchem die Frankfurter Gesinnungsgenossen der Hallgartner Verbündeten sich lebhaft rührten. Als am 5. März die Freunde Welckers und Itzsteins in Heidelberg tagten, um die schleunige Einberufung des Parlaments nach Frankfurt zu betreiben, war die Mainstadt unter den „einundfünfzig“ Männern durch Binding und Jucho vertreten.
Aber auch das Thurn- und Taxis’sche Palais in der Großen Eschenheimer Gasse, das dem Bundestag als Versammlungsort diente, ward jetzt auf einmal Gegenstand eines sympathischen Interesses. Seit Jahren hatte sich der Frankfurter Bürger gewöhnt, es nur mit Scheu und heimlichem Grimm zu betrachten; nun sollte der Bundestag darin eine nie erwartete Wiedergeburt erleben. Der österreichische Präsidialgesandte Graf Münch-Bellinghausen, der nach Metternichs Weisung all die reaktionären Bundesbeschlüsse zur Unterdrückung der Freiheit und Vaterlandsliebe eingeleitet hatte, verschwand beim Ausbruch der Unruhen nach Wien und sein Vertreter Graf Colloredo fand sich dort gleichfalls während der ersten kritischen Zeit gefesselt. Unter dem Präsidium des preußischen Gesandten Graf Dönhoff aber geschah es, daß bereits am 1. März aus dem Bundespalais eine „Proklamation an das deutsche Volk“ erging, in welcher die bisherige Thätigkeit der Versammlung indirekt aufs schärfste verurteilt ward und der Bundestag „als das gesetzliche Organ der nationalen und politischen Einheit Deutschlands“ die Erklärung abgab, daß er nunmehr alles aufbieten wolle, um für die Sicherheit Deutschlands nach außen wie für die Förderung der nationalen Interessen im Innern zu sorgen. „Deutschland,“ hieß es darin, „wird und muß auf die Stufe gehoben werden, die ihm unter den Nationen Europas gebührt, aber nur der Weg der Eintracht, des gesetzlichen Fortschritts und der einheitlichen Entwicklung führt dahin.“
So sehr wirkte der „Sturm, der in die Zeit gefahren“ war, auch hier! Und fast jeden folgenden Tag brachte die bisher nur in Dekreten zur Unterdrückung der „Eintracht“, des „gesetzlichen Fortschritts“ und der „nationalen Entwicklung“ ergiebige Staatsmaschine den Frankfurtern wie der staunenden Welt eine neue Ueberraschung. Am 3. März gab ein Beschluß den Einzelstaaten die Freiheit zurück, die Censur aufzuheben. Am 8. wurde auf Betreiben der neuen liberalen Regierungen in Baden, Württemberg, Hessen und Nassau beschlossen, daß eine Revision der Bundesverfassung „auf wahrhaft zeitgemäßer und nationaler Grundlage“ erforderlich sei; am 9. ward, wie bereits früher erwähnt, schwarz-rot-golden geflaggt, und am 10. erfolgte der Beschluß, sämtliche Bundesregierungen einzuladen, „Männer des allgemeinen Vertrauens, und zwar für jede der siebzehn Stimmen des engeren Rates einen“, bis Ende des Monats nach Frankfurt zu senden, um an der nötigen Verfassungsrevision mitzuwirken. Der anfängliche Widerspruch Oesterreichs und Preußens, die damals noch den Dresdner Fürstenkongreß planten, wurde durch Metternichs Sturz und die Berliner Ereignisse vom 18. und 21. März hinfällig. So entstand das Kollegium der „Siebzehner“, in welches die zum Liberalismus bekehrten Regierungen die bewährtesten Vorkämpfer des Verfassungslebens ihrer Länder entsandten, Preußen den „Göttinger“ Dahlmann, Oesterreich Schmerling, Württemberg Uhland, Hannover Zachariä, Sachsen Todt, Bayern Kirchgeßner, Baden Bassermann, Kurhessen Sylvester Jordan, Holstein Droysen; auch die „Göttinger“ Albrecht und Gervinus, der hessische Staatsrat Jaup und Max v. Gagern befanden sich unter diesen erlesenen „Vertrauensmännern am Bundestag“. Baden ging auch hier mit gutem Beispiel voran; bereits am 14. März erfolgte die Ernennung Bassermanns, und am gleichen Tage geschah das Unerhörte: der Gesandte Badens am Bundestag, Herr v. Blittersdorff, mußte dem bisher gefährlichsten Feind der alten Bundeswirtschaft, Karl Theodor Welcker, weichen! Der jetzt dem Sieg entgegenschreitende Vater der Idee des Deutschen Parlaments übernahm auf Drängen seiner Freunde das Amt, damit er als Mitglied des Bundestags für die am 5. in Heidelberg von seinen Gesinnungsgenossen gefaßten Beschlüsse wirke.
Noch einmal hatte das Schicksal den beiden in Badens Verfassungskämpfen ergrauten Führern, Itzstein und Welcker, die Leitung des großen Reformwerkes anvertraut, als sich acht Tage nach dem Sieg der Pariser Revolution in dem schönen Musensitz [205] am Neckar mit anderen Vaterlandsfreunden dieselben Männer zusammenfanden, mit denen sie im vorigen Herbst zu Heppenheim das Prinzip „Mit der Freiheit und durch sie die Einheit!“ vereinbart hatten. Ueber die Verwirklichung dieses Zieles dachten die dort im „Badischen Hof“ Versammelten auch jetzt noch recht verschieden – die preußischen Abgeordneten des Rheinlandes, welche wie Hansemann im Interesse einer großen starken Handelspolitik ein starkes einiges Deutschland wollten; die liberalen Staatstheoretiker Gervinus und Häusser, die mit Gagern, Mathy und Bassermann in der „Deutschen Zeitung“ den Eintritt Preußens unter die Verfassungsstaaten betrieben, damit es befähigt werde, die Führung in Deutschland zu übernehmen; die staatsmännisch veranlagten Parlamentarier Itzstein, Welcker, Römer, die eine wahrhaft liberale Verfassung für ganz Deutschland im Schutz einer starken Centralgewalt an die Spitze der Wünsche stellten, in der Wertschätzung des monarchischen Prinzips aber doch auseinandergingen; und endlich die radikalen Sturmläufer Struve und Hecker, die sich mit wachsender Ungeduld an den Vorbildern der ersten französischen Revolution berauschten und ihr Freiheitsideal bereits mit dem Idol der sozialen Gleichheit verschmolzen.
Aber so verschieden sie dachten, „Vater“ Itzstein, der nun schon ein Vierteljahrhundert lang die badische Opposition nicht nur geführt, sondern auch zusammengehalten hatte, wußte auch diesmal noch die widerstrebenden Geister zu meistern und für das gemeinsam Gewollte die den Willen aller einende Form zu finden. Mit klugem Vorbedacht wurde von seiten der Einberufer die Frage, wie denn der Einheitsbau zu krönen sei und wer des neuen Reiches Oberhaupt werden solle, beiseite gelassen. Dennoch prallten die schärfsten Gegensätze gerade in dieser Beziehung schon jetzt aufeinander. Der Redakteur Fickler in Konstanz, der radikalste der badischen Abgeordneten und nicht zu diesem Kreise gehörig, hatte in seinen „Seeblättern“ für das republikanische Staatsideal zu agitieren begonnen; ähnliches war auch von seiten des Redakteurs Gustav v. Struve in seinem Mannheimer „Zuschauer“ geschehen. Das veranlaßte Gagern zu einer Warnung: das Liebäugeln mit republikanischen Utopien von deutscher Seite könne der Sache der Einheit und Freiheit nur schaden. „Auch ich würde Republikaner sein,“ schloß er, „wenn das deutsche Volk die republikanische Staatsform beschließen würde; ich kann Republikaner sein, denn ich habe einfach zu leben gelernt, aber ich will keine Pöbelherrschaft.“ Da entgegnete Hecker: „Ich will die Freiheit, die ganze Freiheit für alle, gleichviel in welcher Staatsform sie zu erreichen ist. Aber keine Freiheit nur für die Privilegirten, für die Reichen!“ Daß er dem Beschlusse des Parlaments sich fügen würde, erklärte auch er. Und so unterschrieben denn am 5. März auch Struve und Hecker jene Heidelberger Erklärung, welche für die Freiheit, Einheit, Selbständigkeit und Ehre der deutschen Nation, deren Herstellung und Verteidigung ein Zusammenwirken aller deutschen Volksstämme mit ihren Regierungen empfahl und zum Organ dafür „eine in allen deutschen Landen nach der Volkszahl gewählte Nationalvertretung“ verlangte. Struve und Hecker betrauten gleich den anderen jene Kommission von sieben Mitgliedern mit der Aufgabe, „baldmöglichst eine vollständigere Versammlung von Männern des Vertrauens aller deutschen Stämme herbeizuführen, um in dieser wichtigsten Angelegenheit weiter zu beraten und dem Vaterlande wie den Regierungen ihre Mitwirkung anzubieten.“ Auch sie bevollmächtigten diese Kommission, in welche Binding, Gagern, Itzstein, Römer, Stedmann, Welcker und Willich gewählt wurden, für diese Versammlung Pläne hinsichtlich der Wahl und der Aufgabe des wirklichen vom Volke zu wählenden Parlaments vorzubereiten.
Dieser „Siebener“-Ausschuß trat sofort in Thätigkeit. Am 12. schon konnte Welcker seinen Entwurf einer deutschen Parlamentsverfassung den übrigen Mitgliedern vorlegen, und auf Itzsteins Vorschlag wurden von dem Ausschuß alle früheren und gegenwärtigen Ständemitglieder Deutschlands eingeladen, sich zur Beratung desselben Donnerstag den 30. März in Frankfurt a. M. einzufinden. Als der preußische Landtag auf den 2. April einberufen ward, erging auf Vorschlag des Rheinländers Stedmann an die sämtlichen Stadtverordneten der preußischen Lande die [206] Aufforderung, aus ihrer Mitte gewählte Vertreter zu senden. Einzelne namhafte Kämpen des Freisinns, wie die „Hambacher“ Wirth und Eisenmann, wie Johann Jacoby und Heinrich Simon, altbewährte Bekenner des nationalen Gedankens, wie die Brüder Grimm, sowie die kürzlich bestellten Vertrauensmänner am Bundestag wurden direkt mit Einladungen bedacht. Das „Vorparlament“ war also keine parlamentarisch gewählte und mit parlamentarischen Rechten ausgestattete Versammlung. Aber in ganz Deutschland ward seine Ankündigung mit einem Jubel begrüßt, als würde das ersehnte Parlament bereits in ihm sich verkörpern. Vollends in Frankfurt war die Begeisterung groß, und sie wuchs, als man hörte, was für Männer jetzt die Regierungen als Vertrauensmänner in den Bundestag sandten und die gefeierten Namen Uhland, Dahlmann, Sylvester Jordan von Mund zu Munde gingen.
Aber noch ehe dieses Vorparlament unter den Segenswünschen von Millionen Deutscher, unter dem Jubel der Frankfurter Bevölkerung, unter Freudenschüssen und Glockengeläute in der Paulskirche zusammentrat, um für die deutsche Einheit den Grund zu legen, war es dem Geiste der Zwietracht unentrinnbar verfallen. Und das Verhängnis wollte, daß gerade aus dem Schoße der Männer, welche die Einberufung bewirkt, dieser Zwiespalt hervorging. Es war derselbe, den in Heidelberg die Vermittelungstaktik des greisen Itzstein noch leidlich zu überbrücken gewußt hatte. Der große Wandel der Dinge, welcher inzwischen Gagern zum hessischen, Römer zum württembergischen, Hergenhahn zum nassauischen Minister, Welcker zum Bundestagsgesandten gemacht, Metternich aber und sein ganzes System im Wirbelsturm der Märzerhebung gestürzt hatte, brachte den schon bestehenden Gegensatz in aller Schärfe zum Ausbruch. Jetzt sagte Hecker nicht mehr, auf die Staatsform für die Freiheit komme es ihm nicht an – nun forderte er die Republik unbedingt. Und Heinrich von Gagern, der jetzt selber der Lenker einer deutschen Regierung war, bestand mit ganz anderer Entschiedenheit als vor drei Wochen auf der konstitutionellen Monarchie und auf einem fürstlichen Oberhaupt des zu gründenden Bundesstaats. In Heidelberg hatte noch Römer die Monarchie für „ein notwendiges Uebel“ erklärt; jetzt war er ganz anders von ihrer Notwendigkeit überzeugt, nun er selbst mit an der Spitze einer solchen Regierung stand, während sich anarchische Bestrebungen gegen sie geltend machten. In Heckers Augen war der Uebertritt seiner alten Freunde in die Stellung von „Fürstenräten“ ein Abfall von der Sache des Volkes; in Gagerns Augen war das ungeduldige Anstürmen gegen die kaum gewonnene konstitutionell-monarchische Regierungsform ein Abfall von der gemeinsamen Aufgabe, die man sich in der Heidelberger Erklärung gestellt hatte.
Zudem war die „Oberhauptsfrage“ in aller Oeffentlichkeit aufgeworfen worden und entfesselte überall in Deutschland hitzigen Streit. In dem ungünstigsten Moment für die Monarchie hatte ihn das voreilige Wort des Königs in Berlin, er stelle sich an die Spitze von Deutschland, zum Ausbruch gebracht. „Der unselige Verlauf der Berliner Sturmtage,“ sagt Sybel in seinem Werk „Die Begründung des Deutschen Reichs“, „zuerst der blutige Kampf und dann die schwache Nachgiebigkeit, hatte der republikanischen Partei in Deutschland die Handhabe geboten, den mächtigsten ihrer Gegner in tausend Zeitungsartikeln, Plakaten, Klubreden mit einer Flut von Schimpf und Hohn zu überschütten, den feigen Tyrannen, der sein Volk niederkartätschen läßt, dann, besiegt, elend um Gnade bittet und jetzt die ehrlose Stirn mit der deutschen Kaiserkrone schmücken will – und vor allem in Baden und Sachsen hatten sich dadurch die Volksmassen mit rasendem Haß gegen den König erfüllt.“ An die Spitze dieser Agitation in Baden trat Gustav v. Struve. Ihm war die versöhnliche Bundesreformpolitik, die Welcker eingeschlagen, ein Greuel. Ehe der ehrgeizige, einer livländischen Familie entstammende Demagog sich in Mannheim als Advokat niedergelassen hatte, war er oldenburgischer Gesandtschaftssekretär am Bundestag gewesen. Angeekelt von dem, was er hier erlebte, hatte er der diplomatischen Laufbahn entsagt. Die ganze Bundestagsverfassung muß fallen, die republikanische muß an ihre Stelle! – das war seitdem seine heimliche Ueberzeugung. Jetzt verfolgte er deren Verwirklichung mit der starren Energie eines verbissenen Fanatikers. Schon seit Monaten hatte er sich bemüht, seinen jüngeren Kollegen Friedrich Hecker, der in seiner jugendfrischen Männlichkeit als Sprecher zum Volk eine hinreißende Wirkung ausübte, ganz für seine Pläne, denen Fickler in Konstanz schon diente, zu gewinnen. Bereits im letzten Wahlkampf hatte Struves Einfluß das Verhältnis Heckers zur alten Oppositionspartei bedeutend gelockert; von beiden zusammen waren im Herbst zu Offenburg die „Forderungen des Volks“ in radikaler Fassung proklamiert worden, die in dem Verlangen von „Ausgleichung des Mißverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit“ und „Abschaffung aller Vorrechte“ gipfelten. Doch bisher hatte die Treue gegen die Männer, als deren Anhänger Hecker ins politische Leben getreten war, in dessen Gemüte den Vorrang behauptet. Seit ihn vor sechs Jahren der alte Itzstein erstmals zum Abgeordneten vorgeschlagen, war er immer dessen besonderer Liebling gewesen. Noch am 19. März hatte er auf einer von mehr als 15 000 Männern besuchten Volksversammlung in Offenburg an Itzsteins Seite gegen Ficklers Versuch, im badischen Oberland das Banner der Revolution zu enthüllen, gesprochen und die aufgeregte Menge auf das zu erwartende Parlament vertröstet. Mit Entrüstung wandte er sich dort gegen jene, welche mit Frankreichs Hilfe die „Deutsche Republik“ gründen wollten. „Ein Volk,“ rief er, „das ein fremdes Volk nötig hat zur Erringung seiner Freiheit, ist dieser Freiheit unwürdig. Im Deutschen Parlamente muß Deutschland, einig und eine Nation geworden, auch über die künftige Staatsform sich einigen. In einem Lande von achtunddreißig Staaten ist die Regierungsform schwerer zu ändern als in Frankreich, wo Paris das Schicksal des ganzen Landes entscheidet. Auch dürfen wir uns an jener Revolution kein Muster nehmen, da die Umgestaltung auf so schwankendem Grunde ruht.“ Jetzt aber siegte Struve. Fünf Tage nach dem „schwarz-rot-goldnen Umritt“ des Königs von Preußen erklärte dieser mit seinen Gesinnungsgenossen auf einer gleichfalls massenhaft besuchten Volksversammlung in Freiburg: nur in einer großen Gesamtrepublik könne die Einheit und Freiheit des deutschen Volkes gesichert werden. Und er that es im vollen Einverständnis mit Hecker, den die Volksgunst in Offenburg zum Obmann der neugegründeten Vaterlandsvereine in Baden erhoben hatte, während er im Landtag an der Spitze der Kommission stand, welche dem Gesetzentwurf für die Volksbewaffnung eine befriedigende Form geben sollte.
Aber auch in dem gemäßigt liberalen Bürgertum, das eben sich anschickte, die Errungenschaften aller bisherigen Kämpfe für die Freiheit in einem festgefügten Bau der Einheit zu bergen, ward die Haltung Friedrich Wilhelms IV leidenschaftlich verurteilt. In unzähligen Adressen, die bei den Landtagen einliefen, ward ausgeführt: dieser König, der sich ohne Befragen der Nation an die Spitze von Deutschland stelle, nachdem er mit seinem eigenen Volk in so schweren Konflikt geraten, habe sich für den deutschen [207] Kaiserthron unmöglich gemacht. „Wohl bedarf Deutschland,“ hieß es in einer besonders maßvollen, „einer kräftigen Centralgewalt, welche der Größe, Würde und dem Bedürfnisse der Nation entspricht; aber wir wollen keinen Diktator, keinen sich der Nation aufdrängenden König der Deutschen, kein Parlament in Berlin ohne Zustimmung der Nation.“ Der heilige Zorn über das zwecklose Blutvergießen in den Straßen Berlins, welcher Freiligraths ‚Lied der Amnestierten‘ „Berlin“ durchbebt, wurde von vielen geteilt, die eine „deutsche Republik“ als unausführbare Utopie verwarfen. Auf der ersten großen Volksversammlung der Württemberger, welche am 26. März unter dem Vorsitze Murschels viele Tausende zu Göppingen am Fuße des Hohenstaufen vereint sah, klang der gleiche zornige Ton durch Johannes Scherrs „Gruß der Schwaben an die Männer von Wien und Berlin“ wie durch Ludwig Pfaus „Lied von einem deutschen König“, die beide unter stürmischem Beifall zur Verlesung gelangten – und doch nahm dieselbe Versammlung auf Antrag A. Weissers den Entwurf der „Siebener“-Kommission an, der neben dem Parlament eine monarchische Centralgewalt vorsah. Für diesen Verfassungsentwurf trat auch mit Wärme der Stuttgarter „Beobachter“ ein, bis dahin das gemeinsame Organ der schwäbischen Liberalen. Neben Weisser führte die Redaktion desselben jetzt Hermann Kurz, dessen demokratische Gesinnung von innigster Vaterlandsliebe beseelt war. Der Dichter, dem wir die lebensvollen, echt volkstümlichen Romane „Schillers Heimatsjahre“ und „Der Sonnenwirt“ verdanken, hatte bis kurz vorher in Karlsruhe gelebt in engem Verkehr mit den Führern der badischen Opposition und hatte gleich Römer den Zusammenhang zwischen dieser und der württembergischen Volkspartei erfolgreich vermittelt. Auch jetzt that er dies; aber von der preußischen Führung wollte er nach der Berliner Märzkatastrophe gleich seinen schwäbischen Gesinnungsgenossen nichts mehr wissen.
Jener erste Verfassungsentwurf Welckers, dem auch die badische Kammer ihre Zustimmung gab, schlug ein fürstliches Bundesoberhaupt vor, das von der Bundesvertretung der einzelnen Regierungen auf je drei Jahre gewählt werden sollte. Der Vorschlag war ein Zugeständnis an die einzelnen Dynastien, aber auch ein politischer Fehler, denn er beschwor das Unheil des Wahlkaisertums, an welchem Deutschland in früheren Jahrhunderten so oft und schwer gelitten, aufs neue herauf. Heinrich v. Gagern erkannte dies: er war für ein deutsches Erbkaisertum; für ihn handelte es sich zunächst um ein Provisorium. In diesem Sinne hatte er, kurz nachdem Bassermann in der badischen Kammer den Antrag auf ein Deutsches Parlament gestellt hatte, schon am 28. Februar im hessischen Landtag den Beschluß durchgesetzt, daß für die Tage der Gefahr gleichzeitig mit der Berufung der Nationalrepräsentation die Ernennung eines interimistischen Bundeshauptes erfolgen solle.
Gleich nach der Heidelberger Versammlung hatte der energische Staatsmann seine neue Stellung als Minister benutzt, um direkt bei verschiedenen Höfen eine Verständigung über diese Frage zu erzielen. Sein Bruder Max gehörte der neuen Regierung in Nassau an und gewann den Herzog für den Plan, der nun warm für die Ausführung eintrat. Durch den hessischen General Graf Lehrbach unterstützt, reiste Max v. Gagern mit den entsprechenden Vorschlägen nach Baden, wo diese die beste Aufnahme fanden und v. Porbeck Bevollmächtigter wurde. Der König von Württemberg, jetzt von Paul Pfizer und Römer beraten, folgte am 11. unter der Erklärung, nur Preußen könne die Leitung jetzt übernehmen, doch müsse es zuvor unter die Verfassungsstaaten eintreten. Ein Mitglied der ständischen Opposition von 1833, v. Sternenfels, ward als Vertreter Württembergs der Gesandtschaft beigeordnet. In München, wo König Ludwig I im Begriff stand, zu gunsten seines Sohns Maximilian abzudanken, erlitt die Mission eine Verzögerung, ohne ein Resultat zu erreichen. Dagegen zeigte sich das Ministerium v. d. Pfordten in Sachsen sehr bereitwillig und sandte den süddeutschen Abgeordneten, die schnell nach Berlin weitergereist waren, Karl Biedermann als seinen Vertreter nach. Doch als die Herren am 23. dort anlangten, hatte der König bereits den „schwarz-rot-goldenen Umritt“ vollzogen und erklärt, sein Landtag in Berlin solle den übrigen deutschen Ständekammern Gelegenheit geben, mit ihm das Einheitswerk vorzubereiten. Unter diesen Umständen glaubten die Gesandten von Baden und Sachsen erst neue Weisungen von ihren Höfen nachsuchen zu sollen. Das Verhalten des Königs der Gesandtschaft gegenüber war zurückhaltend, glaubte er doch schon „an der Spitze von Deutschland“ zu stehen. Erst als die Gesandtschaftsberichte von den Höfen seiner „lieben Vettern“ einliefen, als Oesterreich sich „jede einseitige Aenderung der Bundesverfassung“ energisch verbat und in scharfen Worten gegen die Proklamation des Königs vom 21. seinen althistorischen Anspruch auf den „Vorsitz im Deutschen Reich“ wahrte, erkannte er, wie sehr er sich getäuscht hatte. Er bewilligte noch eine „ständische Vertretung“ am Bundestag, wie es auch von Wien aus geschah, ernannte Dahlmann zum preußischen „Vertrauensmann“ in der Verfassungskommission der „Siebzehner“ und ließ apathisch zunächst den Dingen in Frankfurt ihren Lauf.
