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Die Gartenlaube (1898)/Heft 28

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[868 c]

28. Heft. Preis 10 cents. 31. Dezember 1898.

Max Weil & Co., cor. 12th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[868 d]

Inhalt.
Seite
Zur Jahreswende. Gedicht von Rudolf von Gottschall. Mit Umrahmung 869
Montblanc. Roman von Rudolph Stratz (Schluß) 870
Der Hochzeitlader. Gedicht von Peter Anzinger. Mit Abbildung 876
Das Alter der Welt. Von Dr. H. J. Klein 876
Das Kinder-Neujahrssingen in Tirol. Eine Skizze aus der Weihnachts- und Neujahrszeit von J. C. Platter. Mit Abbildung 878
Böse Zungen. Novelle von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach) 880
An unsere Leser 893
Zum Neuen Jahre. Gedicht von Heinrich Seidel. Mit Umrahmung 894

Blätter und Blüten: Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus Halbheft 27 dieses Jahrgangs.) S. 891. – Rettung Schiffbrüchiger. Von Heims. (Zu dem Bilde S. 872 und 873.) S. 892. – Die Berner Klause. (Zu dem Bilde S. 885.) S. 892. – Theetrinker in Ispahan. (Zu dem Bilde S. 889.) S. 892. – Eine neue Einbanddecke zur „Gartenlaube“. S. 892.

Illustrationen: Zur Jahreswende. S. 869. – Rettung Schiffbrüchiger durch Raketenschuß und Hosenboje. Von F. Lindner. S. 872 und 873. – Der Hochzeitlader. Von Ernst Müller. S. 877. – Das Kinder-Neujahrssingen in Tirol. Von Fritz Bergen. S. 881. – Die Berner Klause. Von M. Zeno Diemer. S. 885. – Theetrinker in Ispahan. Von L. L. Weeks. S. 889. – Siegestrophäen. Von C. Wiederhold. S. 891. – Neujahrsgruß aus der Gartenlaube. Von Marie Nestler-Laux. S. 892. – Abbildung zu dem Gedicht „Zum Neuen Jahre“. S. 894.


Hierzu Kunstbeilage XXVIII: „Süßes Träumen“. Von A. Ritzberger.




Kleine Mitteilungen.


Eine einzig dastehende Ausnutzung der Naturkräfte wird, wie französische Fachblätter berichten, in dem kleinen Hafenort Ploumanach in der Bretagne ausgeübt. Hier, wo keinerlei Industrie getrieben wird und Fischfang, Austern- und Krebszucht die Hauptbeschäftigung der Bewohner bilden, hat man das alte, so viele Köpfe beschäftigende Problem der Ausnutzung von Ebbe und Flut auf die einfachste Weise gelöst. Die Flutwelle, die täglich zweimal gegen den Strand des Hafens geführt wird, muß nicht allein das Eis erzeugen, das zur Konservierung der Fische und Krebse gebraucht wird, sondern sie muß fortan auch die Zuchtanlagen und den Ort selbst elektrisch beleuchten.

Die einfachen Mittel zur Erzeugung dieses Effekts sind ein alter Weiher von 1½ Hektar für die Austernzucht und die Räder einer zeitweise ungebrauchten Wassermühle. Der Teich ist, um seiner Zerstörung durch Sturmfluten vorzubeugen, einst durch eine 8 m hohe Mauer vom Meere getrennt worden und für gewöhnlich nur bis zum Niveau des letzteren mit Wasser gefüllt. Diesen Umstand hat man benutzt, um täglich zweimal eine Wassermenge von rund 70 000 cbm aufzuspeichern, wenn die Flut kommt, und sie alsdann zur Ebbezeit in mechanische Arbeit umzusetzen. Ueber dem gewöhnlichen Niveau des Wassers befinden sich zum Einlaß der Flut Schützen oder Klappen in dem Deich des Stauweihers, die sich nur nach innen öffnen. Der Druck der Flut stößt sie selbstthätig auf und füllt den Teich bis zum Niveau des höchsten äußeren Flutstandes, d. h. 4 bis 5 m über den Ebbestand. Beginnt dann die Flut zu weichen, so hält der innere Wasserüberdruck die Schützen geschlossen und der Inhalt des Reservoirs steht zur Verfügung der Mühlräder. Die Einlaßklappen sind so dicht durch Gummi an ihre Umrandung angeschlossen, daß auch bei der höchsten Füllung des Bassins kaum ein Tropfen verloren geht. Zur Zeit der Ebbe wird nun das Wasser aus dem Teich zu zwei Rädern geleitet, von denen das eine, je acht Stunden täglich arbeitend, in dieser Zeit etwa neun Centner Eis produziert und damit den Bedarf der Eigentümer reichlich deckt. Eine Dynamomaschine mit Accumulatorenunterstützung soll jetzt die Kraft des anderen Rades ausnutzen und elektrisches Licht erzeugen. Beide Anlagen verzehren indessen kaum zehn Pferdekräfte, während die alten, vorhandenen Wasserräder das Fünffache leisten können und die Aufstellung moderner Turbinen noch weit mehr Energie nutzbar machen würde.Bw.


Eine Erinnerung an Emil Rittershaus. Es war am sonnigen Nachmittage des 15. September 1884, als sich Emil Rittershaus mit einer größeren Zahl von Herren aus Greiz zu einem Rendezvous mit Herren aus Plauen in Jocketa einfand. Es hatte in den Tagen vorher eine Versammlung unter seinem Vorsitz in Greiz stattgefunden, an der sich auch Plauensche Herren beteiligt und die Zusammenkunft in dem freundlichen, damals viel einfacheren Jocketa verabredet hatten. Die Begrüßung fand auf Station Bartmühle statt, und die mit den Schönheiten der „Vogtländischen Schweiz“ vertrauten Plauener führten ihre Gäste durch das wildromantische Triebthal nach dem Stationsrestaurant Jocketa. Zugleich mit den Greizer Herren waren, geführt von ihren Lehrerinnen, die unter der Obhut eines Geraer Mädcheninstituts stehenden „höheren Töchter“ ausgestiegen, welche ebenfalls eine Wanderung durch das Triebthal nach Jocketa vorhatten und um die Erlaubnis baten, sich uns anschließen zu dürfen. Sie hatten unterwegs den ihnen vorher persönlich unbekannten Dichter kennengelernt und ihm gehuldigt und wollten nun errötend seinen Spuren weiter folgen, was gern gestattet wurde. An der schönsten Stelle des Triebthals, wo sich der Thalkessel etwas weitet, wo die schroffen Felsenwände auf der einen Seite turmhoch aufsteigen, während auf der anderen bemooste Steinblöcke, von Hochwald beschattet, den sich weiter zurücklehnenden Berghang überdecken und die reißende Trieb in zahlreichen Kaskaden zwischen mächtigen Geröllbrocken hindurchbraust, wurde Halt zu einem Picknick gemacht, welches von einem Plauener improvisiert worden war. Während die Herren sich auf Bänken und Felsblöcken am Flusse und zugleich am Fäßchen Plauenschen Bieres niederließen, zogen sich die jungen Damen auf die entfernter liegenden Sitzplätze im Hochwald zurück und zwitscherten manch patriotisches Lied lustig durch die Zweige, dadurch wesentlich zur Hebung der Feststimmung beitragend. Rittershaus saß stillvergnügt auf einer Bank am Felsen und gab sich dem Genusse der Natur hin, als ihm von einem frischen Backfisch ein Feldblumenstrauß, der eben gepflückt worden war, mit dem üblichen Knix überreicht wurde. Strahlenden Auges dankend, nahm er die duftige Gabe entgegen. Nach einiger Zeit wurde die Wanderung nach Jocketa fortgesetzt, wo mittlerweile noch eine größere Zahl von der Anwesenheit des Dichters unterrichteter Damen und Herren nebst Kindern mit der Bahn von Plauen her angekommen waren. Als man unter den Kolonnaden des Gartens Platz genommen hatte, zog der Dichter, der am langen Tische obenan saß, sein Notizbuch heraus und fing an zu schreiben. Bald riß er das beschriebene Blatt aus dem Buche und ließ es der Blumenspenderin als Gegengabe überreichen, was bei den etwas abseits sitzenden Mädchen so große Freude hervorrief, daß sie, an den Tisch, an dem der Dichter saß, herantretend, die Verse, die sie mittlerweile mehrmals abgeschrieben hatten, nach der Melodie „Deutschland, Deutschland über alles“ vortrugen. Alle Anwesenden wurden feierlich gestimmt, auch der Dichter. Er, der zärtliche Familienvater und Kinderfreund, nahm ein neben ihm auf dem Schoße der Mutter sitzendes blondgelocktes dreijähriges Mädchen auf seinen Schoß herüber und herzte und küßte es.

Die von ihm gedichteten Verse, welche in gleicher Weise von seinem Beobachtungstalent und Patriotismus beredtes Zeugnis ablegen, lauten:

„Wenn herab aus heit’rer Bläue
Golden lacht der Sonnenschein,
Daß sich unser Herz erfreue,
Zieh’n wir in die Welt hinein;
Durch die Berge, durch die Gründe
Tanzen wir in muntern Reih’n,
Und ein helles Lied verkünde
Unsrer Seelen Seligsein.

Durch die Wiesen, durch die Matten
Schlingt der Fluß ein Silberband;
Vögleins Lied in Waldesschatten
Ist ein Gruß. vom Lenz gesandt.
Unterm dunklen Laub der Eichen
Ruh’n wir an der Felsen Rand.
O wie herrlich, ohnegleichen,
Bist du, deutsches Vaterland.

Dich, du Heimatland, zu preisen,
Hoch durch Gottes Gunst gestellt,
Sollen klingen unsre Weisen
In des Haines grünem Zelt.
Aus den Büschen wiederhall’ es,
Jauchzend tön’s durch Wald und Feld:
Deutschland, Deutschland über alles,
Ueber alles in der Welt!“

Nur zu bald schlug die Stunde des Abschieds; die Herren fuhren mit dem Abendzuge von Bartmühle weg, bis dahin auf dem kürzeren Weg von einigen Herren begleitet. In ihrem Gefolge befanden sich wieder die Geraer Damen und Mädchen, die dem Dichter – darüber können vielleicht manche ehrbare Frauen von heute, die damals als „Backfische“ dabei gewesen sind, beichten – jedenfalls beim Abschied in Greiz nochmals Huldigungen dargebracht haben. Auch bei anderen Teilnehmern an der Partie, denen diese Zeilen zu Gesicht kommen, werden sie gewiß angenehme Erinnerungen wecken. Prof. Dr. Hzg.

[868 e]

Copyright 1894 by Franz Hanfstaengl in München.
SÜSSES TRÄUMEN
Nach dem Gemälde von A. Ritzberger

[869]

Halbheft 28.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Zur Jahreswende.

Der Glocken Läuten kündet Mitternacht!
Die Gläser hoch – das neue Jahr erwacht!
Noch eine fromme Spende den Cypressen –
Die Thränenspende manchem teuern Grab,
Und einem Toten, ewig unvergessen,
Der lebend einer Welt die Losung gab.
So hohem Ruhm läßt sich kein Grab bereiten,
Er trotzt der feindlichen Gewalt der Zeiten.

Und noch ein Kranz – der hohen Dulderin!
Legt auf den Sarkophag ihn trauernd hin,
Den Lilienkranz zum Kaiserdiademe,
Den, ein Juwel, der Tau der Thränen schmückt!
Zu blut’ger That hat die verruchte Feme
Nie frevelhafter ihren Dolch gezückt.
Verwaist das Zauberschloß an Korfus Strande
Und mutterlos die kaiserlichen Lande!

Wir alle klagen um versunk’nes Glück,
Erinn’rung bringt es träumend uns zurück!
Wer dächte nicht in dieser Geisterstunde
So vieler Blüten, die der Sturm zerstreut?
Wem hat selbst bei der heitern Tafelrunde
Im stillen nicht sich alter Schmerz erneut?
O, das Vergang’ne weckt der Wehmut Zähren –
Die Zukunft möge Hoffnung hold verklären!

Du neues Jahr – o nicht im Trauerflor:
Mit hellen schönen Sternen steig’ empor!
O mögst du Licht den kühnen Denkern bringen,
Die forschend auf des Geistes Warte stehn,
Den Völkern Frieden, die im Kampfe ringen,
Den Herzen Trost, die klagend ihn erflehn,
Der Menschheit Heil im großen Weltgetriebe
Den Lieben Heil und Heil der treuen Liebe!
 Rudolf von Gottschall.


[870]

Montblanc.

Roman von Rudolph Stratz.

 (Schluß.)

23.

Hinauf in der heiligen Stille, ferne über der Welt, dem höchsten Ziel entgegen! Tief da unten liegt die bunte Mannigfaltigkeit der Dinge, liegt Farbe und Lärm, Bewegung und Wechsel. Hier oben ist nur zweierlei, reglos und dauernd: ringsum die weiße Unermeßlichkeit des ewigen Schnees und über ihr die sterndurchwirkte Unendlichkeit des Weltraumes.

Und zwischen beiden dies kleine schwarze Pünktchen Leben, dies leicht sich kräuselnde Wölkchen von heißem Atem in frosterstarrter Oede, das sich da langsam und zähe in jene Welt hinaufarbeitet, in die es nicht gehört – die ihm verschlossen bleiben sollte nach dem Willen der Natur und ihm innerlich ewig fremd bleiben wird.

Lange schon war hinter dem einsamen Wanderer das „Hotel des Grands Mulets“ geschwunden und mit den es umstarrenden Felsen als schwarzdämmernde Masse in der Nacht des Thals geblieben. Es war nichts mehr um ihn, was an Menschen erinnerte, als die schmale, halbverwehte Fußspur des preußischen Lieutenants vom Tag vorher, die sich im Mondglanz vor ihm weiter und weiter zum Himmel hinaufzog. Erst in weitem Hakenschlag zu dem Kleinen Plateau, dann steil und gerade aufwärts in knirschendem, hartgebackenem Schnee, dessen Flächen weithin jäh wie schiefgelegte Mauern abschossen.

Schritt um Schritt, Stufe um Stufe, Viertelstunde um Viertelstunde in tiefem, lähmendem Schweigen. Er dachte nichts mehr, er fühlte nichts mehr, während er schweratmend, den Blick auf den Boden gerichtet, aufwärts klomm – er wollte nur noch. Er wollte auf den Gipfel, der stechenden Schmerzen ungeachtet, die ihn immer heftiger zur Umkehr mahnten, und all die zähe Energie des Afrikaners raffte sich noch einmal gegen sich selbst zum entscheidenden Schlag zusammen und trieb den Körper vorwärts, wie der Reiter das zitternde Roß.

Alle Augenblicke schien es, als wollte die Firnwand ein Ende nehmen. Aber immer neue weiße Kämme lugten hinter den bezwungenen Bergwellen hervor, und immer weiter führte die schnurgerade Spur wie eine Himmelsleiter hinauf in die gestirnte Nacht.

Und wieder eine Viertelstunde und noch eine. Da weht es kühl und schneidend um die erhitzten Wangen und vor den Augen öffnet sich weithin, im bläulichen Schein der Nacht zum weißen Wunderland verklärt und grenzenlos verschwimmend, der Riesenkessel des Großen Plateaus, der gewaltigsten Schneemasse, welche die europäischen Alpen kennen. Weiß ringsumher, nichts als silbernes, träumerisches Weiß! Im Halbkreis, den Mond überragend, die schneeigen Riesen der Montblancgruppe, mit ihren gewaltigen firnüberrieselten Flanken, deren Lawinenströme sich unten im Grund der stundenweiten Mulde zu blendend leuchtenden Schneehügeln und -thälern einen, in glitzerndem Schuppenglanz dazwischen das Blinken der Gletscher, und vor dem Fuß des Wanderers die weite weiße Ebene, über der der Wind stöhnend und zwecklos wie ein Wolf im Winterwald hin und her streicht.

Hier oben begann sein ewiges Reich. Hier gab es keine Ruhe mehr. Die Luftwellen kamen und gingen, sie wanderten von Frankreich nach Italien, sie fluteten zurück und umstrudelten das weiße Greisenhaupt des Montblanc in ihrem heulenden Spiel, wie die See unermüdlich um die Klippe brandet. Im Kessel des Plateaus freilich war ihre Kraft schon an den Schneemauern des Umkreises zerschellt und äußerte sich nur noch in zornigem Gellen und Pfeifen. Aber weiter oben, hinter jener unsichtbaren Höhenscharte, die Frankreich von Italien, den eigentlichen Montblanc von seinem sanfteren Nachbar zur Rechten, dem Dome du Gouter, trennt, da erhob es sich zuweilen in rollendem, unheilverkündendem Donner wie die Stimme eines Riesen, der die Zwerge des Thales warnt, sein Eis- und Nebelheim über den Wolken zu betreten.

Ein langer schwarzer Strich, zog sich vom Lagerplatz in der Mitte der Schneefläche die Fußspur an der Flanke des Dom du Gouter hin. Er folgte ihr weiter und warf, alter Gewohnheit folgend, einen prüfenden Blick zu den weißgetürmten Massen hinauf. Von dort kamen nachmittags die Lawinen. Da pflegte man sich in glühendem Sonnenbrand und fußtief zu Brei erweichtem Schnee in fliegender Eile durchzuhetzen, wenn oben wieder das verräterische Krachen und Rieseln begann und in stäubenden Schneebächen der Tod zu Thal fuhr.

Aber damit hatte es jetzt keine Gefahr. Die Berge schliefen. Der Mond schwamm still am Himmel – alles träumte, bis auf den ewig rastlosen Gesellen im Reich des Schweigens, den Höhensturm.

Der wurde jetzt stärker und stärker. Eisig lachend fuhr er dem Wanderer entgegen, der sich langsam an der Bergflanke emporarbeitete. Er raubte ihm den Atem und erquickte ihn doch zugleich. Denn sein stählender Hauch verscheuchte die seltsame Beklemmung, die fast jeden unten bei der stundenlangen Wanderung in der windgeschützten riesigen Schneemulde umfängt.

Die Stickluft legte sich wie ein Druck des Todes um die Brust. Im Föhn aber war Leben und Kraft. Hier spielte er noch, wie er mit seinen rauschenden Schwingen den Firnstaub vor sich hintanzen ließ; aber weiter oben, in der Scharte, zeigte er schon sein wahres Gesicht voll Furchtbarkeit, das der immer wütender rollende Donner in der Ferne ahnen ließ.

Es wurde in seinem Wehen plötzlich ganz schneidend kalt. Die Luftwärme bei dem vor wenigen Stunden verlassenen Touristenhaus erschien jetzt wie eine laue italienische Nacht gegenüber diesem durch alle Hüllen kriechenden, alle Fibern erstarrenden Frost. Und auch die Luft selbst veränderte sich. Sie wurde merklich dünner. Die Brust mußte sich hoch wölben, um sie genügend einzuschlürfen, begierig, wie ein Wanderer frisches Quellwasser trinkt, und bekam doch, wenn unversehens ein Windstoß dazwischen fuhr, nicht genug von dem Lebensstoff. Dann stockte der Kreislauf des Körpers. Es war nicht mehr möglich, einen Schritt weiter aufwärts zu thun. Man mußte stehen bleiben, einen neuen Atemzug schöpfen und dann wieder eine Stufe höher steigen. Und wieder ein Atemzug, wieder ein Schritt – und immer weiter, der Scharte zu, auf der sich, als Zufluchtsort in dem gefürchteten Schneesturm, auf einer aus dem Firn starrenden Klippe wie ein mittelalterliches Raubnest hoch hingebaut, die kleine Vallot-Hütte erhob.

Er eilte sich, sie zu erreichen. Denn der Mond sank tiefer und tiefer hinter den silberverklärten Gipfeln. Wenn er schwand, trat volles Dunkel ein, denn das Morgengrauen war noch fern.

Da stand er auf der Höhe des Firnsattels zwischen Dom und Monarch, aufschauernd wie in einem eisigen Bade, so grimmig erkältend brausten die Wirbelwellen des Südsturms um ihn her. Er lief mehr als er ging, über den im Druck der Nägelschuhe stöhnenden Firn, die Eisaxt hochgehoben, mit der Linken Augen und Gesicht gegen die herangeschleuderten Luftmassen schützend. Er wußte: die Thüre der Schutzhütte stand jederzeit offen und fiel hinter jedem von selbst wieder ins Schloß. Nicht ohne Mühe schwenkte er den schweren Holzflügel in den Angeln und trat zähneklappernd ein.

Kaum hatte er den Fensterladen aufgehakt und sich auf der nächsten Holzpritsche, die seine Hand im Halbdunkel berührte, lang hingeworfen, da erlosch hinter dem Fenster draußen das letzte Dämmerlicht. Der Mond war untergegangen, die volle Finsternis da.

Wie er so dalag, stumm und starr, in Grabeskälte und rabenschwarzer Nacht, da kam ihm plötzlich der Gedanke, ob er nicht schon gestorben sei. Vielleicht war das der Sarg. Die Hölle. Irgend ein Ort, der nichts mehr mit der Erde gemein hatte.

Auf irgend einem erkalteten Planeten, in den Bergschlünden des Mondes – da mochte es so zugehen. Auf einer dieser Lehmkugeln, die abgestorben, zwecklos durch den Weltraum wirbeln, ein Tummelplatz unsichtbarer, in Sturmgewand gekleideter Luftgeister und ihrer nächtigen Spiele.

Er erhob sich, tappte im Dunkeln, mit dem Fuß an einer vergletscherten Ecke des Raumes ausglitschend, nach dem kleinen Fensterrahmen und preßte sein Gesicht daran. Aber nicht einmal die Sterne waren zu sehen. So dicht hatte sofort eine Eisschicht von außen die Scheibe überkrustet.

Nur durch das Ohr stand der einsame Alpinist noch mit [871] der Welt in Verbindung. In dem tiefen, massigen Dunkel der Nacht, die bleiern über dem Frostreich brütete, henlten und johlten ununterbrochen die langgezogenen Sturmstöße, jetzt von Courmayeur her mit der Wut des welschen Föhns, jetzt wieder von Chamounix her mit dem eisig fegenden Nordost der schweizer Alpen im ewigen Spiel der brandenden Luftwellen wechselnd. Klagen und Jauchzen, Winseln und Lachen, wütendes Aufbrüllen und befriedigtes Grollen klang aus ihnen wie ein Widerhall des ganzen ewigen Kampfes ums Dasein auf der Erde, unter dessen Donnern und Pfeifen die Bergkolosse selbst zu wanken schienen.

Er öffnete das Fenster und spähte hinaus. Nun war es etwas heller. Ueber den hartgefrorenen Schnee hin huschte und flirrte es im Geistertanz – himmelhoch aufgewirbelte und pfeilschnell kreiselnde Säulen von Firnstaub, in der Dunkelheit unsichtbar und doch daran kenntlich, daß hinter dem Geflimmer der Krystallkörner das kalte Licht der Sterne sich verschleierte.