Tief niederschlagend wirkte dies negative Ergebnis auf Gagern und seine Freunde. Auch sie hielten jetzt die Ausführung ihres Plans für unmöglich. Wie in Württemberg sprach sich im ganzen deutschen Süden ergrimmt der Unwille über die Berliner „Mißverständnisse“ aus. Die „Deutsche Zeitung“ erklärte: „Daß Preußen die oberste Leitung der deutschen Dinge an sich nehme, daß es sich an die Spitze der politischen Bewegung stelle, daß es mit seiner Politik in der deutschen aufgehe und daß sich dafür Deutschland vertrauend an Preußen anschließe, das waren von jeher die Wünsche aller Patrioten auch in diesem Süden. Es sind unsere Wünsche auch noch. Politische Ueberzeugungen und Grundsätze können sich nicht so leicht durch ein ungelegenes Ereignis ändern. Aber die Wünsche der Massen, der Trieb und die Leidenschaft der Vielen spricht anders als unser politischer Verstand. … Es wird daher eine ganz natürliche Folge sein, daß, während man sonst eine Annäherung an das Einheitlich-Monarchische in der Verfassung Deutschlands für das wünschenswerteste hielt, man jetzt eine Annäherung an das Föderalistisch-Republikanische, an die amerikanische Verfassung anstreben wird.“ Dann ließ Gervinus den Vorschlag folgen, Friedrich Wilhelm IV und sein Bruder Wilhelm, der als vermeintliches Haupt der „Militärpartei“ in den „Märztagen“ dem Volkshaß verfallen war, sollten auf die Krone verzichten zu gunsten von des letzteren Sohn Friedrich, der den neuen Staatsideen zugänglich sei. Der spätere Kaiser Friedrich stand damals im 17. Jahre. Gleichzeitig gab das Blatt aber auch dem Württemberger Robert Mohl das Wort, der gleichfalls ein Erbkaisertum wollte, aber im Hinblick auf den schönen Aufschwung des nationalen Gedankens in Wien einen Reichsregenten aus dem österreichischen Kaiserhaus, etwa [208] den Erzherzog Stephan, vorschlug. In Wien selbst nannte man bereits den Erzherzog Johann, der wegen seiner Ehe mit einer Bürgerlichen und eines Toasts, den er bei der Dombauweihe in Köln 1842 auf das „einige Deutschland“ gehalten hatte, viel Sympathien im Volke besaß, als geeignetsten Kandidaten. In Bayern aber tauchte der Vorschlag auf, die Kaiserwürde von fünf zu fünf Jahren unter den Häusern Oesterreich, Preußen und Bayern alternieren zu lassen. So stand es im deutschen Süden, als Heinrich v. Gagern am 24. März im hessischen Landtag das Wort ergriff, um über die Ausführung des Kammerbeschlusses vom 28. Februar zu berichten. „Ich frage,“ rief er, in seiner Hoffnung auf Preußen noch unerschüttert, „ob die Ereignisse der letzten Tage uns bestimmen können, der Krone Preußen die Rolle jetzt nicht mehr zuzugestehen, die eine gesunde Politik ohne persönliche Sympathien bisher ihr zugestanden hat, und diese Frage glaube ich verneinen zu müssen. Man bietet in Preußen die Hände zum Frieden und zur Versöhnung denen, mit denen man eben in heißer Schlacht gekämpft hat. Wenn dies auf dem Schlachtfeld möglich war, meine Herren, haben wir nicht erhöhten Beruf, die Aufregung zu beschwichtigen, Versöhnung zu vermitteln und eingedenk zu sein, daß wir alle zusammenstehen müssen, um den Bau aufzuführen des einigen Deutschen Reiches, auf der Grundlage der Freiheit und der Liebe zum Vaterlande?“ Aber dieser versöhnliche Ton fand keinen Wiederhall mehr im Volke.
Das selige Vertrauen, welches die ersten Märzerrungenschaften, das Entgegenkommen der Regierungen in der Bevölkerung der deutschen Südweststaaten erzeugt hatten, war nicht allein durch die Berliner Ereignisse getrübt worden. Beunruhigende Nachrichten von russischen Rüstungen, von aus Frankreich drohenden Einfällen, die Unfähigkeit der Kriegsminister, die bewilligte Volksbewaffnung schnell und einheitlich durchzuführen, der fortdauernde Notstand auf dem Lande steigerten das Mißbehagen, während die großen Siege der Volksbewegung und die Schwäche der Regierungen überall eine gefährliche Ueberschätzung der eigenen Kraft, eine verhängnisvolle Mißachtung der positiven Machtmittel des Staatslebens großzogen.
Angesichts der also herrschenden Verwirrung beschlossen die „Siebener“, so vorsichtig als möglich vorzugehen. Welcker und Gagern vereinbarten für das Programm des „Vorparlaments“ folgenden Verfassungsentwurf: ein Bundesoberhaupt mit verantwortlichen Ministern, einen Senat der Einzelstaaten, ein Volkshaus mit Abgeordneten von je 70000 Seelen; Kompetenz des Bundes unter Verzicht der Einzelstaaten zu gunsten der Centralgewalt auf folgende Punkte: einheitliches Heerwesen, einheitliche Vertretung gegenüber dem Auslande, ein System in Handels- und Schiffahrtsgesetzen, im Bundeszollwesen, in Münze, Maß, Gewicht, Posten, Wasserstraßen und Eisenbahnen; Einheit der Civil- und Strafgesetzgebung und des Gerichtsverfahrens; ein Bundesgericht; Verbürgung der volkstümlichen Freiheitsrechte. Unter den herrschenden Umständen war es aber selbst in dieser Form ein Wagnis, die Oberhauptsfrage auf die Tagesordnung einer Versammlung zu setzen, die zu bindenden Beschlüssen weder das Recht noch die Macht hatte und von den „Siebenern“ doch nur einberufen worden war, um „im Zusammenwirken mit den Regierungen“ die baldige Einberufung eines Deutschen Parlaments herbeizuführen und die beste Form dafür zu beraten. Ihr Programm bot den radikalen Gegnern immer noch die Anknüpfung, um von der Tribüne des Vorparlaments herab die deutsche Republik zu proklamieren. Aber sie wollten offenbar es darauf ankommen lassen, daß schon jetzt und vor diesem Forum der ganzen Nation der unausbleibliche Kampf zur Entscheidung gelange.
So ging der März, der Sturmmond der freiheitlichen Errungenschaften, unter neuen Stürmen zu Ende, welche die vermeintlich schon miterrungene Einheit schwer gefährdeten. Und der letzte des Monats, der Tag der Eröffnung des Vorparlaments, war in dieser Beziehung der stürmischste. – Wohl hatten Senat und Bürgerschaft Frankfurts nichts versäumt, um diesen 31. März zu einem Jubel- und Freudenfest der deutschen Einheit zu machen. Die ganze Stadt von der Spitze des Domes herab bis hinaus vor die Thore strahlte schon an den Tagen des Empfangs in schwarz-rot-goldenem Festgewand und von Haus zu Haus schwang sich in frischen Tannengewinden das Grün der Hoffnung. In den Sprüchen und allegorischen Bildern, die diesen Ausschmuck belebten, ward die Zusammenkunft all der gefeierten Vaterlandsfreunde als das Auferstehungsfest des freien und einigen Deutschlands begrüßt. Die Mahnung, das große Ziel der nationalen Einigung über die Parteimeinungen zu stellen, erklang aus gar mancher Ansprache
[209][210] ehrwürdiger Volksvertreter, besonders wirksam von den Lippen Sylvester Jordans, der von einer Deputation feierlich eingeholt wurde, als er von Marburg kommend sich im Wagen dem Weichbild der Stadt näherte. Auch Dr. Eisenmann, der beinahe vierzehn Jahre lang als Märtyrer der Hambacher Bewegung das Elend der Festungshaft hatte ertragen müssen, sprach in versöhnlichem Sinn, als er bei seiner Ankunft von Würzburg her an der Haltestelle des Dampfschiffes festlich bewillkommnet wurde. Eintracht und Freude kündete am Morgen des 31. der Glocken feierlich Geläut, als die Abgeordneten, mehr als 500 an der Zahl, früh ½9 Uhr durch die sich stauende, jubelnde Volksmenge zum „Römer“ schritten, um in dessen reich geschmücktem Kaisersaal die Wahl des Präsidiums zu vollziehen. Und Friedensstimmung waltete auch über diesem Akte, als man einem der friedlichsten Veteranen des Verfassungskampfes, dem Präsidenten des badischen Landtags Professor Mittermaier von Heidelberg, die Leitung übertrug, während Itzstein, Dahlmann, Robert Blum und Sylvester Jordan Vicepräsidenten wurden. Im hellsten Frühlingsglanz wölbte sich der blaue Himmel über der Stadt, als um halb 10 die Glocken aufs neue zu läuten begannen und unter ihrem Klang und dem Donnergruß der Kanonen die Abgeordneten des deutschen Volks vom „Römer“ durch die Spaliere der Frankfurter Bürgergarde und der Turner nach der Paulskirche zogen.
Aber kaum hatte in der hohen Rotunde derselben die erste Sitzung begonnen, so wurde der Brand entfesselt, der bisher nur geschlummert hatte und für welchen der Zündstoff auch auf den Tribünen gehäuft war, wo in dichten Reihen das Volk saß, um hinfort den leidenschaftlich bewegten Chorus der parlamentarischen Vorgänge zu bilden. Schon am Abend vorher waren Struve und Hecker Gegenstand stürmischer Ovationen geworden, nachdem sie in dem großen Saale des „Weidenbuschs“ einen Teil ihrer Zuhörerschaft für ihr Ideal in helle Begeisterung versetzt hatten. Jetzt saßen ihre Anhänger in langen Reihen auf den Emporen der Kirche – Studenten aus Heidelberg, Gießen, Marburg und Tübingen, die von den Lorbeeren ihrer Brüder in Wien träumten, feiernde Arbeiter, die der Zauber kommunistischer Zukunftsbilder geblendet, wehrhafte Männer aus der Hanauer „Grafschaft“, die soeben erst mit der Waffe in der Hand den Starrsinn des Kurfürsten von Hessen gebeugt hatten. „Hie Reform – hie Revolution!“ zu diesem Gegensatz hatte sich die so maßvoll begonnene Bewegung zugespitzt und die Verhandlungen des Vorparlaments waren bestimmt, ihn zum Ausbruch zu bringen.
(Schluß folgt.)
Antons Erben.
(6. Fortsetzung.)
Das Wäldchen, in welchem Edith auf den heimkehrenden Schloßherrn wartet, ist eigentlich nichts weiter als eine große sogenannte Remise, ein Freihafen für Hasen und Kaninchen, die Schutz suchen gegen Raubzeug und Wilddiebe, und in die zuweilen auch einmal ein Reh hinüberwechselt. Eine viertel Wegstunde lang zieht sich der Waldstreifen aber doch wohl hin; im Frühjahr giebt’s dort Maiblumen und Nachtigallen, und im Sommer kühlen Schatten und viel Mücken, aber reizend ist es eigentlich immer dort.
Auch heute. Am Wege, der mitten hindurch führt, nicht schnurgerade, sondern anmutig sich schlängelnd, damit er dem Auge verbirgt, daß er so kurz ist, wehen Haselnußkätzchen im leichten Winde, und aus dem dürren Buchenlaube am Boden sprießen Leberblümchen und Anemonen in üppiger Fülle. Hohe, stattliche Bäume stehen da, unter manch einem auch eine Bank, und dort, wo der kleine Hügel sich erhebt, da ist sogar eine Art Friedhof, dort haben die Wartaus ihre vierbeinigen Freunde begraben, stolze Pferde, treue Hunde, die sie liebten. Edith erinnert sich, wie sie einst so bitterlich geweint hat an dieser Stelle um den schwarzbraunen Teckel, der ihr gehörte und von einem Erntewagen überfahren wurde.
Oben auf der kleinen Böschung steht eine Eiche, und von dieser aus kann man den Feldweg übersehen, der zwischen Settwitz und Wartau dicht hier vorüberführt. Hier oben wartet sie, hier muß er sie sehen, wenn er nicht blind ist. Sie hat den Filzhut von der heißen Stirn gerissen und das Jackett geöffnet, ihre Lippen sind trocken vor Aufregung. Ein paarmal zuckt sie zusammen, als ein Gefährt sichtbar wird ganz weit dahinten an dem Hügel, aber immer ist’s nur ein Ackergespann; entweder kommt es langsam und klappernd näher und fährt vorüber, so langsam, daß die Arbeitsweiber darauf dem Fräulein, das ihrer nicht achthat, mit plumper Neugier ins Gesicht starren, oder es biegt vorher ab in einen andern Weg hinein. Ein paarmal kommen und gehen auch Arbeiter vorüber, müde vom harten Tagewerk. – Edith steht noch immer da und wartet.
Um ihren Mund legt sich allmählich ein Zug bitterer Enttäuschung. Er muß einen anderen Weg genommen haben oder Tante hat falsch gehört. Sie fröstelt, sie ist müde; sie nimmt den Hut von der Bank auf und will gehen. Die Leberblumen und Anemonen sind welk geworden in ihrer heißen Hand, und sie läßt sie achtlos fallen. Der Feldweg ist jetzt ganz einsam; die weite mit Wintersaat bestandene Fläche vor ihr leuchtet wahrhaft smaragdgrün in dem rötlichen Gold der untergehenden Sonne, selbst die braune Ackerkrume daneben hat einen rötlichen Schimmer. Der Himmel über ihr zeigt ein grünlich blasses Blau, das immer kälter wird, je tiefer die Sonne sinkt, und davor hebt sich die erste Sichel des Neumonds haarscharf und silbern ab.
Und jetzt taucht eine Gestalt auf und kommt mit langsamen regelmäßigen Schritten näher, sie bewegt beim Gehen nur den einen Arm, und Edith setzt sich nieder auf die Bank, denn ihr ist plötzlich, als wollten die Füße sie nicht mehr tragen. Und so bleibt sie sitzen und starrt ihm entgegen.
Er trägt den Hut in der Hand und hat den Blick gesenkt in tiefem Sinnen. Unter ihren Augen kommt er immer näher, jetzt ist er beinahe in einer Linie mit ihr, sie drüben auf der kleinen Anhöhe, er drunten am Rande des Weggrabens. Und angezogen von ihren Blicken, bleibt er stehen, sieht empor und ihre Augen begegnen sich; jeder liest in denen des andern. Sie sieht so blaß aus wie die zertretenen Anemonen zu ihren Füßen.
Ohne ein Wort zu sagen, kommt er durch den Graben die Böschung herauf geklettert und steht vor ihr. Edith erschrickt, als sie ihn in der Nähe betrachtet; er sieht alt aus, die Muskeln seines gelblichblassen Gesichtes zucken und die Augen haben etwas Fieberhaftes, wie sie nun an ihr vorübersehen, als wollten sie den ihrigen ausweichen. Dazu ist er sehr nachlässig angezogen, keine Spur mehr von der frischen angenehmen Erscheinung früherer Tage. Er mißfällt Edith in diesem Augenblicke unsäglich, ernüchtert sie geradezu.
„So würde Edi nie aussehen,“ gesteht sie sich. Und mit dem Gedanken an ihn zwingt sie ihre Augen vorüber an Antons Gestalt; sie will ihn nicht bemerken in seiner augenblicklichen Verfassung, er ist krank, er leidet, er – –
„Wie kommen Sie hierher?“ fragt er. Es liegt etwas Drohendes in seiner Stimme. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fügt er hinzu: „Ich glaubte Sie bereits abgereist.“
„Morgen erst,“ giebt sie zur Antwort und das Herz klopft ihr zum Zerspringen.
„So! Gehen Sie jetzt heim?“
„Ja, es wird schon dämmerig und Tante Tonette könnte mich vermissen. Wenn ich nicht störe, komme ich mit.“
Er zuckt die Schultern. „Ich bin kein angenehmer Gesellschafter, gnädiges Fräulein; aber wenn Sie Nachsicht üben wollen,“ erwidert er und tritt zurück, um sie auf dem schmalen Pfad voran gehen zu lassen, der von der Böschung abwärts zu [211] dem Mittelweg führt. Dann wandern sie stumm nebeneinander. Die Dämmerung ist sehr rasch gekommen, sie verwischt die Konturen der Bäume, sie verhüllt auch den vernachlässigten Anzug Mohrmanns, sein gealtertes Gesicht.
Und mitten in dieses stumme Wandern hinein spricht Edith: „Ich freue mich, Herr Mohrmann, daß ich Ihnen doch noch Lebewohl sagen kann, ich würde es sehr bedauert haben – –“ sie stottert und schweigt.
„Sehr liebenswürdig!“ antwortet er. „Sie freuen sich natürlich sehr auf diese Reise.“
„Ich?“ ruft sie entrüstet, und diese Entrüstung ist wirklich eine ehrliche. „Ich mich freuen? Aber ich bin ja totunglücklich, daß ich fort muß von Wartau!“ Sie bricht ab und sucht nach dem Tuch in der Tasche ihres Jacketts.
Er bleibt stumm; er ist nicht imstande, das zu würdigen, was sie sagt; er ist so mürbe, so völlig zerschlagen von den Ereignissen der letzten Tage, in denen ihn Mitleid und Reue, die furchtbarsten Selbstvorwürfe, die jammervolle Sehnsucht nach der Frau, die ihn verließ, umhergerissen haben in Himmel und Hölle; er ist ein kranker elender Mann geworden in dieser kurzen Zeit. Dreimal hat er seinen Koffer ein- und wieder ausgepackt, um zu Christel zu eilen, sie anzuflehen, wiederzukommen, und immer, wenn es soweit war, ist er mutlos in den nächsten Stuhl zusammengebrochen; er kann nicht vergessen, was sie ihm geschrieben, die Worte: „Aber ich komme nicht, denn dein Mitleid kann mir deine verlorene Liebe nicht ersetzen.“
Nein, sie wird nicht kommen, sie konnte nicht wiederkehren; die allezeit fügsame geduldige Frau stand drohend, unbeugsam da vor seinen Augen – spare dir die Mühe, ich bin tödlich verletzt! Und er ist zurückgeblieben in völliger Verzweiflung; die rasende Leidenschaft für Edith von Ebradt scheint gebrochen. Er wollte sie nicht sehen, er dankte Gott, als er erfuhr, daß Fräulein Tonette sie auf Reisen schickte. Wie erlöst würde er sein, wenn sie das Haus verlassen habe – meinte er.
Und weiter wandern sie stumm nebeneinander. Da dringt ein Schluchzen an sein Ohr, ein leises bitterliches Schluchzen. Edith ist stehen geblieben, hat das Gesicht in das Taschentuch verborgen und weint. Jetzt packt ihn das Gefühl der Verantwortung und der Reue auch nach dieser Seite, er ist im nächsten Augenblick bemüht, die Hände von ihren weinenden Augen fortzuziehen; hastig, leidenschaftlich stößt er die Worte hervor: „Edith – um Gotteswillen – weshalb – ich bitte Sie, Edith!“
Und sie lehnt an seiner Schulter und die ganze übermächtige Spannung der letzten Tage löst sich auf in ein krampfhaftes Weinen, gegen welches schlechterdings kein beruhigendes Wort etwas vermag.
„Edith, weinen Sie, weil Sie fort sollen?“
Sie schluchzt noch stärker.
„Und weshalb denn, Kind? Machen Sie es mir nicht noch schwerer! Sie sind so jung, so schön – Sie werden in vier Wochen Wartau und seinen alten bärbeißigen Herrn total vergessen haben; glauben Sie es doch – es ist zu Ihrem Besten!“
„Nie! O nie!“ ruft sie, und aus der Dämmerung leuchten ihm ihre heißen verweinten Augen entgegen, die sich mit dem Ausdruck flehender, hingebender Liebe auf ihn richten.
„Ich habe nichts lieber auf der Welt als Wartau; nichts weiter will ich, als hier bleiben, nichts weiter!“
„Edith!“ Ihm ist ganz schwindlig, der alte unwiderstehliche Zauber packt ihn, atemlos flüsternd fragt er: „Bei mir, Edith – auch bei mir?“
Und ihr Weinen verstummt. „Auch bei dir!“ klingt es leise.
„Kind, du hättest mich wirklich lieb, du – mich?“
Sie nickt stumm.
„Schon lange? Schon immer? Wirklich, Edith?“ Er streicht ihr über das Haar mit zitternder Hand; sprechen kann er nicht.
„Laß mich bei dir bleiben!“ fordert sie mit süßer leiser Stimme.
„Nein!“ sagt er plötzlich laut, „nein, du mußt gehen, jetzt gehen, aber“ – und er küßt ihre beiden Hände, immer abwechselnd, während er spricht, „du kommst wieder – versprich mir, du kommst wieder, dann, wenn alles licht und hell ist, wenn ich ein freier Mann bin. – Geh’, laß mich die schwere Zeit jetzt allein durchkämpfen, es soll nicht mehr mutlos geschehen. Ich will alles geduldig tragen, wenn ich glauben darf, daß meine Liebe zu dir keine Verirrung war, sondern geheiligt ist durch deine Gegenliebe.“
Sie weiß kein Wort zu erwidern, aber sie fühlt, sie ist am Ziel ihrer Wünsche. Und dennoch packt sie etwas wie zitternde Furcht vor der großen ernsten Leidenschaft, die sie wachgerufen hat aus Eigennutz und Berechnung. Er läßt nicht mit sich spielen, das fühlt sie unter Herzklopfen.
Sie weiß nichts weiter, als wieder zu weinen, an seiner Schulter zu weinen, und sie wartet, daß er mit tändelnden, beschwichtigenden Worten sie beruhigen soll, wie eine Mutter ihr Kind, aber sie wartet vergebens.
„Komm’,“ sagt er dumpf, „geh hinauf, und wenn du fort bist, dann denke aus der Ferne an einen, der auf bessere Zeit, der auf dich hofft.“ Und ohne ein weiteres Wort schreiten sie nebeneinander, nur am Ausgang des Wäldchens preßt er ihre Hände noch einmal an die Lippen.
„Auf Wiedersehen!“ klingt es fast heiser, dann wendet er sich und erreicht mit einem Umweg außerhalb des Gehöftes das Schloß, während Edith durch den Garten eilt, verwirrt, befremdet, doch so beruhigt, so innerlich befriedigt. Er ist der Ihre! Widerstrebend, bereuend, unter Gewissensqualen – aber doch der Ihre! Ihre Macht siegte.
Und er kommt nach einem Weilchen über den Hof mit festeren Schritten als vorher, wenn auch noch mit finstern Brauen. Die Zweifel sind nun zu Ende, der Würfel ist gefallen. Edith liebt ihn, und nun vorwärts auf dem einmal betretenen Wege! Mit dieser Entscheidung ist eine Erschlaffung über ihn gekommen, eine unbezwingliche Müdigkeit. Nach Monaten zum erstenmal schläft er, schläft wie ein Toter: seine abgehetzten gequälten Nerven verlangen ihr Recht.
Als er erwacht, ist’s heller Tag, und er fährt mit dem Rufe „Christel!“ in die Höhe. Erst langsam besinnt er sich, daß Christel ihn verlassen hat. Der Diener aber bringt ein Briefchen und bestellt: Fräulein von Ebradt lasse noch einmal grüßen, vor einer halben Stunde sei sie abgereist.
Mühsam, wie ein Achtzigjähriger erhebt er sich. „Vorwärts,“ sagt er, „es muß sein!“
Vor dem „Hotel Schweizerhof“ in Luzern spielt die Hauskapelle; es ist kurz vor der Zeit des Diners, so gegen sechs Uhr.
Die Gruppen der Reisenden sitzen auf den zierlichen Bambusstühlen umher, teils das herrliche Bild bewundernd, das sich vor ihnen ausbreitet, teils plaudernd und lachend. Auf dem Fahrdamm rollen unaufhörlich die vollbesetzten Hotelwagen oder Landauer mit Ausflüglern; unter den dichten Platanen schiebt sich eine Masse Menschen aller Nationalitäten; ein großer Dampfer wiegt sich, zur Abfahrt bereit, auf der intensiv grünen Flut und jenseit dieses schönsten Schweizersees ragt stolz der Pilatus empor, unverschleiert, in klassischer Schöne, und daran reihen sich die schneebedeckten Alpengipfel.
Graf Altwitz mit Frau und Pflegetochter Edith befinden sich ebenfalls unter den Fremden, ihres Diners harrend. Das alte Paar kann sich nicht satt sehen an dem köstlichen Bilde; sie machen einander immer wieder auf eine neue Schönheit aufmerksam. Edith lehnt still in einem Schaukelstuhl mit sehr gelangweilter Miene und betrachtet den riesengroßen Hotelomnibus, dem eben wieder ein wohlgezähltes Dutzend Menschen entsteigt. Plötzlich richtet sie sich straff empor, über ihr schönes Gesicht hat sich eine Purpurröte ergossen. Drei Personen fesseln ihre Aufmerksamkeit so sehr, daß sie die Frage der Gräfin „Ja, ist dies Luzern nicht wunderschön, Edith?“ völlig überhört.
Ein sehr blasser, offenbar recht kranker junger Mann wird von einem andern geführt, eine blutjunge Frau geht ihm zur Seite, alle drei vornehme Menschen aus den ersten Kreisen der Gesellschaft in tadelloser Reisetoilette. Die Herren sind unverkennbar Brüder. Sie gehen, ohne die neugierigen Blicke zu beachten, vorüber in das Hotel. Edith fängt ein paar Worte der jungen Frau auf: „Sorge doch, bitte, für ein kühles Zimmer, Edi.“ – Dann sind sie verschwunden in dem Portal.
Edith holt tief Atem.
„Kennen Sie die drei?“ fragt Graf Altwitz, der noch immer ein Monocle trägt und dadurch viel jünger und unternehmungslustiger aussieht, als er es in der That ist, „nette Erscheinung, die kleine Frau – was?“
[212] „Ja, ich kenne sie,“ sagt Edith und wundert sich selbst über ihre Ruhe, „es ist Franz Waldenberg mit seiner Frau und seinem Bruder; er scheint kränker geworden zu sein, sie sind erst seit dem Frühjahr verheiratet.“
„Wie traurig!“ bedauert die alte Gräfin.
Eine halbe Stunde später sitzt man bei Tische. Altwitzens haben ihre Plätze am Kopfe einer langen Tafel bekommen, unmittelbar neben ihnen sind drei Stühle unbesetzt geblieben, zwei neben der Gräfin, einer neben Edith. Diese muß sie immer ansehen – wenn nun dort – aber nein, sie werden ja in ihrem Zimmer essen – er sah ja zum Erbarmen aus, der Franz Waldenberg!“
Nach dem Roastbeef erscheint plötzlich Edi Waldenberg mit der Dame, ohne den Kranken. Der Oberkellner führt sie beflissen zu den leeren Stühlen neben der Gräfin und nimmt den dritten neben Edith fort auf einen Wink des jungen Mannes. Edi kommt ihr schräg gegenüber zu sitzen, und sie sieht ihn groß an mit ihren dunklen heißen Augen, die aus dem blassen Gesichtchen nur so zu sprühen scheinen. Er hat das Menü studiert, nun schaut er sich um und gewahrt Edith; er wird rot, verbeugt sich, läßt einen Blick über die Begleiter Ediths schweifen und sagt dann:
„Welche Ueberraschung, mein gnädiges Fräulein! Wollen Sie mich den Herrschaften vorstellen?“ Die kleine Frau neben ihm wird ebenfalls bekannt gemacht und in der nächsten Minute ist bereits eine lebhafte Unterhaltung angebahnt. „Woher? Wohin?“ wird natürlich zuerst erörtert. Altwitzens sind von Italien aus über den Simplon gegangen, haben sich lange Zeit in Genf aufgehalten und wollen in die Heimat zurück. Sie haben sich diesmal eine viel längere Erholungsreise gegönnt als sonst, aber nun – die Ernte, das Manöver, der Besuch der Enkel während der Schulfreien –.
„Wir haben leider keine so frohe Zeit vor uns,“ sagt Edi Waldenberg und ein mitleidiger Blick streift die hübsche junge Frau an seiner Seite, die mit den Thränen kämpft. „Mein Bruder ist in Sän Remo leider so krank geworden, daß wir auf dem geraden Wege nach Görbersdorf sind. Ich bin ihm vorige Woche nachgefahren, um meiner Schwägerin ein wenig beistehen zu können während der weiten Reise.“
Edith preßt die Lippen aufeinander und schweigt, während das liebenswürdige alte Paar sich in bedauernden Phrasen erschöpft.
„Ich hoffe, Görbersdorf wird meinem Manne gut thun,“ sagt die kleine Frau mit verhaltener Stimme.
„Gewiß, gewiß!“ beruhigt die Gräfin sie und erzählt von einer Menge Fälle, bei denen die Anstalt Wunder vollbrachte.
Noch vor dem Dessert erhebt sich Frau von Waldenberg, nachdem sie ihren Schwager flehentlich gebeten hat, sich nicht stören zu lassen; er könne ihr jetzt doch nicht helfen. Aber er erklärt, dem Kranken noch „Gute Nacht“ sagen zu wollen. Das alte Paar sucht sein Zimmer auf; Edith erobert sich einen Stuhl auf der Veranda und schaut in das Gewühl der Promenierenden. Der Hoteldiener hat ihr eben einen Brief gegeben; sie dreht ihn uneröffnet zwischen den Fingern; er ist von Tante Tonette. Sie konnte sonst immer nicht erwarten, Nachrichten aus Wartau zu lesen, heute zögert sie. Edi Waldenberg tritt eben aus der Hausthür und sieht sich suchend um; als er sie erblickt, kommt er langsam näher, und einen leer gewordenen Stuhl erfassend, fragt er: „Gestatten, gnädiges Fräulein?“
Sie nickt. „Wenn’s Ihre Mission erlaubt, Herr von Waldenberg?“
Er überhört den etwas spöttischen Ton und fragt nach ihrem Befinden.
„O, mir geht es sehr gut!“ erwidert sie, „ausgezeichnet! Hoffentlich Ihnen auch?“
„Nein,“ sagt er, „ich hatte so allerlei durchzumachen und – nun jetzt –“
„Das ist schrecklich traurig,“ bemerkt Edith. „Ich kann mir denken, wie Ihre Schwägerin trostlos sein wird – es ist doch ein Glück, daß Sie ihr zur Seite stehen.“
„Ja!“ sagt er ehrlich, „denn ihre Eltern sind tot und Geschwister hat sie nicht – sie verdient wirklich Mitleid. – Nun, und Sie, Fräulein Edith?“ fährt er fort und seine Augen suchen mit traurigem Ausdruck die ihrigen. „Ist’s wirklich wahr? Darf man Ihnen gratulieren?“
„Wozu?“ fragt sie kurz.
„Fräulein von Zobel erzählte mir –“
„Ah! Emma von Zobel! Ich kann es mir denken, ich würde an Ihrer Stelle aber nicht voreilig sein, Herr von Waldenberg.“
„Edith!“ bittet er fast atemlos und biegt sich vor, „Edith, sprechen Sie – ist das, was man da spricht, noch keine Thatsache?“
Sie sieht ihn an mit den wunderschönen Augen. „Noch nicht!“ sagt sie leise.
„Noch nicht? – Aber – also doch möglich, Edith – doch?“
Sie zuckt unmerklich die Schultern.
„Lieben Sie den Mann, Edith?“
„Warum sind Sie so neugierig?“ fragt sie und schaut hinüber zu dem Pilatus, auf dessen Kuppe eben ein Stern aufflammt, das elektrische Licht des Hotels.
„Verzeihen Sie, ich habe allerdings kein Recht,“ entschuldigt er sich in bitterem Tone. Edith antwortet nicht.
Es ist dunkel geworden; eine herrliche wunderbare Luft weht vom See her, die Musik spielt irgend etwas Schmelzendes aus dem „Troubadour“. Neben ihnen lacht ein halbes Dutzend englischer Misses; auf der anderen Seite sitzt ein junges Ehepaar und hält sich verstohlen an den Händen. Edi Waldenberg zündet sich eine Cigarette an und raucht, schweigend in das Publikum starrend. Sie sieht ihn von der Seite unverwandt an, dabei dreht und wendet sie nervös den Brief in ihrer Hand. Warum er auch arm sein, warum dieser schwindsüchtige Bruder heiraten muß, der nun eine schöne junge Frau hinterläßt! Aber vielleicht ist es gar nicht wahr, daß Edi sie wählen wird, vielleicht ist es nur ein boshaftes Gerede? Ach, wenn sie das gewiß wüßte, wenn der Edi Majoratsherr – sie hat ihn ja so furchtbar gern, diesen hübschen, blassen vornehmen Menschen, aber – arm sein kann sie nicht, nur das nicht! Und sie weiß seit den letzten Minuten: er hat sie noch keineswegs vergessen, er liebt sie noch! Warum sollte er diese hinterlassene Frau heiraten? Wer kann das von ihm verlangen?
„Wenn mein Bruder eine gute Nacht hat, reisen wir morgen weiter,“ wendet sich der junge Offizier jetzt an Edith. „Jedenfalls möchte ich Ihnen gleich heute Adieu sagen, Fräulein von Ebradt.“ Er hat sich erhoben und steht nun vor ihr. „Ich darf Ihnen wohl nochmals wiederholen, wie sehr ich mich gefreut habe, Sie einmal wiederzusehen, und den Wunsch aussprechen, daß sich Ihre Zukunft so gestalten möge, wie Sie dieselbe ersehnen. Leben Sie wohl, Edith!“
Sie giebt ihm die Hand, die er an die Lippen führt. Ihr Schmerz, ihn verloren zu haben, ist in diesem Augenblick größer als alle Berechnung; sie findet keine Worte, aber die großen Augen reden eine deutliche Sprache.
Er hält wie verwundert ihre Hand fest. „Edith!“ murmelt er. Aber sie wendet sich rasch ab und geht in das Hotel, so eilig, daß es fast einer Flucht ähnlich sieht. Und dort sucht sie geradeswegs ihr Zimmer auf und läßt sich bei der Gräfin entschuldigen, sie habe Kopfweh und wolle sich legen. Sie birgt den Kopf in die Polster des Sofas und denkt nach, wie sie seit langer Zeit nicht nachgedacht hat; und als sie sich endlich erhebt, ist sie zu dem Entschluß gekommen, daß sie eine furchtbare Uebereilung beging, als sie Mohrmann zu einem Versprechen förmlich zwang vor ihrer Abreise, und daß sie jedenfalls einem öffentlichen Verlöbnis für jetzt entfliehen müsse. Sie liebt ja doch den Edi nur allein, und Gott weiß, ob er – –
Sie wird rot und blaß, das liebe Gesichtchen der Frau von Waldenberg taucht vor ihr auf, die angstvollen, klaren blauen Augen. Sie kommt sich vor wie eine Mörderin, indem sie an den Tod des andern Waldenberg denkt. Aber, was kann sie dafür, daß der Aermste die Schwindsucht hat in so hohem Grade? Es ist ja schon seit langem die Rede davon, daß er sterben muß!
Als sie sich endlich gefaßt hat, erbricht sie den Brief der Tante Tonette. „Mein liebes Kind,“ liest sie beim Schein der elektrischen Lampe, „gestern ist die Scheidung von Mohrmanns ausgesprochen worden vor dem Gericht in Leipzig. Der arme Mensch atmet ordentlich auf; er hat doch wohl sehr unter diesen Verhandlungen gelitten. Deine Wiederkehr steht nun nahe bevor – es wäre mir allerdings lieber gewesen, Du hättest noch länger fortbleiben können, indes wohin? Du hast jetzt nur ihn, denn Tante Josepha, die ich bat, Dir eine kurze Zuflucht im Stift zu gewähren, lehnte
[213][214] in solch unartiger Weise ab, daß ich auf eine Korrespondenz mit ihr vorläufig verzichten muß. Ich werde Dir später erzählen, was sie schrieb; sie ist verbittert und ungerecht.
Mohrmann habe ich täglich lieber gewonnen, er ist ein charmanter verständiger Mensch, dem ich Wartau wirklich so recht von Herzen gönne. Wenn wir beisammen sitzen zu Tische, sprechen wir nur von Dir, das ist uns das Liebste; aber das schrieb ich Dir ja schon, daß er nicht müde wird, nach Dir zu fragen. Also, Du telegraphierst wohl noch, wann wir Dich erwarten dürfen; ich hole Dich jedenfalls von der Station ab.
Vergiß nicht, mich dem Grafen und der Gräfin zu empfehlen. Ganz Wartau freut sich auf Dich, der Park ist so schön in diesem Jahre und Mohrmann hat Deine Lieblingsrosen setzen lassen, sie blühen bereits. Er läßt Dich grüßen, ebenso grüßt und küßt Dich innig
Deine getreue Tante
Antonie v. Wartau.“
Es ist zum Verzweifeln! Edith weiß genau, daß Anton nie von ihr reden wird, bevor die Tante nicht ihren Namen ausspricht, daß die „Lieblingsrosen“ nur auf Tantens Vorschlag gesetzt worden sind; aber sie weiß auch, daß er im unverbrüchlichen Vertrauen auf sie wartet, daß er ein Schwanken ihrerseits nie verzeihen würde.
Und übermorgen geht es heim, unwiderruflich heim! Was soll werden? Wartau erscheint ihr auf einmal schlimmer als ein Gefängnis, das Wiedersehen mit Mohrmann wie eine Folter. Sie sieht ihn plötzlich vor sich wie an jenem Tage, vergrämt, unordentlich gekleidet, alt geworden – ja, wie konnte sie nur! Sie, die den Edi liebt, immer geliebt hatte, was ihr nie so zum Bewußtsein gekommen ist wie heute abend, bei dem Abschied unter den fremden Menschen, fern von der Heimat! Ach, es ist doch schrecklich, arm zu sein!
Und jetzt faßt sie plötzlich eine Wut auf diejenigen, die diese Armut verschuldet haben, in erster Linie auf ihren verschwenderischen Großvater, daß sie zittert. Was geht sie die Familientradition an, was dieses Wartau, was die verbitterten Tanten? Was dieser große Mann, der zwanzig Jahre älter ist als sie, dem sie keinen Blick gegönnt haben würde, wenn er nicht der Besitzer von Wartau wäre? Sie will frei sein, sie will weiter nichts als Edi!
Und sie setzt sich hin und schreibt einen Brief an Tante Tonette, einen Brief, der den ganzen Zustand ihrer jungen, durch das Wiedersehen mit Edi aufgerüttelten Seele spiegelt; eine rücksichtslose Beichte, eine offene Anklage ihrer selbst, ihr ganzes wachgerufenes besseres Ich fleht darin um Erbarmen.
Tante Tonette erhält diesen Brief, einen Tag vor Ediths Rückkehr, die ihr durch den Grafen Altwitz telegraphisch gemeldet wird. Die alte Dame ist völlig fassungslos. Was um Gotteswillen mag geschehen sein, daß das Mädchen so schreiben kann?
Sie ordnet just das Zimmer Ediths, es ist noch früher Morgen. Vorhin kam die Depesche, in der zu lesen, daß Gräfin Altwitz mit ihrer Schutzbefohlenen am sechzehnten Juli, das heißt morgen abend, sieben Uhr, auf der Station eintreffen werde. Und jetzt dieser Brief, der alle inbrünstig gehegten Hoffnungen der alten Dame zu Boden schlägt!
„Mir ist, als ob ich in ein Gefängnis soll,“ steht da, „und Mohrmann thut mir leid. Die Frau Christel war doch wohl die Rechte für diesen hausbackenen Menschen.“
Die alte Dame zieht ihr Taschentuch und trocknet sich die Schweißperlen von der Stirn. Soll denn alles umsonst gewesen sein – ihr Sorgen, ihr Thun, ihre ganze Diplomatie, ihr geradezu schwiegermütterliches Walten während der schweren Zeit, die der Mann jetzt durchlebt hatte? Ihr geopfertes Sparkassenbuch – alles? Jeden Mittag hatte sie den Schweigsamen unterhalten, jeden Abend war sie hinüber gegangen, um mit ihm noch ein Stündchen zu verplaudern, ihm ein freundliches, ermutigendes Wort zu sagen, ihm von Edith zu sprechen und Stellen aus ihren Briefen vorzulesen, die mitunter erst in Wartau verfaßt waren. Mit einem Worte: sollte denn das ganze stolze Zukunftsschloß, das sie unter tausend Mühen aufgebaut hatte, unter der Laune eines unberechenbaren jungen Geschöpfes zusammenstürzen?
Sie setzt sich plötzlich wie gebrochen auf das kleine Sofa mit dem verblichenen Seidenbezug. Ein Königreich für einen rettenden Gedanken! Sie weiß ganz genau, daß ein einziger unfreundlicher Blick Ediths den stillen, ganz veränderten Mann dort unten zwingen wird, sich zurückzuziehen, sie zu lassen. Er ist der alte nicht mehr, er giebt sich so müde und gleichgültig, als ob seine ganze Spannkraft, seine Jugend von der scheidenden Frau mitgenommen wäre. Er ging all die Zeit umher wie ein Kranker, und wenn sie, Tante Tonette, nicht unaufhörlich von Edith gesprochen hätte, wäre der Name des Mädchens überhaupt nicht genannt worden. „Edith hat geschrieben, sie fragt nach Ihrem Ergehen, Mohrmann,“ hat sie einen um den andern Tag gesagt und mit Mühe und Not eine Antwort bekommen, ein halb geflüstertes „Sehr freundlich“ und „Wie geht es denn Fräulein Edith? Bitte, meine Empfehlung.“ – Und nun der andere Teil auch so grenzenlos abgekühlt, so plötzlich! Im vorletzten Schreiben war noch so viel die Rede vom „alten lieben Wartau, dem trauten Nest“, heute ist’s ein „Gefängnis, eine Brutanstalt für Langweile!“
Beim Mittagsessen sitzt sie Anton blaß gegenüber, erst zum Schluß des Mahles fragt sie: „Kann ich morgen abend den Wagen bekommen? Edith kehrt zurück.“
Ueber sein Gesicht fliegt eine plötzliche Röte; es ist, als könne er kein Wort aus der Kehle bringen. Er verbeugt sich nur stumm, und beim Aufstehen vom Tische fragt er endlich: „Zum Sieben Uhr-Zug, nicht wahr?“
„Ja! Und Sie verzeihen, wenn wir an diesem ersten Abend oben bleiben – Edith wird etwas ermüdet sein, und –“
„Selbstverständlich, Baronesse; ich bin ohnehin nicht zu Hause, ich hatte Namann versprochen –“
„Das paßt dann ja ganz schön,“ stimmt Fräulein Tonette zu mit Aufbietung ihrer letzten Kraft und geht.
Am andern Nachmittag bringt der Gärtner ein Körbchen voll Rosen, ein Willkommen des Herrn für Fräulein Edith. Tante Tonettes gequältes Herz schlägt freier. Wenn er nur noch derselbe, ihrer wird sie schon Herr werden! Und sie setzt das schöne Blumenarrangement mit einem lauten Seufzer der Erleichterung auf das Rokokotischchen in Ediths Zimmer. Dann schießt’s ihr durch den Kopf – Herrgott, einen Korb! Sollte er? Aber nein, dazu ist er zu gutmütig, er hätte ja gar nichts zu schicken brauchen.
Um sieben Uhr ist sie pünktlich auf der Station; der Altwitzer Wagen wartet bereits dort. Tante Tonette hat für die Gräfin einen köstlichen Strauß La France-Rosen in Bereitschaft, auf andere Weise kann sie vorläufig ihren Dank nicht bezeigen. Mit nur fünf Minuten Verspätung fährt der Lokalzug vor dem winzigen Bahnhofsgebäude an und die Reisenden steigen aus.
„Mein lieber verehrter Graf!“
„Ah, Fräulein von Wartau! Herzlich willkommen! Da ist das Kind, sieht’s nicht prachtvoll aus – wie?“
„Aufrichtigsten, innigsten Dank! Willkommen, Edith! Bitte, lieber Graf, bemühen Sie sich nicht.“ So klingt’s durcheinander, und dann wiederholt Fräulein von Wartau ihren vorläufigen herzlichen Dank und der Graf versichert, daß die junge Reisegefährtin immer außerordentlich charmant, ihnen die größte Freude gewesen sei, und endlich fahren die beiden Wagen hintereinander ab, nachdem der Graf dem lieben Reisetöchterchen einen väterlichen Kuß zum Abschied gegeben. Er wirft ihr auch noch, das Monocle im Auge, ein paar Kußhändchen zurück, die Edith lächelnd erwidert.
„Nun,“ fragt Tante Tonette, möglichst unbefangen, „hat sich deine Furcht um die Heimkehr gelegt?“
Das junge Geschöpf schmiegt sich, wie fröstelnd, in die Kissen des Wagens, und es ist Tante Tonette, als klapperten die weißen Zähnchen leise aufeinander im Fieberschauer.
„Bist du krank, Edith?“
„Ich glaube,“ ist die mühsam hervorgestoßene Antwort.
„Du gehst am besten gleich ins Bett, solch endlose Fahrt ermüdet sehr.“
„Ja – ich danke.“
„Mohrmann mußte leider in einer dringenden Angelegenheit verreisen.“
Edith atmet auf. „So?“
„Er läßt sich dir sehr empfehlen, hofft morgen früh auf ein Wiedersehen. Es thut ihm schrecklich leid, Edith – übrigens, [215] für dich ist ein Brief gekommen, den ich dir nicht mehr nachschicken konnte, eine Verlobungsanzeige – rate –“
„Wie kann ich das?“
„Nun, Emma v. Zobel mit einem Premierlieutenant v. Lattwitz. Soviel ich weiß, sind die Lattwitze die reinen Kirchenmäuse, und die Zobels haben doch auch nichts als den großen Gehalt des Vaters.“
„Sie hat Mut,“ sagt Edith, „sie liebt ihn gewiß sehr.“
„Schöner Mut das, den Mann unglücklich zu machen mit der eigenen anspruchsvollen Persönlichkeit! So ein verwöhntes Ding, die Ma!“
Daheim angelangt, sagt Edith beim Erblicken des Blumenkörbchens sofort, sie könne Rosen nicht riechen, und giebt damit das Signal zu einer furchtbaren Scene. Das junge Mädchen hat noch nicht den Staubmantel ausgezogen, sie knöpft ihn hastig wieder zu. „Ich sehe ein,“ sagt sie mit bebenden Lippen, „du weißt alles! Vermutlich war er selber so indiskret, dir zu erzählen, daß ich mich ihm, sozusagen, an den Hals geworfen habe? Aber, wenn auch – ich erkläre dir hiermit –“
„Du hast ihn animiert zu – zu dem, was zwischen euch vorgekommen?“ fragt Tante Tonette atemlos; es ist wie ein Aufschrei.
„Ja! ja! ja!“ ruft Edith, „aus Thorheit, aus Langweile und weil du mir immerzu nur von Wartau vorgepredigt hast! Und ich will ihn nicht, und ich liebe ihn nicht! Ich habe nur, gleichviel aus welchem Grunde, mit ihm gespielt – er ist mir viel zu alt und viel zu unelegant, und ich mache mir gar nichts aus Wartau, und – und –“
Sie wird unterbrochen von Tante Tonette, die sie an der Schulter packt und schüttelt wie ein junges Bäumchen. „Du ehrvergessenes, du entartetes Geschöpf!“ keucht sie. „Einen Menschen so weit zu treiben, daß er seine brave Frau verstößt, und hinterher zu erklären, mit ihm gespielt zu haben!“
„Ich sehe meinen Irrtum ein, es thut mir ja furchtbar leid! und ich habe das Vertrauen, dir dies zu sagen, also hilf mir,“ verteidigt sich Edith.
„Seit wann siehst du diesen Irrtum ein?“
„Seitdem ich Edi ganz unverhofft in Luzern wiederfand.“
„Also der? Großer Gott, um diese Null, um dieses Nichts von einem Menschen!“
„Ich weiß nicht, ob er eine Null ist, ich weiß nur, daß ich ihn liebe.“
„Und er dich?“
„Ja!“
„Habt ihr euch das gesagt?“
„Mit Worten nicht, leider nicht.“
„Nun, das ist wenigstens vernünftig; denn Edi Waldenberg kann doch vorläufig keine Frau ernähren, und auf den Tod des Bruders hin wird er sich als anständiger Mensch kaum verloben wollen.“
„Es ist noch lange nicht so schlimm, wenn man auf den Tod eines hoffnungslos Kranken wartet, als wenn man einen Lebendigen aus seinen Rechten drängen hilft – wie du!“
„Edith“ – Fräulein Tonette ist außer sich – „wage es nicht, wage es nicht, weiter zu sprechen, ich warne dich! Ueberlege, was du redest!“
„Ich will Mohrmann nicht! Er mag sich seine Christel wieder holen! Und wenn du es ihm nicht sagst, so sage ich es; ich habe keine Lust, hier in Wartau zu versauern!“ Sie reißt den Staubmantel wieder auf und wirft sich wie ein schmollendes Kind in den nächsten Sessel.