Wie eine Handvoll Nadeln peitschte ihm der Wind die spitzen Eissplitter ins Gesicht. Er schloß wieder das Fenster und setzte sich, in seinen Mantel gewickelt, den Rücken an die Wand gelehnt, auf die Pritsche.

Vielleicht ruhte er gerade auf dem Lager, auf dem vor wenigen Jahren jener Arzt aus Chamounix an Erschöpfung gestorben war! Er hatte den Montblanc besuchen wollen, und der Montblanc hatte ihn getötet. In dem einsamen Wetterhäuschen hier oben, 14000 Fuß über dem Meer, hauchte er seinen Geist aus.

Da draußen hatte er Leidensgefährten genug. Dicht vor der Thüre der Hütte war, im Schneesturm ratlos umherirrend, jener englische Gelehrte verschieden. Ein anderer, ein Russe, hatte sich etwas weiter oben im Eis zur ewigen Ruhe gelegt, und weiter seitwärts hatte man seinerzeit die ganze Expedition jenes italienischen Grafen – elf Männer – als Leichen am Firnhang gefunden. In der Gletscherspalte nicht weit davon ruhten die beiden Schotten, unter denen die trügerische Schneebrücke gewichen, an unbekannten Orten so mancher andere, unter ihnen, vielleicht hier ganz in der Nähe, auch Balmat de Montblanc, des Berges erster Bezwinger und sein erstes Opfer.

Jetzt war der Bergriese zahm. Die Menschen hatten ihn kennengelernt und fürchteten ihn nicht mehr. Selten, daß einer noch im Griff seiner Eisfaust verblieb. Aber heute, in wenigen Stunden, wurde ihm doch wieder eine Beute zu teil! – –

Er wußte es jetzt ganz genau, wie er da reglos, schweratmend lag, daß es zu Ende ging. Die stechenden Schmerzen krampften ihm die Brust zusammen, häufiger und häufiger stockten, für einen Augenblick Pulsschlag und Atem – es kam alles, wie es der Arzt gesagt hatte.

Aber es kam nicht früher, als er wollte. Er wollte noch einmal die Sonne sehen, wie sie über die höchste Warte Europas ihren ersten Strahl ergoß. Mochten andere hier in Nacht und Dunkel auf harten Pritschenlagern oder verloren in den schauerlichen Kerkern der Gletscherschlünde enden – ihn mußte sein Körper, der strapazengewohnte, dem Willen pflichtige, zum Licht, zur Höhe, zur Freiheit emportragen. Dort konnte er vergehen. Er hatte sein Bestes gethan und, was in ihm flüchtig und doch ewig wohnte, zur Ewigkeit der sonnenfrohen Höhen hinaufgeführt und dort entlassen. Mochte es hinauswehen, cüs ein zitterndes Wölkchen im Weltall sich verflüchtigen oder, im Vogelflug zur Erde niederkreisend, in einer anderen Menschenbrust von neuem nisten – wer weiß, woher es kam, wohin es ging. Und vielleicht wußte er es doch in wenigen Stunden …

Er preßte die Hand an die Brust und trat wieder zum Fenster. Die Nacht erstarb! Dort drüben im Osten blinzelte es fahl und grämlich auf, in einem leichenfarbenen Schein, der, rasch am Firmament sich ausbreitend, den Glanz der Himmelskörper in seinem matten Grau ertränkte. Goldene Ränder säumten da und dort dies Grau der um die Berge und unter ihnen dampfenden Wolken ein. Sie erhellten sich mehr und mehr. Ein seltsames, gelbes Dämmerlicht, wie man es nie in den Thälern schaut, schien, die Nacht vertilgend, aus den Poren des ewigen Firns selbst herauszuströmen, und im Osten flossen langgestreckte, rote Dunststreifen zu einer blutigen Lohe zusammen, die gleich dem Widerschein einer ungeheuren Feuersbrunst stumm und feierlich immer höher und höher am Himmel aufstieg.

Tiefer unten, wo sich der Firnpfad längs des Doms zum Großen Plateau hinabzog, lag noch tiefe Nacht. Aber auch in ihr sahen, als er dorthin den Blick wendete, seine erstaunten Augen etwas Fremdes, Lebendiges. Ein Lichtpünktchen, das, wie ein aus dem Thal verirrtes Johanniswürmchen, steil und beharrlich in dem weißlichen Dunkel aufwärts pendelnd, über den Schnee emporschaukelte.

Die Laterne einer Montblanc-Expedition! Er furchte die Stirne. Er hatte gehofft, daß bei dem heftigen Südsturm alle Führer die vom Plateau links abzweigende Route durch den „Korridor“ und über die beinahe fünfhundert Fuß hohe „Eismauer“ wählen würden, und sicher hatten auch alle anderen diesen beschwerlichen, aber windgeschützten Weg eingeschlagen.

Warum diese nicht? Und wer waren sie?

Er wußte es wohl. Und als die Laterne jetzt höher und höher herauf kam und im Tagesgrauen der Scharte verblaßte, da unterschied sein Blick schon deutlich drei Gestalten, eine lange und eine kleine und etwas Weißes, Schleierhaftes dazwischen, und der Wind wehte ihm, wie aus weiter Ferne, einen verhallenden, hellen Klang ins Ohr.

Er ergriff seine Eisaxt und stieg von der Hütte zu der beinahe ebenen, windumpfiffenen Firnfläche des Sattels nieder, auf dessen anderer Seite sich der Anstieg zum eigentlichen Montblanc, die Eisleiter der Grandes Bosses du Dromadaire, emporbäumte. Zu dreiviertel senkrecht aufgerichtet und kaum einen Fuß breit, lief die von Axthieben gekerbte, bläulich blitzende Firnschneide zwischen zwei riesigen Glasdächern in die Höhe, die jäh und spiegelnd unter ihr rechts und links Tausende von Fuß in das Thal, nach Frankreich und Italien abschossen.

Es war eigentlich noch etwas zu dämmerig, um jetzt schon die glitscherigen Sprossen dieser Himmelsleiter zu erklimmen, die, obwohl für den erfahrenen und schwindelfreien Bergsteiger gut gangbar, doch für jeden unbedachten Tritt eines Einzelgängers sein Leben heimfordert. Und zudem konnte der heulende Wind alles vereiteln. Ließ er auch wohl bei Tagesanbruch nach, so war doch die Gefahr, durch einen jähen Sturmstoß aus den Stufen geschleudert und in das Nichts hinausgefegt zu werden, während der ganzen Wanderung vorhanden.

Zum Glück konnte die Bezwingung des Dromedarhöckers kaum 25 bis 30 Minuten dauern, da er sich keine Eistritte auszukerben brauchte. Die am vorigen Tag geschlagenen Stufen des Lieutenants waren – das sah sein geübter Blick – noch zu benutzen. Und wartete er nur noch kurze Zeit, so kamen die drei da hinten und holten ihn ein. Hörte er doch im Morgennebel ihre Stimmen aus nächster Nähe.

Er warf seine Eisaxt über die Schulter wie der Soldat das Gewehr und ging im Sturmwind mit langen Schritten quer über den Firnsattel dem Montblanc zu.


24.

Die andern, die am schwanken Seil aus den Schneekesseln der Plateaus heraufstiegen, konnten ihn nicht erkennen. Der Wind fuhr ihnen zu schneidend in die Augen und umwirbelte sie mit seinen eiskalten Stacheln, daß sie blinzelnd und schauernd sich zusammenduckten. Und als sie dann die Hütte erreicht hatten, war die Gestalt ihres Vorgängers schon in den Nebelschwaden verschwunden, die, vom Föhn aus ihren warmen Thalnestern heraufgejagt und in unstetem Spiel auf- und niederschwimmend, die Firnleiter umhüllten.

Auf den bleichen Gesichtern der Touristen lag die Morgenstimmung, wie sie Uebernächtigkeit und Erschöpfung in der letzten Hälfte einer großen Besteigung zu erzeugen pflegt. Und für die beiden Männer war dies die zweite Besteigung innerhalb vierundzwanzig Stunden. Gestern um diese Zeit auf die Aiguille du diable, heute auf den Montblanc – es war ja wahrscheinlich, daß sie ihre Wette mit den aus den Grands Mulets ihnen nachfolgenden Mitgliedern des Londoner Alpine Club gewinnen und die beiden Gipfel hintereinander machen würden – aber im stillen ärgerte es sie doch, daß sie, gereizt durch die Ruhmredigkeit der Briten, von denen der eine, der lustige Graukopf, schon zwölfmal auf dem Montblanc gewesen war, sich des Wagstücks vermessen hatten. Sie fühlten doch das Biwak und die schwere Tagesarbeit von gestern in allen Knochen und saßen stumm und verdrießlich in der Vallot-Hütte.

[872]

Rettung Schiffbrüchiger [durch] Raketenschuß und Hosenboje.
Nach einer Originalzeichnung von F. Lindner.

[873] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [874] Draußen strömten, während der Sturm mit sich mindernder Heftigkeit die Eisluft erschütterte, immer neue Nebelmassen von der italienischen Seite herauf, ganze Wolkenzüge, die dampfend, dichtgeballt in raschem, lautlosem Fluge dahinstrichen wie eine endlose Herde seltsamer Zugvögel, die sich eilt, ein fernes Ziel zu erreichen. Im wachsenden Tageslicht wurden sie immer heller und durchsichtiger, und von oben her leuchteten schon die zitternden Frühstrahlen des auf den höchsten Gipfeln erwachenden Morgens hinein.

Franklin gähnte, lang ausgestreckt, und starrte zur Decke.

„Was machen die Nebel, Prinz?“ frug er stumpfsinnig. „Können wir nicht bald weiter?“

Ein Sturmstoß gab ihm die Antwort, der wie ein zorniges Aufbrüllen über die Wetterscharte hinfegte. Die Wolkenherde schwamm geängstigt und gescheucht vor ihm her und senkte sich in rascherem Flug auf der anderen Seite zum Plateau herab. Und in der grauenden Winterlandschaft, die sie enthüllte, lief wieder sichtbar geworden die schmale Stufenbahn auf der Schneide der Grandes Bosses du Dromadaire in die Höhe.

„Da geht^s hinauf!“ sagte der Prinz aufstehend und holte das Seil hervor. „Was wir nicht brauchen, lassen wir hier unten. Noch ’nen Schluck Wein! Sie müssen, Frau Angela! Sonst werden Sie am Ende schwindlig. Die Promenade ist ein bißchen luftig. Rechts nichts, links nichts, über sich nichts, nur unter sich das bißchen Eis … Sie müssen ganz langsam und beschaulich gehen – nie einen Fuß heben, ehe nicht der andere feststeht. Und wenn Sie doch ausgleiten, so thun Sie das bitte nicht schweigend, sondern sagen Sie es mir, wenn irgend möglich, beiläufig im Lauf des Gesprächs vorher, damit ich Sie rechtzeitig halten kann!“ Er that selbst einen kräftigen Schluck. „Brrr! ist das Zeug kalt!“ murmelte er, sich den roten Schnurrbart wischend. „Es könnte ebensogut Tinte sein wie Rheinwein! Na, nun los! Was haben Sie, Frau Angela?“

Die weiße Schleiergestalt antwortete nicht, sondern wies nur stumm mit der Hand in die Höhe. Da, wo ihre in unförmlichen Stulpen verhüllte Rechte hindeutete, klomm eine dunkle Erscheinung rüstig die letzten Tritte des schmalen Firnwegs empor. Elastisch von Stufe zu Stufe steigend, vom Sturm umbrandet und, auf die jenseits schräggestellte Eisaxt gestützt, sich weit zur Rechten über den Abgrund beugend, um im Anprall der Luftwellen das Gleichgewicht zu bewahren, ging der einsame Wanderer, nach gutem Gletscherbrauch frei aufgerichtet, fortwährend schwankend und doch unerschüttert, seinen Weg. Jetzt setzte er den Fuß in die letzte Eiskerbe, jetzt war er oben auf dem Dromedarhöcker und verschwand hinter den Schneehügeln, die sich darüber türmten.

Der Prinz nickte befriedigt. „Ein gutes Stück Arbeit!“ sagte er. „Allein auf den Montblanc! Und ohne Training. Dazu gehören Nerven. Hoffentlich holen wir ihn noch ein.“

„Ich glaub’s nicht!“ Der kleine Yankee schüttelte den Kopf. „Sehen Sie nur … da kommt er wieder heraus … wie er losstürmt. Es ist gerade, als ob er die dünne Luft gar nicht spürte.“

„Oder als ob er vor uns flüchtete.“ Der Hüne lachte grimmig. „Er will nichts mehr von Ihnen wissen, Frau Angela!“

Die weiße Frau zuckte die schmalen Schultern und sah dem Höhenwanderer nach, solange seine dort oben im Frührot scheinbar riesig wachsende Gestalt sichtbar blieb.

Der Yankee aber wurde ungeduldig. „Los!“ rief er. „Bringen Sie Ihre Schneeschleier in Ordnung, Frau Angela, der Wind geht scharf und die Sonne ist nahe. Wenn Sie sich wieder ganz als Berggespenst verkleidet haben, können wir aufbrechen!“

*      *      *

Die vermummten Menschen schritten über den Sattel dahin, der sich lässig in den Schultern wiegende Riese voraus, der Zwerg am Schluß und zwischen ihnen, gesenkten Kopfs, die stumme weiße Begleiterin. Der Wind hatte sich jetzt ziemlich gelegt. Nur vereinzelte Stöße umpfiffen noch die drei, während sie langsam, mit pedantischer Vorsicht die fußbreite, zu beiden Seiten von freier Luft begrenzte Firnschneide emporstiegen, erst mäßig steil, wie auf einer gutbürgerlichen Treppe, dann immer jäher hinauf wie auf einer im Winkel von etwa siebzig Grad an eine Wand gelehnten Leiter. Die Sprossen dieser Leiter, blankes, graublaues und mit einer dünnen Schicht von Firnkörnern bedecktes Eis, knirschten unter den Kopfnägeln ihrer Schuhsohlen. Die dünnen Eisenkettchen, welche die Schneegamaschen am Stiefel festhielten, klirrten leise dazu im Takt, und regelmäßig ging der schwere Atem der drei Bergsteiger, denen hier in der Anspannung des Augenblicks auf der luftigen Messerschneide keine Atemnot mehr die Brust beengte, obwohl sie sich jetzt schon in gleicher Höhe mit den trotzigsten und schwierigsten Gipfeln Europas, mit Monterosa, Dom und Matterhorn, befanden.

Plötzlich blieb der Prinz stehen, und die andern machten notgedrungen auch Halt. „Jetzt habe ich eine Idee!“ sagte er düster und blickte zur Seite nieder, wo in der Höhe seines linken Kniees ihm unter der weißen Gaze das leichenweiße Gesicht entgegenschimmerte. „Eine Idee, Frau Angela!“

Ein Sturmstoß erfaßte sie. Sie machte eine unwillkürliche Bewegung und kam mit dem einen Fuß aus dem Gleichgewicht. Franklin Moore, dessen Brust sich gerade vor ihrem Bergschuh befand, packte rasch zu, drehte den Absatz herum und stellte ihn wieder richtig in die Stufe.

„Vorwärts, Prinz!“ schrie er durch den Wind an Angela vorbei in die Höhe. „Vorwärts, in drei Teufels Namen! Hier ist doch nicht der Ort, sich Geschichten zu erzählen!“

Aber wenn der Hüne einmal etwas im Kopf hatte, hätte man es ebensogut einem Bullen durch gütliches Zureden austreiben können wie ihm. Er regte keinen Fuß.

„Hier ist der Ort,“ verkündete er düster und schaute, auf seine Eisaxt gestützt, herab, „der Ort für meine Idee. Kurz und gut, Frau Angela – wollen Sie meine Frau werden?“

Die weiße Gestalt an seinem Knie sah schweigend zu ihm auf.

„Diese Frage ist an dieser Stelle und in dieser Höhe noch nie von einem Mann an ein Weib gerichtet worden,“ fuhr der Riese befriedigt fort und bog sich wie die andern blinzelnd weit über den schmalen Grat, um einem Anprall des Windes zu begegnen. „Sie ist durchaus neu! Also müssen Sie Ja sagen! Nein sagen können Sie nicht. Dieser glattrasierte Massenmörder aus Transvaal, den ich da hinter Ihnen am Seile schleppe, hat mich selbst gestern abend darauf aufmerksam gemacht, daß ich, wenn ich falle, Sie beide mit mir nehme … nach dem Gesetz der Schwere, Frau Angela!“

Die unter ihm blieb stumm. Aber unwillkürlich klammerte sie sich mit einer Hand an seinem Knie fest.

„Wenn Sie jetzt trotzdem Nein sagen, dann gerate ich in einen Zustand der Unzurechnungsfähigkeit. Dann trete ich aus reinem Gram plötzlich links daneben …“

„Well!“ Franklin Moore lachte unten herzlich los. „Passen Sie auf, Frau Angela! Im selben Augenblick treten wir beide rechts daneben! Dann ist das Gleichgewicht wieder hergestellt. Die eine Hälfte der Partie hängt rechts in Italien, die andere links in Frankreich!“

„Lachen Sie nicht!“ gebot der Hüne zornig. „Die Sache ist ernst!“

Aber der Yankee faßte sie heiter auf. „Zwicken Sie ihn ein bißchen ins Bein, daß er weitergeht!“ riet er. „Es ist zwar eine sonderbare Antwort auf einen Heiratsantrag, aber wer Ort und Zeit so wunderlich wählt, darf sich nicht beklagen, wenn man auf seine Eigenart eingeht.“

„Frau Angela…“ begann der Recke von neuem. „Es giebt ein Unglück …“

„Es giebt kein Unglück!“ schrie der Yankee von unten fröhlich im Winde. „Keine Angst! Glauben Sie, dieser Koloß von Mensch hätte die Nerven, absichtlich fehlzutreten? Das kann ich nicht einmal! Das kann keiner von uns! Vorwärts, Frau Angela …“

Jetzt lachte es auch unter den Gazeschleiern leise auf. Der Prinz zuckte zusammen und machte ein wütendes Gesicht.

„Er hat eine Idee!“ sagte der Yankee trocken. „Zum ersten- und letztenmal in seinem Dasein. Das bekommt solchen Fossilien nicht. Wenn Sie ihn nicht zwicken wollen, Frau Angela, so setzen Sie einfach Ihren Fuß in seine Stufe. Für zwei Schuhe ist nicht Raum. Also muß er als Gentleman Ihnen Platz machen! Sehen Sie … es hilft. Da steigt er ganz artig weiter. Wie geht’s, Herr? Ist der Anfall vorüber?“

Aber der andere antwortete nicht, sondern klomm zornmütig in so raschen Schritten empor, daß ihn die beiden Genossen am [875] Seil zurückhalten mußten. Er wandte sich nicht nach ihnen um, sondern zuckte nur mißmutig die Achseln, und seine langen Schnurrbartenden flatterten zu beiden Seiten des Kopfes in dem jetzt von der Höhe herabstürmenden eisigen Winde, der die Thränen in die Augen trieb und die Finger erstarrte.

Nun hatten sie diese Höhe erreicht. Vor ihnen lag, in immer neuen Schneehügeln und Firndächern sich übereinander wölbend, ein zerrissenes, wie von Riesenhand hingeschleudertes, weißes Chaos, das letzte Gebiet des Montblanc. Wo es endete, war nicht zu erkennen. Immer neue blendende Wälle, glitzernde Schluchten, spiegelnde Eisflächen tauchten hinter den erklommenen Punkten empor und erstreckten sich weiterhin in dem weißlichen Nebeldampf des Himmels.

Vorsichtig, auf den Eispickel und das linke Knie gestützt, den rechten Fuß tastend in dem Schnee abwärtsgeschoben, und mit dem ganzen Körpergewicht auf der Bergseite ruhend, schoben sie sich an der Flanke des zweiten, des „kleinen“ Dromedarhöckers hart unter dem Kamm an einer schmalen Schneewand hin, die sich wenige Fuß unter ihnen in das Unermeßliche verlor. Weitere Schwierigkeiten gab es jetzt bis zur Spitze nicht mehr. Ohne Gefahr suchte der geübte Fuß in der frosterstarrten Hügel- und Thälerwelt des breit sich auftürmenden Montblancrückens seinen Weg aufwärts, immer weiter aufwärts in der Kette von Eiswällen, die des Wanderers spottend rastlos neu vor ihm aus dem Firn zu wachsen schienen, wenn er sie eben erst keuchend überwunden.

Die Atemlosigkeit – das war das Schlimme! Es war keine Luft mehr, was die lechzenden Lungen einzogen, es war etwas eisig Dünnes, etwas, was die Brust zugleich leer ließ und erkältete. Etwas Feindseliges, das dem ganzen Leib die Spannkraft nahm. Die Muskeln begannen zu trotzen. Sie thaten nur noch widerwillig, zögernd ihre Pflicht, und immer häufiger mußten die Touristen, im Schnee liegend, rasten und warten, bis wieder etwas Luft im Brustkasten und Federstärke in den Beinen sich einstellte. Kampflustig sprangen sie dann auf. Aber nach wenigen Schritten war die bleierne Müdigkeit, das Lechzen nach Luft wieder da. Wieder mußte Halt gemacht werden, wieder hoben und senkten sich die breiten Rippen des Prinzen wie eine mächtig arbeitende Dampfmaschine, wieder zitterte es vor Ermattung unter den weißen Schleiern und trocknete sich der Yankee mit mephistophelischem Lächeln das aus Nase und Ohren tretende Blut – dann wieder ein Ruck am Seil – weiter – weiter! Sie wußten es ja: wenn die Muskeln sich noch so widerspenstig weigern, ihre Kraft herzugeben, so haben sie doch noch jeden, der wollen konnte, bis zum Ziel getragen.

Und da vor ihnen lief, über Schneehalden und Firndächer, zwischen Eistrümmern und frostigen Thälern die Fußspur ihres Vorgängers und zeigte ihnen den Weg, den er, der Einzelne, zäh und rastlos verfolgte. Ihn selbst bekamen die beiden Männer nicht mehr zu Gesicht. Sie konnten nicht so rasch empor wie er. Um Angelas willen. Zwischen ihnen schritt die weiße Gestalt schweratmend und schweigend den Höhen zu, auf denen der, dem sie folgte, frei aufgerichtet der Sonne entgegenging.


25.

Der da oben wandelte schon im Licht. Die dämmernden Sonnenwellen grüßten ihn mit ihrem schmeichelnd warmen Gold, und allgemach hob sich rings um ihn Europa aus der Nacht des Schlafes, aus Nebel und Grauen empor zum Morgenglanz.

Sonnenaufgang auf dem Gipfel des Montblanc ……

Schon waren die Sterne oben am Firmament erloschen, dessen Aschfarbe immer mehr in einem unergründlichen schmelzenden Blaßblau verschwamm. Nur der Morgenstern funkelte noch trotzig nieder, ein goldenes Juwel, aus dessen Rändern in unruhigem Spiel die Lichtzacken schossen und zurückzuckten. Aber bald erstarb auch er, der Tag war Sieger.

Noch stand die Sonne tief im Osten, hinter dem Engadin. Aber es wurde hell von Oesterreich her, von Deutschland und der Schweiz. Hell wie in dem Chaos, von dem das Bibelwort spricht: „Und die Erde war wüst und leer!“ Ein unermeßliches Nebelmeer, soweit das Auge reicht – eine graue leblose Sündflut, wie wenn auf hoher See Windstille ein Schiff umfängt und die Nußschale still daliegt, über sich den Himmel, ringsum die ungeheure Weite.

Aber hier waren Inseln ringsumher! In trotzigen Zacken schoß es überall in der Runde aus dem wesenlosen Schweigen zum Licht empor, in wildgeformten, schneebeströmten Klippen und firnüberpuderten Wellenlinien, deren reines Weiß sich allmählich, der grauen Grämlichkeit der Thäler spottend, mit einem heiter lächelnden Rosenrot übergoß.

Die Sonne war nah’! Auf den höchsten Gipfeln Europas entzündete sie ihr Licht, auflodernde Strahlenbüschel, die der Hochwelt das Kommen der Gebieterin meldeten. Ueberall blitzte es auf. Es legte sich in glühenden Leisten von geschmolzenem Gold um die Schneekämme, es funkelte in grimmem Glanz von den Schultern der Eisriesen und krönte ihr ehrwürdiges weißes Haupt mit einem flammenden Diadem von Morgenrot, das, majestätisch von dem rasch in tieferes Blau sich färbenden Himmel abgehoben, seine Lichtströme hinab zu den Gletschern und Thälern rieseln ließ.

Ein Bergkoloß entzündete sich am andern. Zu Hunderten und aber Hunderten loderten rings in der Runde die Riesenfackeln des neuen Tages und schauten, über dem Nebelheim der Tiefen aufgereckt, das man Europa nennt, andächtig zu der in Feuerfluten vom Osten heranschwimmenden Gebieterin der Welt empor. Trotzig aufrecht, starre Gebieter, selbstbewußte Giganten, begrüßten die Berge das Einzige, was über ihnen ist, den Urquell alles Irdischen, den Born des Lichts und Lebens in ehrfurchtsvollem Schweigen. Der Sturm allein sprach für sie. Wie Donner wandelte sein Morgengebet über die ewigen Höhen, ein Preis des Himmels und der Erde, ein Loblied der Schöpfung am sechsten Tage, da es noch keine Menschen gab.

Jahrtausendelang war die Sonne über jenen Höhen aufgegangen und gesunken, ohne daß ein Menschenauge sie sah. Nun hatten sich dem einsamen Mann da oben die jungfräulichen Wunder enthüllt. Das Leben schritt mit ihm durch die wilde Einsamkeit über den Wolken, das warme, menschliche Leben – – höher, immer höher, dem letzten Ziele zu.

Tief war ringsum schon der Kranz der Berge gesunken. Von oben herab überschaute sein Blick jene vom Thal so gigantisch ragenden Gipfel, auf denen allen er selbst schon schweratmend und sturmgeschüttelt gestanden hatte. Der schmale Eiskamm der Jungfrau, der gedoppelte Firngrat des Matterhorns, des Doms schneeüberrieselte Felsenzacken, die tückisch überhängenden Schneerücken des Lyskamms, der eisglatte Zuckerhut der Dent Blanche, ja selbst das mächtig aus weißen Halden aufschießende, siebenfach gegipfelte Steingewölbe des Monterosa hatten sich vor dem Montblanc gebeugt. Und günstiger als die mühsame Bezwingung dieser Riesen durch glitschrige Schneerinnen, schmale Gesteinkanten und senkrechte Felskamine gestaltete sich diese luftige letzte Höhenwanderung über den Kamm des Montblanc. – Weiß ringsumher – ein blendendes, die Sonnenstrahlen zurückschleuderndes Weiß, das die Augen kaum zu ertragen vermögen – und über dem unbefleckten Hermelingewand des Bergkönigs die dräuend stahlblaue, beinahe blauschwarze Himmelswölbung, deren Verfinsterung auch das des Hochgebirgs gewohnte Auge immer wieder mit leisem Grauen schaut.

Von unten her tönte unsichtbarer Donner – langsam anschwellend und in undeutlichem Gemurmel verklingend. Die ersten Lawinen fielen vor dem Strahl der Morgensonne. In senkrecht die Bergwände durchfurchenden schnurgeraden Rillen glitten die Schneebäche in den Abgrund, der sie brüllend empfing. Seinem ungeschlachten Gruß antwortete es aus einem andern Thal wie das Poltern schwerer Lastwagen. Sonst tiefe Ruhe ringsum. Auch der Sturm war erstorben.

Der Firnkamm wurde schmaler und schmaler. Sanft ansteigend, ging er aus einem breitgewölbten Rücken allmählich in einen Fußpfad von Schnee über, auf dem man eben noch bequem und auf den Pickel sich stützend, durch die Pausen des Atemholens alle fünf Schritte zum Stehenbleiben gezwungen, emporklimmen konnte. Dann plötzlich wurde er wieder etwas breiter und öffnete sich auf ein beinahe ebenes, durch zum Thale überhängende Schneemassen trügerisch ausgedehntes Plateau, aus dem, ein dunkler, schräg im Schnee lastender Fremdkörper, das Bollwerk des Observatoriums Janssen, trotzig emporstarrte.

Tief aufatmend blieb der Wanderer stehen. Er war am Ziel. Vom höchsten Punkt Europas sah er, auf seine Eisaxt gestützt, einsam wie ein kreisender Adler, über die Welt und die Wolken [876] dahin. Zum letztenmal erlebte er, den Tod im Herzen, mit offenen Sinnen all die Herrlichkeit – windstille Luft, feierliches Schweigen, regloser Morgensonnenglanz auf dem Gipfel des Montblanc, und in ihm regte sich, wie ein Schauer vergangener Zeiten, ein Ding, das ihm, dem modernen Forscher, dem Alleswisser und Götzenzertrümmerer, längst geschwunden war: die Ehrfurcht.

Das Gefühl der Unendlichkeit ging in ihm auf. Sein Auge, das in unbegreiflichen, unfaßlichen Fernen sich verlor, zählte nicht mehr das tausendfache Gewimmel der Gipfel im weiten Umkreis von Europa, es sorgte sich nicht mehr um all die Länder und Ländchen zu Füßen – nein, es schaute hinaus in jene äußersten Weiten des Horizonts, wo das unermeßliche Panorama in zarten violett getönten Dunstschleiern verschwamm, wo aus der geheimnisvollen Trübung der Luft geheimnisvolle Berggestalten grüßten, von denen er nicht mehr wußte, ob sie der Erde entstammten, ob sie die Allmacht des Weltraums aus vergänglichen Wolken schuf.

Zur höchsten Höhe war er gestiegen, um an den Grenzen der Erkenntnis, am Ende seiner Kraft zu stehen. Aber nichts Niederdrückendes lag ihm darin. Im Gegenteil. Es machte ihm die Brust weit. Es stimmte sie ruhig und heiter in dem Gefühl der Ergebung vor dem ewigen Welträtsel. Hier oben fühlte er sich dem Urbild aller Dinge nah’, wie seine Vorfahren, die weltwandernden Germanen auf jungfräulich waldumrauschten Berggipfeln, wie die Hellenen auf den sonnigen Höhen des Olympos ihre Götter suchten – Geschöpfe von heiterer Kraft und lachender Größe gleich der Natur selbst und ihren Lieblingen, den Starken unter den Menschen.

Und für den Starken galt ewig das „Excelsior!“ – Das „Empor zur Sonne!“ In unvergänglichem Glanze stand sie, da er ermattet vor ihr niedersank, über seinem Scheitel. Sie vergoldete ihm noch einmal die wohlbekannte Erde und lehrte ihn zugleich die Eitelkeit alles Irdischen, die Nichtigkeit alles menschlichen Strebens und Wähnens in dieser letzten Stunde der Einsamkeit über den Wolken. Und während er fühlte, daß er dahinging, ein verwehtes Sandkorn, ein ersterbendes Pünktchen im Gewimmel des großen Ameisenhaufens, fiel ihr Strahl noch einmal kosend über das krause Getriebe unten im Thal und verklärte es ihm im Spiegel der Ewigkeit. Es ward klein vor ihm. Er mußte seiner lächeln, da er von dannen ging. Und wer lächeln kann, ist Sieger. Er hat die Welt überwunden.

Und ein Lächeln lag noch auf seinem Gesicht, als Frau Aventiure und ihre Freunde heraufstiegen und ihn da fanden, lang auf dem Firn ausgestreckt und aus weit geöffneten Augen starr in die Sonne schauend.


-- Der Hochzeitlader. --

(Zu dem Bilde S. 877.)

Der Hochzeitlader, das is a Mo’,
Den gar koa’ G’moa’ entbehr’n ko’!
Verstand muß er hab’n und a rein’s G’wiss’n,
Und von All’n im Dorf was G’spaßig’s wiss’n.

5
Denn, wenn zwoa herrat’n in an’ Ort,

Führt er über Alle das große Wort. –
Die ganze Verwandtschaft trommelt er z’samm’,
Lad’t jed’n ein in des Hochzeitspaar’s Nam’.
Den Hochzeitszug führt er in d’ Kirch’n hinein –

10
Und nachher ins Wirtshaus zu Schmaus und Wein.

Und sitz’n f’ im Wirtshaus, d’rob’n im Saal,
Und is dort vorbei das festliche Mahl,
Dann kimmt der Dankspruch vom Hochzeitlader
Und a jed’s nimmt er vor als Freund und Berater.

15
Und feine Spruch’ san’s, die für jeden er macht,

Und lusti’ san s’ aa – denn all’weil wird g’lacht. –
Z’erst, da komma die Brautleute dran,
Beiständer, Ehr’neltern folgen sodann;
Die Kranzljungfern glei’ nachher drauf –

20
Bei denen, da halt er sich länger meist auf! –

Er mahnt sie, sie soll’ um an’ Schatz sich bal’ schaug’n,
Denn, wenn er bald „laden“ durft’ – das thaat ihm taug’n;
Und is oane drunter, die schon is „verseg’n“,
Die macht er im G’spaß a bißl verleg’n,

25
Und nachher geht’s weiter zu Vettern und Bas’n –

Und nach jed’n Spruch laßt er d’ Musi was blasn!
Den Brauttanz[1] muaß er noch leit’n zum Schluß,
Den d’ Braut mit dem Brautführer z’erst tanzen muß;
Der führt sie dann ehrbar dem Bräutigam zua –

30
Und drauf hat der Hochzeitlader sein’ Ruah. –

Er muaß also sein – a ganz g’scheiter Mo’,
In Witz und in Lustigkeit Allen voro’,
Und is auf ’m Land – seit alter Zeit schon –
Wenn g’heirat wird, jed’smal die wichtigst’ Person.
 Peter Auzinger.

  1. In Oberbayern ist es auf dem Lande Sitte, daß beim Hochzeitsmahl die Braut nicht neben dem Bräutigam. sondern neben dem „Brautführer“ sitzt, bis der „Brauttanz“ (dreimaliges Umtanzen des Saales mit dem Brautführer) vorüber ist.

Das Alter der Welt.

Von Dr. H. J. Klein.

Daß unsere Erde und die Gestirne länger bestehen als seit einigen tausend oder auch einigen zehntausend Jahren, ist eine Wahrheit, die dank den Fortschritten der Wissenschaft und der allgemeinen Bildung heute so allgemein bekannt ist, daß derjenige, welcher das Gegenteil behaupten wollte, sich dadurch nur als unwissend zu erkennen gäbe. Aber die Frage, wie alt denn eigentlich die Welt sein mag, ist nicht beantwortet, ja man könnte sie mit Recht als eine verwegene Frage bezeichnen, deren Lösung uns Menschen niemals gelingen wird. Wenn sich daher Gelehrte mit dem Problem des Alters der Welt beschäftigen, so ist dies nur so zu verstehen, daß sie damit das Alter der Erde oder höchstens des Sonnensystems meinen.

Auch mit dieser Beschränkung bleibt die Frage nach dem Alter der Welt überaus schwierig, und nur tastende Versuche sind bis jetzt in dieser Beziehung gemacht worden. Aber die Wissenschaft wird nicht ruhen, bis sie auch hier Sicheres an die Stelle des Hypothetischen gesetzt hat, denn diese Frage an und für sich ist keineswegs eine solche, welche das Vermögen der menschlichen Vernunft übersteigt.

Den jüngsten Versuch in dieser Richtung hat S. Wellisch gemacht, indem er von den allbekannten Anschauungen eines Kant und Laplace über die Bildung der Erde und des Planetensystems aus einer ungeheuren, rotierenden Nebelmasse ausging und die seitdem angestellten Forschungen der Astronomen und Physiker mit benutzte. Natürlich beruhen die Entwicklungen unseres Forschers zum Teil auf hypothetischen Annahmen, aber für diese hat er wissenschaftliche Gründe zur Hand, so daß wir es nicht mit einem bloßen Luftschlosse zu thun haben. Auf Grund mathematischer Betrachtungen kommt er zu dem Schlusse, daß die Zeit, die seit der kosmischen Entstehung der Erde bis zu den ersten Ablagerungen der Schichten auf der erkalteten Erdoberfläche verstrich, 3 4/10 mal länger ist als der von dieser Epoche bis zur Gegenwart verflossene Zeitraum. Die Länge dieses letzteren bestimmt er unter der Voraussetzung, daß das sogenannte große oder platonische Weltjahr von 25800 Jahren, innerhalb dessen die Durchschnittspunkte des Aequators und der Erdbahn sich einmal um den ganzen Himmel bewegen, die Dauer jeder Ablagerungsschicht der Erdrinde bezeichne. Auf Grund dieser und ähnlicher Annahmen findet er für das Alter der Erde in runder Zahl 9 Millionen Jahre. Natürlich ist unser Gelehrter weit davon entfernt, diese Zahl als eine genaue bezeichnen zu wollen, das kann sie ihrer ganzen Herkunft gemäß nicht sein; aber mit Recht führt

[877]

Der Hochzeitlader.
Nach dem Gemälde von Ernst Müller.

[878] er den großen Weltweisen Kant an, der von Problemen dieser Art sagte, daß man deren Lösung nicht mit mathematischer Unfehlbarkeit geben könne, daß vielmehr, sobald sie nach den Regeln der Glaubwürdigkeit und einer richtigen Denkungsart begründet ist, allen Forderungen genug gethan sei.

Von anderen Gesichtspunkten ausgehend, hat der berühmte Sir William Thomson, einer der größten Physiker und Mathematiker der Gegenwart, das Alter der Sonne oder vielmehr die Dauer ihrer Wärmestrahlung zu bestimmen versucht. Er ging dabei von der unumstößlichen Thatsache aus, daß die Sonne durch ihre Wärmestrahlung allmählich erkalten muß. Was die Größe dieser Wärmestrahlung anbetrifft, so zeigen die Beobachtungen, daß diese Wärme zwischen 15- und 45mal so groß ist als diejenige, welche auf einer gleichgroßen Fläche des Rostes unserer Lokomotiven erzeugt wird. Der Ursprung der Sonnenwärme ist in dem Ballungsakt der Nebelmaterie selbst zu suchen, und diese anfängliche Wärme kann in keinem Falle geringer sein als der zehnmillionenfache Betrag der heutigen jährlichen Wärmestrahlung der Sonne, sie könnte aber höchstens auch nur 5- bis 10 mal größer gewesen sein. Wie groß die Erkaltung der Sonne durch diese Wärmestrahlung während eines Jahres ist, wissen wir für den Augenblick allerdings nicht; allein es giebt gewisse Verhältnisse, welche uns gestatten, die Grenzen zu bezeichnen, innerhalb deren der Betrag der gegenwärtigen Erkaltung der Sonne liegen muß. Außerdem ist zu beachten, daß die Sonne in uralten Zeiten, als sie beträchtlich heißer war als heute, auch jährlich mehr Wärme ausgestrahlt hat. Alles in Betracht gezogen, findet Thomson als Endergebnis die Wahrscheinlichkeit, daß die Sonne nicht unter 100 Millionen Jahre lang Licht und Wärme ausgestrahlt hat und als fast völlig gewiß, daß dieser Zeitraum nicht 5 mal so lang sein kann. Von denselben Gesichtspunkten ausgehend, schließt der nämliche große Forscher bezüglich der Zukunft, daß die Erdenbewohner nicht für eine große Zahl von Millionen Jahren auf die ihnen nötige Licht- und Wärmemenge rechnen können.

Für den denkenden Menschen ist die Frage nach dem Alter der Erde eng verknüpft mit der Frage nach dem Alter des Menschengeschlechtes, nach der Zeitdauer, während welcher Menschen unsern Planeten bewohnen. Die geschichtliche Ueberlieferung reicht nicht sehr weit in die Vergangenheit, denn der Kulturmensch ist auf der Erde noch eine sehr jugendliche Erscheinung. Von den Chinesen wissen wir mit Bestimmtheit, daß sie 2200 Jahre vor Chr. bereits staatlich organisiert waren und eine geschichtliche Ueberlieferung besaßen. Die Kultur an den Ufern des Eufrat und Tigris reicht mehrere Jahrtausende vor den Anfang unserer Zeitrechnung hinauf. Den ältesten menschlichen Kulturkreis, von dem uns Denkmale und Nachrichten überkommen sind, treffen wir im Nilthale. In der That war in jener sagenhaften Zeit, „da Israel nach Egypten zog“, das Pharaonenreich schon altersgrau und konnte auf eine Vergangenheit von Jahrtausenden zurückweisen. Da aber unermeßliche Zeiten verstreichen mußten, ehe der Mensch aus dem Zustande der Wildheit sich bis zur Bildung eines geordneten Staatswesens emporschwang, so ist klar, daß das Menschengeschlecht als solches eine lange Reihe von Jahrtausenden auf der Erde vorhanden sein muß. Diese Schlußfolgerung hat in den urgeschichtlichen Funden und Forschungen während der letzten 40 Jahre die vollste Bestätigung erhalten. Besonders die neuesten Ausgrabungen und Untersuchungen am sogenannten Schweizersbild, einem Felsen im Kanton Schaffhausen, zeigten, daß dort zu einer Zeit Menschen hausten, als noch in Mitteleuropa ein Klima herrschte, wie wir es heute hoch im Norden antreffen.

Diese Urzeitmenschen kannten aber schon die Benutzung des Feuers, stellten aus Steinen rohe Werkzeuge her, machten erfolgreich Jagd auf den Bären, den Wolf, den Hirschluchs, das Wildpferd und Rentier und kleideten sich in Felle, doch hatten sie den Hund noch nicht gezähmt. Seit jener Zeit hat sich das Klima in Mitteleuropa völlig geändert, und mit ihm ist die alte Tierwelt verschwunden, teils indem sie auswanderte, teils indem sie, wie z. B. das Mammut, ausstarb. Daß zu solchen Veränderungen ungeheure Zeiträume erforderlich sind, ist ohne weiteres einleuchtend. Unmittelbar lassen die Funde keinen Schluß zu über die Anzahl der Jahrtausende, welche zwischen damals und heute liegen; allein die Thatsache, daß der Mensch sogleich nach der letzten Eiszeit als Jäger auftritt, eröffnet in dieser Beziehung weitere Aussichten. Wenn es nämlich gelingt, die Zeit zu bestimmen, um welche die Eiszeit hinter der Gegenwart liegt, so würde damit zugleich ein sicheres Datum für das Alter des Menschengeschlechts gewonnen sein. Was die Eiszeit anbelangt, so haben die neueren Forschungen zu dem Resultate geführt, daß sie in der Vergangenheit der Erde eine periodisch wiederkehrende Erscheinung war. Es sind mit Sicherheit wenigstens zwei Eiszeiten nachgewiesen, die durch Perioden von milderer Temperatur voneinander getrennt waren. Wie lange diese wärmeren Zwischenzeiten dauerten, ist schwer anzugeben, nur so viel erscheint sicher, daß zwischen heute und der letzten Eiszeit ein kürzerer Zeitraum verflossen ist, als derjenige ist, welcher jene Eiszeiten voneinander trennt. Auf Grund gewisser Untersuchungen kommt Prof. Heim in Zürich zu dem Ergebnisse, daß seit dem Schlusse der letzten Eiszeit bis heute mindestens 10000 Jahre, höchstens aber 50000 Jahre verflossen sind, und diese Zahlen stimmen mit solchen, welche auf anderem Wege von mehreren Forschern erhalten wurden, gut überein. Anderseits läßt die Thatsache, daß wenigstens zwei Eiszeiten festgestellt worden sind, vermuten, daß die Vergletscherung eines großen Teiles von Europa eine im Laufe vieler Jahrtausende wiederkehrende Erscheinung ist. Da liegt es nun nahe, sie mit dem oben erwähnten platonischen Weltjahre in Beziehung zu setzen, um so mehr, als die Dauer desselben sehr gut mit den neuern Vorstellungen über das Alter der Gletscherzeit sich vereinigen läßt. Hiernach würde also zwischen je zwei Eiszeiten ein Zeitraum von rund 26 000 Jahren liegen und die letzte Eiszeit durch weniger als die Hälfte dieses Zeitraums von der Gegenwart geschieden sein, also mindestens durch 10000 Jahre. Damals aber war das Menschengeschlecht schon auf der Erde verbreitet und besaß eine gewisse rohe Kultur. Als sicheres Ergebnis der Forschung kann man daher annehmen, daß das Menschengeschlecht viel länger als 10000 Jahre auf der Erde vorhanden ist. An und für sich ist dies ein hohes Alter, aber im Vergleich zu demjenigen der übrigen Lebewesen erscheint unser Geschlecht doch recht jugendlich, und wir dürfen schließen, daß ihm eine lange Zukunft beschieden ist, ja daß die Hauptentwicklung desselben noch im Schoße der künftigen Jahrtausende ruht. Auf einen ewigen Bestand aber ist nicht zu rechnen; auch für die Menschheit muß dereinst die Zeit kommen, in welcher sie von dem Erdboden, dessen Herr sie gewesen, abtreten wird, denn auch in Bezug auf das ganze Weltall gilt die Wahrheit, daß nichts dauernd ist als der Wechsel.


Das Kinder-Neujahrssingen in Tirol.

Eine Skizze aus der Weihnachts- und Neujahrszeit von J. C. Platter.
(Mit dem Bilde S. 881.)

Wer von den sommerlichen Alpenfahrern die Landschaftsreize der Berge nur in der schönen Jahreszeit genossen und dabei Einblick gewonnen hat in das Volksleben, der würde Land und Leute des Gebirges im Winter wohl kaum mehr wiedererkennen. Während der Sommerszeit lebt ein großer Teil der männlichen Bevölkerung der Alpenthäler im Hochgebirge zerstreut; so die Sennen und Schäfer, die Jäger und ihre schlauen Gegner, die Wildschützen, ferner die Edelweißsammler. Enzianbrenner und Steinklauber, und auch die Angehörigen der Bergführergilde halten sich mehr auf in den Regionen der Gletscher und Kletterschrofen als im geordneten Haushalt im Thale.