Tante Tonette geht stumm aus dem Zimmer; sie ist am Ende mit ihrer Weisheit, sie droht zu ersticken vor Zorn. Wenn sie nur wenigstens weinen könnte, aber auch das ist ihr versagt in diesem Augenblick, wo alles, was sie vom Leben noch erhoffte, in armseligen Scherben zu ihren Füßen liegt. Sie verwünscht ihren Einfall, das Kind fortgeschickt zu haben, sie verwünscht den Edi Waldenberg, sie ist einfach fassungslos. Aber einen Weg, Edith zur Vernunft zu bringen, sieht sie nicht, sie kennt den Wartauschen Charakter – unberechenbar! Das Einzige, was sie noch thun kann, ist, morgen früh noch einmal in aller Ruhe mit Edith zu sprechen und zu versuchen, ihr die Lage klar zu machen, ihre jammervolle Lage, wenn sie dieses Glück zurückweist. Hoffentlich sieht Edith nicht eher Mohrmann unter vier Augen, als bis sie selbst mit dem Mädchen noch sprach.
Und der Zufall kommt der alten Dame zu Hilfe. Noch spät bringt der Diener eine Karte von Anton Mohrmann; sie lautet, er kehre erst morgen abend heim, sei mit Herrn Namann nach Drottlingen gefahren, wo ein Transport Ackerpferde bei einem als ziemlich reell bekannten Pferdehändler eingetroffen sei.
Tante Tonette atmet auf; sie wundert sich zwar, daß Mohrmann es fertig bringt, nicht sofort zu Ediths Füßen zu stürzen, und seine Abwesenheit gestern, sein langes Fortbleiben heute verursacht ihr ein gewisses unbehagliches Gefühl, aber trotzdem – Zeit gewonnen, alles gewonnen!
Edith kommt am andern Morgen erst gegen elf Uhr zum Vorschein und thut völlig unbefangen; sie ist über Mohrmann zur Tagesordnung übergegangen.
„Wo willst du eigentlich bleiben bis zu deiner Verheiratung mit Edi Waldenberg?“ fragt Tante Tonette sehr ruhig vom Fenster her, wo sie mit einer Handarbeit sitzt.
Edith stutzt, zur innersten Genugthuung der alten Dame, und sieht sich wie hilfesuchend im Zimmer um.
„Die Gastfreundschaft von Herrn Mohrmann kannst du doch unmöglich noch ferner annehmen, und wer weiß, wie lange es dauert, bis Franz Waldenberg stirbt? Vorher könnt ihr ja doch nicht heiraten.“
Edith schweigt, sie ist ganz blaß geworden.
„Na, du wirst das ja mit ihm überlegt haben,“ meint die Tante. „Ich weiß keinen Rat und erwarte nur, was du bestimmst, denn ich gehe zu Josepha ins Stift. Aber für dich ist dort leider kein Platz, du bist eben keine Wartau. – Ich denke, du nimmst so lange irgend eine Stelle an.“
Edith fährt von ihrem Stuhle empor und ihre Augen funkeln zu der kleinen Dame hinüber, die innerlich kochend, aber äußerlich mit klassischer Seelenruhe an dem groben weißwollenen Strickzeug weiter schafft.
Statt der Antwort nimmt das junge Mädchen ihren Hut und geht hinunter in den Park.
Es ist ein herrlicher Tag und nicht zu heiß; es weht ein leiser warmer Wind und am tiefblauen Sommerhimmel sind glänzende weiße Wölkchen. Der ganze Garten ist voll Sonnenschein und Rosenduft – ach, welch köstliche Rosen! Noch nie ist der alte Park ihr so reizend erschienen. Sie wandert im Schatten der hohen Buchenhecke und setzt sich auf die Steinbank neben dem bezopften Schäfer, der eine Nymphe umschlungen hält.
Vor ihr liegt das Schloß, ein stattlicher Bau, er ist ihr noch nie so imposant erschienen, und dort über der Thür grüßt das große in Sandstein gemeißelte Wappen der Wartaus. Ja, wenn das noch Familieneigentum wäre! Und eine Enkelin dieses stolzen Hauses soll in Dienerstellung auf eine ungewisse Zukunft warten? So sagte ja eben Tante Tonette. Gräßlich! Aber, was denn sonst? Diese ruhige, strickende Tante hat so recht, leider so recht!
Aber sie kann nicht, nein, sie kann Mohrmann nicht heiraten, jetzt nicht mehr, jetzt nicht! Ach, Frau Christel hatte die Wahrheit gesprochen, als sie sagte: „Wer so über Liebe redet wie Sie, Fräulein Edith, der kennt sie noch gar nicht.“ – Aber, wenn Edi arm bleibt, dann – es geht einfach nicht! Ach, dieser Franz Waldenberg – es ist ihm doch nur eine Qual, das Leben – warum stirbt er nicht? Edith gönnt ihm ja doch nur Erlösung, wenn sie wünscht, daß das Unausbleibliche rascher komme.
Sie sitzt ihrer Tante beim Essen wie ein Steinbild gegenüber, und nach Tische leidet es sie nicht länger im Hause; sie stiehlt sich heimlich fort und wandert nach Altwitz. Es ist ihr, als ob sie bei ihrer Reisegefährtin Frieden finden könnte in ihrer Not.
Die alte Gräfin empfängt sie sehr freundlich; sie sitzt mit vollstem Behagen auf der Veranda hinter dem Hause und wird nicht müde, den Garten zu bewundern.
„Sehen Sie nur, liebe Edith, so grün und traut ist’s doch nirgends! Wie hat man seine alte Scholle wieder so lieb, wenn man einmal fern war. Ja, man sollte wirklich schon deshalb [216] jedes Jahr fortgehen, um dieses herrliche Wiederhaben zu genießen.“
Sie nickt dabei in den Garten hinaus, als grüße sie jeden Baum, jede kleine Welle im Teich. „Und nun setzen Sie sich, liebes Kind. Wie geht es Tante? Wie nett von Ihnen, daß Sie gleich an uns denken! Ja, so ein Vierteljahr in der engen Gemeinschaft des Reiselebens, das macht Freundschaft. Ich finde auch, die fremden Leute, die man da draußen so trifft, sie bleiben einem viel länger im Gedächtnis als irgend eine Bekanntschaft in der Heimat – nicht? Es knüpft sich immer gleich der Ort, wo wir sie sahen, an ihre Person. Ich kann, zum Beispiel, an Waldenbergs nicht mehr denken, ohne das schöne Luzern vor mir zu sehen. Arme Menschen! Arme kleine Frau! Wie schwer für sie, zu wissen: der Vater wird die Geburt seines Kindes vielleicht nicht mehr erleben.“
Ein kurzer Laut läßt die alte Dame Edith näher ansehen; das Mädchen ist so bleich geworden wie das Batistkleid, das sie trägt.
„Ach, das hätte ich Ihnen ja nicht erzählen dürfen, Kindchen,“ sagt verlegen die Gräfin, „es ist gar nichts für Sie; ich hin alt und plappere so alles heraus – die kleine Frau vertraute mir das an unter vielen Thränen – ich traf sie, während Sie draußen saßen im Lesezimmer, ihr Mann schlief – – immerhin, sie kann wenigstens die Beruhigung haben an dem Schmerzenslager des Gatten, daß der große Besitz dem Kinde erhalten bleibt, daß sie selbst nicht heimatlos wird. Ja, Gott gebe ihr einen gesunden Buben, ich wünsche es so von ganzem Herzen.“
„Und wenn es ein Mädchen ist, wenn –?“ stottert Edith, mit Purpurglut übergossen.
„Gleichviel! Es ist nicht an den Mannesstamm gebunden, das Rittergut, es ist sogenanntes Weiberlehn; an die Waldenbergs kam es ja auch durch die Mutter des jetzigen Besitzers, früher war es eine Wülffensche Besitzung.“
Edith schweigt. Ein Diener bringt köstliche Erdbeeren mit Zucker; dem jungen Mädchen aber ist es nicht möglich, eine davon zu essen. Sie fühlt sich körperlich völlig elend durch diese Mitteilung, die gleichbedeutend ist mit einem Entsagen auf Edi für immer.
„Sie sind noch angegriffen von der Reise, Töchterchen,“ sagt die Gräfin liebenswürdig, „so ein alter Körper hält wahrhaftig mehr aus. Ich lasse Sie erst in der sechsten Stunde fort, die Hitze ist doch um die Mittagszeit schon recht fühlbar, und außerdem wird mein Mann Sie gern sehen wollen. Er behauptete heute früh schon, Ihr schönes Gesichtel fehle ihm am Kaffeetisch. Legen Sie sich ein wenig in meinem Zimmer auf die Chaiselongue, dann sind Sie wieder strahlend frisch, wenn er kommt.“
Edith geht gehorsam und legt sich auf das Ruhebett der alten Dame in die großen gelbseidenen, mit Volants garnierten Kissen und schließt die Augen. Ihr ist ganz schwindlig geworden. Gottlob, daß sie allein sein kann! Hinter ihrer Stirn jagen sich wild die Gedanken, zuletzt bleibt ihr nur noch das Gefühl der Ergebung in das Unvermeidliche, ohne Widerstand, ohne Gnade. An ein Leben, auf eigene Kraft erbaut, denkt sie nicht, weil ihr diese Möglichkeit niemals gezeigt wurde, weil sie sich eine Frau, die selbständig für sich sorgt, stets als ein Wesen untergeordneter Art vorgestellt hat. Die einzige Rettung für sie ist die Heirat, und die einzige anständige Partie, die sich ihr, dem armen Mädchen, bietet, ist – Mohrmann.
Als sie nach einer Stunde die Stimme des Grafen hört, steht sie auf und tritt wieder zu den alten Herrschaften.
„Ach,“ sagt die Gräfin befriedigt, „jetzt sehen Sie wieder wie sonst aus; was thut nicht so ein bißchen Ruhe!“
Und Edith plaudert noch ein wenig, neckt sich mit dem alten Herrn und geht dann unter ihrem großen roten Sonnenschirm Wartau wieder zu, mit hastigen Schritten, als versäume sie etwas. Sie ist erregt und rosig erglüht von dem raschen Gange, als sie in den Flur des Schlosses tritt, in dem schon leichte Dämmerung liegt; sie hat nie reizender ausgesehen – der Hut hängt ihr am Arm, die Löckchen über der Stirn sind ein wenig verweht, und sie ist auf der Reise voller, größer geworden.
Und Anton Mohrmann steht auf der Schwelle seines Zimmers, eben zurückgekehrt von Drottlingen, müde und abgespannt, um Jahre gealtert seit den letzten Monaten. Sie ist so plötzlich eingetreten, daß er die unwillkürliche Fluchtbewegung unterdrückt und stehen bleibt, wie aus Stein gemeißelt. Auch ihr Fuß stockt, und so verharren beide einen Augenblick und sehen einander an. Ediths Augen senken sich langsam, ein Zittern fliegt über ihre Glieder. Etwas unendlich Rührendes liegt in ihrer hilflosen Verlegenheit, und er hat all diese Zeit hindurch immer nur daran gedacht, wie sie ihn liebt, wie sie sich nach ihm sehnt und – er ist ja frei, frei, und er fühlt die heilige Pflicht, das Mädchen, dessen Herz er weckte, an das seine zu ziehen – wenigstens diese eine Schuld zu sühnen!
„Komm’, Edith,“ sagt er und führt sie in das Zimmer, wo die Rokokotänzer in ihren verschnörkelten Stellungen an den Wänden schweben.
Einen Augenblick hat sie hastig widerstrebt, dann, wie sich besinnend, ist sie ihm gefolgt, und nun hat er sie an sich gezogen, und seine große zitternde Hand hält ihren Kopf an seine rasch atmende Brust gepreßt.
„Edith, bist du so wiedergekommen wie du gingst? Denkst du noch ebenso? Sag’ es, Kind, du hast vielleicht fern von mir anders fühlen gelernt? Sag’s ehrlich! Ich weiß ja, deiner Jugend gegenüber bin ich ein alter Mann, der Schweres hat durchkämpfen müssen – sag’s ehrlich!“
Sie rührt sich nicht, es geht nur ein leises Beben durch ihre Glieder.
„Willst du bei mir bleiben, Edith? Ist’s wahr, was mir Tante Tonette verriet, daß du meiner gedacht hast da draußen alle Tage?“
Da hebt sie den Kopf. „Ja!“ sagt sie kurz und hastig, „bitte, erkläre du es Tante, daß – –“
„Gleich?“ fragt er, befremdet durch ihre schroffe Art.
„Ja – gleich, ich bitte dich!“
Er küßt sie auf den Mund, dann geht er. Sie tupft mit dem Batisttuch auf die Lippen, als brenne sie der Kuß, und sieht sich mit kalten zornigen Augen um. Die koketten Gestalten da an der Wand scheinen höhnisch zu kichern und auf sie zu deuten, und sie schließt die Augen und setzt sich in eins der spindelbeinigen Sesselchen, schlägt die Hände vor das Gesicht und weint, stoßweise, heftig, wie sie als Kind geweint, wenn sie ihren Willen nicht bekam und sich in den eines andern fügen mußte. Und dann stürzt Tante Tonette herein, hustend, kurzatmig, und hält sie umschlungen und streichelt sie, küßt sie und gebärdet sich wie närrisch.
„Böse sollt’ ich dir sein? Wie hast du die alte Tante genarrt! Warte nur, ich gedenk’s dir, mein Liebling, süßer, vernünftiger – Gott segne dich!“
Als man sich spät am Abend trennt, hat Tante Tonette feierlich ausgemacht, daß die Verlobung geheim gehalten wird, daß Edith und sie in irgend eine stille Sommerfrische gehen, daß die Hochzeit zu Ende November stattfinden soll im kleineren Kreise und daß Anton unterdes den sehr umfassenden, aber höchst nötigen Reparaturbau des Schlosses vornimmt. Und als Tante Tonette sich bereits in süßen Träumen wiegt, als Edith mit einem trotzigen Zug um die Lippen schon schläft, da sitzt drunten im Wohnzimmer ein großer blonder Mann auf Christels Fensterplatz und starrt hinaus mit blassen müden Zügen nach dem Garten, der in grellem Mondschein liegt.
Anton hat zu allen diesen Vorschlägen, die über ihn hereingestürzt sind wie ein rauschender Wasserfall, immer nur Ja! gesagt. Er ist noch wie betäubt. Die alte Dame kommt mit so bestimmten und durchdachten Forderungen, sie muß sich alles längst überlegt haben. Es thut ihm beinahe weh, aber er sagt Ja! und Edith schweigt. Nichts weiter empfindet er als die Sehnsucht nach dem Frieden, den er verlor.
Und wie er sich müht, diesen verlornen Frieden seiner vergangenen Tage in der Erinnerung wieder zu beschwören, da will ihm scheinen, als verkörpere er sich in der Gestalt eines großen blonden Weibes mit gutem Lächeln auf den Lippen und treuen blauen Augen, das schemenhaft an ihm vorübergleitet, zu der Thür des Zimmers hinaus, über die Freitreppe, den Hof, und dort in der Einfahrt zerfließt es und verschwindet.
Sein Frieden, sein Glück ist fort, er hat es, er selbst hat es verstoßen.
„Christel!“ stöhnt er.
(Fortsetzung folgt.)
[217]
Die erste Volksheilstätte für Brustkranke in Bayern.
In einem Aufsatze über Volksheilstätten für Lungenkranke in Halbheft 18 des Jahrgangs 1890 der „Gartenlaube“ hat Dr. Driver die Ansicht ausgesprochen, „die Volksheilstättenfrage scheine nun in Fluß zu kommen“, und wahrlich, er hat recht gehabt! Rascher als zu erhoffen war, hat sich nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen civilisierten Welt eine Bewegung und Thätigkeit entwickelt, die zu der Annahme berechtigt, daß die Lungenschwindsucht endlich allgemein richtig und erfolgreich bekämpft wird, indem den Lungenkranken aller Volksschichten die ihnen gebührende Behandlung in geeigneten für diesen Zweck erbauten Anstalten zu teil wird.
Es ist das Verdienst unserer deutschen Kliniker, wir nennen vor allen die Namen v. Ziemssen, v. Leyden, Schrötter und Gerhardt, in dieser Frage bahnbrechend gewirkt zu haben, indem sie durch Wort und That dafür eingetreten sind, daß die Tuberkulose eine heilbare Krankheit ist, und zwar nicht durch specifische und medikamentöse Therapie, sondern durch die physikalisch-diätetische Freiluftbehandlung innerhalb geeigneter Sanatorien.
Bis vor wenigen Jahren waren wegen der verhältnismäßig hohen Kosten wohl die reich Begüterten in der Lage, bei Erkrankungen der Lunge die in Deutschland bestehenden Heilanstalten und Kurorte aufzusuchen oder in südlichem Klima Besserung und Heilung ihres Leidens anzustreben; die Minder- und Unbemittelten aber mußten zu Hause in meist engen Wohnungen dem Siechtum überlassen bleiben oder in die allgemeinen Krankenhäuser aufgenommen werden, die nach einstimmigem Urteile der Fachmänner nicht der geeignete Platz zur Behandlung von Lungenerkrankungen sind. Noch in Halbheft 6 des Jahrganges 1893 der „Gartenlaube“ wurde die Heilanstalt für unbemittelte Lungenkranke zu Falkenstein im Taunus als „erster Stein zu einem köstlichen Baue der Nächstenliebe, der in den nächsten Jahren aufgeführt werden muß“ bezeichnet; vor wenigen Wochen konnte dagegen Geheimrat v. Ziemssen in einer Arbeit über den heutigen Stand der Volksheilstättenfrage folgendes berichten: „Im kommenden Frühjahre werden etwa 25 Sanatorien teils im Betrieb, teils im Bau begriffen sein, und bevor das Jahrhundert zu Ende geht, wird diese Zahl wahrscheinlich verdoppelt sein. Berechnen wir für 25 Sanatorien mit einem Belegraum von 100 Betten einen vierteljährlichen Wechsel der Belegung, so entziffert sich als gesicherte Jahresleistung, daß 10000 Kranke eines dreimonatigen Kurverfahrens teilhaftig werden können. Das ist in der That ein großes Resultat, das alle Erwartungen übertrifft.“
In wahrhaft großartiger Weise hat sich wiederum die Privatwohlthätigkeit gezeigt, indem sie Mittel zum Bau von Heilanstalten gespendet hat. Allenthalben haben sich Vereine gebildet, welche diesen Zweck verfolgen; an der Spitze derselben steht das „Deutsche Centralkomitee zur Errichtung von Heilstätten für Lungenkranke“ unter dem Protektorate der Deutschen Kaiserin und dem Ehrenvorsitze des Fürsten zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Männer aus allen Teilen Deutschlands und aus allen Berufsklassen gehören demselben an. Das Komitee verfolgt nicht den Zweck, selbst Anstalten zu bauen, sondern will die Vereine hierbei durch Geldbeiträge unterstützen.
Ganz wesentliche Förderung wurde der Heilstättensache nach dem Vorgehen der hanseatischen Versicherungsanstalt unter der thatkräftigen und zielbewußten Leitung ihres Direktors Gebhardt durch die Alters- und Invaliditätsversicherungsanstalten erwiesen, indem diese von der ihnen nach § 12 des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes gegebenen Befugnis zur Uebernahme der Kosten des Heilverfahrens auf Lungenkranke Anwendung machten. Zum Teil haben die Versicherungsanstalten selbst Heilstätten erbaut, so die hanseatische in Oderberg, zum Teil aber haben sie den Bau der durch die Vereine gegründeten Anstalten ermöglicht durch Gewährung von Darlehen zu einem möglichst niedrigen Zinsfuße oder gegen die Berechtigung, jederzeit Betten in den Anstalten zu belegen. Bis Ablauf des Jahres 1897 waren rund 1300000 Mark von Anstaltsmitteln in Heilstätten angelegt, im Jahre 1898 werden sich nach einer Mitteilung Gebhardts die hierfür zur Verwendung kommenden Mittel aus 3 bis 4 Millionen Mark belaufen.
Aber auch die Gemeinden haben bereits angefangen, ländliche Heilstätten zu errichten; die Stadt München geht mit gutem Beispiele voran, indem sie ein Sanatorium für 400 Betten in Harlaching erbaut, Worms plant eine Anstalt, ebenso Leipzig, und auch Berlin, das sich so lange ablehnend verhalten, hat sich jetzt entschlossen, nach Ablauf des Pachtes der Versicherungsanstalt die Heilstätte in Gütergotz für lungenkranke Männer einzurichten.
Wir brauchen wohl nicht erst zu sagen, wie notwendig und berechtigt der Kampf gegen die Tuberkulose ist; es ist doch allbekannt, daß sie, die verheerendste aller Krankheiten, in Deutschland jährlich 160000 bis 180000 Opfer fordert, daß an ihr in Europa täglich nahezu 3000 Personen sterben, und zwar gerade die in vollster Lebenskraft stehenden Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, die eigentlich die Aufgabe hätten, zu erwerben und für ihre Familien zu sorgen. In Deutschland sterben an Tuberkulose nach den Berichten des Gesundheitsamtes 33%, in Bayern [218] nach unserer Zusammenstellung 37%, also mehr als ein Drittel aller in dem Alter von 15 bis 60 Jahren sterbenden Personen.
Es ist an dieser Stelle wohl überflüssig, von neuem der hygieinisch-diätetischen Heilmethode in geschlossenen Anstalten das Wort zu reden, wurde dies doch von berufenster Seite mehrfach in überzeugender Weise gethan; wir wollen nur kurz darauf hinweisen, daß das zuerst von Brehmer eingeführte und später von Dettweiler, Driver, Wolff, Turban u. a. ausgebildete Verfahren im wesentlichen darauf beruht, durch Abhärtung und Kräftigung des Organismus denselben zu befähigen, den Kampf mit den Krankheitserregern, den Bacillen, zu bestehen. Der Genuß frischer staubfreier Luft, der insbesondere durch das Liegen im Freien den durch alle erdenklichen Decken und Hüllen gegen Kälte geschützten Patienten selbst in den Wintermonaten ermöglicht wird, sowie die Kaltwasserbehandlung sollen den Stoffwechsel steigern und den Appetit und Ernährungszustand heben. Es ist außer Zweifel, daß die Reinheit der Luft und nicht nur, wie man früher annahm, die Höhenlage der Heilstätte den Erfolg der Kur bedingt; dementsprechend werden die Anstalten in staubfreien, durch Waldungen oder Höhen vor Wind geschützten Lagen, an Plätzen, die frei sind von extremen klimatischen Verhältnissen, errichtet.
Wohl eine der größten und schönsten Volksheilstätten erbaut der „Münchener Verein für Volksheilstätten“ (siehe Abb S. 217), der unter dem Protektorate des Prinzen Ludwig von Bayern und dem Ehrenpräsidium des Regierungspräsidenten von Oberbayern, Herrn v. Auer, steht und dessen erster Vorsitzender Herr Geheimrat Dr. v. Ziemssen ist. Des letzteren begeistertem Eingreifen durch Wort und That verdankt der Verein sein Entstehen wie sein Gedeihen. Der großartige Opfersinn der Münchener Bevölkerung hat es ermöglicht, daß in Krailling bei Planegg, einer Station der München-Starnberger Bahnlinie, ein 16,419 ha großes, mit gemischtem Bestande besetztes Grundstück inmitten der herrlichsten Waldungen erworben und auf demselben eine Anstalt für 120 Betten nach dem Entwürfe des Architekten M. Dosch in München erbaut werden konnte. Im Laufe dieses Sommers soll diese erste Volksheilstätte in Bayern in Betrieb gesetzt werden, ausgerüstet mit allen Errungenschaften der modernen Technik: elektrischer Beleuchtung, Niederdruckdampfheizung und ähnlichem.