Ganz anders jedoch wird es im Winter.

Wenn nach „Martini“ die Berge in weiße Nebelschleier sich hüllen, wenn die Flocken auf den Thalbach niederwirbeln, bis dieser mit Schnee und Eis überzogen auf kurze Strecken eine kleine, weißglänzende Ebene bildet, während die Wasserfälle [879] als bläulich schimmernde Eiskaskaden erscheinen, dann haust niemand mehr in den schneebegrabenen Alpenhütten. Dafür herrscht daheim in den Dörfern der Niederung ein um so regeres Leben und Treiben, das in Tirol besonders um die Weihnachts- und Neujahrszeit sowie auch im Fasching in mancherlei Hinsicht sehr interessant sich gestaltet. Da blüht der Rodel- oder Kleinschlittensport als Lieblingsergötzen der kleinen und größeren Jugend, ferner am Sonntag auf der glatten Eisbahn das Eisschießen, und im Grödnerthale werden Schlittenfeste veranstaltet, welche seit altersher stets für die ganze Gegend ein Hauptereignis bilden. Im Zillerthale hat man die bekannten Berchten-Tänze; noch immer sind da und dort mancherlei Wintervolksspiele gebräuchlich, so z. B. das Nikolausspiel oder das Dreikönigsspiel zu Jnzing; dazu kommt dann das Schellenschlagen und das besonders interessante Schemenlaufen zu Jmst im Oberinnthal, kurz, wer Tirol einmal im Winter besuchen wollte, der würde außer der in ihrer Schneewildheit doppelt großartigen Berglandschaft auch ganz mühelos eine Reihe ihm bis dahin vollkommen unbekannter Einzelheiten aus dem intimsten Volksleben kennenlernen.

Besonders reichhaltig in dieser Beziehung erweist sich die Weihnachts- und Neujahrszeit, für welche Feste die alten Bräuche sich noch allenthalben in Berg und Thal so ziemlich erhalten haben, ja in neuester Zeit sogar eine Bereicherung erfahren, indem die schöne deutsche Sitte des Weihnachtsbaumes nun auch in den Tiroler Alpen mehr und mehr Eingang findet. Allerdings wird dadurch Sankt Nikolaus, der bisherige Gabenspender und Freund der Kinderwelt, nebst seinem bösen Knechte Ruprecht, dem gefürchteten „Klaubauf“, mehr und mehr verdrängt, wie man dies am besten in Innsbruck aus dem Rückgang des früher so ausgedehnten, eigenartigen Sankt Nikolaus-Marktes ersehen kann.

Rückt also Weihnachten und Neujahr im Dorfe heran, so herrscht überall große Rührigkeit, die Bäuerin unternimmt bereits acht Tage vor dem Heiligen Abend eine sorgsame Revision ihrer Speisekammer. Dies ist aber auch sehr notwendig, da sie nicht nur für die Hausleute allein sich vorzusehen hat, sondern auch für allfällige Festgäste Sorge tragen muß. So besteht im Zillerthal ein alter, sehr schöner Brauch, nach welchem jeder einigermaßen wohlhabende Bauer arme Kinder aus der Paten- oder Verwandtschaft für die Dauer der Festtage (und diese währen dort reichlich eine Woche) zu sich nimmt und sie mit den eigenen Kindern an all den Genüssen von Krapfen, Strauben und Kücheln etc. teilnehmen läßt, welche ihre armen Eltern ihnen nicht gewähren können. Einen besonders feierlichen erhebenden Eindruck macht vorzüglich auf den Fremden die Christnacht selbst.

In später Abendstunde erglänzen an den Thalwänden erst einzelne Lichter, welche sich jedoch mit jeder Minute vermehren, so daß gegen Mitternacht weithin die Berge und Wälder in hellem Feuerscheine widerstrahlen, während vom dunklen Nachthimmel Millionen Sterne freundlich niederblinken auf die endlos weißen Hügelwellen im Thale. Dazu klingen von sämtlichen Kirchtürmen in feierlich langgezogenem Tone die Glocken, näher und immer näher kommen von allen Seiten die funkensprühenden Lichter, bis sie als ausgebrannte Fackeln auf dem Kirchplatze im Schnee erlöschend verschwinden. Dafür erglänzt nun im Innern der Dorfkirche der Hochaltar in hundertfältigem Kerzenscheine, und die Orgel verkündet im harmonischen Einklang mit den Stimmen der Chorsänger den Beginn der Mitternachtsmette, zu welcher auf Stunden im Umkreise die Gläubigen bei rotglühendem Fackelscheine wallfahrten. Auch im Dorfe selbst schläft niemand vor Mitternacht. Wo nicht schon der Christbaum sich Zutritt in die Bauernstube verschafft hat, da nehmen die älteren Leute irgend ein dickleibiges Erbauuugsbuch aus dem Wandschranke und lesen darin beim Licht der Unschlittkerze oder beim matten Lampenscheine die Kapitel, welche sie vorher mit einem Heiligenbilde angemerkt haben.

Die Bursche und Mädchen spielen um Haselnüsse oder um den „Scherz“ (das Anschneidestück) des Weihnachtzeltens, welch letzteren – einen mit Schnitten von gedörrten Birnen, Nüssen etc. versüßten Brotlaib – in manchen Hochthälern jedes Familienmitglied, vom Hausvater bis zum geringsten Dienstboten, von der Bäuerin als Weihnachtsgabe erhält. Auch die Schulkinder schlafen nicht in der Christnacht: spielt doch gerade für sie die Weihnachts- und Neujahrszeit eine ganz besonders wichtige Rolle. Abgesehen vom Kirchenbesuch, der Krippenbesichtigung und dem Essen all der guten Sachen während der ganzen Feierwoche haben die „Buabmen“ und „Diandlen“, oder die „Gitschelen“, wie die kleinen Mädchen am Eisak und im Pusterthal heißen, genug zu thun, um die Lieder fürs Weihnachts- und Neujahrssingen zu lernen, damit sie mit Ehren bestehen bei den Nachbargemeinden, dem Dorf keine Schande machen und dann auch besonders bei der Neujahrsgratulation eine reiche Ernte an Geschenken verschiedener Art einheimsen.

Am Neujahrsmorgen kommen dann die jugendlichen Leutchen vom Lande wohl auch bis in die nahen Städte und singen dort in kleinen Trüpplein oder auch nur zu Zweien ihre Christkindl’lieder, an welche sich, kaum daß an den Häusern die Thüren sich öffnen, der stereotype Wunschspruch: „Glück’s neu’s Jahr!“ anschließt. Bekommen die Kinder nach Absingung ihres Liedes für dasselbe sowie für den Glückwunsch ein kleines Geschenk, so ziehen sie fröhlich von dannen: geschieht dies aber nicht oder wird ihnen nicht einmal die Thür geöffnet, was in den Städten ja auch manchmal vorkommt, so machen sich die Gratulanten nicht viel daraus, giebt es ja doch noch zahlreiche andere Hänser in der Stadt, wo frohgesinnte, freundliche Menschen wohnen. Besonders hübsch und herzlich spielt sich das Neujahrssingen auf dem Lande und in den Bergdörfern ab. Da stapfen die Kinder schon in aller Morgenfrühe auf den verschneiten Wegen dem nächsten Dorfe zu, und gleich beim ersten Bauernhause beginnt mit jugendhellen Stimmen der Gesang:

„O liebe Brüder mein,
Freu’t Enk[1] von Herzen,
Lögt ab die Traurigkeit,
Vergößt alle Schmerzen!

Weil uns geboren ist
Der wahre Friedensfürst,
Der der Messias, der Weltheiland ist.“

Vorstehende Zeilen entstammen einem alten Weihnachtsliede aus der Gegend von Brixen.[2]

Bilden die Weihnachts- und Neujahrsgesänge schon in den Thälern von Nordtirol oft wahre Sträußchen von blühender Ursprünglichkeit und Naivetät, so besitzen sie in Südtirol, an der dreifachen Grenze des deutsch-italienisch-ladinischen Sprachgebietes, mitunter einen bei aller Innigkeit des Gefühles und der Auffassuug humoristischen Beigeschmack.

Wenn auch beim Neujahrssingen von den Kindern meist Weihnachts- oder Christkindl’lieder vorgetragen werden, so wird doch außer dem Gratulationsspruch: „Glück’s neu’s Jahr!“ oft auch ein kleines Neujahrsliedchen gesungen, so zum Beispiel:

„Glückselig’s neu’s Jahr
Und deren unzählbar!
Wir wünschen Fried’ von Herz’n,
Glück, G’sundbeit ohne Schmerzen,
Frieden Euch und Fröhlichkeit
Für alle Zeit und Ewigkeit!

Es grünet schön die Wiesen,
Das Treid[3] sei auserkiesen,
Voll Frucht der Stock der Reben;
Lang dauer’ Euer Leben:
Glückselig’s neu’s Jahr
Und deren unzählbar!“ –

So ziehen die Kinder mit vor Kälte und Fröhlichkeit geröteten Wangen singend von Haus zu Haus durch die Dörfer, und begegnen sich solch kleine Sängertrüpplein auf dem Wege, so begrüßen sie einander ebenfalls mit einem lustigen Liedchen. An den Häusern aber finden sie wohl überall ein freundliches Willkommen, nach den ersten Liederstrophen öffnen sich die Thüren, und dann giebt es Geschenke in Gestalt von schmalzigen Bauernkrapfen, von Aepfeln und Nüssen, Zeltenschnitten; bei den „größeren Bauern“ fällt speciell für etwaige Patenkinder wohl auch eine silberne Geldspende ab, welche dann dem betreffenden Seppele, Jörgl oder Thresele allein verbleibt, während die in eigenen Säcklein gesammelten eßbaren Herrlichkeiten sorgfältig und unparteiisch unter die Mitglieder jeder dieser improvisierten Kleinsängergesellschaften verteilt werden.

Um die Bauernmittagszeit, das ist so gegen 11 Uhr vormittags, findet das Neujahrssingen sein Ende. Die Kinder streben dem Festmahl in der warmen Stube zu – bald ist der letzte Neujahrswunsch gesprochen, und verklungen auch für die Gaben das letzte „Vergelt’s Gott!“, das sich manchmal gleichfalls zu einem Liedchen ausgestaltet.



  1. Enk = Euch.
  2. Das lied ist vollständig enthalten in dem Werke „Weihnachtslieder und Krippenspiele aus Oberösterreich und Tirol von Wilh. Pailler.
  3. Treid = Getreide.




[880]

Böse Zungen.

Novelle von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).
1.

An einem ziemlich heißen Augusttage, so gegen halb sieben Uhr abends, sagte die Frau Amtsgerichtsrat Braun in Grünau zu ihrem Gatten: „Mein Lieber, du willst ja nun wohl auch heute wieder ins Kasino, um da mit den anderen bei Wein und Kartenspiel die häuslichen Sorgen eurer armen Ehefrauen zu vergessen – wie du es leider jetzt schon seit sechsundzwanzig Jahren jeden zweiten Nachmittag treibst. Sei so gut und erinnere den Doktor Franz Hertel, wenn du ihn siehst, recht freundschaftlich daran, daß wir jeden Sonntagabend für unsere Freunde zu Hause sind und daß er sich zu rar macht. Ich hatte es dir schon längst sagen wollen, aber ich habe mir wieder einmal eingebildet, du dächtest von selber an etwas, das möglicherweise im Interesse deiner Familie liegt.“

Der Herr Amtsgerichtsrat, ein großer, wohlbeleibter Mann mit den Zügen eines im Krieg ergrauten Reiterobersten, blickte etwas unsicher nach seiner kleinen Frau hinüber und bemerkte höflich: „Gewiß, liebe Elfriede, ich werde es nicht vergessen. Ich würde es auch ohne Zweifel schon von selbst gethan haben; aber ich glaubte mich zu erinnern, daß du dich verschiedenemal über den Herrn Doktor Hertel sehr ungünstig ausgesprochen hast.“

„Wenn ich das gethan habe,“ erwiderte seine Gattin mit ruhiger Schärfe, „so werde ich meine Gründe gehabt haben. Du weißt, ich habe es gottlob noch nie nötig gehabt, mein Urteil über einen Menschen zu ändern. Der junge Mann ist Dichter, und ich halte das Dichten ganz allgemein für einen verfehlten Beruf. Das schließt aber nicht aus, daß er auch seine guten Seiten hat; als Ehemann würde er sich vielleicht besser in seine Stellung zu finden wissen als mancher andere; ein hübsches Vermögen hatte er schon, ehe seine Tante Adele ihm das große Haus am Michaelismarkt vermachte, was mich eigentlich noch immer wundert, denn sie war sonst eine ziemlich vernünftige Person, und wir waren ja doch auch noch von meiner Großmutter her mit ihr verwandt; ich verstehe nicht, wie sie das so völlig vergessen konnte, solltest du sie einmal vor den Kopf gestoßen haben? Männer wissen ja nie, was sie sagen. Du solltest dich wirklich einmal etwas zusammennehmen, Albrecht! Am Ende ist ja auch ein Dichter, wenn er Vermögen hat, etwas ganz Respektables. Und es war mir anfangs schon, als ob sie sich für einander interessierten. Du weißt, wie unsere Helene immer für Poesie war, sie hat sich auch seine Romane aus der Leihbibliothek geholt, ich finde, das gute Kind sorgt unbewußt mehr für sich als sein Vater mit klarem Bewußtsein. Nun, du weißt jetzt, wie ich über die Sache denke.“

„Gewiß, liebe Elfriede,“ sagte der Gatte und griff nach seinem Hut. „Hast du mir sonst noch etwas aufzutragen?“

„Nein,“ anwortete sie und reichte ihm den Spazierstock. „Du kannst gehen. Ich hoffe, daß du um Neun wieder hier bist.“

Während man so in der Wohnstube des Amtsgerichtsrats für die Zukunft des Dichters sorgte, schlenderte dieser im Grünauer Stadtwalde umher, ganz der Gegenwart hingegeben. Er sammelte Blumen und Gräser zu einem hübschen kleinen Strauße: goldgelbe, blaßrote und violette Blumen mit nickenden, federnden Waldgräsern. Dabei dachte er so wenig an Fräulein Helene Braun wie an irgend ein anderes der vielen jungen Fräulein, die einen so hübschen Strauß aus den Händen eines so stattlichen Mannes mit so sprechenden braunen Augen – und sogar dem Schatten eines Lorbeerkranzes auf der hohen Stirne – verheißungsvoll errötend angenommen hätten. Die Liebe hatte durchaus keinen Anteil an dieser sinnigen Beschäftigung, die er seit den Knabenjahren mit gleicher Neigung und wachsendem Geschmack übte. Wie es die Minnesänger des Mittelalters so gern von sich erzählen, konnte er Stunden damit verbringen, irgendwo im Walde „den lieben Vögelein“ traumhaft zu lauschen und dazu „Blumen weiß, gelb, rot und blau zu brechen“. Er unterbrach diese Beschäftigung niemals, um irgend ein über dem Blumenbrechen so ganz von selber fertig gewordenes Gedicht niederzuschreiben, ja er führte nicht einmal das in veilchenblauen Sammet gebundene Notizbuch mit silbernem Bleistift und der Aufschrift „Poesie“ bei sich, ohne welches sich gewisse Spötter einen deutschen Dichter im Walde nicht zu denken vermögen. Immerhin ist anzunehmen, daß er unbewußt von seinen Blumen und Sträußen manch gute Eingebung bekam und auch mehr für seinen poetischen Stil von ihnen lernte, als sich aus Büchern lernen läßt; denn die Gesetze der Harmonie sind dieselben im Reiche der Farben, der Düfte wie der Töne und Worte, und wer zum Beispiel eine wilde Rose, eine Mohnblume und ein Gänseblümchen zu einem Strauße zusammenstellt, ohne vor sich selber zu erschrecken, von dem kann man auch als Dichter nur Schreckliches erwarten. Man erkennt den Menschen an seinen Sträußen! Auf großartige Symphonien von Blumen und Farben ging Franz Hertel nicht aus, aber was er sich von seinen nachmittägigen Waldgängen heimbrachte, das paßte zusammen, es wirkte durchs Auge erfrischend und beruhigend auf die Seele wie ein reiner Accord oder ein wahres, schlichtes Wort, und so sprach auch aus seinen Erzählungen und Gedichten eine heitere, schlichte Schönheit, welcher sturmgeprüfte reife Leser nur zuweilen etwas schärfere Linien – einige Dornen zwischen den Blumen gewünscht hätten. Er besaß schon damals einen gewissen Ruhm, der nicht hell aufloderte, aber um seine ruhige Flamme einen mäßig großen, um so treueren Kreis von Verehrern sammelte, und er trug ihn mit einer bequemen Gelassenheit, die den Grundzug seines Wesens bildete.

Uebrigens war er in der Grünauer Gesellschaft noch eine neue und kaum bekannte Erscheinung. Vor einigen Monaten hatte er die Stadt seit seinen Kinderjahren zuerst wieder besucht, um die unvermutete Erbschaft anzutreten, deren wichtigster Teil in einem weitläufigen, an verschiedene Parteien vermieteten Patricierhause bestand. Die anmutige Lage der Stadt, der unmoderne Zuschnitt des kleinstädtischen Lebens und sogar die altfränkische Ausstattung der ererbten Wohnung boten dem jungen Dichter nach den Aufregungen eines großstädtischen Winters und Frühlings eine wohlthuende Abwechslung; er verschob die Abreise, bis er sich schließlich ganz heimisch machte und von den Honoratioren schon fast als neuer Mitbürger behandelt wurde. Als behäbiger Einsiedler, ohne leidenschaftliche Anregungen – denn sein Interesse an Helene Braun und einigen anderen Musen und Grazien von Grünau war von Leidenschaft weit entfernt – drohte er schon ein klein wenig anzuphilistern, trotz der poetischen Sträußchen, die er sich von jedem seiner Waldgänge mitbrachte. Aber so leichten Kaufs wollte die Poesie ihren treuen Ritter doch nicht verlieren, und als sie merkte, daß er schon so weit war, der Frau Amtsgerichtsrat als eine solide Partie zu erscheinen, da griff sie ein und warf ihm ein Abenteuer in den Weg.

Der Ort dieses Abenteuers war das Brezelgäßchen, ein schlechtgepflasterter Durchgang, knapp einen Wagen breit, der den bescheidenen Ansprüchen früherer Geschlechter als Verbindung zweier Hauptstraßen genügt hatte, nun aber längst zu gunsten eines neuen, geräumigen Durchschnitts außer Dienst gestellt war. Von romantischer Architektur und dergleichen hatte das Brezelgäßchen gar nichts aufzuweisen: auf der einen Seite reihten sich ziemlich unsaubere Hinterhäuser in langweiliger Einförmigkeit aneinander, und gegenüber diesen Wohnungen der Armut zog sich ebenso einförmig die Mauer eines jetzt als Bleiche benutzten ehemaligen Klosterkirchhofs hin, ungefähr in der Mitte des Gäßchens unterbrochen von einem breiten, verrosteten Gitterthor, das von zwei kleinen einstöckigen Wärterhäuschen bewacht wurde. Selbst der Dichterblick Franz Hertels hatte bisher in dem Gäßchen nichts Anmutiges noch Anregendes entdecken können; auch benutzte der Doktor es nur seit einigen Tagen, weil die neuere Parallelstraße zwecks irgend einer Röhrenlegung aufgerissen war. Als er aber an diesem Abend nichts ahnend an dem ersten Wärterhäuschen vorübergeschritten war, löste sich aus dem schon dunklen Pförtchen des zweiten eine schlanke, dunkel gekleidete Mädchengestalt ab. Franz blickte in ein errötendes schönes Gesicht, aus dem ihm unter goldblondem Stirnhaar große blaue Augen bittend entgegenschauten, und eine überaus wohlklingende Stimme sagte leise: „Sie verzeihen, mein Herr … Ich sehe Sie schon seit drei Tagen jeden Abend mit einem frischen Waldblumenstrauß hier vorübergehen ... Möchten Sie mir wohl diesen kleinen Strauß da überlassen?“

[881]

Das Kinder-Neujahrssingen in Tirol.
Nach einer Originalzeichnung von Fritz Bergen.

[882] Und da Franz Hertel etwas betreten erst auf die schmale weiße Hand, die sich nach seinem Strauß ausstreckte, und dann wieder in das schöne Gesicht blickte, schlug sie, noch tiefer errötend, die Augen nieder und stammelte kaum hörbar: „Es ist für eine Kranke, die sich über alles nach einem solchen Strauße sehnt … Ich denke, auch Sie lieben die Waldblumen, aber Ihnen ist es leicht, sie zu pflücken …“

„Aber ich bitte, mein Fräulein,“ erwiderte Franz Hertel und reichte ihr das Sträußchen, „es ist mir eine große Freude … zumal zu solchem Zwecke … Aber,“ fügte er treuherzig hinzu, „dann müssen Sie mir schon erlauben, daß ich den kleinen Dienst wiederhole. Ich bin es gewohnt, jeden schönen Nachmittag mir ein solches Andenken vom Walde mitzunehmen … Es ist wohl nur eine Spielerei … aber wenn Sie mir erlauben wollten, sie nützlich zu machen, um einen Menschen damit zu erfreuen …“

Ein prüfender Blick traf sein Antlitz, aus dem in diesem Augenblicke nur die ehrlichste Freude am Gutthun sprach. „Ich danke Ihnen sehr,“ sagte sie einfach. „Wenn Sie die große Güte haben wollten … morgen abend um diese Zeit werde ich wieder hier sein … Nochmals vielen, vielen Dank!“ Dazu neigte sie das Haupt – ein vornehmes, fast stolzes Nicken; und sogleich hatte sich das Pförtchen hinter der Schönen geschlossen.


2.

An jenem Abend suchte der Amtsgerichtsrat den juugen Dichter vergebens im Kasino; aber ein glücklicher Zufall ließ ihn tags darauf gegen acht Uhr dem Ersehnten begegnen, der eben in das Brezelgäßchen einbiegen wollte, mit einem überaus sorgsam zusammengestellten Strauß von Waldblumen in der Hand. Franz Hertel unterbrach die wortreiche Einladung mit einer hastigen Zusage, die dem Amtsgerichtsrat wieder einmal Anlaß gab, den Scharfblick seiner Gattin zu bewundern. „Der junge Mann ist doch wirklich zu schüchtern,“ dachte er im Weitergehen; „wenn er schon so verwirrt wird vor lauter Freude bei der Aussicht, unsere Helene wiederzusehen, warum macht er denn meiner Frau nicht das Vergnügen schon längst?“ „Gott sei Dank, daß er geht,“ dachte Franz Hertel gleichzeitig mit einem Blick auf die Uhr. „Das hätte gerade noch gefehlt, daß mich der alte Knabe hier eine halbe Stunde festhielt, um mir von seiner Tochter vorzuschwärmen. Es ist so schon zu spät geworden.“ Denn er hatte fast bis zum Beginn der Dämmerung im Stadtwalde an seinem Strauße herumgemodelt und fürchtete, darüber die Zeit zur Ablieferung des Kunstwerkes versäumt zu haben. Als er sich aber dem Wärterhäuschen näherte, öffnete sich die kleine Pforte, das schwarzgekleidete Fräulein erschien, erwiderte des Dichters Gruß mit huldvollem Neigen des Hauptes, ergriff den Strauß mit einem bewundernden „Wie herrlich! Ich danke Ihnen recht sehr!“ und wollte sich mit einem stummen Gruße zurückziehen. „Darf ich fragen, wie es – wie es heute geht?“ stammelte Franz Hertel mit einem höchst ungeschickten Winken nach dem Häuschen hin, da ihm keine genaue Bezeichnung des Gegenstandes seiner freundlichen Nachfrage einfiel. Das Fräulein verstand ihn gleichwohl. „O, ich danke … es geht besser!“ erwiderte sie leise – nickte Gute Nacht und war verschwunden.

Am folgenden Abend verkürzte sie die kurze Unterhaltung noch, indem sie ihr tröstliches „Es geht etwas besser!“ sogleich der Begrüßung beifügte, noch ehe er gefragt hatte; und auch am fünften oder sechsten Abend waren ihre Gespräche noch nicht länger geworden. Trotzdem waren diese wenigen Worte, diese abendliche halbe Minute einer fast stummen Begegnung für Franz Hertel bereits der beste Teil des Tages geworden, das, worauf er sich ein ganzes Heute lang freute, um es als Labung für ein ganzes Morgen mitzunehmen. Das Bild dieser ernstfreundlichen lieblichen Mädchenschönheit, die mit ihrer stillen blühenden Anmut viel eher in die Welt der besten alten florentinischen Maler als in das Brezelgäßchen von Grünau paßte, verschwand für ihn nicht hinter dem dunklen, verwitterten Pförtchen: es blieb beständig vor seinem inneren Auge, und von dem blonden Haupte ging ein sanftes stetiges Leuchten aus, das den jungen Dichter seine ganze kleinstädtische Umgebung zeitweilig vergessen ließ. Wenn das Pförtchen sich geschlossen hatte und Franz Hertel sich mit einem tiefen Atemzuge zur Heimkehr wandte, so gewahrte er nichts von den grauhaarigen Weiberköpfen, die hinter den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser mit platt an die Scheiben gedrückten Nasen herunterstarrten und tuschelnd zusammenfuhren; oder wenn er sie doch mit den Augen wahrnahm, so blieben sie für seine verklärte Seele gleichgültige Dinge, dergleichen unsere Sinne allezeit eine Unmenge wahrnehmen, ohne daß wir sie in irgend eine Verbindung mit uns und unseren Gedanken bringen. Am allerletzten aber hätte Franz Hertel diese niederländischen Charakterköpfe in eine Verbindung mit seiner „schönen Florentinerin“ – wie er sie für sich zu nennen pflegte – gebracht. Noch immer wußte er ihren Namen so wenig wie irgend sonst etwas über ihre Verhältnisse. Ein Adreßbuch gab es in Grünau noch nicht, und ein merkwürdiges Gefühl verbot ihm, auf Umwegen sich nach ihr bei seinen Grünauer Bekannten zu erkundigen; das wäre ihm wie eine Art Beleidigung gegen die Schöne erschienen. Es machte ihm schon fast Gewissensbisse, daß er, einem unwiderstehlichen Drange folgend, ein paarmal in später Abendstunde an dem Häuschen vorüberstrich, ohne mehr zu bemerken als dunkle Mauern und verschlossene Holzläden, zwischen denen ein ganz schmaler Lichtstreif durchschimmerte.

Aber so wunderlich sein karger persönlicher Verkehr mit der Holden begonnen hatte, sollte er auch abbrechen. Am siebenten oder achten Abend, als Franz Hertel mit einem Meisterstück der Blumenbinderei ins Brezelgäßchen einbog, vertrat ihm ein ärmlich gekleideter Junge mit kurzborstigen Haaren und sommersprossigem, magerm Gesicht den Weg. „Sind Sie der Herr mit den Blumen für das Fräulein da hinten?“ fragte er, indem er mit einer schubsenden Bewegung der linken Schulter nach dem Wärterhäuschen deutete. Und da Franz Hertel unwirsch verwirrt fragte: „Was willst du denn, Junge?“ fuhr der Sommersprossige fort: „Dann soll ich Ihnen das hier mit einer schönen Empfehlung geben.“ Damit überreichte er dem Dichter ein kleines Briefchen, verschlossen, ohne Aufschrift. Hastig öffnete Franz Hertel den Umschlag, mit einer Spannung, in die sich eine gewisse Enttäuschung mischte; es durchzuckte ihn, wie wenn plötzlich ein sehr irdisches Schlaglicht über das romantische Bild in seiner Seele hinginge. Aber sogleich stand das Bild wieder im alten Scheine, nur schmerzlich weit entrückt, vor ihm, als er im letzten Abenddämmern mühsam die wenigen Worte entziffert hatte, die in zierlich feiner Schrift auf dem kleinen Briefkärtchen standen:
 „Herzlichen Dank und Lebewohl!“
Sonst nichts. Kein Name und gar nichts weiter.

Franz Hertel spähte das Gäßchen hinunter, als wollte er seine Augen zwingen, das Pförtchen sich öffnen und die schlanke Gestalt hervortreten zu sehen, dann wandte er sich nach dem Jungen zurück, der mit den Händen in den Hosentaschen da stand und den Bestürzten, wie diesem schien, mit einer diabolischen Neugier betrachtete.

„Hat dir das Fräulein sonst nichts bestellt?“ fragte Franz Hertel.

„Ich soll Ihnen sagen, sie reiste ab, hat sie gesagt,“ berichtete der Junge.

„So?“ bemerkte Franz Hertel. „Woher kennst du sie denn?“

„Gar nicht. Sie hat mir bloß einen Nickel gegeben und ich sollte Ihnen das da bestellen. – Und sonst hat sie mir gar nichts gesagt,“ fügte der Sommersprossige hastig hinzu und lief davon.

Schließlich blieb Franz Hertel nichts übrig, als seinen Strauß mitsamt dem Briefchen heimzutragen. Es war ihm aber in seinem einsamen Zimmer so öde an diesem Abend, daß er sich am Ende ins Kasino flüchtete. Dort zog ihn der Amtsgerichtsrat, der heute seinen häuslichen Urlaub überschritten hatte, an seinen Tisch und verwickelte ihn in ein politisches Gespräch. Dem alten Herrn that es sehr wohl, einen Zuhörer zu finden, der ihm mit allen Zeichen gespannten Nachdenkens gegenüber saß und ihn nur zuweilen mit einem Worte höflicher Zustimmung unterbrach.

„Weißt du, mein Herz,“ berichtete er daheim der Gattin, „ich hatte eine lange Unterhaltung mit dem Doktor Hertel, und da wollte ich doch nicht so kurz abbrechen. Es scheint wirklich ein ausgezeichneter junger Mann zu sein, er äußert vortreffliche Ansichten.“

„Wenn du ihn nur nicht kopfscheu machst, Albrecht,“ erwiderte die Gattin mit sanfter Strenge. „Mit dem Assessor vor drei Jahren ist es dir auch so gegangen.“


3.

An den nächsten Tagen ging Franz Hertel nicht zum Walde. Er saß viel an seinem einsamen Schreibtisch, rauchte eine Cigarre [883] nach der andern, starrte das Sträußchen an, das in einer kleinen Vase neben dem Tintenfaß stand, und verfaßte zahlreiche Gedichte in einer schwermütigen, etwas unklaren Art, die ihm sonst fern lag. Er machte eine kleine Abendgesellschaft im Hause des Amtsgerichtsrats mit, in der selbstquälerischen Absicht, sich gründlich zu langweilen, was ihm aber nur halb gelang. Die joviale Art des Hausherrn und die treffliche Bewirtung, die zu den erfreulichen Seiten der Frau Amtsgerichtsrat gehörte, ließen ihn fast wider Willen jenes Behagen empfinden, das einen „alleinstehenden“ Mann von gutem Geschmack jedesmal überkommt, wenn er auf kurze Zeit in einer wirklichen Häuslichkeit weilen darf. Die anderen Gäste, zumal die jüngere Weiblichkeit, waren freilich sehr unbedeutend, so sehr, daß sich Fräulein Helene von ihnen beinahe glänzend abhob, denn sie besaß von der Mutter her eine gewisse Fähigkeit, schnell zu beobachten und das Beobachtete leicht auszusprechen, und war klug genug, dem jungen Dichter gegenüber diese Fähigkeit zu ihrem Vorteil zu üben, indem sie sich möglichst viel nach seinen eigenen Ansichten und Urteilen richtete, die sie aus seinen Büchern kannte. Auf diesem Wege sind Dichter womöglich noch leichter zu täuschen als andere Männer: Franz Hertel erstaunte verschiedenemal aufrichtig darüber, welche Weite des Geistes sich dieses Mädchen doch inmitten ihrer alltäglichen Umgebung bewahrt habe, er glaubte zu verstehen, wie eingeengt sie sich in ihrem Kreise fühlen müsse, und folgte ihrer etwas überschlanken Gestalt mit Blicken einer nachdenklichen Teilnahme, die von der Mutter gern gesehen und äußerst falsch gedeutet wurden.

Am Tage nach dieser Gesellschaft hatte Franz Hertel sich wieder in den Wald gewagt. Nach einigen Stunden gedankenvollen Umherschlenderns fand er sich unversehens auf einer großen Lichtung wieder, die über und über mit Blumen bedeckt war, wie sie diese Jahreszeit noch bietet. Er erinnerte sich, daß er hier jenes letzte, nicht mehr ans Ziel gelangte Sträußchen gebunden hatte, und ganz wunderlich überlief es ihn, als er merkte, daß er heute zum erstenmal der alten lieben Gewohnheit vergessen und keine Blüte gepflückt habe. Da sah er am Rande der Lichtung etwas Graues kauern und zappeln, und näherschreitend entdeckte er, daß es der sommersprossige Bote war, der ein gewaltiges Bündel armlanger Blütenstengel in der Hand hielt und noch immer neue dazu ausraufte.

„Nanu, Junge,“ rief Franz Hertel, „was machst du denn da? Das soll wohl für eure Ziege sein?“

Der Junge sah ihn etwas ungewiß an und sagte: „Wir haben gar keine Geiß.“

„Wozu raufst du denn alle die Blumen aus?“

Der Junge grinste und schwieg. Da kam dem Dichter eine glückliche Eingebung. „Sieh mal,“ sagte er sanft und holte ein Geldstück hervor, „dieses Zwanzigpfennigstück bekommst du, wenn du mir jetzt hübsch ordentlich sagst, wozu du die Blumen abreißest.“

Auf dem Gesicht des Sommersprossigen spiegelte sich ein großer Seelenkampf. Endlich, nach mehrmaligem Auf- und Zuklappen des Mundes, ließ er die Blumen aus der Hand fallen, griff nach dem Geldstück und brummte: „Für das Fräulein!“

„Für welches Fräulein?“ fragte Franz Hertel hastig, ganz geblendet von dem Lichte einer plötzlichen Ahnung.

„Na, für das schöne Fräulein aus dem Brezelgäßchen,“ erwiderte der Junge. „Sie hat mir ja gesagt, ich soll ihr alle Abend einen Strauß aus dem Wald bringen, für zehn Pfennig. Aber sie passen ihr nie recht; sie will sie immer kleiner haben, und überhaupt ganz anders. Und gestern hat sie mir gesagt, ich könnt’ es jetzt schon besser, aber wenn ich ihr mal so einen recht schönen brächte, dann kriegte ich fünfzehn Pfennig. Und da wollt’ ich mir jetzt zuerst einen ordentlichen Haufen zusammenholen, damit setz’ ich mich dann nachher hinten auf die Bank und such’ mir was aus.“

„– So?“ sagte Franz Hertel nach kurzem Bedenken. „Nun pass’ mal auf, mein Junge, nun will ich dir was sagen, und dann wollen wir sehen, ob du wirklich so ein kluger Junge bist wie du scheinst.“

Auf diese schmeichelhafte Einladung hin ging der Sommersprossige mit seinem neuen Bekannten eine Verhandlung ein, die zu folgendem mündlichen Vertrag führte: Der Junge verpflichtete sich, von weiterer Waldverwüstung abzusehen und den Dichter jeden Abend um halb acht Uhr an einer stillen Ecke zu erwarten. Der Dichter verpflichtete sich, ihm dort jedesmal einen Strauß und zehn Pfennig zu überreichen; der Junge verpflichtete sich, den Strauß als sein eigenes Machwerk dem Fräulein zu überliefern – die zehn Pfennig verblieben ihm zu freier Verfügung. Beide Parteien verpflichteten sich, über die Geschichte zu schweigen.

Nachdem dieser Vertrag geschlossen war, mußte der Junge noch eine gute Stunde warten, bis der Dichter einen Strauß fertig hatte, den er statt seines eigenen Futterbündels dem Fräulein bringen sollte. Es war ein sehr hübscher kleiner Strauß, aber Franz Hertel war doch noch nicht von ihm befriedigt, wenn er ihn auch nicht so geringschätzig betrachtete wie der Junge, der sein Urteil in die Worte zusammenfaßte: „Dafür gäb’ ich keine zwei Pfennig!“

Franz Hertel ließ ihn mit dem verachteten Kunstwerke abziehen. Er selbst blieb noch eine Weile zurück, um über diese neue Wendung seines Abenteuers nachzusinnen. Den Jungen hatte er während seiner gärtnerischen Arbeit nach Kräften ausgehorcht, aber der kannte zwar schon Namen und Wohnung des Dichters, schien dagegen nicht mehr über das Fräulein zu wissen als er, und es widerstrebte Franz Hertel, einen solchen Zwischenträger geradezu auf Kundschaft auszusenden.

Die Verbindung war auch so schon wunderlich genug. Franz Hertel versuchte eifrig, sich einzureden, daß er den ganzen Vertrag nur geschlossen habe, damit das Fräulein – vielmehr ihre Kranke nicht noch länger durch die irrigen Auffassungen des Jungen über die Schönheiten eines Waldblumenstraußes grausam enttäuscht werde. Des weiteren redete er sich sogar ein, daß es ihm ganz gleichgültig sei, weshalb die schöne Namenlose einem solchen zerlumpten Schlingel lieber die Sträuße abkaufe, als sie von ihm umsonst zu nehmen. Nachdem Franz Hertel mit seinem Gewissen darüber einig geworden war, daß ihm die Einfälle und Launen seiner schönen Florentinerin so gleichgültig seien wie alle Frauenlaunen der Welt, und daß sein Abkommen mit dem Sommersprossigen durchaus nichts weiter bedeute als eine etwas romantisch verkleidete Ausübung schuldiger Nächstenliebe, ging er heim, um die ganze Nacht von der holden Unbekannten zu träumen.


4.

Der Vertrag zwischen dem jungen Dichter und dem Knaben wurde nun etwa vierzehn Tage lang und, dank der Beständigkeit des guten Wetters, ohne einen einzigen Tag Pause ausgeführt, wobei sich der Sommersprossige als ein brauchbarer Bote erwies; übrigens schien das Fräulein den Verkehr mit ihm in denselben engen Grenzen zu halten wie zuvor den mit Franz Hertel. Nur das erste Mal hatte sie sich über die außerordentlichen Fortschritte des Jungen in der Straußbindekunst lobend ausgesprochen, was diesen so verwunderte, daß er es seinem Auftraggeber am nächsten Abend grinsend erzählte. Der Dichter belohnte ihn für die Erzählung mit einem Zuschuß von fünf Pfennig, worauf sich beides, Erzählung und Zuschuß, noch ein paarmal wiederholte; da aber Franz Hertel einmal zufällig den Zuschuß vergaß, hörte auch die Erzählung auf, und der Dichter fing an zu zweifeln, ob sie überhaupt jemals wahr gewesen sei. Jedenfalls schien es ihm geraten, die Erfindungsgabe des Jungen nicht noch durch Fragen zu reizen. Er zog es vor, seine früheren spätabendlichen Forschergänge durch das Brezelgäßchen wieder aufzunehmen. Einmal, an einem etwas nebligen Abend zu Anfang des September, glaubte er auch die Empfängerin seiner Sträuße in einer vor ihm herwandelnden schlanken Gestalt in dunklem Regenmantel zu erkennen, unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte und hatte sie am Ausgange der Straße eingeholt. Als sie sich aber dort unter der Laterne umwandte, blickte ihm unter der Kapuze statt des holden Florentinermädchens eine ältliche, spitznasige Frau entgegen, die ihn so feindselig musterte, daß er ganz entsetzt auswich und weitereilte.

Der Nebel war nicht das Einzige in der Natur, woran Franz Hertel den herannahenden Herbst mit Betrübnis wahrnahm. Sein Blumenbestand verringerte sich täglich. Herbstzeitlosen oder Silberdisteln, falbe und rote Blätter mit reifen Beeren sind ja unschwer zu Sträußchen von großer Wirkung zu vereinigen, aber einer Kranken darf man sie doch nicht senden; und wenn man sich in der Hauptsache auf spätblühende Glockenblumen, lilafarbene [884] Skabiosen, rote Kuhblumen und gelben Waldklee beschränkt sieht, so läuft man auch bei der größten Kombinationsgabe doch leicht Gefahr, sich zu wiederholen. Noch aber war ein Notbehelf in Menge vorhanden – das Heidekraut, oder wie es mit seinem alten deutschen Namen so sinnvoll heißt, das Immerschön, mit seinem zierlichen, zumal bei Lampenlicht in so wundervollem Grün strahlenden Gefieder, mit den zarten, gleich gotischen Spitztürmchen aufsteigenden Blütenrispen und dem kräftigen, lebensfrohen Duft.

Als der Sommersprossige eines Abends in der Hand seines Gönners nur einen sorgsam komponierten Strauß Immerschön entdeckte, blickte er verächtlich darauf und sagte: „Herrje, das ist ja Besenheide! Na ja, nun ist’s überhaupt mit den Blumen bald alle. Unser Fräulein merkt wohl auch so was. Sie bestellt ab.“

„Was meinst du damit, Junge?“ fragte der Dichter erschreckt.

„Sie hören es ja,“ erwiderte der Junge. „Sie bestellt ab. Morgen soll ich zum letztenmal kommen. Möglich, daß die kranke Frau es nicht mehr braucht.“ Damit steckte er seinen Nickel ein und trollte gefühllos pfeifend davon.

Diese Neuigkeit brachte in Franz Hertels Seele einen großen Entschluß zur Reife. Als er am folgenden Abend an der Ecke erschien, trug er außer einem zierlichen Strauß Immerschön ein Briefchen bei sich, das in den anmutigsten Versen der schönen Namenlosen huldigte und zum Zeichen ihres Verzeihens um eine Zeile mit ihrem Namen flehte. Das Gedicht brauchte sich der Unterschrift Franz Hertels wahrhaftig nicht zu schämen; wenn die Florentinerin noch eine Spur weiblicher Eitelkeit besaß, so mußte sie die Bitte erfüllen, zumal auch das Geheimnis der späteren Sträußesendungen darin in einer spannenden Weise mehr gestreift als enthüllt wurde. Dieses Briefchen sollte der Bote zugleich mit dem letzten Strauß überreichen und sodann, mit bewährtem Geschick, durchbrennen, ohne sich auf weitere Fragen einzulassen. Aber kein Junge ließ sich sehen, obgleich Franz Hertel anderthalb Stunden an der Ecke wartete. Wahrscheinlich war das Wetter sogar dem Sommersprossigen zu schlecht gewesen; denn ein abscheulich kalter, scharfer Nordoststurm pfiff durch die Gassen; dem Wartenden brannten die Wangen, wie wenn sie mit Eis abgerieben wären, nur mit Mühe hielt er zuletzt in den frostklammen Händen noch die zitternden Heidezweige fest, von denen der Wind die rotweißen Blütenknöpfchen längst alle abgerissen hatte. Es blieb ihm nichts übrig, als nach Hause zu gehen. Dabei widerstand er der Versuchung nicht, den Weg durch das Brezelgäßchen zu nehmen. Hier, in den schadhaften hohen Dächern der alten Hinterhäuser, heulte der Wind ganz greulich: und deutlich klang durch das Geheul aus dem kleinen Häuschen, hinter den Holzläden mit dem schmalen Lichtstreif her, ein scharfes Klopfen wie wenn eine Kiste zugenagelt wird – oder sonst etwas Hölzernes. Den Dichter durchzuckte es mit jedem Hammerschlag, eine unheimliche Vermutung stieg in ihm auf, und er mußte hart mit sich kämpfen, daß er nicht an das Pförtchen pochte, um sich zu vergewissern, daß da drinnen das blühende junge Leben noch nicht mit dem Tod zusammenwohne.

Als er eben das Ende der Gasse erreicht hatte, bog vom andern Ende eine schwerfällige Droschke ein und arbeitete sich mühsam, unter lautem Fluchen des Kutschers, auf dem holprigen Pflaster bis zu dem ehemaligen Kirchhofthor durch.


5.

Ueber Nacht schlugen Wind und Wetter um. Als Franz Hertel am Morgen das Fenster öffnete, rieselte draußen ein unendlicher Landregen nieder. Mit dem Blumenpflücken war es nichts mehr – aus allen Gründen. Mißmutig setzte er sich hinter ein Buch, ohne recht zu verstehen, was er las. Noch nie hatte er die niederdrückende Wirkung des ersten trübfeuchten Herbsttages so empfunden.

Aus seinem schwermütigen Brüten wurde er durch den Besuch einer Frau aufgeschreckt, die das einladende Herein gar nicht erst abwartete und überhaupt nicht aussah wie der Genius, der Höflichkeit. Sie war nach Art der Hökerinnen gekleidet, das feuerrote Gesicht von einem ungeheuren bunten Kopftuch umrahmt, führte in der einen Hand einen triefenden Regenschirm und in der andern einige Bündel Mohrrüben. Das Merkwürdigste an ihr aber war die Beweglichkeit ihrer Sprechwerkzeuge, welche bei den ersten Worten jeden Versuch einer Gegenrede als aussichtslos erkennen ließ.