Der Bau bildet einen nach Süden offenen Bogen, sämtliche Tages- und Schlafräume sind nach Süden gelegen; auf ein Bett treffen durchschnittlich 38 cbm Luft, in den Flügelbauten haben 2 große Liegehallen Platz gefunden. Wohl einzig in seiner Art dürfte der fast den ganzen Besitz einnehmende Park dastehen, 2 und 3 m breite Wege durchkreuzen denselben in einer Gesamtlänge von etwa 4 km, und eine Reihe größerer und kleinerer Plätze, teils in sonniger, teils in schattiger Lage, bietet reichliche Gelegenheit zum Aufenthalt im Freien. In dem mit dem Hauptgebäude durch einen unterirdischen Gang verbundenen Oekonomiegebäude sind die Stallungen für Pferde, Kühe und Schweine sowie die Maschinen- und Wäschereianlagen untergebracht.
Obwohl durch ein Darlehen der Alters- und Invaliditätsversicherungsanstalt für Oberbayern die Kosten größtenteils gedeckt sind, muß doch nun noch weiter an die Privatwohlthätigkeit appelliert werden. Zunächst geschieht dies durch die Veranstaltung einer Geldlotterie, zu der die kgl. Regierung die Genehmigung erteilt hat und deren Ziehung am 12. Mai stattfindet. Professor Hermann Kaulbach hat dem Vereine hierzu in hochherziger Weise einen ebenso fein empfundenen wie künstlerisch vollendeten Entwurf für das Plakat und die Lose gespendet, den die Leser hier oben abgebildet finden. Er stellt die Caritas dar, wie sie den Schlußstein in den Thorbogen der Heilstätte einfügt. Mögen reichliche Mittel fließen, um dieses neue Werk der Nächstenliebe vollenden zu helfen!
Auf dem Kynast.
(Schluß.)
An einem prächtigen Junitag, der das ganze Gebirge bis zu den höchsten Gipfeln hinauf in sonnengoldenen Schimmer tauchte, erhielt der alte Röger einen unerwarteten Besuch. Es war Christoph, der stattliche Bauernbursche aus Hermsdorf. Die blanken Knöpfe seiner Jacke glitzerten in der Sonne; der dicke Blumenstrauß in seiner Hand wetteiferte hierin mit ihnen, denn es funkelte von Regenbogenfarben in den Wassertropfen, mit denen er ihn besprengt hatte, um die Kornraden und Cyanen und die dunkelroten Mohnblumen frisch zu erhalten. Der Kastellan, der gerade bei einer angebrochenen Flasche saß, lud den Gast ein, an seiner Seite Platz zu nehmen.
„Was verschafft mir die Ehre, Herr Hauptner?“
Christoph mußte erst seine Gedanken ordnen, denn er hatte so viel Wichtiges mitzuteilen, daß er nicht wußte, womit er den Anfang machen sollte. Er trug übrigens heute den Kopf höher als sonst und auch das selbstgefällige Lächeln auf seinem rotglühenden Gesicht machte sich heute besonders breit.
„Herr Kommandant, jetzt wird’s wohl bald einen schönen Streußelkuchen geben zum Hochzeitskaffee – sehen Sie mir nichts an, gar nichts?“
„Ich sehe nur, daß Sie sehr vergnügt sind – und das freut mich.“
„Sehen’s, wie Sie recht haben. Sie kennen die Menschen. Kreuzvergnügt bin ich, denn ich bin jetzt Gutsherr, alleiniger [219] Herr unsres Hofes. Niemand hat mir mehr dreinzureden; mir gehört die ganze Wirtschaft; ich glaube fast, ich könnt’ jetzt das Wetter machen.“
„Was ist geschehen? Ist der Schulze, Ihr Vater, gestorben?“
„Seh’ ich aus wie ein Leichenbitter? Sind das hier Trauerblumen, dies bunte Zeugs hier, das ich aus den Feldern ausgerauft habe? Der Alte lebt noch – Gott sei Dank, denn ich hab’ mich an sein mürrisch Gesicht gewöhnt, und es würde mir was fehlen, wenn auf dem Großvaterstuhl mir nicht alle Abende seine Glatze wie der Mond aufginge. Doch zur Ruh’ hat er sich gesetzt – das ist’s! Besuchen soll er mich alle Tag’ wie immer, doch zu sagen hat er nichts mehr!“
„Zu sagen hat er noch genug, er ist der Schulze.“
„Auch nicht mehr, er hat’s eingesehen, auch dazu ist er zu alt. Sie wollen nicht mehr parieren im Dorfe. So’n Schulze muß gelegentlich dreinschlagen können. Und sie spielen ihm auf der Nas’ herum. Doch was das Dorf thut, schert mich nicht, nur was ich thue – und ich hab’ etwas Sauberes gethan. Ich hab’ den Alten dazu g’bracht, daß er sich von mir auf den Altenteil setzen ließ. Er zieht ins frühere G’sindehaus, das ich für ein gut Stück Geld herrichten will, nicht so schön wie’s Schulzenhaus, das jetzt mir gehört, doch als einen gemütlichen Aufenthalt für den alten Mann, wo’s ihm noch recht gut schmecken soll. Ich aber bin jetzt der Herr – Knechte und Mägde und alles Vieh muß sich vor mir ducken, und ich kann den Hafer dahin säen, wo ich immer schon wollte – er aber nicht!“
„Da kann man ja Glück wünschen, Herr Hauptner!“
„Das können’s, aber Sie können noch mehr. Die Kläre müssen Sie mir jetzt recht rasch geben; schon zu Johanni soll Hochzeit sein, da machen’s nur nicht viel Faxen! Brauchen sich übrigens nicht anzustrengen. Die Hochzeit mach’ ich aus. Nur ’s Mädel will ich von Ihnen.“
„Doch das kommt so plötzlich! Klärchen hat ihren eigenen Willen, und wenn sie auch gehorchen wird, so muß man ihr doch Zeit lassen, sich darein zu finden.“
„Findet sich was! Das ist doch der reine Honig – der geht so glatt hinunter! Nur das Mäulchen wird sie danach spitzen, und ein Schwiegersohn wie ich – den können’s in Gold fassen! Liefere alles umsonst für die Burg, für die Fremden, auch fürs Militär, wenn’s herkommen sollte, und das schluckt viel hinunter.“
Der Kommandant schmunzelte behaglich.
„Brot, Butter und Käs, Wurst und Schinken, Gänsefett, ja auch die Gans selbst, wenn es sein muß; dafür will ich ja nur Ihr Mädel, wie’s geht, wie’s steht. Eins ums andere! Das geht gerade so auf!“
Der alte Röger, dem sich eine sonnige Zukunft eröffnete, sprang plötzlich auf wie von einer Feder in die Höhe geschnellt, drehte sich um wie die Tanzfigur einer Kammeruhr, die vom Uhrwerk mitbewegt wird, und begab sich in strammer Haltung in seine Wirtschaftsräume. Christian wußte, daß der Mann etwas Großes vorhatte, und wartete geduldig auf seine Rückkehr. In der That kam Röger bald wieder, an der Hand Klärchen führend, die er nun freigab und mit einem leisen vielsagenden Ruck dem Brautwerber entgegenschob. „Hier, der Herr Hauptner, der schon lange um dich wirbt mit meiner Zustimmung, ist jetzt Grundbesitzer geworden und verlangt deine Hand.“
„Nehmen’s die Blumen hier, Klärchen, ich hätte den Strauß noch zehnmal so dick machen können – so viel Lieb’ trag’ ich im Herzen; doch es ist ja nur Unkraut und soll dir nur sagen, daß dir alles gehört, was auf den Feldern wächst, nicht bloß die elendigen Blumen, sondern auch die schönsten Ernten.“
„Ich danke sehr, Christoph, doch ich mag dich nicht!“
Der alte Röger fuhr erschrocken auf.
„Was soll das heißen?“
„Ich heirate den Christoph nicht – weder zu Johanni, noch zu Michaelis, noch zum Heiligen Christ; er mag sich eine andere Liebste suchen.“
„Du weißt noch nicht, Kläre – der Alte ist auf den Altenteil gesetzt –“
„Was kümmert’s mich? Der Alte will mich ja nicht heiraten!“
„Doch du wirst die Bäuerin – alles ist dein!“
„Und ich laß mich nicht zwingen. Vater, in allem will ich dir gehorchen, aber was meine Liebe betrifft, so gehe ich meine eigenen Wege! Nichts für ungut, Christoph! Ich wünsch’ Glück zu Haus und Hof und hoff’, auch bald Glück zu wünschen zu einer Bäuerin – um einen so schmucken Burschen wird jede beneidet werden. Nur mich laß aus!“
Und sie wandte dem entmutigten Freier den Rücken. Christoph wußte nicht, wie ihm geschah. Das war etwas Unglaubliches – er machte große Augen – das war ja ein Wunder! Er, verschmäht, jetzt wo er das schönste Gut im Dorfe sein eigen nennen konnte! Allmählich erst begann er sich an diesen Gedanken zu gewöhnen; er nahm den dicken Strauß und warf ihn über die Brüstung des Vorplatzes hinab auf den Weg und zupfte sich ärgerlich die blaue Jacke zurecht. Selbst der Sonnenschein ärgerte ihn, der auf den blanken Knöpfen funkelte – was nützte ihm das jetzt?
Noch mehr betroffen war der Kommandant. Was wandelte das Mädchen an? War das der Lohn für alles, was er für sie gethan? Halsstarrig und störrisch – doch das sollte anders werden! Er strich sich seinen Schnauzbart, zerrte daran hin und her, so wie ihm kreuz und quer die unwirschen Gedanken durch den Kopf liefen. Dann hielt er’s fürs beste, Christoph zunächst zu vertrösten, damit er nicht gar schon jetzt aufhöre mit den Naturallieferungen für die Burg. „Das Mädchen hat seine Launen, Christoph! Hören Sie nicht darauf! Sie wissen ja, es ist das reine Aprilwetter bei den Frauen. Ich werd’ ihr schon den Kopf zurechtsetzen. Kommen Sie nur wieder! Sie müssen sich erst sachte in ihr Herz einschleichen, überrumpeln läßt sich so ein stolzes Mädchen nicht! Die müssen belagert werden, ehe sie kapitulieren. Sie kommen mit Pauken und Trompeten und verlangen sogleich die Uebergabe. Geduld, mein Bester! Ich werd’ Ihnen beistehen und allmählich das Erdreich lockern, wo Ihre Liebe blühen soll! Und sollte sich einmal irgend ein Nebenbuhler zeigen – dem will ich heimleuchten!“
Und Christoph ließ sich leicht trösten. Die Mädchen sind alle spröde – das ist nur so ein Gethue, das hat nicht viel auf sich! Ihn auszuschlagen – das ist freilich ein starkes Stück, damit mag sie prahlen; doch dann kommt der Verstand und dann wird sie schon ein Einsehen haben! So schied Christoph beruhigter.
Der Kommandant ließ nicht gleich seinen ganzen Zorn an der Tochter aus; er sparte sich das auf für eine ruhige Abendstunde; es waren Gäste gekommen und Klärchen war flink und hurtig bei der Bedienung und lächelte so freundlich, als wäre nichts vorgefallen. Gegen Abend hatte Klärchen eine große Freude. Sie täuschte sich nicht, als sie in der ehrwürdigen Gestalt mit dem im Abendlicht rötlich schimmernden Silberbart, die den Berg heraufgeklettert kam, den alten Rübezahl erkannte. Das war Hilfe in der Not! Der Alte war, wie er Klärchen gleich darauf erzählte, beim Grabe seiner Tochter in Flinsberg gewesen und hatte frische, duftige Kränze daraufgelegt; er war dann über Schreiberhau, wo er neue Aufträge fürs Glatzische erhalten, auf den Kynast gekommen, um sein Enkelkind zu sehen und dann die weite Wanderung ohne Unterbrechung fortzusetzen. Er brachte Grüße von Robert und war ein willkommener Bundesgenosse, wenn der Vater mit Klärchen unsanft ins Gericht gehen würde.
In der That, kaum hatten sich die letzten Gäste verabschiedet, als Röger seine Tochter rief. „Du heiratest den Hauptner – – ich will’s, ich befehl’s! Gegenreden helfen nichts – das ist der Schwiegersohn, den ich brauche. Du wirst mir gehorchen, wenn du mich lieb hast; Verliebtheit ist ein dumm Ding und hat nicht viel zu sagen; sie hört auf mit der Ehe. Heute dieser, morgen jener, das ist so Brauch bei den Mädchen. In ihren Herzen geht ein Zugwind, bald aus Ost, bald aus West – und danach dreht sich die Wetterfahne. Deshalb darf man kein ernsthaft Glück in den Wind schlagen. Ich spreche ruhig mit dir – bring’s nicht dazu, daß dein Unverstand mich reizt und in Wut versetzt!“
„Ich antworte ebenso ruhig,“ sagte Klärchen, „daß ich den Christoph nicht liebe und ihm keine Liebe heucheln kann. Leid thut mir’s um deinetwillen – doch ändern kann ich’s nicht!“
„Da soll doch das Wetter dreinschlagen!“ rief der Kommandant. „Wie? Du unterstehst dich? Du willst mir trotzen? Ich aber sage dir, wenn du dich nicht fügst, wenn du – –“
„Halt!“ rief eine Stimme. Der Kommandant drehte sich um und seine Erregung wuchs, als er Rübezahl erblickte.
[220] „Was mischt Ihr Euch in meine Angelegenheiten, alter Botenläufer? Glaubt wohl etwas Hochwichtiges zu sein?“
„Bin ich auch! Lassen Sie Klärchen ihre Wege gehen – ich habe mit Ihnen zu sprechen!“
Auf einen ärgerlichen Wink des Vaters entfernte sich Klärchen. In großer Erregung ging sie um die Burg herum, bis sie an den Höllenschlund kam, zu dem steil die mondhellen Felswände hinabstürzten. Sie setzte sich an den Rand der Schlucht, die so recht geeignet war, schwermütige Gedanken wachzurufen. Das war dort unten solch ein Grab für alle Hoffnungslosen, tief, eng, dunkel – sollte sie auch alle ihre Hoffnungen begraben? Doch drüben ging ein fröhliches Rauschen durch die Wälder des Herdberges und ihre Wipfel neigten sich vor ihr, als wenn sie ihr Glück wünschten. Nein, nein! Sie brauchte nicht zu verzweifeln. Indes war Rübezahl mit dem Kommandanten im eifrigen Gespräche begriffen.
„Ihr gebärdet Euch,“ sagte dieser, ärgerlich seinen Schnurrbart in die Höhe zwirbelnd, „als ob Ihr Rechte auf das Mädchen hättet.“
„Und wenn es so wäre?“ versetzte Rübezahl.
„Ihr glaubt wohl wirklich, solch ein Stück vom alten Berggeist zu sein, nach dem Ihr Euren Spottnamen habt? Ihr glaubt kommandieren zu dürfen wie der Alte, der die Wolken hinauf und hinunter schiebt, wie’s ihm beliebt, und dazwischen donnert, wenn er gerade schlecht aufgelegt ist! Mein Lieber, man hat Euch etwas verwöhnt, weil man Euch brauchen kann, aber Eure Stiefel sind nützlicher als Euer Kopf – da stecken Eure Briefe mit den geheimen Ordres, in Eurem Kopf steckt nicht gerade viel.“
Rübezahl fühlte sich nicht beleidigt, er lächelte sogar. „Vielleicht doch mehr als Sie glauben! Mein Kopf hat auch seine Geheimnisse, so gut wie meine Stiefel, und hinter die Ihrigen bin ich schon längst gekommen.“
Der Kommandant wurde stutzig. „Ihr meint?“
„Ich meine, daß Klärchen nicht Ihre Tochter ist!“
„Oho! Was Ihr sagt!“
„Sie ist ein adoptiertes Kind, doch Sie haben es von Anfang an als Ihr eigenes ausgegeben.“
Röger war aufs äußerste betroffen.
„Woher habt Ihr diese merkwürdige Neuigkeit?“
„Aus guter Quelle! Ich habe sie auch schon Klärchen mitgeteilt.“
„Das Mädchen weiß – “
„Daß Sie nicht ihr rechter Vater sind!“
„Ah, also deshalb diese freche Auflehnung? Darum gebärdet sie sich jetzt so trotzig!? Aber was ficht Euch an, Rübezahl? Was kramt Ihr herum in diesen alten Geschichten? Was in aller Welt geht Euch das an, ob das Mädchen eine geborene oder adoptierte Röger ist?“
„Es geht mich an, Herr Kommandant! Ich habe meine Spürnase nicht in Ihre Vergangenheit gesteckt; da giebt’s ja bei allen Menschen dunkle Ecken, in welche allerlei Kehricht hineingefegt ist. Ein Zufall hat mich zum Mitwisser gemacht. Und es ist ja nichts so Schlimmes, was Sie gethan haben. Sie haben ein verwaistes Kind in eine ehrliche Familie aufgenommen. Nur daß Sie dasselbe für Ihr eigenes ausgegeben und damit geprahlt haben – das war ein Fehler und darum ist es Ihnen jetzt verzweifelt unlieb, wenn die Wahrheit an den Tag kommt und an die große Glocke gehängt wird. Mich aber geht das alles mehr an, als Sie glauben – denn dies Mädchen ist mir blutsverwandt.“
„Da hat sie wohl die Freude, einen alten Onkel gefunden zu haben?“
„Sie steht mir näher als Ihnen und ich habe mehr Recht auf sie – es ist mein Enkelkind, das Kind meiner verstorbenen Tochter!“ Röger schwieg; er qualmte gewaltig aus seiner Pfeife. Es trat eine längere Pause ein und der Alte betrachtete ruhig den niedergeschlagenen, sonst so hochmütigen Kommandanten, der sich allmählich aus seiner Bestürzung aufraffte.
„Wohl,“ sagte er, „es mag ja so sein! Das alles kümmert mich aber wenig; von Euch ist bei dem ganzen Handel nicht die Rede gewesen. Ihr habt Euch offenbar um Eure Tochter so wenig gekümmert, daß Ihr auch jetzt nicht das Recht habt, mitzusprechen, wo es sich um das verlassene Kind des verlassenen Mädchens handelt. Das Eine nur gesteh’ ich: es wäre mir peinlich, wenn’s herumkäme, daß Klärchen nicht meine eigene Tochter ist und daß ich der Welt so lange Zeit hindurch etwas vorgeflunkert habe. Wenn Euch also an meiner Freundschaft etwas gelegen ist, Rübezahl – und ich kann Euch doch viel nützen und helfen in der Welt – ich bin einflußreich, ich habe das Ohr des Grafen – so müßt Ihr mir versprechen, das Geheimnis sorgsam zu bewahren. Klärchen wird nicht plaudern, denn sie ist besser dran bei den Menschen, wenn sie für das Kind einer anständigen Familie gilt, als für eine Art von Findelkind.“
„Das könnte ja sein, das könnt’ ich versprechen, doch dafür verlang’ ich, daß auch Sie mir ein Versprechen geben.“
„Wenn ich’s halten kann –“
„Muß geschehen, Herr Kommandant! Sonst weiß Hermsdorf und Warmbrunn und alles, was am Zacken und am Bober wohnt, daß Sie der Welt ein X für ein U gemacht haben.“
„Nun?“
„Ich verlange, daß Sie Klärchen nicht zwingen, dem Christoph ihre Hand zu reichen.“
„Der Christoph –“
„Und daß Sie einem andern, wenn’s ein ehrlicher Kerl ist, nichts in den Weg legen.“
Jetzt wollte der Zorn den Kommandanten wieder übermannen. Die Vorstellung von dem Proviant, den der reiche Christoph geliefert hätte, von all den schönen Schinken und Eiern stieg ihm zu Kopfe. Aber er war doch schlau genug, einzusehen, daß diese Partie voraussichtlich nun verloren, daß es besser sei, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Und der andere,“ wandte er sich nach einiger Ueberlegung wieder an den ruhig wartenden Rübezahl, „hat er auch einen Schnappsack? Wenn er kein Bruder Habenichts ist, dann ließe sich darüber reden. Doch steuern müßte er für die Burg, das sage ich zum voraus! Nun kommt, Alter – ein Glas Stonsdorfer Bier, frisch vom Faß – Ihr erzählt mir, wie Ihr alles erfahren.“
Noch immer hatte Edmond keinen Bescheid vom Prinzen Jerome erhalten. Der Krieg in der Grafschaft nahm ja kein Ende und man brauchte tüchtige Offiziere. Wie, wenn er hinüber kommandiert würde als ein Genesener, wenn man ihm den Abschied verweigerte?
Leontine konnte den Augenblick nicht erwarten, wo sie dem Vaterhause den Rücken kehren, mit dem Geliebten hinausziehen durfte in die Welt. Fort mußte sie, denn wenn der Krieg plötzlich ein Ende nahm, da konnten die beiden Freier zurückkehren, vielleicht lahm und verstümmelt, und dem, den zuerst die feindliche Kugel getroffen, mußte sie dann die Hand reichen. Eine Invalidenbraut – dazu hatte sie sich ja selbst verurteilt! Die böse Kunigunde hatte ihr den unseligen Gedanken eingegeben. Doch es durfte nicht sein! War sie erst in der Ferne verschwunden, dann hatten sie das Nachsehen, die tapferen Vaterlandsverteidiger! Sie hatte zwar ihr Wort gegeben, doch das blieb ja hier zurück, und wenn sie fern auf den Rebenhügeln der sonnigen Provence weilte, da mochten die erbitterten Freier sie immerhin in den Höllenschlund hinunter wünschen: das kümmerte sie wenig – nur fort mußte sie, fort um jeden Preis!
Es kam hinzu, daß der Papa jetzt immer von unerträglicher Laune war, ein Franzosenfresser schlimmster Art. Seine Ausfälle auf Napoleon, auf den Harem des galanten Jerome, auf die sittenlosen Offiziere, welche Deutschland mit den Odeurs von Paris verpesteten, reizten und erbitterten sie, und doch durfte sie nicht widersprechen! Sie rächte sich aber, wenn sie bei derartigen Tischgesprächen alles Unangenehme, was in der Wirtschaft passiert war, hervorsuchte, die gefallenen Pferde, die Diebereien des Eleven, die Kühe, die nicht genug Milch gaben, das schlechtstehende Korn, das verregnete Heu – und wenn sie solch einen Haufen von wirtschaftlichem Unglück auf den alten Herrn gewälzt, daß diesem vom Aerger fast der Atem verging, dann atmete sie selber frei auf: das hat er nun für seinen altpreußischen Zopf, den er mir immer ins Gesicht schlägt!
Doch der Papa merkte die böse Absicht und er war nicht mehr so stolz auf seine Leontine, er ließ ihr nicht die Freiheit der Bewegung wie sonst. Immer mußte sie zu Hause sein, immer die Honneurs machen, selbst wenn nur ein gewöhnlicher Bauer kam, um einen Schafbock zu kaufen, oder ein Mann mosaischen Glaubens, der mit Papa ein Geldgeschäft machte.
[221] Schon einmal hatte sie Edmond vergebens auf die Burg bestellt. Der alte Herr von Rohow, der Vater jenes Kurt, den sie in den Krieg geschickt, war zum Besuch gekommen, ein Nachbar, doch ein seltener Gast, hochgeehrt im Land umher. Sie mußte ihrem Vater beistehen, die Pflichten der Gastfreundschaft zu erfüllen, und durfte das Haus nicht verlassen. Der Alte mit den Silberhaaren fühlte sich so behaglich und plauderte so gemütlich – es nahm kein Ende! Ihre Ungeduld verwandelte sich fast in Wut; sie stampfte mit dem Fuße auf, ehe sie in den Salon trat, wo die beiden saßen, und setzte das Tablett so hart auf, daß Flaschen und Gläser durcheinanderklirrten. Doch der Alte war militärfromm; er hatte keine Nerven, er lächelte nur vergnügt über das Ungeschick des Schloßfräuleins. Der Vater unterdrückte eine Strafpredigt; sie wußte aber, daß er später eine andere servieren würde.
Als sie dann auf ihrem Stuhl am Fenster saß und beobachtete, wie die Sonne allmählich hinter den Bergen hinabstieg und der Himmel immer röter wurde, ganz wie das Gesicht des Gastes, der dem Weine tapfer zusprach, konnte sie sich kaum fassen. Ein schöner Tag verloren, unwiederbringlich verloren! Nur einmal horchte sie aufmerksam hin und die Wolke auf ihrer Stirn schien sich einen Augenblick zu zerstreuen.