„’n Tag,“ begann sie, „ich bin hier ja wohl recht beim Herrn Doktor Hertel, nicht wahr? Und Sie sind ja wohl der Herr, der meinem Jaköbchen alle Tag Geld gegeben hat, und das Fräulein in der Brezelgaß hat ihm auch Geld gegeben, damit daß er die Sträußchen und so was von Ihnen an das Fräulein bringt, nicht wahr? Dann wollt’ ich Ihnen nur sagen, Herr Doktor, daß ich mir so was verbitte, denn es ist unmoralisch und es führt die Kinder auf Abwege, wenn man ihnen so Geld in die Finger giebt; was meinen Sie wohl, wie viel mein Jaköbchen in der letzten Zeit durch Sie vernascht hat? Und so kommen sie dann ans Naschen, und von da kommen sie ans Stehlen, wie das Jüngste von meinem Vetter Wilhelm, nicht wahr? Und überhaupt muß ich sagen, das ist eine unmoralische Geschichte, wenn man dann noch so einem Kind von vierzehn Jahren sagt, es soll nichts davon sagen: du lieber Gott, hätten Sie ihm noch gesagt, er sollt’ das Geld seiner armen Mutter geben, die sich den ganzen Tag für ihre Würmer abrackern muß, dann wollt’ ich noch gar nichts sagen, denn man muß seinen Mitmenschen behilflich sein; die vornehmen Leute, die haben manchmal so Bestellungen und Heimlichkeiten untereinander, man kennt das ja, ich bin auch einmal jung gewesen, nicht wahr? Aber so, wo der Junge alles verschleckt, und wird noch angehalten, daß er es nicht verrät, und ich krieg’ es gestern nur so durch Zufall heraus und muß mich an ihm müd’ prügeln, eh’ er mir sagt, wo er das viele Geld her hat – ne, Herr Doktor, das ist nichts Moralisches mehr, und wenn Sie noch mal was zu bestellen haben, dann suchen Sie sich gefälligst einen anderen, und das können Sie auch dem Fräulein Braut bestellen und können ihr sagen, das hätt’ die Frau Schmitz gesagt, nicht wahr?“

Bei den letzten Worten tippte sie sich nachdrücklich mit dem Mohrrübenbündel vor die Brust und verschwand sogleich hinter der Thür, die sie mit kräftiger Faust zuschlug. Franz Hertel war überhaupt nicht zu Wort gekommen, es dauerte sogar noch eine Weile, ehe er zum Verständnis des Gehörten kam. Alsdann kleidete er sich mit besonderer Sorgfalt an und begab sich auf den Weg nach dem Brezelgäßchen, um eine Pflicht zu erfüllen, die für sein Gefühl nach dem, was er eben vernommen, ganz selbstverständlich war: die junge Dame um Verzeihung zu bitten für das unvorsichtige Spiel, durch das er sie den moralischen Betrachtungen alter Weiber mit Mohrrüben in der Hand ausgesetzt hatte.

Als er vor dem wohlbekannten Häuschen anlangte, waren die Holzläden zurückgeschlagen und ließen dem Blick freien Einlaß durch die gardinenlosen, saubergeputzten Fensterscheiben in die niedrigen, einfach ausgestatteten Räume. Hinter einem der Fenster war ein Mann in Eisenbahnuniform eben damit beschäftigt, einen großen gedruckten Zettel anzukleben: „Möblierte Wohnung zu vermieten. Bescheid im Nebenhause.“

Trotz allem Mißlichen, das diese neue Entdeckung für ihn bedeutete, seufzte Franz Hertel aus tiefster Brust erleichtert auf: das Klopfen am gestrigen Abend erklärte sich durch den Umzug der bisherigen Bewohnerinnen ganz harmlos.

Der Mann am Fenster drinnen schien in dem salonmäßig gekleideten Herrn einen ersten und besonders Vertrauenswerten Bewerber um die Wohnung zu ahnen. Mit einer höflichen Verbeuguug verließ er seinen Posten und öffnete das Hauspförtchen.

„Sie wollen sich wohl die Wohnung ansehen, mein Herr? Entschuldigen Sie, bitte, einen Augenblick – ich will meine Frau herüberholen, sie weiß besser Bescheid: ich selber bin nämlich meist dienstlich abwesend. Wenn Sie sich, bitte, inzwischen schon hinein bemühen wollen – entschuldigen Sie nur die Unordnung; die Damen, die bisher hier wohnten, sind erst gestern abend abgereist, ich kam gerade von der Reise, als sie in die Droschke stiegen. Einen Augenblick, bitte!“

Damit eilte er nach dem andern Häuschen hinüber, während Franz Hertel mit einer gewissen Scheu das kleine Wohnzimmer betrat. Von Unordnung konnte eigentlich kaum die Rede sein: in seinem eigenen Arbeitszimmer sah es auch ohne Umzug selten so aufgeräumt und ordentlich aus. Er hatte aber keine Zeit, sich langen Betrachtungen hinzugeben: denn bereits hörte er hinter sich den Beamten zurückkehren, im halblauten Gespräch mit seiner Frau. Als Franz Hertel sich umwandte, erkannte er mit einigem Schrecken

[885]

Die Berner Klause.
Nach der Natur gezeichnet von M. Zeno Diemer.

[886] die Frau mit dem Regenmantel. Auch diese schien ihn wieder zu erkennen, sie kniff die Lippen zusammen und verfärbte sich.

„Ich bedauere, mein Herr, die Wohnung ist bereits vermietet,“ sagte sie.

„Aber Frau –!“ begann der Beamte ganz verdutzt. Ein schlecht verborgener Rippenstoß brachte ihn zum Schweigen.

„Entschuldigen Sie,“ erwiderte Franz Hertel höflich, indem er aus dem Häuschen heraustrat, „ich kam auch eigentlich nicht – das heißt nicht bloß der Wohnung wegen. Die Damen, die hier bisher wohnten –“

„Die Damen sind gestern abend mit der Bahn abgereist, wie Sie wohl schon wissen. – Adieu, mein Herr!“ Die hagere Frau machte so etwas wie einen Knix, faßte ihren Gatten am Arm und schloß das Hauspförtchen hinter sich mit einer Behendigkeit, als hätte sie das der bisherigen Bewohnerin abgelernt.

„Hm,“ brummte Franz Hertel, „das wird ja heiter. Jetzt will ich aber wissen, wer und wo sie ist und was das alles bedeutet, und wenn ich sämtliche Honoratioren von Grünau aushorchen müßte. Also zuerst zum Stadtphysikus. Der kennt sich ja in jedem Hause der Stadt aus.“


6.

Der Herr Stadtphysikus war leider nicht zu Hause; aber während Franz Hertel noch mit dem Dienstmädchen verhandelte, trat die rundliche Hausfrau aus der sogenannten guten Stube und bemächtigte sich seiner. „Wollen Sie nicht ein wenig näher treten, Herr Doktor? Sie finden noch andern lieben Besuch drinnen.“

Der „andere liebe Besuch“ waren die Frau Amtsgerichtsrat und Fräulein Helene, sie waren von einem Einkaufsgang „nur auf einen Augenblick“ hereingesprungen, um mit der Hausfrau und deren beiden Töchtern einige dringende Neuigkeiten auszutauschen. Die drei jüngeren Damen begrüßten den Dichter mit gewinnender Freundlichkeit; die Frau Amtsgerichtsrat musterte mit einem gewissen Schrecken seine feierliche Gesellschaftstracht: „Sollte er am Ende um eine von den beiden da anhalten wollen?“ dachte sie; „diese jungen Männer von heutzutage sind ja so dumm, die lassen sich von jeder Gans fangen.“ Da aber Franz Hertel mit diplomatischer Fassung versicherte, er habe eigentlich nur den Herrn Sanitätsrat wegen einer medizinischen Stelle in seinem neuesten Roman konsultieren wollen, wurde sie wieder heiter. „Ja, ja, die Herren Dichter müssen doch allerlei wissen,“ meinte sie. „Mich wundert nur, mein lieber Herr Doktor, wo Sie immerzu die Stoffe hernehmen.“ „O, die lassen wir uns von den andern Leuten liefern,“ erwiderte Franz Hertel. Die Mädchen kicherten, und Fräulein Babette, die ältere der beiden Haustöchter, sagte: „Ach ja, wir sprachen eben von einer Geschichte, die gäbe gewiß auch einen Stoff für Sie.“ „Erzählen Sie dem Herrn Doktor doch die Geschichte, liebe Helene,“ bat die Hausfrau; „meine Mädchen können so etwas doch nicht so frei erzählen, sie sind gar zu schüchtern bei solchen verfänglichen Dingen.“ „Warum soll ich die Geschichte nicht erzählen, Tante Sanitätsrat?“ parierte Fräulein Helene; „die falsche Schüchternheit kann man sich ja für spätere Jahre aufsparen. Also denken Sie sich, Herr Doktor, was da einer Verwandten von unserer Waschfrau begegnet ist. Sie wohnt in dem Brezelgäßchen – das kennen Sie wohl gar nicht? Es wohnen lauter gewöhnliche Leute dort; und ihr gegenüber, in einem kleinen Häuschen –“

„Es ist nämlich ein großer Bleichhof da, mit zwei kleinen Häuschen am Thor,“ warf eine der Haustöchter ein.

„Nun ja,“ fuhr Fräulein Helene fort. „Also in einem von den Häuschen hatte sich eine fremde kranke Dame –“

„Dame?“ fragten die beiden Haustöchter ironisch.

„Warum nicht?“ versetzte Fränlein Helene mit einem Seitenblick. „Heutzutage verlangt man ja nicht mehr, daß das, was sich so nennt, sich auch so benimmt. Also die hatte sich da mit ihrer Tochter, oder was es sonst war, eingemietet. Und die läßt sich jeden Abend einen Strauß bringen, erst ein paar Tage lang von einem jungen Herrn, und dann von einem zerlumpten Straßenjungen. Wie das aber so eine Zeit lang gedauert hatte, da entdeckt die Nachbarin – wissen Sie, die Base von unserer Waschfrau – daß die Sträuße noch immer von dem jungen Herrn kamen; der Straßenjunge war nur der Zwischenträger ––“

„– postillon d’amour,“ kicherten die Haustöchter.

„Aber Kinder!“ bemerkte ihre Mutter verweisend.

„– die Frau hat gesehen, wie ihm der Herr an einer Straßenecke die Sträuße gab, ein paar Abende nacheinander. Das hat sie denn der Wirtin gesteckt, und da haben die Fremden natürlich gleich ausziehen müssen.“

„Ja, aber das Beste“ – warf die Frau Amtsgerichtsrat ein.

„Ja, das kommt noch,“ fuhr Fräulein Helene etwas ungeduldig fort. „Das ist ja die eigentliche romantische Lösung, Nämlich als unsere Waschfrau gestern die Geschichte erzählte, kam sie uns erst ganz unerklärlich vor. Sträuße bringen ist doch nichts so Gefährliches, dazu braucht man doch keinen Zwischenträger und so was. Da fiel mir ein, daß neulich im ,General-Anzeiger‘ etwas über Blumensprache gestanden hat. Zufällig hatte ich das Blatt noch bei der Hand, und richtig, da steht ein ganzes Kapitel: ‚Verabreden von Zeit und Ort durch bestimmte Blumen.‘ Sehen Sie, das war es. Die Sträuße waren weiter nichts als Einladungen zum Rendezvous. Wie romantisch, nicht wahr?“

„Daß Sie das aber auch gleich so richtig gemerkt haben, liebe Helene,“ bemerkte die Hausfrau. „Ich glaube, Kinder, ihr könntet euch in so etwas gar nicht recht hineindenken.“

„Unsere Helene ist eben immer ein kluges Kind gewesen,“ versetzte die Frau Amtsgerichtsrat. „Und denken Sie sich, Herr Doktor, wie die Sache zutraf! Meine Tochter hatte der Waschfrau kaum die ersten Zeilen vorgelesen, wo es heißt: ,Drei Kamelien und eine Tuberose – bedeutet: um zehn Uhr abends am Brunnen‘, da schreit die Frau ordentlich auf und sagt: ,Das stimmt! Um zehn Uhr ist er noch neulich durch die Straße gekommen, und sie ging vor ihm her, in einen dunklen Regenmantel ganz vermummt, das hat meine Base deutlich gesehen.‘ Und das wird denn wohl stimmen, denn wenn man durch das Brezelgäßchen geht und oben links abbiegt, dann kommt man durch das Lungengäßchen auf den Eselsmarkt, wissen Sie, wo die neuen Anlagen sind, mit dem Laufbrunnen in der Mitte. Es ist auch eine schöne Ruhebank daneben.“

„Nun, Mama, für gewöhnlich werden sie es sich doch bequemer gemacht haben,“ meinte Fräulein Helene. „Sie wohnte ja dicht an dem alten Kirchhof, auf den Bleichen da ist es abends ja sehr menschenleer, und er konnte ja über die Mauer steigen. Die Frau hat ihn oft des Nachts da herumstreichen sehen. Es heißt ja auch in dem Zeitungsaufsatz: ,Drei Nelken und eine Calla – um eilf Uhr auf dem Friedhof.‘“

„Gräßlich,“ seufzte die Hausfrau. „Daß man so etwas drucken darf. Da sollte doch die Regierung einschreiten. Das muß doch jugendliche Gemüter verderben.“

„Nun, wissen Sie, Liebe,“ erwiderte die Frau Amtsgerichtsrat, „wenn eine sich mal mit so etwas abgiebt, an der ist nicht mehr viel zu verderben. Es ist nur gut, daß es keine Hiesige war.“

„Was sagen Sie denn nun zu der Geschichte, Herr Doktor?“ fragte die Hausfrau.

„O,“ antwortete Franz Hertel mit einer unnatürlichen Ruhe, „ich denke, es ist eine Geschichte, wie ihrer viele gemacht werden. Irgend eine Waschfrau oder deren Base, die einen ganz harmlosen Vorfall gesehen hat, setzt den Brei an, andere gießen allerlei Einfälle zu und rühren ihn um, und zuletzt ist das Zeug fertig. Solange man noch keine Namen nennt, bleibt der Sport ziemlich ungefährlich; wenn man aber so unvorsichtig ist, deutlich bezeichnete Personen hineinzuziehen, kann es für diese und für die Verbreiter recht traurige Folgen haben.“

Auf diese Rede folgte eine große, drückende Pause. Fräulein Helenens Antlitz war tief errötet, das ihrer Mutter war ganz erblaßt, und die anderen Damen blickten ziemlich verständnislos drein. Endlich sagte die jüngere Haustochter: „Ja, man soll nie zu viel erzählen.“

Und ihre Schwester fügte hinzu: „Man weiß nie, was daran ist.“ Die Hausfrau unterdrückte eine dritte Bemerkung gleichen Inhalts und brachte das Gespräch auf andere Dinge.

Nach einer Weile erhoben sich die Gäste. Beim Abschied wandte sich Fräulein Helene, die ihre Fassung äußerlich ganz wieder gefunden hatte, mit süßem Lächeln an den Dichter: „Nun, Herr Doktor, Sie erzählten mir ja neulich auf unserer Abendgesellschaft, daß Sie jetzt Ihr erstes größeres Drama schreiben [887] wollten. Darf man denn wissen, wie es heißen soll? Es wird wohl ein Lustspiel?“

„Doch nicht, mein Fräulein,“ erwiderte Franz Hertel artig. „Es wird ein bürgerliches Trauerspiel, und der Titel soll heißen: ,Ueble Nachrede!‘“


7.

Franz Hertel meinte es vollkommen ernst: ein unendlicher Zorn und Widerwillen gegen das ganze Unwesen kleinlicher, gedankenloser Klatschsucht hatte sich seiner bemächtigt, und sogleich war er entschlossen, dies Gefühl in einem großen Werke zu entladen, kraft der Gewalt, die dem Dichter ward, „zu sagen was er leidet“ und ganz besonders was ihn ärgert.

Zwei oder drei Wochen verschwendete er darauf, eingeschlossen in sein Arbeitszimmer, fast ganz ohne geselligen Verkehr, über diesem Werke zu brüten, das in Wahrheit seinem heiteren und gesunden Wesen so durchaus fern lag. Ein großes dramatisches Strafgericht sollte es werden; ein zweites „Kabale und Liebe“, nur daß hier die Kabale nicht von schurkischen Großen und ihren Helfershelfern, vielmehr von gutbürgerlichen Klatschbasen beiderlei Geschlechtes, gebildeten und ungebildeten, jungen und alten, gesponnen ward. In den grellsten Farben wollte er schildern, wie das Glück harmloser Menschen, der Friede frommer Familien durch gedankenlose Neugier und Neuigkeitssucht Unberufener, durch pharisäische Splitterrichterei und Wohlweisheit zernagt wird und wie an der Unzerstörbarkeit dieses gesellschaftlichen Giftes selbst die tragische Gerechtigkeit scheitert: denn „noch an der Bahre des gedankenlos hingeschlachteten Opfers späht die blöde Klatschsucht vornehmer und geringer Pharisäer ungestraft und ungerührt schon nach neuen aus, und sie findet immer neue.“

Solcher Kraftstellen hatte er schon eine ziemliche Menge auf Vorrat gearbeitet, frostig und trostlos wie das graue Herbstwetter, das mit Regenschauern und Hagelschlacken an seine Fenster pochte. Aber glücklicherweise hielt er es nicht lange aus. Seine kräftige und lebensfrohe Künstlerseele empörte sich gegen eine Aufgabe, die so wenig zu ihr paßte, und nach einer kurzen Krisis genügte ihr ein kleiner Anlaß, um den ganzen widrigen Plan entschlossen umzustoßen.

Es war an einem Markttage: draußen auf dem Michaelisplatz drängte, stieß und vertrug sich die Menge der Verkäuferinnen und Käuferinnen, zum erstenmal nach vielen Tagen wieder einmal vom freundlichen Sonnenlichte bestrahlt, das den alten grünspanigen Kupferbelag des Michaelisturms in eine Malachitkuppel verwandelte und selbst die Regenlachen zwischen dem Pflaster drunten wie Lavaspiegel glänzen ließ. In einer dieser Lachen war eben ein ländliches Mädchen mit einem Korb Eier zu Fall gekommen, weinend stand das junge Ding da und blickte trostlos auf das schreckliche Ergebnis des Sturzes, während neben ihr ein Marktpolizist sich anschickte, ein Strafprotokoll wegen Störung des Straßenverkehrs wider sie aufzunehmen. Da drängte sich die unverkennbare Gestalt der Frau Schmitz durch die gaffende Menge, Franz Hertel sah, wie sie mit wirksamen Gesten auf die Leute einredete und zum Schluß ihrer Rede ein Geldstück in einen Teller warf, der, von ihr mit ermunternden Worten rundgereicht, sich rasch mit kleiner Münze füllte. Das Bauernmädchen strich getrösteten Antlitzes die milde Beisteuer ein, der Polizist lächelte versöhnt und zog mit seinem riesigen Notizbuch weiter, während ein paar Marktweiber in freiwilligem Wetteifer die Spuren des Unfalls beseitigten.

Und drüben auf der andern Seite des Platzes begegneten sich eben die Damen des Amtsgerichtsrats mit denen des Stadtphysikus, sie begrüßten sich liebevoll und plauderten lächelnd, dann trennten sie sich und blickten sich nach einigen Schritten um, mit jenem unerbittlichen Ausdruck, dessen nur eine eitle Dame fähig ist, wenn sie die Straßentoilette einer anderen verstohlen mustert; da aber beide Parteien bemerkten, daß sie sich zugleich umgesehen hatten, lächelten sie auch gleichzeitig und winkten sich liebevoll zu; es war unglaublich, wie rasch und gleichmäßig sich die Mienen änderten.

Franz Hertel beobachtete auch dies, und es fiel ihm auf einmal wie eine schwere schwarze Binde von den Augen. „Ach,“ rief er, „mit was für Dummheiten habe ich mich da abgequält! Die Leute sind ja gar nicht so schlimm. Der Klatsch gehört zu ihrem Wesen, aber er ist nur eine einzelne Aeußerung dieses Wesens, und es giebt hundert bessere und stärkere. Dieses Hökerweib, das die Moral anderer Leute danach abmißt, ob sein Junge das Trinkgeld vernascht oder der Mutter bringt, findet und thut doch, wo es werkthätige Hilfe gilt, das Moralische so gut und besser als mancher Professor der Philosophie. Diese Freundinnen, die sich gegenseitig nicht einmal einen neuen Hut gönnen und ihre Kinder durch tägliches Beispiel zum Schmähen und zur Lieblosigkeit abrichten, würden doch für ihre Kinder ihr Herzblut geben, und sie können sich über den wüstesten Klatsch doch noch nicht so herzlich freuen, wie sie sich freuen, wenn dem Gatten das Leibgericht einmal so richtig mundet. Sie haben alle ihr Bündel Sorgen am Halse, es ist ihr Schade, wenn sie’s sich mit Hilfe einiger Selbstgerechtigkeit leichter zu machen glauben; aber darum sind sie noch keine Ungeheuer.“

Die dicke Frau Schmitz hatte es sich unten auf dem Markte zum Elfuhrfrühstück bequem gemacht; sie saß auf einem umgestülpten Marktkorbe, hielt eine ungeheuere Kaffeetasse und einen Quadratfuß Bauernweck in den Händen und erzählte einigen Kolleginnen, zwischen Kauen und Schlürfen, eine ersichtlich sehr wirkungsvolle Geschichte, wobei sie öfters nach dem Hause des Dichters hinwinkte. Vermutlich schilderte sie seinen verderblichen Einfluß auf ihren Jungen. Franz Hertel nickte ihr freundschaftlich zu. Und da er einmal im Zuge war, so überlegte er weiter:

„Ist es denn auch wahr, daß die Leute mit ihrem Klatsch und ihrer Selbstgerechtigkeit anderen ehrlichen Leuten so gar entsetzlich mitspielen können? Daß eine bloße falsche Nachrede einen tüchtigen, wahrhaftigen Menschen zur Verzweiflung bringen oder gar das mit Liebe und Achtung verankerte Fundament eines ganzen Familienglücks sprengen kann? Gelesen habe ich es wohl schon ein paarmal, aber wo habe ich es denn schon erlebt? Und nun hätte ich beinahe gethan, als ob es die alltäglichste Geschichte wäre. Immer dieselbe Dummheit, die ganze Welt für verseucht zu erklären, weil man selber einmal thörichterweise an irgend einem Sümpflein geschlafen und sich ein winziges Fieberchen geholt hat. Wahrhaftig, wer hat denn bei der ganzen lächerlichen Geschichte Schaden genommen? Sie, die ich durch meine Albernheit mit in das Geklatsch von ein paar alten und jungen Weibern gebracht habe, lächelt in diesem Augenblicke vermutlich nur über Sottisen, die von einer reinen Seele machtlos abgleiten wie die Wassertropfen vom Schwanenkleid. Ich müßte ihr süßes Gesicht nicht gesehen haben, um zu glauben, daß sie über diese Leute etwas anderes thun kann als lächeln – und allenfalls auch über mich. Und mir können sie erst recht nichts an. Kinder, die mit Sandklümpchen nach dem Vogel in der Luft werfen! Der Vogel fliegt weiter und freut sich, daß er fliegen kann, und mit dem Sand treffen sie sich gegenseitig. Darauf läuft’s doch am Ende hinaus: die Klatscherei wendet sich wider ihren eigenen Herrn, wie alle Unwahrhaftigkeit, und der Entronnene behält etwas zum Lachen für die Zukunft. Wer weiß, ob ich meine schöne Florentinerin nicht einmal an einem würdigeren Orte treffe? Dann haben wir gleich etwas zusammen zu lachen, und das ist die bequemste Art, Bekanntschaft zu erneuern. Am Ende stiften die bösen Zungen noch Gutes, nur nicht für sich. Das ist aber doch zum Kuckuck keine Tragödie! Eine Komödie ist es, und eine Komödie soll’s auch werden! – Die aber schreiben wir anderswo als in Grünau!“

Nach diesem Selbstgespräch vertiefte Franz Hertel sich in das Reichskursbuch. Und am Abend saß er im Eisenbahnwagen und fuhr gen Süden, den Schwalben nach.

Die sämtlichen Entwürfe und Notizen zu seinem Trauerspiel hatte er vor seiner Abreise verbrannt, als ein Brand- und Dankopfer für das wiedererlangte Gleichmaß seiner Seele. Einige andere Andenken an sein Grünauer Abenteuer: die beiden unbestellten Sträußchen – zierlich getrocknet –, das Billet mit der Zeile von ihrer Hand und das gleichfalls unbestellte Gedicht an die schöne Namenlose nahm er sorgsam mit.


8.

Theaterbesucher und besonders Theaterdirektoren erinnern sich noch mit Vergnügen des Erfolgs, den das Lustspiel „Ueble Nachrede“ von Franz Hertel auf seinem ersten Rundzug über die deutschen Bühnen erzielte. Das arme Publikum, so lange mit mißlungenen Experimenten aller Art gequält, war entzückt [888] über dies Stück, das einen Ausschnitt aus dem Kleinleben der Gesellschaft mit so viel Schärfe ohne Bitterkeit, so viel Wärme ohne Rührseligkeit wiedergab und mit so frischem Humor den Beweis für die Behauptung durchführte, die der „Held“ irgendwo im ersten Akt ausspricht: „Die bösen Zungen sind am Ende auch nur ein Teil jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft!“ Sogar in Grünau ist es vorigen Sommer von einer durchreisenden Truppe aufgeführt worden, die Grünauer haben es bejubelt, und wenn der Dichter noch in ihrer Mitte geweilt hätte, so wäre er einem Fackelzug und Festessen auf keine Weise entgangen.

Einige Wochen vor der Erstaufführung – ungefähr ein Jahr nach seiner Abreise von Grünau – traf der Dichter in der Residenz ein, um den Vorbereitungen des für ihn so wichtigen Ereignisses nahe zu bleiben. Er hatte dort eine sehr werte Freundin, eine reiche Kaufmannswitwe, die wegen ihrer Kunstliebe und Gastfreundschaft, nebenbei auch wegen ihrer Neigung zu scharfen und freimütigen Bemerkungen einen gewissen Ruhm genoß. In dem Salon dieser Dame entdeckte Franz Hertel einige kleine Bilder, die ihn außerordentlich zu fesseln schienen.

„Wie kommen Sie denn dazu?“ fragte er.

Frau Konsul Preusch – ihr Gatte war Konsul irgend einer mittelamerikanischen Republik gewesen – lächelte geheimnisvoll.

„Ihre Neugier macht Ihrem Geschmack alle Ehre, lieber Doktor,“ meinte sie. „Diese Blumenstücke sind wirklich etwas Großes in ihrer Art, nicht wahr? Besonders das mittlere, mit dem Heidekrautsträußchen. Man merkt ihnen die Dilettantenarbeit nicht an. Eine liebe jüngere Freundin von mir hat sie gemalt, eine Stiftsdame, das heißt, sie ist Mitglied eines adligen Jungfrauenstifts irgendwo in Norddeutschland, wohnt aber mit ihrer Mutter meist hier, draußen in der Humboldtstraße. Beiläufig bemerkt, das wäre vielleicht auch was für Ihr Lustspiel; ihr gegenüber hat sich ein älteres Fräulein eingemietet, eine entfernte Verwandte, deren noch ältere Schwester die nächste Anwartschaft auf die Pfründe meiner Freundin hat, sobald diese stirbt, sich verheiratet oder durch eine andere unvorsichtige Handlung ihren Besitz verscherzt. Die alte Dame sitzt nun den ganzen Tag auf der Lauer, um ihrer Schwester gleich zu telegraphieren, wenn so ein Glücksfall eintreten sollte, und das ist ihr Beruf. Ja, brummen Sie nur innerlich über meine berüchtigte scharfe Zunge, ’s ist doch wahr!

Aber um auf die Bilder zurückzukommen – sehen Sie, das ist auch eine merkwürdige Geschichte, wie meine Freundin gerade zu der Liebhaberei für diese Art Malerei gekommen ist. Es ist so recht etwas für Dichter – hören Sie nur! Die Mutter meiner Freundin, Frau Major von Berthen, ist die Witwe eines braven Offiziers, der aber den Seinen nichts hinterließ als die Ehre – und eine Pension, – ja, richtig, und dann noch für seine Tochter Maria die Anwartschaft auf eine Stiftspfründe, deren Inhaberin aber einstweilen noch lebte und die ganze zähe Lebenskraft besaß, die solchen Erbtanten eigen ist. Ich weiß nicht, ob Sie eine Vorstellung von der Schwere des Daseinskampfes in einer solchen Lage haben: verwitwet und verwaist, vor der Welt zu einem gewissen vornehmen Scheinwesen gezwungen – und nur auf eine Pension angewiesen. Ich kenne mehrere Fälle dieser Art … Hier aber kam nun noch hinzu, daß Frau von Berthen seit vielen Jahren durch Krankheit ans Zimmer gefesselt ist und eigentlich stetiger Gesellschaft bedarf, somit also für Maria auch noch die Möglichkeit, für sich und die Mutter zu arbeiten, fast ganz benommen war. Nun, sie haben sich durchgeschlagen, kümmerlich und tapfer, in allerlei kleinen Nestern, wo sie vor bekannten Gesichtern sicher waren; Beisteuer von guten Freunden wollten sie nicht annehmen, zeitweilig waren sie für ihre Bekannten ganz verschollen. Ich weiß, daß Maria manche Nacht durch, wenn sie glaubte, daß ihre Mutter schliefe, geschafft hat – Handarbeiten, namentlich kleine Malereien für Fächer und dergleichen; sie selber will es nicht Wort haben, aber die Mutter erzählt es mir oft genug unter Thränen der Rührung.

Von der Mutter habe ich nun auch die merkwürdige Vorgeschichte dieser Liebhaberei für Blumen in Aquarellfarben. Nämlich die alte Dame, wie das bei solchen Kranken oft geht, faßt von Zeit zu Zeit eine ganz bestimmte Neigung für irgend einen kleinen Schmuck des, Lebens, eine Art ästhetischer Leidenschaft, die dann um jeden Preis befriedigt werden muß, und so hatte sie – vor anderthalb Jahren mag es gewesen sein – ihre ganze Schwärmerei den Waldblumen zugewandt. Sie wohnten damals in einem kleinen winkligen Provinznest, und wahrscheinlich nicht in der besten Gegend: wie sollte die arme Maria da zu Waldblumen kommen? Aber siehe da, zufällig trifft sie eines Abends vor ihrer Wohnung einen Straßenjungen, mit einem ganz reizenden Waldblumenstrauß in der Hand. Sie kauft ihm den Strauß für ein paar Pfennig ab, verabredet mit ihm, daß er ihr nun für denselben Preis jeden Abend einen Strauß, frisch aus dem Walde, bringt – und der Mutter war geholfen! Dieser Straßenjunge muß aber ein wahrhaftes Genie in seiner Art gewesen sein; denn die Sträußchen waren, wie mir beide versichern, reizender als alles, was unsere großen Blumenbindereien auszusinnen wissen, und das will ja wohl etwas heißen. Jedenfalls aber hat er Marias Talent auf die richtige Bahn gebracht. Wenn sie so neben dem Sofa der Mutter am Tisch saß, vor sich den Strauß, überkam es sie unwiderstehlich – sie versuchte das Meisterwerk nachzumalen, kann sein, daß sie dabei auch an die Möglichkeit gedacht hat, sich einen neuen, kleinen Erwerbszweig zu schaffen, – nun, das war ja nicht mehr nötig, denn sie waren glücklich an der letzten Station ihres Leidensweges angelangt: die alte Tante hatte endlich ein Einsehen, ging ins Erbbegräbnis und räumte Maria die Pfründe ein, die ihnen mit der Pension zusammen ein leidliches Auskommen bietet, bis das Mädchen der alten Verwandten im Haus gegenüber die Freude macht, sich zu verheiraten. Ihre Lust am Blumenmalen aber hat sie beibehalten und es darin, wie Sie sehen, alsbald zu einer hübschen Höhe gebracht.

Nun, wäre das nicht ein ganz netter Stoff für eine Novellette? Etwa ,Der Straßenjunge als Mäcen‘, oder so ähnlich? Ich sehe, es hat Sie ordentlich ergriffen.“

„Sehr,“ versicherte Franz Hertel. „Bitte, können Sie mir nicht eine Photographie der – Stiftsdame zeigen?“

Die Frau Konsul erhob mit schalkhafter Drohung den Zeigefinger. „Nehmen Sie sich in acht, mein lieber Dichter! Sie machen sich möglicherweise eine falsche Vorstellung von einer Stiftsdame. Es giebt welche, die ein leichtverliebter Poet nicht ungestraft sieht. – Uebrigens die Photographie sollen Sie doch sehen. Schon um der merkwürdigen Sympathie willen. Denn ich will Ihnen nur verraten, daß meine junge Freundin zu Ihren stillen Verehrerinnen gehört, seit sie Ihre Photographie bei mir gesehen und Ihren Namen erfahren hat. Sie lobt Ihre Werke, sie liest sie sogar, ja noch mehr, ich glaube, sie hat sich sogar Ihre Gedichte gekauft. Welches deutsche Frauenherz kann die Verehrung für einen deutschen Dichter noch weiter treiben? – Da, sehen Sie, das ist sie!“

„Die schöne Florentinerin!“ murmelte Franz Hertel in entzücktem Wiedererkennen und Anschauen.

„Nun wird mir’s aber zu arg,“ rief die Frau Konsul. „Sie sind ja da draußen im Reich ein ganz gefährlicher Heuchler geworden! Läßt sich da die ganze Geschichte dieser jungen Dame als etwas Neues erzählen, und dabei kennt er schon den jüngsten Spitznamen, den ihr unser berühmter Historienmaler vor drei Wochen gegeben hat! Woher wissen Sie den nun auch schon?“

„O, verehrte Freundin, wir Dichter wissen alles schon im voraus,“ erwiderte Franz Hertel sehr fröhlich. „Nun aber bitte ich um Urlaub – ich habe wirklich noch einen sehr wichtigen Besuch zu machen …“

„Wohl wegen Ihrer Aufführung?“

„Ganz recht. Es ist nichts Geringes … Später erzähle ich Ihnen auch davon.“


9.

Etwas überrascht, etwas befangen, aber gar nicht erschreckt blickte die schöne junge Stiftsdame, als sie, Franz Hertels Karte in der Hand, in das kleine „Anspruchszimmer“ trat, wo der Besucher sie erwartete. In ihrer Erscheinung hatte sich eigentlich nichts geändert: dieselbe edle Haltung, dieselbe klare Anmut der Bewegungen, und auch die Kleidung war einfach gehalten wie damals; aber freilich kam ihre Schönheit hier, im Sonnenlichte des Tages und im gesicherten Heim, noch anders zur Geltung, als damals im Halbdunkel des Herbstabends – und der Sorgen.

[889]

Theetrinker in Ispahan.
Nach dem Gemälde von L. L. Weeks.

[890] „Es ist freundlich von Ihnen, daß Sie mir Gelegenheit geben, Ihnen nochmals zu danken,“ erwiderte sie auf seine etwas verworrene Begrüßung und reichte ihm die Hand. „Sie haben sich mir in einer trüben Zeit gütig erwiesen, das vergißt man nicht. – Also durch Frau Konsul Preusch haben Sie von uns gehört? Ich dachte es mir schon. – Ich verdanke ihr ja auch die erste Bekanntschaft mit Ihren Dichtungen,“ fügte sie mit einem leichten Erröten hinzu.

„Ja,“ begann Franz Hertel entschlossen, „Frau Konsul Preusch hat mir auch erzählt, wie Sie zu Ihren köstlichen Blumenstücken veranlaßt wurden – durch die Sträuße jenes Jungen, dem Sie damals mein Amt übertrugen. Gestatten Sie mir, daß ich ein Versäumnis dieses Glücklichen nachhole. Sie erinnern sich vielleicht, daß er am letzten Tage seines Dienstes – am Tage Ihrer Abreise von Grünau ohne Entschuldigung ausblieb. Hier ist der versäumte Tribut – leider sehr schlecht erhalten, wie Sie sehen. Der Schlingel sollte Ihnen dazu noch etwas von mir überreichen – eine thörichte gereimte Huldigung an die Namenlose, deren Namen ich wenigstens so gern gewußt hätte.“

Bestürzt blickte Maria von Berthen auf das kleine Bündel trocknen Heidekrauts hin, das in dem Seidenpapier vor ihr lag. „Wenn ich Sie recht verstehe,“ begann sie unsicher, „so stammten also auch jene Sträußchen alle von Ihnen? – Dann habe ich Ihnen ja wohl doppelt zu danken. Der arme Junge kommt freilich dabei um seinen Ruhm,“ fuhr sie mit einem schwachen Lächeln fort. „Aber ich verstehe nicht recht, weshalb Sie –“ sie stockte und sah ihn mit einem fast unwillig fragenden Blick an.

„Sie meinen: weshalb ich jetzt meine Urheberschaft geltend mache?“ entgegnete Franz. „Ich versichere Sie, daß ich es nicht aus Eitelkeit thue, um den armen Jungen um seinen Ruhm zu bringen, wie Sie sagen. Aber die bedauerlichen Folgen meines Versteckspiels, das ich gewiß nicht böse gemeint hatte, muß ich doch auf mich nehmen, nicht wahr? Und ich danke dem Himmel, daß mir endlich jetzt möglich wird, was Ihre Abreise – und meine Unkenntnis Ihrer Adresse damals verhinderte: Sie aufzuklären und um Verzeihung zu bitten wegen der albernen Kränkung, der ich Sie leider – leider aussetzte.“

Mit dem Ausdrucke ehrlichster Verwunderung blickte sie ihm ins Gesicht. „Nun verstehe ich Sie aber gar nicht mehr,“ sagte sie. „Wovon, von welchen Kränkungen reden Sie denn? Ich bitte um Aufklärung. Sie sind mit Ihren Gedanken wohl ganz bei Ihrem Drama? Da wird ja wohl viel von Kränkungen und übler Nachrede erzählt.“

„Von übler Nachrede muß ich denn wohl leider erzählen,“ versetzte er seufzend. „Am besten ist es, wenn ich Sie bitte, meine Beichte von Anfang an zu hören.“ Und ohne eine andere Antwort als von ihren freundlich fragenden Augen abzuwarten, begann er zu „beichten“ – mit Kunst und Auswahl, wie es sich für einen Dichter schickt; aber er konnte es doch nicht verhindern, daß sie bei der Schilderung seiner heimlichen Arbeit für sie bis unter die goldblonden Flechten errötete, und daß sich die schöngeschwungenen Lippen in verächtlichem Zorn zusammenpreßten, als er zögernd nur in Andeutungen die pikanten Neuigkeiten von Fräulein Helene wiedergab.

Im ganzen aber hörte sie ihm ruhig zu, mit der Miene lächelnden Staunens, und als er zum Schlusse eine wirkungsvolle Schilderung seiner Gewissensbisse unternahm, schnitt sie ihm mit einem köstlichen silberhellen Lachen die Rede ab.

„Aber das ist ja ein wunderliches Mißverständnis, Herr Doktor,“ rief sie. „Ich kann Ihnen versichern, daß ich von all diesen Leistungen müßiger Uebelrede erst durch Sie erfahre! – Daß Sie darunter gelitten haben, bedauere ich natürlich tief.“

„Wie,“ fragte er, „Sie hätten von all dem – “

„– wirklich nichts gemerkt,“ fiel sie ein. „So wenig wie ich, dank der Verschwiegenheit unseres barhäuptigen kleinen Geschäftsträgers, bis jetzt wußte, wer mir in Wahrheit die schönen Modelle zu meinen ersten Waldblumenbildern lieferte. – Es mag ja sein, daß ich ein gewisses Talent habe, Tuscheln und Winken hinter meinem Rücken nicht zu beachten. Man lernt das, wenn man arm ist,“ fügte sie ernst, aber ohne Bitterkeit hinzu.

„Aber daß man Ihnen deshalb die Wohnung kündigte –“

„– ist eben auch eine Erfindung Ihrer Waschfrauen, oder was die Damen sonst sein mögen. Wir reisten einfach ab, weil durch den Tod meiner Vorgängerin mein Platz im Stift freigeworden war. Nochmals – beruhigen Sie sich: Sie haben die Aufregung und den Aerger über die bösen Zungen von Grünau ganz allein getragen. – Und das finde ich eigentlich ungerecht,“ setzte sie mit einem schalkhaften Lächeln hinzu; „denn eigentlich – ich meine, eigentlich war ich’s ja doch, die mit der ersten Bitte um Ihre Blumen das ganze Unglück anstiftete!“

Diese Bemerkung und der Blick, mit dem sie ihn dabei ansah, erfüllten das erleichterte Herz des Dichters mit einem ahnungsvollen Entzücken; aber trotzdem war er noch nicht ganz zu Ende mit seinen Zweifelfragen. „Aber wenn dem so ist, warum mußte ich denn überhaupt zu gunsten des Jungen abdanken?“ fragte er. „Ich besitze die Entlassungsurkunde noch. Und ich hätte Ihnen doch so gerne die Blumen weitergebracht!“

Die schöne Stiftsdame nestelte einen Augenblick verlegen an ihrem Armband herum; dann erhob sie die Augen wieder zu ihm und sagte: „Das muß ich Ihnen denn freilich auch noch erklären, schon meiner Mutter wegen, ehe ich Sie mit ihr bekannt mache. Es war nämlich um ihretwillen. Ich hatte ihr von vornherein vorerzählt, daß ich die Sträußchen von einem Jungen gekauft hätte; und ich war immer sehr besorgt, daß sie die Wahrheit merken könnte. Denn meine Mutter ist kränklich, wie Sie wohl wissen; und Krankheit macht ängstlich. Da war es mir eine glückliche Fügung, daß ich eines Tages wirklich so einen Jungen fand .... Und also, nicht wahr, Sie verraten meiner Mutter nichts von unserer ersten Bekanntschaft? Näheres von mir haben Sie ja auch erst bei Frau Konsul Preusch erfahren!“


10.

Bei dieser gemeinsamen Freundin lernten sie sich denn in den nächsten Wochen noch um vieles näher kennen – auch am Krankensessel von Marias Mutter, auf Spaziergängen und wer weiß wo; und wenn sich einmal eines von ihnen allein bei der Freundin fand, so redete es zumeist nur vom andern.

Die Frau Konsul hatte an diesen Gesprächen eine Zeit lang großes Gefallen, nach einigen Wochen wurden sie ihr aber doch zu „thatenlos“, und als eines Abends – es war zwei Tage vor der ersten Aufführung seines Lustspiels – Franz Hertel wieder einmal vor dem gemalten Immerschönsträußchen stand und sich in Bewunderung erging, klopfte sie ihn auf den Arm und sagte: „Hören Sie mal, mein lieber Freund, Rückert oder sonst einer von Ihren seligen Kollegen behauptet zwar, nur ein Dichter könne von der Dame seines Herzens reden, ohne die Hörer zu langweilen; aber ich finde, auf die Dauer langweilt es auch bei Dichtern. Thun Sie mir den Gefallen, ehe Sie mir ganz unausstehlich werden: gehen Sie doch morgen vormittag zu Frau von Berthen und halten Sie der – und Maria den Vortrag mit Motiven! Vielleicht wirkt er da noch durch den Reiz der Neuheit. Ich glaube Ihnen sogar versichern zu dürfen, daß er wirkt.“

Worauf Franz Hertel sich umwandte, ihr lange mit tiefsinnigem Ausdruck in das lachende Antlitz schaute, ihre Hand küßte und sich bald empfahl.

Am folgenden Morgen saß die Frau Konsul mit Maria in deren Wohnung am Fenster und plauderte scheinbar höchst unbefangen, während sie mit einem ihren resoluten Grundsätzen ganz widersprechenden Vergnügen das befangene, zerstreute Wesen der jungen Freundin beobachtete. Plötzlich erhob sie sich. „Nun muß ich aber aufbrechen, liebes Kind,“ sagte sie, „denn ich möchte der alten Dame an dem Fenster drüben noch gerne einen Besuch machen, damit die Spioniererei doch mal aufhört. Ich will ihr bestellen, daß sie das Telegramm an die Schwester nur ruhig absenden soll.“

„Mein Gott, Frau Konsul, wie kommen Sie auf solche Einfälle?“ fragte die junge Stiftsdame erschrocken.

„Nun, wissen Sie,“ antwortete die Frau Konsul, „ich sah da eben den Doktor Hertel um die Ecke biegen, im schwarzen Opferkleide mit weißer Halsbinde; er trug einen großen Strauß Waldblumen – in welcher Gärtnerei er die wohl um diese Zeit aufgetrieben hat? – und wenn ich nicht irre, klingelt er eben draußen bei Ihnen. Da will ich lieber gehen, denn mir ahnt was. Wissen Sie, im Ahnen und Deuten sind wir groß, wir – bösen Zungen!“


[891] 0


Blätter und Blüten.

Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus Halbheft 27 dieses Jahrgangs.)

456) Der Kaufmann Heinrich Friedrich Richard Holtz, geb. am 25. Sept. 1859 zu Hamburg, wanderte im Jahre 1881 nach New York aus und ließ seit 1884 nichts mehr von sich hören.

457) Johann Heinrich Stöckmann, geb. 9. Juni 1836 zu Westercelle in Hannover, der im Jahre 1871 als Brauereibesitzer in Oregon City lebte, wird von seinem Bruder um Nachricht ersucht.

458) Der Kaufmann Johannes Jacobus Wrede, geb. am 29. März 1850 zu Dykhausen, Ostfriesland, der noch im Dezember 1886 in einem Hotel zu Uniontown Pa. als Kellner angestellt war, wird von seiner Schwester gesucht.

459) Josef Fritsche, der am 19. Aug. 1840 zu Merzdorf, Bezirk Tetschen in Böhmen, geboren ist, wird vermißt. Laut Schreibens der österr.-ungar. Botschaft in Washington haben die vom Kais. u. Königl. Konsulat in Richmond angestellten Nachforschungen nach Fritsche, welcher in Norfolk gewohnt haben soll, keinen Erfolg gehabt.

460) Der Elektrotechniker Herrmann Eduard Meisner, geb. zu Lobsens am 8. November 1858, der bei Edison in Brooklyn beschäftigt war und am 31. März 1896 noch aus St. Louis Mo. schrieb, wird von seiner betagten Mutter herzlich um ein Lebenszeichen gebeten.