Der alte Rohow erzählte von den Heldenthaten seines Kurt, der mit seinen Husaren ein feindliches Geschütz erobert und die Bedienungsmannschaft niedergehauen hatte. Doch er selbst blieb unverwundet. Soweit er sich in diesen Kämpfen auch hervorgewagt, die Vorsehung, die über den Häuptern derer von Rohow mit besonderer Sorgfalt wachte, hatte ihn in ihren Schutz genommen. Leontine konnte nicht umhin, sich nach dem Freunde Kurts, dem jungen Friedrich, zu erkundigen, und erfuhr zu ihrer Beruhigung, daß auch diesem noch keine Kugel, kein Säbelhieb etwas zuleide gethan. Es war das einzige Mal, daß sie sich in das Gespräch mischte – dann saß sie wieder stumm und starr und einige galante Annäherungsversuche des alten Herrn wies sie fast unhöflich zurück.
Ob Edmond wiederkommen würde, wenn sie ihn zum nächsten Abend auf die Burg einlud? Da war sie frei, den Vater hatte der alte Rohow zu einer Whistpartie eingeladen; die neu angeknüpfte Freundschaft sollte befestigt werden. Eine gefährliche Freundschaft; denn die ritterliche Zärtlichkeit, die der würdige Herr ihr beim Abendessen wiederum bewies, hatte etwas Väterliches. Er dachte wohl gar daran, bald die Rolle des Schwiegervaters zu spielen! Das brachte ihr Blut aufs neue in Wallung. Kurt hatte wohl im letzten Feldbrief von seiner leidenschaftlichen Liebe gesprochen, und es war den Rohows gewiß sehr genehm, wenn sie den schönen Familienbesitz an sich reißen konnten, Darum lächelte sie der Alte so liebenswürdig an. Viertausend Morgen guter Weizenboden außer Wald und Wiesen – das verlohnte schon ein Lächeln! – Pfui, sie läßt sich nicht verkaufen!
Doch auch die Zusammenkünfte auf der Burg konnten so nicht fortdauern, es wurde immer schwieriger, sich dort zu sehen. Und vor allem – ihre Liebesleidenschaft empörte sich gegen den beständigen Zwang, gegen all das Verstohlene, Halbe. Immer heißer wurde ihr Sehnen nach Freiheit und schrankenloser Hingebung – ja Kunigunde, das wilde Burgfräulein, konnte dem Ritter, der den kühnen Ritt gewagt und glücklich vollendet, nicht mit größerem Entzücken ans Herz sinken als sie ihrem Edmond droben – doch es war nur ein kurzer Rausch, die Warnung, die Störung verkümmerten jedes Glück! O, wie zog sie’s in die Ferne! Sie sah träumend ins Abendrot.
In aller Frühe ging ihr Bote am nächsten Tag nach Hermsdorf und noch vor Mittag hatte sie die erfreuende Zusicherung, daß der Geliebte nochmals ihrer harren werde. O, er war kein verdrießlicher deutscher Bär – er murrte nicht, er liebte sie wahrhaft, er fühlte und wußte, daß sie unschuldig war an jeder Verkümmerung eines Glückes, das sie selbst so heiß ersehnte wie er.
Die Abfahrt des alten Barons von Wallwitz zur Whistpartie bei seinem Freund Rohow verzögerte sich: der Verwalter erschien, als das Anspannen schon bestellt war, mit der wichtigen Mitteilung von einem großen Diebstahl in den Scheuern, und es galt, schleunige Maßregeln zur Ergreifung des Diebes zu treffen. Der Landgendarm klirrte mit seinem Säbel die Treppen herauf und hinab; dies Geklirre versetzte Leontine in nervöse Aufregung; immer kam er wieder mit einem neuen im Hof aufgegriffenen Zeugen. Endlich rasselte der Wagen aus dem Hofthore. Leontine warf rasch ihren Staubmantel über. Stürmisch schritt sie durch die Wälder des Burggürtels, ohne des steilen Aufstiegs zu achten. Fast atemlos kam sie oben auf dem Vorplätze an, da fand sie Klärchen in Thränen.
„Was ist vorgefallen?“
„O, ich bin so unglücklich!“
„Närrchen, das wird nicht so schlimm sein – etwas Liebeskummer? Das kannst du mir nachher erzählen. Jetzt führe mich zu ihm!“
„Er ist nicht mehr hier!“
Leontine fuhr auf. „Nicht möglich! Bin ich zu spät gekommen, oder hat er nicht auf mich gewartet wie sonst?“
„Ach, das ist eine böse Geschichte und mir selbst ist’s dabei am schlimmsten ergangen! Wärst du doch nur hier gewesen, da wäre wohl alles anders gekommen! Du hättest bekannt, vor aller Welt bekannt, daß du ihn liebst!“
„Als ob ich das könnte, du weißt ja, daß dies ein tiefes Geheimnis bleiben muß.“
„Doch wenn mir dadurch mein Lebensglück gerettet worden wäre –“
„Dafür soll ich das meinige in die Schanze schlagen? Ich sehe dich gern glücklich, aber mit meinem Unglück will ich dein Glück nicht erkaufen! Dazu bin ich nicht großmütig genug. Aber sprich endlich, was ist geschehen?“
„Der Maler war den ganzen Nachmittag und Abend hier auf der Burg. Mein Vater hatte schon seit einiger Zeit ein [222] Auge auf ihn geworfen. Er glaubt, daß er mein Liebster ist, und sagte es mir geradezu. Ich leugnete und hatte ja ein gutes Recht dazu. Heute nun kam dein Freund wieder; glücklicherweise hielt der Vater einen langen Nachmittagsschlaf, denn er hatte mittags mit guten Freunden gezecht. Ich konnte den Maler also unbemerkt in den Burghof geleiten; doch ich hielt’s für besser, ihn ganz zu verstecken, bis du kämst. Ich schloß ihn in den Turm ein und ließ ihn in seiner Gefangenschaft. Du solltest ihn erlösen. Allein es kam anders –“
„Nun? Rasch – rasch!“
„Robert kam mit zwei Offizieren aus Schreiberhau – die Burg soll nun wirklich Besatzung erhalten; sie wollten alle Räumlichkeiten besichtigen. O, wie war ich selig, ihn wiederzusehen, und ich konnte mir auch einen Kuß, eine Umarmung stehlen! Niemand hat’s bemerkt – es war da am Zwinger, wo früher die Falkonetts standen.“
„Deine Liebesgeschichten erzähl’ mir ein anderes Mal; ich kann mir das alles schon denken – weiter, weiter!“
„Das gehört alles zusammen, sonst verstehst du’s ja nicht. Ich ging immer an der Seite der Schreiberhauer Herren mit dem Schlüsselbunde; es gab noch hier und dort einen wenngleich verfallenen, doch verschlossenen Raum, wo der Vater allerlei Gegenstände der Wirtschaft stehen hat. Wir hatten schon den zweiten Hof durchschritten und näherten uns dem Turme – da fiel mir’s schwer aufs Herz, daß dort ja einer im Versteck saß. Der Angstschweiß stand mir auf der Stirn. Ich sagte, an dem alten Turme sei nichts zu sehen, die Treppe sei verfallen. Robert bemerkte mein Zögern, meine Verlegenheit; er wußte sich’s offenbar nicht zu erklären. ,Den Turm müssen wir sehen,‘ sagte er; ,was baufällig daran ist, muß wiederhergestellt werden, wir brauchen ihn als Warte zum Ausspähen.‘ Ich verfiel auf ein sehr thörichtes Auskunftsmittel; ich sagte, ich hätte den rechten Schlüssel vergessen. Da griff eine Hand energisch nach dem Schlüsselbund; es war die meines Vaters, der sich uns angeschlossen hatte, ohne daß ich es merkte; er nahm den Schlüssel heraus, stieß mich erzürnt beiseite und öffnete die Thür.“
„Der arme Edmond! Das kommt von den Heimlichkeiten! Hätte er an seiner Staffelei im Hofe gesessen, es wäre ihm nichts begegnet.“
„Doch! Der Vater war seit gestern ganz in der Stimmung, ihm den Weg zu weisen. Das konnt’ ich nicht wissen, daß er so aus dem Regen in die Traufe kam und ich mit ihm. Der Vater sah mich mit einem durchbohrenden Blick an, als er den Maler erblickte. Und Robert, Robert – er erblaßte. Fast unheimlich war der Ausdruck seiner Züge. Mein Zögern hatte mich verdächtig gemacht; er mußte glauben und er glaubte, daß ich hier einen Nebenbuhler versteckt hielt. Noch waren Fremde zugegen: weder der Vater, noch Robert sagten ein Wort. Der Maler war gefaßt; er sei aus Versehen hier eingeschlossen worden, erklärte er und grüßte mit vornehmem Anstand. Mein Vater aber war seines Zornes nicht länger mächtig, er rief dem Fortgehenden noch in den Hof nach, er wisse ganz gut, was er hier suche, und bäte ihn dringend, seine Besuche endlich einzustellen.“
„O, das hat man davon,“ rief Leontine, „wenn man sein Schicksal in die Hände alberner Mädchen legt!“
„Leontine!“ rief Klärchen in höchster Erregung.
„Ich eile den Berg hinunter, ihm nach!“
„Das ist zu spät, jetzt ist er schon in Hermsdorf; und ich lasse dich nicht fort! Dank für meine guten Dienste verlange ich nicht, aber wie’s jetzt gekommen ist, bist du mir schuldig, mich nicht im Stich zu lasten. Du mußt sprechen, du mußt dich erklären, du mußt meine Unschuld beweisen!“
„Was soll es dir schaden, wenn man dich auch für schuldig hält? Ein Mädchen wie du hat immer seine kleinen Abenteuer.“
„Reize mich nicht, Leontine! Du bist in meiner Gewalt, doch wir wollen Freundinnen bleiben – es würde mir wehthun, wenn’s anders käme. Robert muß wieder an mich glauben – ein Wort von dir genügt. Ich mußte ja schweigen, halbe Hindeutungen würden ihm nicht genügt haben, und hätte ich von einer Freundin gesprochen, er hätt’s für Lug und Trug gehalten, wenn ich ihren Namen verschwieg.“
„Du hast wohl daran gethan,“ sagte Leontine; „wahren wir noch einige Zeit das Geheimnis; dann werd’ ich selbst den Schleier lüften und dein engelweiß Gefieder wird wieder im reinsten Schimmer leuchten.“
„Nein, ich ertrag’s nicht, jetzt, gerade jetzt so dazustehen! Sie werden die Burg besetzen, ich werde immer in seiner Nähe sein – und mit diesem schwarzen Fleck gezeichnet in seinen Augen! Der Krieg wird sich hierher ziehen, er wird mitkämpfen müssen, er wird in Gefahr kommen, o Gott, und wenn er im Kampfe fiele, wäre sein letzter Gedanke der an ein schlechtes Mädchen, das ihn betrogen!“
„Ich kann dir nicht helfen. Sage du was du willst – ich leugne! Für jetzt! Aber es wird, es soll bald anders werden. Nicht mein Wort – daran könnte man zweifeln, es könnte ein Freundschaftsstückchen sein – die That wird dich rechtfertigen!“
Damit verabschiedete sich Leontine und eilte den Berg hinunter, getrieben von ihren wilden, leidenschaftlichen Gedanken.
Klärchen blieb allein zurück – auch Robert hatte die Burg verlassen ohne Abschied, Groll im Herzen und beleidigende Zweifel. Wieder saß sie am Höllenschlund und maß den Absturz in die dunkle Tiefe. Doch die Hoffnung stirbt nicht in einem jungen Herzen. Klärchens Blick wandte sich nach oben; der Stern der Liebe stand mit mildem Glänze am Abendhimmel, an welchem die Gluten des Sonnenuntergangs eben erloschen.
Graf Götzen, der Generalgouverneur von Schlesien, wollte den Krieg führen durch ein Aufgebot aller Volkskraft. Waffen und Munition kamen ihm von Oesterreich herüber; die Werbetrommel wurde gerührt in allen Dörfern der Gebirge. Noch hielt sich Glatz. Er hatte ein verschanztes Lager errichtet zum Entsatz der Feste und es in blutigen Kämpfen gegen die Franzosen verteidigt. Im Rücken der Franzosen hoffte er einen Volkskrieg zu entzünden, der von Schlesien aus weit hinein in die deutschen Gaue sich erstrecken sollte. Der wilde Vandamme aber war aufs höchste erbittert über den Widerstand, der ihm hier in Schlesien, das er schon als eine eroberte Provinz angesehen, auf Schritt und Tritt begegnete. Vor allem wollte er das Brutnest im Gebirge ausheben, aus welchem immer neue Freiwilligenscharen auskrochen, und so sah man eines Tages große militärische Kolonnen sich im Zackenthal vorwärtsbewegen.
Es war begreiflich, daß Edmonds Gesuch um Abschied unter diesen Umständen abgelehnt wurde. Die ärztlichen Zeugnisse hatten nicht entschieden genug seine vollkommene Dienstunfähigkeit festgestellt. Man brauche jetzt tüchtige Offiziere, hieß es in dem Bescheid, und könne ihn nicht entbehren. So war Edmond wieder in sein Regiment eingetreten, das gerade in Hirschberg eingerückt war; er hatte Leontine mit wenigen Zeilen von dieser Wendung seines Schicksals in Kenntnis gesetzt.
Das war ein unverhoffter Schlag für sie – Geduld, immer nur neue Geduld – und das war ihr nicht gegeben! Jedes Wiedersehen war jetzt ausgeschlossen – jetzt trat er auf als der Landesfeind mit Wehr und Waffen. Wie, wenn seine Truppen ihres Vaters Besitzungen verwüsteten? Mit atemloser Spannung hörte sie jeden Bericht über den Anmarsch französischer Bataillone; ängstlich schlug ihr sonst so mutiges Herz – irgend ein Unheil lag in den Lüften.
Inzwischen wurde der Kynast kriegerisch bewehrt, Bergkanonen waren auf die alte Ritterburg heraufgeschleppt worden. Einmal schreckten sie mit ihren Probeschüssen das Echo im Höllenschlund auf und verkündeten weit hinein ins Thal dem anrückenden Feind, daß auch das Felsennest der Schaffgotsch bereit sei, ihm die Zähne zu weisen. Rekruten wurden in den Schloßhöfen einexerziert, doch war auch ein kleiner Stamm kriegstüchtiger Truppen hierher gelegt zu gelegentlichen Ausfällen.
Robert verweilte mit zwei Offizieren auf der Burg. Auch Klärchen hatte dieselbe nicht verlassen, der Vater brauchte ihre Hilfe. An Robert ging sie schweigend vorüber, wie er an ihr; nicht ohne tiefes Herzweh war es beiden möglich, sich so nah’ und doch so fremd zu sein.
An einem schönen Juniabend war Robert auf den Turm gestiegen, dessen Treppe notdürftig zurechtgezimmert war, indem hölzerne Stufen die steinernen ergänzen mußten. Er beobachtete von dort die Bewegungen der Feinde. Ein Teil der feindlichen Truppen schien einen Vorstoß gegen Schreiberhau machen zu [223] wollen und dem Thal des Zackens hinauf ins Gebirge zu folgen; ein anderer Teil machte Halt in der Nähe von Hermsdorf.
Schleichpatrouillen wurden vorausgeschickt. Kleine Abteilungen überschritten das Agnetendorfer Wasser und näherten sich dem waldigen Felskegel des Kynast.
Robert stieg rasch vom Turm herunter. Er verständigte seinen Vorgesetzten von der Entdeckung und erhielt Befehl zu einem Ausfall gegen den nahenden Feind. In aller Stille sammelte er seine Truppen und führte sie den steilen Weg durch den Höllenschlund hinab. Am Waldrande des Herdberges machten sie Halt und begrüßten den Feind mit wohlgezielten Schüssen. Dieser erwiderte das Feuer, aber unsicher und ziellos. Er war in Verwirrung geraten, und als Robert sah, daß die Zahl derer, welche den Bach überschritten hatten, nur gering war, während der Haupttrupp allzufern auf dem Wege am andern Ufer hielt, da gab er den Befehl zur Attacke. Sturmschnell drangen die Seinigen mit gefälltem Bajonett auf die feindlichen Truppen ein, warfen einen Teil derselben, nach hartnäckiger Gegenwehr, hinunter ins Schneegrubenwasser, nahmen einen verwundeten Offizier und mehrere Soldaten gefangen und traten den Rückzug nach der Burg an, während ein verspätetes Feuer der auf dem jenseitigen Ufer stehenden Franzosen fast wirkungslos blieb und nur einige Mannschaften leicht verwundete.
Der gefangene Offizier gab Robert seinen Degen. Dieser wollte seinen Augen nicht trauen – es war ja der Maler, den er droben im Burgturm gesehen, von allen Menschen ihm der verhaßteste, da er ihn gezwungen, an Klärchens Treue zu zweifeln! Was hatte er denn oben in der Burg und in einer Verkleidung gesucht? Es war ein Spion und Klärchen mit ihm im Einverständnis? Das verwirrte und verwickelte sich alles so, daß ihn ein Schwindel erfaßte.
„Sie sind hier als mein Gefangener nach einem ehrlichen Kampfe,“ sagte er zu Edmond; „gleichwohl muß ich jede Waffenbrüderschaft zurückweisen, denn ich sehe Sie hier nicht zum erstenmal! Sie hatten sich in die Burg eingeschlichen. Sie werden sich zu verantworten haben vor einem Kriegsgericht!“
Edmond erwiderte kühl: „Ich wollte der Burg droben keine Geheimnisse ablauschen; sie stand ja aller Welt offen, warum nicht auch mir? Ich war beurlaubt und krank und ging meinen Neigungen nach. Neben dem Waffenhandwerk huldige ich der Malerei – und malerisch ist die alte Burg, aus der Sie thörichterweise jetzt eine Festung machen wollen.“
„Und sonst führte Sie nichts hinauf?“
„Wenn mich noch ein anderer Grund dazu bestimmte, den Felsen zu ersteigen, so hat er wenigstens nichts zu thun mit Krieg und Belagerung und es ist mein Geheimnis, das vor kein Kriegsgericht gehört.“
„Mir aber werden Sie Rede stehen, mir!“ rief Robert in höchster Erregung, denn er glaubte aus dieser Erklärung ein Schuldbekenntnis herauszuhören. Edmond sah mit einem fragenden Blick zu ihm empor – was wandelte diesen Deutschen an? Er zuckte mit den Achseln und band das vom Blutverlust gerötete Tuch fester um den verwundeten Arm.
Oben harrte Klärchen mit ängstlicher Spannung an der Brustwehr des Vorplatzes. Sie hatte Robert ausziehen sehen mit seiner kleinen Schar, war an den Rand des Höllenschlundes geeilt und hatte den Kampf unten im Thale mit angesehen, so weit es die Pulverwolken gestatteten, welche die Kämpfenden verhüllten. Dann flog sie in fieberhafter Erregung wieder an die vordere Brüstung, um die Zurückkehrenden zu erspähen, sobald sie nur aus dem Walddunkel hervortraten. Würde Robert unter ihnen sein? Wie schlug ihr Herz! Endlich! Die ersten erschienen; es wurden Verwundete geführt, einer auf einer Bahre getragen – Gott sei Dank, es war nicht Robert! Da plötzlich tauchten französische Uniformen auf – es waren Gefangene, die von Freischärlern eskortiert wurden, und hinter ihnen der Ersehnte!
Oben am Vorthor erwartete sie ihn; sie wagte nicht, sich ihm zu nähern; aber sie stand da mit gefalteten Händen, wie zum Dankgebet für seine Errettung, und in ihren Augen leuchtete helle Freude. Doch wie erschrak sie, als er plötzlich düsteren Blicks auf sie zutrat und mit einer vor Erregung zitternden Stimme ihr zurief, indem er auf den französischen Offizier deutete, der eben durchs Thor geführt wurde: „Kennst du diesen da?“
In der That, sie kannte ihn, doch es war wie ein Traum. Der Maler – ein Franzose, in der Uniform der Landesfeinde? Wie schmachvoll hatte Leontine sie getäuscht! Sie schrak zusammen und preßte die Hand aufs Herz. O, wenn Robert sie weiter für schuldig hielt, da gab es ja keine Verzeihung mehr!
„Landesverräterin!“ Es war ein Flüsterwort, das er ihr ins Ohr raunte, aber kein stürmischer Zornesausbruch hätte sie so niedergeschmettert. Mit einer Gebärde des Abscheus ließ er sie stehen.
Ein stürmischer Abend – zerrissenes Gewölk hing über den Bergen, lagerte auf den Wäldern; mit den Wolkenfetzen trieb der Sturm sein Spiel, wirbelte sie zusammen und auseinander.
Im Burghof des Kynast flackerten die Wachtfeuer hin und her und warfen gespenstige Schatten an die Mauern. Und zog nicht über die Zinne und den Turm mit dem flatternden Gewölk ein langer Schattenzug? Die tapfern Ritter der alten unheimlichen Sage, die von der Mauerwand herab in den Abgrund stürzten – zeichneten sich nicht ihre verschwebenden Gestalten ab im Nebelgewölk? Dröhnte es nicht, wenn der Sturm die Steine loslöste, wie der spukhafte Hufschlag der ins Gebiß knirschenden Rosse, welche der gähnende Schlund herniederzog? Und vor allem – flog’s nicht in Turmeshöhe wie ein flatterndes Gewand dem Abgrund zu? Das war sie selbst, die gnadenlose Kunigunde, von ihren Opfern herabgelockt in die unheimliche Tiefe.
Das waren Träume, die auch Roberts Sinne umgaukelten, als er bald in die hin und her zitternden Flammen, bald in den sternenlosen Abendhimmel blickte. Sternenlos – so sah es auch in seinem Innern aus.
Sein Major war von Schreiberhau angekommen; er hatte durch das Agnetendorfer Thal dem Kynast einige Verstärkungen zugeführt, da der Feind die alte Burg bedrohte. Jetzt war er damit beschäftigt, die neuen Mannschaften einzuquartieren; bei den engen Räumen mußten Strohschütten unter freiem Himmel nachhelfen. Die Bivouacfeuer sorgten für Erwärmung und Nahrung. Vor allem aber wollte der Major den französischen Offizier verhören, der in Gefangenschaft geraten war und vorher in der Burg sein Wesen getrieben hatte. Und dieses Verhör sollte öffentlich vor sich gehen, in der Mitte der Freischaren.
Hauptmann Edmond de Granville wurde vorgeführt. Es mochte ein Zufall sein, daß man ihm die Stelle anwies, wo früher die Staupsäule stand, an der die Verbrecher von dem Burgvogt gezüchtigt wurden. Er trug den Arm in der Binde; sein ritterlicher Anstand nahm die jungen deutschen Kämpfer für ihn ein. Der Major begann seine richterliche Thätigkeit mit Fragen, die, solange sie die Herkunft des Angeklagten und seine militärischen Verhältnisse betrafen, prompt beantwortet wurden. Nach dem Anlaß zu seinen früheren Besuchen der Burg gefragt, berief sich Edmond auf seine Studien als Maler. Der Major ließ das nicht gelten; wenn er nicht als Spion auf die Burg gekommen sei, so möge er einen triftigen Grund anführen. Da erhob sich Robert.
„Herr Major, ich muß befürchten, daß er, um sich zu rechtfertigen, andere in seine Schuld verwickeln wird, deren Namen hier vor uns allen zu nennen schon eine schwere Kränkung wäre. Ich möchte bitten, in einem geheimen Verhör –“
„Herr Kamerad,“ unterbrach ihn Edmond, „fürchten Sie nichts! Weder jetzt noch wenn ich allein dem Richter gegenüberstehe, wird irgend ein Name über meine Lippen kommen.“
Da trat ein Unteroffizier heran und meldete dem Major zwei Damen, die in Sachen des gefangenen Offiziers de Granville wichtige Enthüllungen machen wollten – sie hätten sich nicht abweisen lassen. Der Major zuckte die Achseln und lächelte.
„Nun meinetwegen! Ins Bivouac gehören zwar bloß die Marketenderinnen; doch wenn sich die Damen nicht scheuen, uns einen Besuch zu machen – sie mögen eintreten!“
Und Leontine erschien gleich darauf, stürmisch eintretend – den zerknitterten Hut hielt sie in der Hand; ihr aufgelöstes Gelock hing ihr um die Schultern, von denen der Mantel herabgeglitten war. Ihre Augen hatten ein wildes Leuchten. Der festgeschlossene Mund verkündete einen nach inneren Kämpfen gefaßten Entschluß. Die Nächsten traten einige Schritte von ihr zurück, alle blickten auf sie, erstaunt, verständnislos. Nur Edmond [224] warf ihr einen verständnisvollen, einen leidenschaftlichen Blick zu; er wußte, warum sie gekommen.
Vor einer Stunde erst hatte sie durch einen verspäteten Boten einen Brief von Klärchen erhalten; er teilte ihr alles mit, den gestrigen Kampf, die Verwundung und Gefangennahme des Hauptmanns Granville, der als ein Spion gerichtet, vielleicht zum Tode verurteilt werden solle. Leontine müsse jetzt sprechen, nicht nur um seinetwillen, sie habe auch andere Pflichten; Klärchen verlangte jetzt, von einem Verdachte gereinigt zu werden, der sie in den Augen ihres Geliebten mit Schmach bedecke. „Du bist eine vornehme Dame,“ hieß es in dem Briefe, „und Dein Herz ist frei. Du kannst leben wie Du willst, und wenn sie darüber die Nase rümpfen, was kümmert’s Dich? Ich aber sitze nicht so hoch zu Pferde – und ich habe eine Liebe, die ich nimmer verlieren will. Also komm’ sogleich auf die Burg – sonst bist Du eine Verbrecherin an ihm und mir!“
Schon seit sie erfahren, daß Edmond wieder in Reih’ und Glied getreten, war Leontine in Aufregung; ein unbefriedigtes Wünschen und Wollen drängte sich wie ein Glutstrom nach ihrem Herzen; ihre Phantasie schwelgte in den Bildern des Unerreichbaren, ihre Sinne waren in einem Taumel, der ihre Seele verdunkelte. Und nun kam Klärchens Brief – sie hörte nichts mehr, sie sah nichts mehr als ihn! Er, verwundet in der Gewalt der Feinde – und auf der Burg! Das war der Ort ihrer Stelldicheins – und jetzt – welcher schmerzlichen Begegnung sah sie dort oben entgegen! Doch jetzt galt es kein Zögern mehr und kein Geheimnis – die Schicksalsuhr hatte die entscheidende Stunde geschlagen.
Lottchen mußte rasch einen Mantel umwerfen und folgte seufzend und stöhnend dem beschleunigten Gang der Gebieterin, welche die Treppe hinunterflog, um so rasch als möglich ins Freie zu kommen, Luft und Atem zu schöpfen, denn es lag ihr wie ein Alp auf der Brust. Unten kam ihr der Vater entgegen; doch schritt sie eilig an ihm vorüber.
Ohne Aufenthalt eilte sie auf dem Wiesenpfade dem Walde des Burgberges zu! Droben am Himmel glühte ein lichter Schein, der Wiederschein der Wachtfeuer.
Oben angekommen, suchte sie Klärchen auf, und von der Schloßwache gemeldet, traten die drei Mädchen zusammen in den zweiten Hof der Burg.
Der Major grüßte galant, Leontine ergriff zuerst das Wort.
„Ich bin Leontine von Wallwitz; da unten liegt Giersdorf, meines Vaters Schloß. Dies erwähne ich nur, weil ich überzeugt bin, daß Sie einer Edeldame Glauben schenken werden, wenn sie aus freien Stücken ein Zeugnis ablegt zu gunsten eines Angeklagten und zu ihren eigenen Ungunsten.“
„Sprechen Sie, gnädiges Fräulein!“ Der Major strich sich seinen Schnurrbart. In dem alten Haudegen war der Kavalier erwacht.
Und wie der Major empfanden auch die jungen Männer in der Jägeruniform. Es herrschte eine atemlose Stille.
„Unweiblich ist’s,“ sagte Leontine, „hier in diesem Kreis von Männern ein Geständnis abzulegen, das ein schönes Geheimnis bleiben sollte; doch wenn ich jetzt schwiege, müßte ich mehr vor mir selbst erröten als bei dieser Beichte, zu der die Not mich zwingt! Sie wollen den Hauptmann Edmond de Granville als Spion verurteilen, weil er sich verkleidet in die Burg geschlichen. Ich weiß, er verrät es nicht, warum er das gethan. So will ich ihm die Zunge lösen: er hat es um meinetwillen gethan!“
Nichts regte sich als die knisternde Flamme, in welche ein Windstoß fuhr.
„Um meinetwillen, ja, denn mich hat er hier oben gesucht und gefunden! Klärchen Röger, des Burgwarts Tochter, war uns hilfreich dabei; doch sie wußte nicht, daß der Maler ein französischer Offizier war. Ich aber wußte es und liebte ihn, und wie man’s in der Kirche gestehen darf vor versammelter Gemeinde, so darf ich’s auch hier, wo der Altar und der Pastor fehlen – ich liebe Edmond de Granville!“
„Den Franzosen?“ sagte der Major wie verwundert, und ein allgemeines Murren erhob sich in der Runde; feindselige Blicke richteten sich auf Leontine. Edmond schritt auf sie zu und reichte ihr die Hand. Das steigerte die Erbitterung des erregten Kreises, hier und dort wurde der halbunterdrückte Ruf des Unwillens laut.
Leontine hatte das Gefühl, als ob sie am Pranger stände. Ringsum diese sonst so begeisterte Jugend, schöne, feurige Jünglinge – und sie, das schöne Weib, von ihnen verurteilt, ausgestoßen, mit Schmach bedeckt!
Nur einer wandte sich nicht feindlich gegen sie – einer, der sie sonst am schärfsten verdammt haben würde. Ihm war ihr Wort eine Erlösung gewesen von schwerem Druck – er mußte ihr dafür danken. Er jauchzte auf in innerster Seele – die Geliebte war ohne Schuld, war für ihn gerettet! Mit zärtlichen Blicken sah Robert zu Klärchen hinüber; er hätte sie ans Herz geschlossen, wäre er mit ihr allein gewesen – und zum erstenmal verwünschte er seine treuen Kameraden. Doch Klärchen drückte die Hand aufs Herz und lächelte ihm stillselig zu.
Leontine aber war es, als werde sie mit Ruten gegeißelt. Eine flammende Röte bedeckte sie – war ihr Geständnis eine Thorheit, ein Frevel? O, diese Verblendeten! – Keiner glaubte an eine große Leidenschaft; keiner verstand sie, keiner hatte die heilige Scheu, die man vor dem Gewaltigen empfinden muß, wär’ es auch etwas dämonisch Wildes, was die Gemüter danieder zwingt! Nichts hatten sie in Kopf und Herzen, diese Jünglinge, als ihr Vaterland, das Stück Erde, das zwischen seine Grenzpfähle eingeklemmt ist, und den blinden Haß gegen die Uniformen eines fremden Heeres! Aus all dieser Demütigung richtete sie sich mit um so größerem Stolz empor und schleuderte dieser haßerfüllten Jugend den Handschuh ins Gesicht.
„Ich bin nicht gekommen, um Ihr Urteil über mich herauszufordern; ich bin ein unbedeutendes Mädchen und was ich thue, mag einer geringschätzigen Meinung begegnen oder auch verworfen werden durch ein von blindem Eifer beseeltes Gericht. Weit, weit gehen unsere Wege auseinander. Sie kämpfen für eine verlorene Sache, für ein aus den Fugen gegangenes Vaterland! Was kümmert’s mich? Ich liebe – und keinen Unwürdigen; denn die Krieger des Großen Napoleon, die Sieger in glorreichen Schlachten verdienen, von Freund und Feind geachtet und bewundert zu werden!“
Wieder erhob sich lautes Murren, und dann gingen böse Zischelreden von Mund zu Munde.
„Ich kam nur, um mein Zeugnis abzulegen, und frage, ob es beachtet worden ist nach Gebühr – dann ist Edmond de Granville freizusprechen.“
„Gnädiges Fräulein,“ versetzte der Major, „Ihre Aussage ist wichtig und entlastend; sie kann nicht unberücksichtigt bleiben: Doch hier handelt es sich nur um ein Verhör – das Kriegsgericht wird entscheiden, ob die Anklage aufrecht zu halten ist.“
„Und Sie geben ihn nicht frei?“ fragte Leontine in leidenschaftlicher Erregung.
„Mein Fräulein,“ sagte der Major, „der Offizier muß zunächst noch in unserem Gewahrsam bleiben. Daß er kein Spion ist, will ich glauben, doch das unterliegt einer anderen Entscheidung; jedenfalls aber ist er unser Kriegsgefangener.“
Leontine rang wie verzweifelt die Hände. „Mein, mein – und immer wieder nicht mein! Vergeblich, was ich gethan – o, ich Unsinnige! Ich habe mich in den Haufen gemischt wie ein Mädchen aus dem Pöbel und sie werfen mich mit Steinen!“
„Nachrichten aus Glatz!“ riefen im ersten Hofe einige Stimmen, „ein Kamerad, ein Kamerad!“ Und nach der freudigen Begrüßung draußen trat in die Runde ein Offizier, eine schwarze Binde um die Stirn und das eine Auge.
Es war Kurt von Rohow.
Leontine erblaßte, als ergriffe sie ein Schwindel; sie sank in Lottchens Arme, auch Klärchen war um sie bemüht. Sie verbarg ihr Gesicht an Lottchens Brust; sie wagte nicht aufzuschauen, ja sie hatte ein Gefühl, als schwankten Mauer und Turm und drohten über ihr zusammenzubrechen.
Kurt grüßte den Major mit militärischer Meldung, drückte den Kameraden die Hand und wandte sich dann an Leontine; er rief sie beim Namen, doch sie hörte nicht. Seine Stimme ging ihr durch Mark und Bein, es war die Stimme des Gerichts.
„Ich komme im Auftrage Ihres Vaters, um Sie zurückzuholen, Leontine! Sie haben das Schloß in so stürmischer Hast verlassen, er ist in Sorge um Sie. Aber reden Sie, wie soll ich es mir erklären, Sie hier in diesem Kreise zu sehen?“
„Man wird es Ihnen schon erklären, Herr von Rohow,“ sagte Leontine, sich halb erhebend, mit dumpfer Stimme.
[225]
[226] „Ich kam mit meinem Vater nach Giersdorf; ich wollte ein Versprechen einlösen.“
„O, schweigen Sie davon, schweigen Sie hier davon!“
„Hier am wenigsten,“ versetzte Kurt, „denn ich sehe in diesen Damen zwei Zeugen, die zugegen waren, als Sie mir dies Versprechen gaben, und was hätte ich vor meinen Kameraden zu verschweigen, auf deren Glückwünsche ich rechnen darf? Ja, ich erkläre es hier vor allen und ich habe ein Recht dazu – Leontine von Wallwitz ist meine Braut!“
Ringsum erstauntes, verlegenes Schweigen – was bedeutete das? Alle Blicke richteten sich auf den französischen Offizier, der zornentflammt vergeblich nach dem Degen an seiner Seite suchte.
Leontine raffte sich auf, totenbleich; ihr Auge blickte starr, und wie mit gelähmter Hand etwas Gespenstiges abwehrend, sagte sie dumpf aber fest: „Niemals!“
„Ich habe dich ritterlich erobert,“ rief Kurt, „siehst du hier die Binde um meine Stirn? Mein rechtes Auge hab’ ich drangegeben – beim Kampf um die Schanzen vor Glatz. Mein Freund Friedrich von Benndorf, der Genosse jenes verhängnis- und verheißungsvollen Abends, blieb unverwundet. Und so gehört mir als Siegespreis deine Hand!“
Leontine barg ihr Gesicht in den Händen; es kam über sie ein großes Mitleid mit allem, mit der Welt, mit sich selbst – sie schluchzte. Da war’s, als rührte sie eine eiskalte Hand an, sie hörte die Stimme Edmonds.
„Und was ist denn vorgefallen an jenem verhängnisvollen Abend?“
Was hatte sich der Fremde darum zu kümmern? Kurt wandte sich verächtlich von ihm ab, doch er las die gleiche Frage auf allen Gesichtern.
„Nun, Friedrich und ich, wir warben um die Hand des Fräuleins und es versprach, sie demjenigen zu geben, der zuerst verwundet aus dem Kampfe zurückkehren würde. Ist’s nicht so, Leontine, ist’s nicht so, meine Damen? Ihr Schweigen bestätigt mein Wort: Leontine ist meine Braut oder sie ist eine Wortbrüchige vor Erd’ und Himmel!“
Was Kurt da sagte, erklang ihr wie die Stimme des Gewissens; doch sie wollte nicht darauf hören. Es vermehrte nur die entsetzliche Schwüle dieser Minuten – denn von einer anderen Seite erwartete sie den niederschmetternden Wetterschlag.
Und er fuhr hernieder, der zündende Blitz, und legte ihr Leben in Asche.
„Ist dies alles wahr, Leontine?“ rief Edmond de Granville, „ich bitte, ich beschwöre dich, strafe diesen Herrn Lügen!“
„Ich kann es nicht,“ sagte sie zögernd und flüsternd.
„Bei meiner Offiziersehre,“ versetzte jetzt Edmond, „so gehörst du ihm allein und ich sage mich für immer los von dir!“
„Edmond!“ – erklang’s wie ein Schmerzensschrei von ihren Lippen.
„So hast du nicht nur mit diesem, sondern auch mit mir ein unwürdiges Spiel getrieben, mir Liebe gelogen, wie du ihm dein Wort gebrochen hast! Jetzt hab’ ich nur noch einen Wunsch: eine Kugel für den ‚Spion‘ – sie soll mir willkommen sein!“
„Edmond!“ rief Leontine mit erlöschender Stimme, „o, dich hab’ ich geliebt! Zu spät, zu spät! Laßt mich!“
Sie riß sich gewaltsam los.
„Kunigunde!“
Es klang wie ein Todesschrei von ihren Lippen, und fort stürzte sie durch den kleinen Zwischenhof dem Turme zu. Die Mädchen eilten nach, auch einige Freischärler, doch sie hatte die Thür hinter sich ins Schloß geworfen.
Bald stand sie droben, einer Sturmesbraut gleich, unter krächzenden Krähenschwärmen, die aus den Ritzen aufstäubten, während der erste Donnerschlag des lange schon grollenden Gewitters in allen Thälern und Schluchten ein dröhnendes Echo weckte. Sie ging den Weg, den Kunigunde gegangen, die stolz und übermütig wie sie ihrer Opfer gelacht hatte, bis der Geliebte sich verachtend von ihr wandte, und dieser Weg führte vom Rande des Turmes in die Tiefe des Höllenschlundes.
Noch in der Nacht beim Fackellicht suchte und fand man ihr zerschmettertes Gebein.
Wenige Tage nach diesen Vorgängen kam die Kunde des Tilsiter Friedens und machte dem bewaffneten Widerstande in Schlesien ein Ende.
Edmond de Granville wurde freigelassen. Zwei Jahre verbrachte er, ein düstrer Mann, in den Rebengärten der Provence; dann trat er wieder ins Heer und fiel in der Schlacht von Wagram. Kurt von Rohow lebte unvermählt auf seinen Gütern. Alle seine Lebenslust hatte ihn verlassen. Der alte Wallwitz war ein gebrochener Mann. Daß er sein einziges Kind verloren – es war ein Weh, das er zu überwinden vermochte; aber daß seine Tochter einen Landesfeind geliebt, das konnte er nicht verschmerzen, das schien ihm ein unauslöschlicher Flecken auf der Ehre seiner Familie.
So herrschte hier im Schloß eine nachtdunkle Stimmung. Desto heller war der Sonnenschein, der in das Pfarrhaus von Petersdorf fiel, wo Robert und Klärchen als ein glückliches Paar lebten. Der alte Kommandant hatte seine Zustimmung gegeben, als Robert in der Lage war, für die Verproviantierung der Burg zu sorgen mit Hilfe seiner Stolgebühren und seiner Pfarräcker. Dafür blieb sein Geheimnis gewahrt und Klärchen war für alle seine Tochter.
Der alte Rübezahl war jeden Winter der Mitbewohner des Pfarrhauses. Oft sprachen sie von den Schreckenstagen auf dem Kynast, und wenn Robert auf die neue herzlose Kunigunde schalt, da sagte Klärchen, sich zärtlich an ihn schmiegend: „O, sie war so schön und sie hat heiß geliebt. Um ihrer Liebe willen dürfen wir ihr vieles verzeihen! Nur, daß sie unser liebes, deutsches Vaterland verleugnete – das möge Gott ihr vergeben!“
Blätter und Blüten.
Gesellschaft der Waisenfreunde. Aus früheren Berichten der
„Gartenlaube“ ist es wohl den meisten unserer Leser bekannt, daß die
„Gesellschaft der Waisenfreunde“, deren Sitz Leipzig ist, sich die Aufgabe
gestellt hat, verwaiste und verlassene arme Kinder bei kinderlosen
Ehepaaren unterzubringen, falls letztere sich verpflichten, die Kleinen
wie eigene Kinder zu erziehen. Die Gesellschaft hat soeben ihren Bericht
für das verflossene Jahr 1897 veröffentlicht. Ihr unermüdlicher und
opferwilliger Geschäftsführer, Schuldirektor a. D. Karl Otto Mehner
in Hartenstein-Stein in Sachsen, kann in demselben zu seiner Freude mitteilen,
daß es ihm in dem genannten Jahre gelungen ist, wieder vier Kinder
zweckentsprechend zu versorgen, so daß nun innerhalb der 20 Jahre seiner
Thätigkeit 86 Kinder durch ihn versorgt worden sind. Der Geschäftsführer
hat auch in diesem Jahre verschiedene Reisen unternommen, um
sich von dem Wohlergehen der versorgten Kinder zu überzeugen, und
konnte durch das Ergebnis seiner Beobachtungen nur erfreut sein.
Mögen die Bestrebungen der Gesellschaft auch fernerhin von Erfolg begleitet
werden, möge es ihr weiter gelingen, „viele Kinder aus ihrer
Armut emporzuheben und liebenden Eltern ans Herz zu legen, den
Kindern zum Heile, den Eltern zur Freude“!
Das neue Männerasyl für Obdachlose in Berlin. (Zu dem Bilde
S. 227.) Vor fünfundzwanzig Jahren begann der „Berliner
Asylverein für Obdachlose“ seine segensreiche Thätigkeit in dem Hause
Büschingstraße 4. Im Laufe dieser Jahre wurde dort etwa drei Millionen
Menschen Obdach gewährt, aber bei dem steten Wachstum der
Großstadt erwies sich dieses Werk der Nächstenliebe unzureichend. Man
mußte neue Zufluchtstätten für die Armen und Elenden schaffen. Die
Stadt Berlin erbaute darum ein Asyl für obdachlose Familien, während
der Berliner Asylverein außer einem Asyl für obdachlose Frauen noch
ein neues Asyl für Männer in der Wiesenstraße 55/57 errichtete. –
Die Einrichtung des neuen Hauses, das 700 Personen Obdach gewähren
kann, muß als mustergültig bezeichnet werden. Der Eintretende findet
in der großen, in unserem Bilde wiedergegebenen Sammelhalle, die
400 Sitzplätze enthält, Aufnahme. Von hier gelangen die Aufgenommenen
in den Wasch- oder Baderaum. Der letztere enthält 20 Badewannen,
56 Brausebäder und Fußspülapparate; auch ist dafür Vorsorge
getroffen, daß die Kleidungsstücke der Badenden während der Badezeit
desinfiziert werden. Hierauf sammeln sich die Aufgenommenen in der
Speisehalle, woselbst jede Person abends einen Napf Suppe mit einem
großen Stück Schwarzbrot erhält. In 14 Schlafsälen mit je 50 Betten
ist für die Nachtruhe gesorgt, die um 10 Uhr eintritt. Des Morgens
vor der Entlassung werden die Obdachlosen noch mit Milchkaffee und
einer Schrippe (Weißbrot) bewirtet. Im Sommer ist der Aufenthalt
von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, im Winter von 5 Uhr abends
bis 7 Uhr morgens gestattet. Um aber Mißbrauch zu verhüten und
[227] die Wohlthat möglichst vielen Bedürftigen zugänglich zu machen, darf jeder einzelne nur viermal in einem Monat das Gastrecht in Anspruch nehmen. – Möge die Privatwohlthätigkeit, die diese Anstalt geschaffen hat, nimmer erlahmen, und möge es dem Berliner Asylverein für Obdachlose vergönnt sein, seine menschenfreundlichen Bestrebungen immer weiter auszudehnen! F. L.
Ein merkwürdiges Summen in der Luft. Wenn man zur Sommerszeit, besonders an sehr warmen, heiteren und windstillen Tagen, sich fern von dem Geräusch menschlicher Wohnorte in der freien Natur befindet und ringsum völlige Stille herrscht, so vernimmt man sehr häufig ein leises Summen in der Luft, ähnlich demjenigen, welches durch summende Insekten hervorgerufen wird. Es dürfte wohl wenige geben, die unter solchen Umständen dieses Summen nicht schon gehört hätten, und sicherlich hat sich jeder auch dabei beruhigt, daß es wirklich von schwirrenden Insekten, ja von Mückenschwärmen hervorgebracht werde. Aber nicht nur auf freiem Felde, besonders über Wiesen, sondern auch im Walde kann man dieses sommerliche Summen vernehmen, zumal an Stellen, wo der Wald nicht allzu dicht ist. Niemals vernimmt man diese Töne dagegen an Flußufern oder gar auf dem Wasser, ebensowenig auf steinigen oder sandigen Flächen. Wenn man dieses summende Geräusch, wie gewöhnlich, Insektenschwärmen zuschreibt, so entsteht die Frage, wo sich dieselben befinden. Direkt wahrgenommen hat solche noch niemand, stets scheint das Summen aus einer gewissen Entfernung zu kommen, aber es ist ganz unmöglich, den Ort anzugeben, wo es entsteht. Die Insekten, welche es verursachen, müßten in ziemlicher Höhe über dem Boden schweben und ungeheuer zahlreich sein, wenn sie wirklich diese Töne verursachten. Wenn in der That ein summendes Insekt, eine Biene oder Fliege, sich dem Beobachter nähert, so erkennt er augenblicklich den gewaltigen Unterschied, der zwischen jenem leisen Summen in der Luft und dem Summen dieser Tiere besteht. Dazu kommt, daß viele Beobachter, darunter namhafte Naturforscher, sich große Mühe gegeben haben, die in der Luft schwebenden Insektenschwärme, welche as Summen verursachen sollen, aufzufinden, aber ohne jeden Erfolg.
Wir müssen daher schließen, daß die wirkliche Ursache jenes seltsamen Geräusches eine ganz andere und uns noch völlig rätselhafte ist. – Vielleicht geben uns einige Erscheinungen, welche man nicht selten auf hohen Bergen beobachtet hat, Fingerzeige zur Erklärung. So bemerkten englische Touristen, die am 10. Juni 1863 die „Jungfrau“ bestiegen, daß in einer gewissen Höhe ihre Stöcke plötzlich lebhaft summten, ungefähr wie kochendes Wasser. Das Gleiche hatte schon früher der berühmte Naturforscher Saussure bei einer Bergbesteigung in Graubünden beobachtet.
Er war damals von einem Hagelwetter überrascht worden und hatte Schutz unter einer Felspyramide gesucht. Nachdem der Stock angefangen hatte zu summen, bemerkte Saussure, daß sich auch seine Haare emporrichteten, und das Gleiche war bei seinem Begleiter der Fall. Die Luft war um diese Zeit gewitterhaft und ein ferner Donnerschlag mahnte die Bergbesteiger zum Aufbruch. Die Erscheinungen verloren sich, als die Reisenden in tiefere Regionen herabkamen. In diesem Falle handelt es sich entschieden um eine elektrische Erscheinung, um ein Ausströmen der Elektricität. Sollte ähnliches nicht auch bei dem sommerlichen Summen der Luft auf unsern Wiesen und in unsern Wäldern der Fall sein?
Das Ausströmen von Elektricität aus einem Hälmchen ist freilich unhörbar, allein wenn solches Ausströmen aus Hunderttausenden von Spitzen geschieht, so kann dadurch gar wohl ein leises summendes Geräusch entstehen, dessen Ursprungsort eben deshalb nicht anzugeben ist. K.
Ständchen aus luftiger Höhe. (Zu dem Bilde S. 221.) Seit acht Tagen liegt die „Anne Marie“ fest vertaut in dem Hamburger Segelschiffhafen. Die Ladung, Felle und Hörner, die sie vom La Plata geholt hat, ist gelöscht und friedliche Ruhe herrscht auf dem Schiffe. Heute aber feiert die Besatzung einen besondern Festtag. Von Rendsburg ist die Frau des Kapitäns herübergekommen und wohnt, so gut oder so schlecht es eben in den engen Kajütenräumen geht, mit ihrem Mann an Bord. Außer dem wieder vereinten Paar giebt es aber auf dem Schiffe noch einen überglücklichen Menschen. Das ist Fritz, der Decksjunge. Er hat seine erste Reise hinter sich, und daß er seine Lehrzeit zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten abgedient hat, ist ihm soeben klar geworden. Hat ihm doch der Kapitän heute versprochen, daß er ihn mit doppelter Gage als Leichtmatrosen wieder mitnehmen will. In dem Freudentaumel, der ihn erfaßt hat, will der Junge sich dankbar erweisen. Nach der Arbeitszeit klettert er flink in den Großtop, seine Ziehharmonika in der Hand, und bringt aus luftiger Höhe der Frau Kapitän ein Ständchen. So sitzt er und musiziert dort oben, ein echtes Bild froher Matrosenlust, bis die Stunde eintritt, von welcher an auf Grund der Hafenordnung „keine ruhestörende Musik“ ausgeübt werden darf.
Photographische Nachtbilder. (Zu dem Bilde S. 228.) Wie wunderbar, geradezu märchenhaft schön erscheinen uns oft Landschaften in der Nacht, namentlich wenn der Mond zwischen den Wolken hervorbricht und seine silbernen Strahlen auf Mauern und Felsen erglänzen läßt oder sie in Wasserflächen spiegelt. Die Maler waren wohl imstande, diese berückenden Stimmungsbilder auf der Leinwand festzubannen, die Photographen konnten die Aufnahmen von Nachtlandschaften erst in der Neuzeit versuchen, nachdem man gelernt hatte, lichtstarke Objektive und hochempfindliche Platten herzustellen. Aber trotz aller Fortschritte der Technik sind solche Aufnahmen mit vielen Mühen verbunden; ist doch das Mondlicht 300 000mal schwächer als das Sonnenlicht. So brauchte man auch anfangs 7 bis 9 Stunden zur Aufnahme einer Mondlandschaft, bis bei der Wahl besserer Platten und Objektive die Expositionszeit auf 2 Stunden und weniger verkürzt wurde. Das war ein unbequemes Arbeiten und die Photographen griffen darum zu einem [228] Hilfsmittel, um in ihre Landschaftsbilder Mondscheineffekte hineinzuzaubern. Sie photographierten die Landschaft mit sehr kurzer Expositionszeit bei Sonnenlicht frühmorgens oder am Abend und stellten ihre Apparate gegen die Sonne auf, gerade wenn diese von einer Wolke verhüllt werden sollte. Wurde eine so aufgenommene Platte nach bestimmten Regeln entwickelt, so zeigte sie in der That alle Effekte des Mondscheins. Die meisten photographischen Mondscheinlandschaften, die im Handel zu haben sind und unsere Bewunderung erregen, sind auf diese Weise entstanden.
Die Photographie wird indessen immermehr vervollkommnet, und in den letzten Jahren haben ihre Jünger mit Erfolg versucht, wirkliche Nachtbilder in verhältnismäßig kurzer Zeit auf ihren Platten festzuhalten. So ist es W. A. Fraser in New York gelungen, wirkliche Mondscheinlandschaften bei einer Expositionszeit von nur 10 Minuten aufzunehmen. Neuerdings hat Alfred Stieglitz, Mitglied des Cameraklubs in New York, treffliche Aufnahmen von Straßenbildern bei Nacht veranstaltet. Dank einer sorgfältigen Auswahl von Platten und Objektiven erhielt er wirkungsvolle Ansichten bei einer Expositionszeit, die kürzer als eine Minute war.
Er photographierte vor allem einige Straßen New Yorks in der künstlichen Abendbeleuchtung. Der Schein der elektrischen Lampen und Gaslaternen erzeugt wunderbare Reflexe, die höchst originell wirken, wenn nach einem Regen das Pflaster feucht ist und merkwürdige Lichtspiegelungen entstehen läßt. Neuerdings hat die die Zeitschrift „Scribners Magazine“ eine Reihe von Aufnahmen aus der 5. Avenue in New York gebracht. Das obenstehende Bild mag als Probe der gelungenen nächtlichen Landschaftsphotographie gelten. Es wurde von Alfred Stieglitz an einem Januartage vorigen Jahres um 9 Uhr 30 Minuten abends bei einer Expositionsdauer von nur 55 Sekunden aufgenommen. *
Der Panzerkreuzer „Hansa“. (Mit Abbildung.) Am 12. März lief auf der Werft des „Vulkan“ in Stettin der deutsche Kreuzer „N“ vom Stapel. Auf Anordnung des Kaisers vollzog der zweite Bürgermeister von Hamburg, Dr. Mönckeberg, den Taufakt und das Schiff erhielt den Namen „Hansa“. Der neue Kreuzer ist ein Schwesterschiff des im vorigen Jahre auf der kaiserlichen Werft zu Danzig vollendeten Kreuzers „Vineta“.
Die „Hansa“ ist aus Stahl gebaut, ihre Länge beträgt 105,35 m und ihre Breite 17,63 m. Sie erhält drei Maschinen mit 10000 Pferdekräften und drei Schrauben, die ihr eine Geschwindigkeit von 19,20 Seemeilen in der Stunde verleihen sollen. Das Schiff wird mit 20 Schnellfeuerkanonen verschiedenen Kalibers, mit 10 Maschinenkanonen, 30 Maschinengewehren und 45 cm-Torpedos armiert. Sein Besatzungsetat ist auf 447 Mann bemessen. Der Bau hat etwa 2 Jahre gedauert und seine Gesamtkosten betragen 7 500 000 Mark.
Walserthalerinnen. (Zu dem Bilde S. 197.) Die bunte Mannigfaltigkeit der Trachten, welche im deutschen Alpengebiet den malerischen Sinn erfreut, ist ein Spiegelbild der allmählichen, durch sehr verschiedene Völkerstämme erfolgten Besiedelung der einzelnen Hochalpenthäler. Höchst charakteristisch für diesen Zusammenhang ist die originelle Tracht der Bewohner des Großen und Kleinen Walserthals in Vorarlberg, welche inmitten einer allemannischen Bevölkerung ein eigenartiges Sonderleben führen, das auf ihre Einwanderung aus dem Kanton Wallis zurückweist. Das Große Walserthal erstreckt sich vom Illthal über die Ortschaften Thüringen, Bions, Garsella, Sonntag, Buchboden in das Grenzgebirge hinauf, in welchem der Bregenzer Wald seine höchsten Erhebungen hat und der Genschelpaß den Verkehr mit dem bayrischen Allgäu vermittelt. Unterhalb dieses Passes zieht sich zur deutschen Reichsgrenze das Kleine Walserthal hin, dessen Bewohner eine einzige große Gemeinde, Mittelberg, bilden, aber über das ganze Thal verstreut wohnen. Von Mittelberg führt eine Poststraße nach Oberstdorf im Allgäu, von wo aus der Besuch des Kleinen Walserthals zumeist bewerkstelligt wird, während der Eingang zum „Großen“ unweit von Bluoenz an der Arlbergbahn liegt. Beide Thäler sind von hoher landschaftlicher Schönheit, welche im „Großen“ durch das enge Geklüft, das der Lutzbach durchrauscht, im „Kleinen“ durch den düsteren Hintergrund hoher Gebirgsmassen ihren Charakter erhält. Die Häusergruppen breiten sich malerisch über die Seitenhänge der Thäler aus, oft grüßen sie von hohen Felsterrassen hernieder. Die Walser sind ein arbeitsames, genügsames Völklein, das nach der Vater Weise nur Viehzucht und Alpenwirtschaft betreibt, dabei einen stark entwickelten Sinn für die Häuslichkeit hat, der sich auch im Ausschmuck der sauber gehaltenen Häuser ausprägt. Ueber ihre Herkunft aus dem Oberwallis geben Urkunden aus dem 14. Jahrhundert Bescheid. Sie wurden vom Grafen Montfort-Werdenberg als Kolonisten in diese Thäler gerufen. Ihre schweizer-deutsche (burgundische) Abstammung läßt sich auch an ihrer Mundart erkennen. Unser Bild stellt Frauen und Mädchen von Mittelberg dar. Die Tracht derselben macht eher einen ernsten als heiteren Eindruck. Der weitgefältelte dunkle Rock, der gleich dem Mieder keine Taille hat, wird dicht unter den Armen zusammengehalten. Doch ist der Brustfleck reich und geschmackvoll gestickt und die langen breiten Schürzen, die turbanartigen Pelzkappen der Frauen wie die goldenen Spangenkronen der Mädchen geben dem Sonntagsstaat der Walserinnen einen Charakter, der in ansprechender Harmonie mit ihrem eigenen Wesen steht.
Die Schmollenden. (Zu dem Bilde S. 225.) Um den Sonntagstanz ist der Verdruß angegangen: Sie möchte hin, Er aber nicht. Sie hat ihm darauf gedroht, sie ginge mit einem andern, und Er, so schwer es ihm fiel, hat sich zusammengerafft, ihr zu erklären, dann sei es überhaupt aus zwischen ihnen beiden. Hierauf eine große Stille. – Ueberlegend stehen die Kriegführenden voneinander abgewendet da, achtlos gegen das heimliche Flüstern der grünen Waldeinsamkeit ringsum, in deren Schatten sie so oft schon glücklich beisammensaßen, wenn es drüben in der Schenke fiedelte und stampfte. Wer wohl schließlich nachgeben wird? .. Die Entscheidung auf diese Frage wird wohl niemand schwer fallen. Ein Blick in die beiden Gesichter dürfte dem Seelenkundigen genügen: dort hinten ehrlicher Kummer und Angst der Erwartung, ob sie denn wirklich so sein kann, aber kein Schwanken im Entschluß …
Hier bei allem Leidwesen ein Zug verbissenen Trotzes, aber zugleich so viel gesunder Verstand und Gutmütigkeit in dem frischen Gesichte, daß man um den endlichen Ausgang der Sache doch nicht besorgt zu sein braucht! Br.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[228 a]
Schlüsselbrettchen aus Ahornholz, etwa 30 cm lang und 6 cm hoch geschnitten, mit kleinen eingedrehten Messinghaken und Ringen zum Aufhängen versehen und mit Brandmalerei oder Lederarbeit verziert.
Der dunkle Grund vom
oberen Rand aus dunkel gebrannt, gebeizt oder
– auf Leder – fein gepunzt. Gute Zeichnung,
womöglich auf Grund von Naturstudien, ist dringend
zu empfehlen. J.
Farbige venetianische Stickerei. Die schöne alte Technik läßt sich durch Auflegen von farbigem Stoff noch an Wirkung erhöhen. Man reiht ein Viereck von farbigem Batist auf ein ebenso großes von feinster Leinwand; auf ersterem ist das Muster vorgezeichnet. Nun näht man die Konturen desselben ganz fein durch beide Stoffe nach, damit sich beim Ausarbeiten nichts verschiebt, und festonniert hierüber die Formen mit Leinenfaden oder weißer Waschseide, kann auch allerlei Zierstiche anbringen; der übrige farbige Stoff wird sodann nach innen sorgfältig weggeschnitten, so daß die Ornamente farbig mit weißen Rändern auf der Leinwand stehen.
Spitzenwäsche. Die moderne vielfache Verwendung der Spitzen zu Jabots, Krausen und Besätzen läßt auch die Frage nach der besten Waschmanier aufs neue erstehen. Am einfachsten dafür ist ein sogenannter Spitzenwäscher (ein mir Löchern versehener Porzellancylinder), in seiner Ermangelung kann man aber ganz gut eine Mineralwasserflasche nehmen, auf deren Cylinder man ein Stück Mull durch Zusammenziehen an Boden und Hals befestigt. Dies bleibt ein für allemal daran. Auf den Ueberzug windet man nun die schmutzigen Spitzen, eine über die andere, glatt auf, befestigt sie hier und da mit langen Stichen und bedeckt das Ganze mit einem Stück Gaze, das gleichfalls festgeheftet wird. Hierauf seift man die benetzte Flasche tüchtig ein, läßt sie ein paar Stunden ruhen, taucht sie dann in lauwarmes Wasser und rollt sie mehrere Minuten auf dem Tisch hin und her, wobei der Hauptschmutz bereits herausfließt. Dann legt man sie zugekorkt in eine im großen Waschtopf vorher bereitete Seife und Sodabrühe, läßt sie zum Kochen kommen und 10 Minuten in der wallenden Brühe herumtanzen. Dann spült man erst im heißen, hierauf im kalten Wasser rein und löst endlich die Spitzen, die nun blendend weiß sind, vorsichtig von der Flasche los.
Selbst die geringwertigsten Gewebe bleiben bei diesem Verfahren unverändert. Wenn man sie vor dem Einschlagen zum Bügeln durch ein ganz leichtes Gelatinewasser zieht (1 Tafel Gelatine auf 1½ Liter Wasser), so erhalten sie eine leichte Appretur ohne Seife.
Schwarze Spitzen reinigt man sehr gut in ⅓ Salmiakspiritus auf ⅔, Wasser, indem man sie darin nur drückt, nicht reibt, oder sie auch damit nur auf einem Tuch, öfters die Stelle wechselnd, mit der Bürste leicht klopft. Schmelzspitzen schwenkt man in der Salmiaklösung vorsichtig hin und her, bis aller Staub heraus ist, dann werden sie auf ein Bügelbrett genadelt und rasch im Warmen getrocknet. Die anderen schwarzen Spitzen werden in ein Tuch eingeschlagen und bald mit nicht zu heißem Eisen gebügelt; man kann auch sie durch oben beschriebene leichte Gelatinelösung stärken, sie erhalten dadurch einen der Neuheit ähnlichen Fall.
Gehäkeltes Kindermützchen. Von weißer, recht weicher Zephirwolle schlägt man 90 bis 95 Maschen an und häkelt in tunesischem Häkelstich etwa 50 bis 60 Touren hoch. Die beiden Schmalseiten werden sodann zusammengenäht und der eine Rand 6 bis 8 cm hoch nach außen umgestülpt, der andere Rand hingegen fest eingereiht und das Mützchen an der Naht in schönen Falten geordnet und noch durch einige Pompons oder eine Schleife verziert.
Zündholzbehälter. Aus dunklem Cigarrenkisten- oder hellem Ahornholz schneidet man mit der Laubsäge eine entsprechend große Blattform zu, desgleichen die Teile zu dein Zündholzkästchen, welch letzteres in der Mitte des Blattes mit kleinen Stiften von der Rückwand aus befestigt wird. Die Verschönerung geschieht durch Schnitzerei, Malerei oder Brandarbeit. Der niedliche Behälter wird an einer dicken Schnur aufgehangen. Man könnte die Blattform auch mit Sammet überziehen, auf welchen zuvor ein Muster aufgestickt oder mit Bronzefarben aufgemalt ist.
Brieftruhe. Für eine „schreibfaule“ Freundin dürfte eine außen reizvoll aussehende, innen reich gefüllte Brieftruhe ein guter Ansporn zum Schreiben sein. Man erhält sehr hübsch gefüllte, truhenförmige Kasten in den Papiergeschäften, die man durch einen schmückenden Ueberzug zu einer Brieftruhe von bleibendem Wert gestalten kann. Alte schöne Stoffreste, die man, wenn sie einfarbig sind, mit gestickten Seidenborten verziert oder, wenn sie ein hübsches Muster zeigen, buntfarbig ausnäht, geben einen trefflichen Ueberzug. Hat man solche Reste nicht, kann man die hübschen Liberty-Seiden zum Ueberziehen wählen oder auch ein Stück Ledertapete, die man farbig ausmalt. Was man auch nimmt, immer dürfte die Truhe hübsch ausfallen. Die Umrandung geschieht je nach der Art des Ueberzugs mit Goldbörtchen oder Lederstreifen mit Ziernägeln, und kleine Kugelfüßchen werden zuletzt unter der Truhe befestigt.
„Perfekt“, eine neue Butterdose, luftdicht verschließbar, nett und höchst praktisch. Die Dose ist aus Porzellan, der Deckel Glas. zwischen beiden liegt ein Kautschukring. Ein dicker Draht umfaßt das Porzellan unterhalb des Deckels und preßt vermittelst einer sehr einfachen Mechanik den Deckel fest auf den Kautschuk. Selbst im Hochsommer hält sich die Butter vorzüglich darin, wenn man die Dose mit kaltem Wasser auffüllt.
Frischen Speck zum Spicken vorzubereiten. Die
Beschaffenheit des Spickspeckes ist für die feineren Braten,
speziell für Wild und Geflügel von Wichtigkeit, da von ihm
der mehr oder minder seine Geschmack abhängt. Die meisten
Hausfrauen nehmen zum Spicken geräucherten Speck, den
sie in kleinem Quantum kaufen. Weil vorzuziehen ist diesem
geräucherten Speck der „Luftspeck“, den man sich selbst trefflich
zubereiten kann, nur muß man dazu eine größere Menge,
mindestens eine halbe Speckseite kaufen. Jegliches Fleisch
muß sorgfältig vom Speck entfernt sein, dann reibt man
ihn mir ganz fein pulverisiertem Salz stark und gleichmäßig
ein, schlägt ihn in ein großes leinenes Tuch ein und legt
ihn zwischen zwei Brettern drei bis vier Wochen in einen
kühlen, völlig trockenen Keller. Dann bangt man den Speck
so lange an einen luftigen, trockenen Ort, bis er ganz fest
und trocken ist. Er hält sich dann gut und ist zum Spicken
unübertrefflich. He.
Eigelb erstarren zu lassen. Zu manchen Speisen,
zu denen hartes Eigelb gebraucht wird, wie dies bei
allerlei kalten Saucen, manchem Backwerk und mancher
süßen Speise der Fall ist, ist das Eiweiß völlig überflüssig
und oft sogar wertlos. In solchen Fällen thut man gut,
das Eigelb für sich erstarren zu lassen und das rohe Eiweiß,
das ja vielfältig in der Küche noch Verwendung finden
kann, dann für sich zu benutzen. Man trennt behutsam
Eigelb und Eiweiß, thut ersteres in ein kleines Porzellangefäß
und stellt es darin so lange in kochend heißes Wasser, bis
es erstarrt und genügend fest geworden ist. Man läßt
das Eigelb darauf wie gewöhnlich erst abkühlen, bevor man
es verrührt. – Bei Speisen, zu denen man nur rohes Eigelb,
kein Eiweiß braucht, ist im Winter die Verwendung
des konservierten Speiseeigelbs in Flaschen ungemein praktisch
und empfehlenswert. Dies Speiseeigelb hält sich auch angebrochen
lange Zeit unverändert frisch und bedeutet bei
den teuren Eierpreisen im Winter für die Hausfrau eine
merkbare Ersparnis. Käuflich ist das Speiseeigelb in allen
größeren Kolonialwaren- und Drogeriegeschäften. H.
Kraftgelee nach Geheimrat Dr. Kußmaul. Ein halbes Suppenhuhn, 2 Kalbsfüße, 1 Pfund Ochsenfleisch, die Hälfte eines kleinen Hechtes (das Stück mit dem Kopf ist besonders wertvoll) werden zu ganz kleinen Stücken zerhackt, in 1½ l Wasser mit einer Handvoll Salz kalt beigesetzt und fest zugedeckt 4 Stunden langsam gekocht. Das ganz zerkochte Fleisch gießt man mit der Brühe auf ein Passiertuch, läßt diese erkalten, wärmt sie nochmals und klärt mit einem Eiweiß. – Mit diesem Kraftgelee kann man Kranke tagelang ausschließlich ernähren; er wird von den meisten Patienten gern genommen, da ein großer Eßlöffel voll für eine Gabe genügt.
Praktisches Aufbewahren von Pelzsachen. Man
hat die Pelzsachen in diesem verhältnismäßig sehr linden
Winter nur kurze Zeit gebraucht, und frühzeitig wird
man sie wieder fortpacken können. Das Bewahren der
Pelzsachen und der Schutz gegen Motten und Schaben
ist für jede Hausfrau von Wichtigkeit, und viele Mittel
zum Abwehren der kleinen Feinde des Pelzwerks werden
in einschlägigen Zeitschriften angegeben. Einige von ihnen
mögen gut sein, manche aber sind recht umständlich
und erfordern alle möglichen Vorrichtungen. Solange
ich denken kann, haben wir unsere Pelzsachen stets auf
folgende Weise aufbewahrt, die einfach ist und sich stets
als praktisch erwiesen hat: Vor dem Fortpacken klopft man
alle Pelzsachen tüchtig, bestreut sie mit gröblich gestoßenem
Pfeffer und hüllt sie dann ganz dicht in alte Leinwand.
Man legt in die Mitte des zur Aufnahme des Pelzwerks
dienenden Kastens ein mit Terpentinspiritus getränktes Tuch,
das man sorglich einhüllt, damit es keine Flecken verursachen
kann, und packt die Pelzsachen hinein. Der Kasten wird
fest geschlossen und der Rand des Deckels mit einem mit
heißem Tischlerleim bestochenen Papierstreifen luftdicht versichert.
Man kann diese Kisten oder Kasten unbesorgt überall
hinstellen. Vor dem Gebrauch der Pelzsachen, zu Beginn
des Wintern, hängt man diese einige Stunden zum Lüften
ins Freie und klopft sie dann. He.
[228 b]
Allerlei Kurzweil.
Worträtsel.
Was viele schöne Frauen
Aus Gold ganz heimlich tragen –
Am schweren Güterwagen
Kann man’s aus Blei oft schauen.
Rätsel.
In alten Zeiten war in Griechenland
Als Sänger A –, als Jäger O – bekannt.
Scherzrätsel.
Mein Wort nennt einen Mannesnamen,
Wenn ihr voran mich stellt;
Stellt einer sich voran, so dient’s
Zum Schneiden auf dem Feld.
Wechselrätsel.
Mit e am Ende winkt es hold,
Mit m liebt’s mancher mehr als Gold,
Mit r als Fluß im deutschen Land
Und auch als Krankheit ist’s bekannt.
F. Müller-Saalfeld.
Die Auflösung der Skataufgabe erscheint auf dem Umschlag des nächsten Halbhefts.
Auch je zwei schräge Reihen, die zusammen 13 Felder haben und auf verschiedenen Seiten einer Eckenlinie liegen (z. B. 185 bis 156 mit 90 bis 82), ergeben als Summe 1898.
Auflösung des Homonyms auf dem Umschlag von Halbheft 6. Wage.
Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 6.
Eins – ich – t.Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 6.
Gramm, Gram.Auflösung des Kaleidoskops auf dem Umschlag von Halbheft 6.
Recht zu trinken ist auch eine Kunst,
Die nicht jeglicher weiß zu fassen;
Du sollst den Wein in dir walten lassen,
Aber als Feuer, nicht als Dunst.
Em. Geibel.
Steckbrief.
Gegen den unten beschriebenen Ingenieur Eduard Stempel, geboren am 6. Mai 1859 zu Rock de land (oder Put Elenen), Verein. Staaten, zuletzt wohnhaft gewesen in Südende, Kreis Teltow, welcher flüchtig ist, ist die Untersuchungshaft wegen gefährlicher Körperverletzung, in den Akten Ill. o. J. 56/98, verhängt.
Es wird ersucht, denselben zu verhaften und in das Untersuchungs-Gefängniß zu Berlin, Alt-Moabit 12a abzuliefern.
Beschreibung. Alter: 38 Jahre; Statur: kräftig; Augen: braun; Gesichtsfarbe: frisch; Größe: 1,80 m; Haare: schwarz; Bart: Schnurrbart.
Berlin, den 15. März 1898.
Königliche Staatsanwaltschaft II.
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