461) Am 26. Juni 1896 morgens ist der am 24. September 1876 zu Harburg a. d. Elbe geborene Handlungsgehilfe Friedrich Paul Schulmeister aus dem Geschäft in Hamburg, Grimm Nr. 10, in dem er angestellt war, fortgegangen und nicht wiedergekehrt.

462) Von seinem Vater wird um Nachricht gebeten der Kellner Christian Heinrich Goebel, der am 8. Novemb. 1865 zu Uebach in der Rheinprovinz geboren ist und im Juli 1890 von London aus schrieb.

463) Die Brüder Schlosser Christian Heinrich und Kaufmann Emil Scharmann, ersterer zu Lindenfels im Odenwalde am 6. März 1854, letzterer am 11. Oktob. 1861 zu Rödelheim b. Frankfurt a. M. geboren, werden von ihrem alten Vater gesucht. Der ältere der beiden schrieb zuletzt im Februar 1874 aus New Memphis, Ill., wo er als Maschinist angestellt war.

464) Von seiner Tochter um ein Lebenszeichen gebeten wird August Hermann Polster, der am 13. April 1824 zu Annaburg in Preußen geboren ward und in den vierziger Jahren nach New York übersiedelte.

465) John Ratjens, geb. am 4. Juni 1861 zu Hamburg, ging im Jahre 1879 als Segelmacher auf einem Kauffahrteischiff nach Afrika. Dort ist er heimlich von Bord gegangen und in der Kapstadt zuerst Kellner gewesen. Dann hat er sich mit einem jungen Mädchen aus Deutschland verheiratet und ist nach den Goldfeldern von Barberton gereist, wo er einen Kaufladen für die Kaffern eröffnet hat. Später hat er Frau und Kinder verlassen und soll in Johannesburg und auch in Montevideo auf einem Segelmacherboden gesehen worden sein. Seit 1891 fehlen alle Nachrichten von ihm. Seine alte Mutter würde für jede, auch die schlimmste Mitteilung herzlich dankbar sein.

466) Von seiner Schwester wird um Mitteilung seines Wohnsitzes ersucht der am 6. November 1853 zu Magdeburg geborene Klempner Albert Richard Wilhelm Holtz, der sich im Jahre 1878 in Sydney aufhielt.

467) Die Brüder Richard Wilhelm Neidholdt, geb. 20. Dezbr. 1852 zu Weißenfels a. d. S., von Beruf Weinhändler, und Friedrich Wilhelm Traugott Neidholdt, geb. am 12. Jan. 1859 zu Leipzig, seines Zeichens Restaurateur, werden um Angabe ihrer Adressen gebeten. Richard soll sich bis zum Jahre 1895 in Chicago ausgehalten haben.

468) Vor etwa 4 Jahren wanderte der am 4. März 1864 zu Neuhammer in Böhmen geborene Instrumentenmacher Josef Köhler nach der Neuen Welt aus und im Februar 1895 schrieb er noch aus New York. Seitdem ist er verschollen.

469) Von seinen Schwestern wird um Nachricht ersucht der Kaufmann Gustav Robert Börner, der am 30. Juni 1851 zu Roßwein in Sachsen geboren ist und im Jahre 1882 in St. Louis in Nordamerika wohnte.

470) Ferdinand Bock, geb. im September 1847 zu Breitenbach, Kreis Worbis in Preußen, der 1883 zu Manistee in den Vereinigten Staaten als Handelsmann lebte, wird von seinem Bruder herzlich gebeten, wieder etwas von sich hören zu lassen.

471) Im Jahre 1875 wanderte Henr. Rosalie Wilhelmine Löschner geb. Günther aus Satzung in Sachsen, wo sie am 6. Sept. 1842 geboren ward, nach Amerika aus. Eine Nachricht aus dem Jahre 1881, nach welcher sie sich im Staate Illinois niedergelassen hatte, ist bis heute die letzte geblieben.

472) Von seinem Bruder wird um Angabe seines Aufenthaltsortes gebeten Albin Rudolf Stüber, der am 16. Dezember 1869 zu Plauen i. Vogtl. geboren ist und im Jahre 1896 in einer Bierbrauerei zu Monterey in Mexiko thätig war. Stüber soll sich von da nach Chihuahua gewandt haben.

473) Von der Schwester wird sehnlichst um ein Lebenszeichen gebeten der Küfer Johann Paul Maibach, der von London, wo er am 6. März 1848 geboren ward, nach Chicago auswanderte und von dem seit etwa 18 Jahren alle Nachrichten ausgeblieben sind.

474) „Gebe Gott, daß unsere Sehnsucht nach unserem Sohne gestillt wird!“ Mit diesem Schmerzensruf wendet sich ein hochbetagtes Elternpaar an die „Gartenlaube“, auf die es seine letzte Hoffnung setzt, und bittet innig, ihm zur Auffindung seines Kindes, des Steuerbeamten Paul Ferdinand Michael Heinrich, behilflich zu sein. Heinrich ward am 12. Febr. 1862 zu Garby in Posen geboren und ging im Januar 1888 nach New York, um dort sein Glück zu versuchen.

475) Ernst Vahl, geb. 22. März 1856 in Berlin, der im Jahre 1884 in Port of Spain (Insel Trinidad) ein Uhrengeschäft betrieb und in den neunziger Jahren zu Buffalo und Rochester im Staate New York als Uhrmacher und Juwelier etabliert war, ist seit 1894 verschollen.

476) Im Jahre 1892 verließ der am 16. Juni 1868 zu Buckau bei Magdeburg geborene Handschuhmacher Hans Karl Rieger Petersburg und gab im selben Jahre aus Breslau die letzte Nachricht.

477) Von seinem tiefbekümmerten Vater wird gesucht der am 4. November 1860 zu Nerkewitz bei Apolda geborene Landwirt August Reinhold Julius Wohlgezogen, der noch im Jahre 1886 zu Aachen gesehen worden sein soll.

478) Von seinem einzigen Sohn wird herzlich um Angabe seines Wohnortes gebeten der Konditor Bernhard Schier, der am 2. Oktbr.

Siegestrophäen.
Nach dem Gemälde von C. Wiederhold.

[892] 1845 zu Bad Nauheim geboren ist und etwa im Jahre 1883 nach Amerika auswanderte.

Rettung Schiffbrüchiger. (Zu dem Bilde S. 872 und 873.) Die „Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ – wer kennt sie nicht in ihrem segensreichen Wirken! Es ist das „Lied vom braven Mann“ in die Wirklichkeit übersetzt. Brave Leute sind es, die in Wetter und Sturm hinausgehen, Leben zu retten, das brüllender Tod schon umklammert hielt. Das sind die Männer, welche die Rettungsboote in den heulenden Sturm hinausrudern und durch Klippen und wütende See gestrandetes Volk von Bord gescheiterter Schiffe holen und an das sichere Land bringen. – Es war nicht immer so! Einige Jahrhunderte vor Christus schrieben die Leute von Rhodus in ihr Gesetz, daß alles, was von gestrandetem Gut antriebe, dem gehören solle, der es fände. Und es ist noch nicht ganze hundert Jahre her, daß in den Kirchen längs der Nordsee und auf den Inseln von den Kanzeln am Sonntag um einen „gesegneten Strand“ gebetet wurde.

Unsere deutsche „Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ hat seit ihrer Gründung im Jahre 1865 an den Küsten der Ostsee etwa 80 und an denen der Nordsee 70 Stationen gegründet, von denen für die gestrandeten Schiffe Hilfe gebracht werden kann, und dadurch bis jetzt an 2400 Menschen das Leben gerettet, die sonst sicherem Tode verfallen gewesen wären.

Diese Rettungsstationen sind entweder mit Rettungsbooten oder mit einem Raketenapparat, oder mit beiden ausgerüstet. Ueber den Bau des besten, nicht volllaufenden und in der Brandung nicht kenternden Rettungsbootes ist viel nachgedacht worden. Korkgürtel außenbords, Korkplatten unter den Ruderbänken, hohle, wasserdichte Abteilungen binnenbords, Ventile, die das übergenommene Wasser schnell ausströmen lassen, eiserner Kiel und dergl. mehr sollen helfen, das Ideal eines solchen Bootes zu verwirklichen. Und als man dachte, nun hätte man es endlich gefunden, da kenterte ein derartiges vollkommenes Fahrzeug an der englischen Küste im Dezember 1849 mit 24 Lotsen an Bord, die alle ertranken. In neuerer Zeit hat wohl das Peakeboot am meisten Eingang gefunden, das, wenn gekentert, in fünf Sekunden sich wieder aufrichten soll und durch Bodenklappen sich in fünfundfünfzig Sekunden von allem Wasser entleert, das überkommt. – Die Rettungsboote sind an den Stationen in Schuppen gelagert auf einem Wagen, der von sechs oder acht Pferden soweit in die Brandung hinausgefahren wird, daß das Boot bemannt und flott gemacht werden kann.

Mittels der Raketenapparate wird bis auf 400 Meter Entfernung durch eine Art Geschütz eine am Stab der Rakete befestigte dünne Leine über die Takelage des nicht zu fern von der Küste gescheiterten Schiffes geworfen. An ihr wird ein starkes Seil von den Gestrandeten eingeholt, das in der Saling (Mastkorb) oder am Stumpf eines Mastes haltbar verknotet und drüben an Land fest verankert wird. Dasselbe läßt den Rettungskorb oder die Hosenboje – so genannt, weil der Schiffbrüchige in sie hineinsteigt wie in eine Badehose – auf einer Rolle hin- und herwandern. In dieser Weise wurde Ende Oktober 1884 die gesamte Mannschaft unserer Brigg „Undine“ an der jütischen Küste in der Jammerbucht bei 14stündiger Arbeit der braven Rettungsmannschaft gerettet, die während der Zeit bis an den Leib im eisigen Wasser stand bei heulendem Sturm, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Aber kein einziger verließ seinen Posten. Auf die Rettung jedes der 150 Leute kamen durchschnittlich reichlich zwei Minuten des Holens. „Hoch klingt das Lied vom braven Mann!“

In den Zeitungen steht oft eine ganz unscheinbare Notiz, daß fünf oder acht Stunden zwischen dem Ausgang und der Rückkehr des Rettungsbootes vergingen. Hut ab vor der Männerarbeit, die in den Stunden gethan ward! Heims.     

Neujahrsgruß aus der Gartenlaube.
Nach einer Originalzeichnung von Marie Nestler-Laux.

Die Berner Klause. (Zu dem Bilde S.885.) Etwa achtzehn Kilometer nordwestlich von Verona durchbricht die schäumende Etsch den letzten Riegel, den ihr das Kalkgebirge vorgeschoben hat. Im Laufe von Jahrtausenden haben ihre Wasser die Berner Klause oder Chiusa di Verona, eine enge von senkrechten Felsen eingeschlossene Schlucht, ausgehöhlt. Am Ufer des Stromes zieht sich eine Fahrstraße und das Geleise der Brennerbahn hin, die bei der Station Ceraino in die Klause eintritt. Als einer der natürlichen Zugänge von Tirol nach Norditalien hat dieser Engpaß in früheren Kriegen wiederholt eine bedeutende Rolle gespielt, und noch heute ist er durch Fortanlagen befestigt. In der Berner Klause versuchte im Jahre 1155 eine Schar von Veronesern dem heimkehrenden Heere Kaiser Friedrichs I den Weg zu sperren, wurde aber von Otto von Wittelsbach zur Ergebung gezwungen. In der Nähe von Ceraino erhebt sich auf einer Anhöhe die alte Feste Rivoli. Um ihren Besitz fanden in den Jahren 1796 und 1797 hartnäckige Kämpfe zwischen den Oesterreichern und Franzosen statt, in denen sich Bonaparte, Augereau und Masséna, der spätere Herzog von Rivoli, auszeichneten.

Theetrinker in Ispahan. (Zu dem Bilde S. 889.) Heiß brennt die Mittagssonne nieder auf die Straßen Ispahans. Selbst dem hitzegewohnten Perser wird die Glut unerträglich, und so stockt das Geschäft und der Verkehr ebbet. Fast menschenleer wird sogar die kilometerlange Bazarstraße. Die Frauen sitzen im „Enderun“ oder Harem und die Männer suchen Zuflucht in den Gärten der Stadt, wo im Schatten uralter Bäume oder unter Zeltdächern die schwülen Nachmittagsstunden in anregender Gesellschaft sich beim Glase Thee und einem Pfeifchen erträglich verleben lassen. Da sitzen in den bauschigen Gewändern die Herren Kaufleute und Industriellen mit der hohen Lammfellmütze oder dem leichteren Fes und die würdigen Gottesgelehrten und Aerzte und Drogisten mit beturbanten Häuptern. Flott fließt die Unterhaltung und, wenn auch von den gewöhnlichsten Dingen die Rede ist, die Sprache ist immer gewählt und Citate aus den Gedichten von Firdusi, Saadi oder Hafis schwirren nur so von den Lippen; denn der Perser kennt seine alten Dichter. Er schwelgt auch gerne in Erinnerungen an die einstige Blüte seiner Kultur und die ehemalige Größe des Reiches. Der Ispahaner namentlich gedenkt mit Stolz der Zeiten, da seine Vaterstadt mit 600 000 Einwohnern, prächtigen Palästen und gewaltigen Moscheen eine der bedeutendsten Weltstädte war. Davon zeugt noch der prachtvolle Bau der Medresse, der mohammedanischen Schule, vor dem die Theetrinker auf unserem Bilde sitzen. Sie entstand in der glorreichen Zeit um die Wende des 16. Jahrhunderts, da der große Schach Abbas die Feinde Persiens niedergeworfen und Ispahan zu seiner Residenz gemacht hat. Heute residiert der Schach in Teheran, die königlichen Paläste der „vierzig Säulen“ und der „acht Paradiese“ stehen verlassen, immer größer werden die Trümmerfelder in der Stadt, aber fröhlich bleibt der leichtlebige Perser, verscheucht sich die Daseinssorgen, indem er zum Haschisch, zum betäubenden Hanf, seine Zuflucht nimmt. Dann werden ihm Märchen aus dem „Papageienbuch“ oder dem „Frühling der Weisheit“ zur vollen Wahrheit; dann sehnt er sich nicht nach den Fortschritten der Kultur im fernen Westen. An alter Lust hängend, erträgt er geduldig das uralte Leid – ein echter Orientale. *      

Eine neue Einbanddecke zur „Gartenlaube“. Von der Absicht geleitet, unseren Lesern für den vollständigen Jahrgang ein elegantes, den Anforderungen des heutigen Geschmackes entsprechendes Gewand zu bieten, ließen wir nach der Zeichnung von C. Adams eine neue Einbanddecke anfertigen, von welcher wir nebenstehend eine Abbildung geben. Diese Decke ist von olivengrüner Farbe, in reichem Gold- und Schwarzdruck ausgeführt und dürfte wohl bald von der Mehrzahl unserer Leser mit Vorliebe zum Einband der „Gartenlaube“ gewählt werden. Sie ist durch jede Buchhandlung zu dem billigen Preise von Mark 1,25 zu beziehen. Mit Benutzung derselben ist jeder Buchbinder imstande, zu verhältnismäßig billigem Preise einen soliden und eleganten Einband herzustellen. Auch die frühere Decke kann zum Preise von Mark 1,25 noch bezogen werden.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart.0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[893]
An unsere Leser.

Als ein weithin wirkendes Organ freimütiger Aufklärung, echter Volksbildung und warmer Vaterlandsliebe ist die „Gartenlaube“ seit Jahrzehnten überall, wo die deutsche Zunge klingt, wohlbekannt, von einem nach Millionen zählenden Kreis von Lesern und Leserinnen aller Stände und aller Altersklassen wird sie im deutschen Hause als eine reiche Quelle herzerhebender Unterhaltung und nützlicher Belehrnng Jahr für Jahr willkommen geheißen.

Dieser dauernde Erfolg bestärkt uns in dem Vorsatze, auch im kommenden Jahre auf der altbewährten Bahn fortzuschreiten, bei strengem Festhalten an dem frischen, volkstümlichen Charakter unseres Blattes den neuen Anforderungen und Fortschritten der Zeit nach Kräften gerecht zu werden.

Den neuen Jahrgang werden wir mit dem spannenden Hochlandsroman

„Das Schweigen im Walde“ von Ludwig Ganghofer

eröffnen. Ihm werden sich anschließen:

„Nur ein Mensch.“ Zeitroman von Ida Boy–Ed.
„Fräulein Johanne.“ Novelle von Paul Heyse.
„Galeerensklaven!“ von Hans Arnold.

„Frau Stehles Antipathie“ von H. Villinger.

„König und Abenteurer“ von Rudolf v. Gottschall.

„Ritter Ewald“ von Eva Treu.

„Ausgeglichen“ von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).

„Didiers Braut“ von A. Noël.

„Müthchen.“ Bilder aus dem Kinderleben von Anna Ritter.

Ferner können wir Romane und Erzählungen von W. Heimburg, E. Werner, O. Verbeck, Ernst Eckstein, J. C. Heer, R. Stratz, Sophie Junghans, Adolf Wilbrandt, E. Wichert, Rudolf Lindau, Victor Blüthgen, Marie Bernhard, L. Westkirch, Stefanie Keyser, F. Wilda u. a. in Aussicht stellen.

Aus der reichen Fülle der zur Verfügung stehenden Beiträge auf den Gebieten der populären Darstellung der Wissenschaft und Technik, der Beleuchtung von Zeitereignissen und Schilderung von Land und Leuten heben wir nur folgende hervor:

Schiffszusammenstöße von Viceadmiral a. D. Reinhold Werner. – Schill und seine Offiziere von Rudolf v. Gottschall. – Die Wahrheit und die Legende über die Pariser Bastille von Felix Vogt. – Schlösser und Burgen des Harzes von W. Heimburg. – Die deutschen Achtundvierziger in Amerika von General Sigel. – Riesenfernrohre von Dr. H. J. Klein. – Der Scheintod von Dr. W. A. Nagel. – Ueber den Schwindel von Dr. O. Dornblüth. – Neue Heilbäder von Prof. Dr. E. Heinrich Kisch. – Deutschtum im Thal von Gressoney von Woldemar Kaden. – Eine deutsche Bauernschlacht in Amerika von Rudolf Cronau. – E. Marlitt von Moritz Necker. – Blütentage in Florenz von Isolde Kurz. – Eine Wanderung über die Diavolezza von J. C. Heer. – Die Leuchten unserer Väter von F. Bendt. – Geheimbünde in China von C. Falkenhorst. – Verhängnisvolle Sinnestäuschungen von M. Hagenau.

Die Rubrik der kleinen illustrierten Mitteilungen und Winke für allerlei nützliche Beschäftigungen und Arbeiten im Hause wird sorgfältig weiter gepflegt werden.

Dieser mannigfache Inhalt wird noch durch einen reichen und künstlerisch wertvollen Nilderschmuck gehoben. So dürfen wir denn nicht zweifeln, daß die „Gartenlaube“ auch im kommenden Jahre ihren alten Ehrenplatz im deutschen Hause behaupten wird.

Glückauf zum Neuen Jahre!
Leipzig, im Dezember 1898.
Redaktion und Verlag der „Gartenlaube“.


[894]

(1899)

ZUM NEUEN JAHRE.

Wiederum verging ein Jahr,
Das nicht g’rad’ besonders war.
Diesen war’s ’ne gute Nummer,
Andern bracht’ es Leid und Kummer,

5
Mancher kam und mancher ging.

Gute Stunden – böse Stunden,
Herzen haben sich gefunden –
Sich getrennt, die einst verbunden,
Klein ward groß, und Groß gering.

10
Und wir steh’n und sinnen nun:

Was mag in der Zukunft ruhn?
Und es fragen Feind und Freund sich:
Achtzehnhundertneunundneunzig,
Wird es ein vergnügtes Jahr?

15
Wird es sich zum besten wenden,

Wird’s mit nimmer leeren Händen
Allen Glück und Segen spenden?
Oder bleibt es, wie es war?

Allen, wünsch’ ich, sei vom Glück

20
Zugedacht ein gutes Stück,

Was sie hoffen, soll’n sie schauen!
Und den Männern wie den Frauen
Sei das Jahr voll Sonnenschein!
Immer soll die Tugend siegen

25
Und das Laster unterliegen!

Die sich lieben, soll’n sich kriegen,
Die sich kriegen, glücklich sein!

Gerst’ und Hopfen, Korn und Wein,
Obst und alles soll’n gedeihn!

30
Alles soll von Segen schauern,

Und nicht nur die dümmsten Bauern
Mächtige Kartoffeln bau’n.
Selbst in Schlesien und Sachsen
Soll ein gutes Weinchen wachsen,

35
Wimmeln jeder Fluß von Lachsen,

Groß und dick und fett zu schau’n!

Dieses Jahr sei, hoch beglückt,
Mit dem Palmenzweig geschmückt!
In den Hütten, auf den Thronen

40
Soll die holde Eintracht wohnen,

Friede unter jedem Dach.
Russen, Deutsche und Franzosen
Sollen miteinander kosen,
Lämmern gleich, die unter Rosen

45
Weiden an dem Silberbach.


Mit so vielgestalt’gem Wunsch
Trink’ ich den Sylvesterpunsch!
Und ich könnt’ mein Füllhorn rütteln
Und noch weiter Wünsche schütteln,

50
Denn das kostet ja kein Geld.

Doch was nutzt es: Lust und Plage,
Leid und Wonne, Freud’ und Klage,
Gute Tage, böse Tage
Bleiben doch der Lauf der Welt!
 Heinrich Seidel.

[894 a] 0


Allerlei Winke für jung und alt.

Abreißkalender auf Seidenstoff.

Abreißkalender auf Seidenstoff. Ein recht eigenartiger Effekt läßt sich durch Verwendung eines sehr leuchtend roten Seidenstoffes als Grund der Malerei erzielen; die Farbe ist so zu wählen, daß die Blumen – römische Anemonen – in dem Ton der Seide einfach stehen bleiben und nur die blauschwarzen Staubfäden und der weiße Ring um dieselben mit Aquarellfarben aufgemalt werden. Denselben roten Grundton läßt man als feine Kontur um alle Formen stehen; die Blätter sind in fein graugrünem Ton, gut deckend, aufzumalen. Den Grund füllt man mit einem tiefen Violettrot, und Linien derselben Farbe zieht man über den äußeren Rand, um ihn dunkler zu tönen. Der Kalenderblock ist mit einem seidenüberzogenen Kärtchen zu überkleben, die Seide spannt man am besten vor dem Malen schon auf die feste Kartonunterlage und verklebt diese rückwärts mit Brokatpapier. Zwei Ringe oben und eine Goldschnur ergeben die Befestigung. J.     

Wandkalender auf einer Glasplatte. Die ganze Platte ist zierlich übersponnen von den Zweigen der Mistel – olivengrün mit gelblich weißen Beeren. Wie immer sind eigene Studien nach der natürlichen Pflanze dringend zu empfehlen. Der Grund ist golden, der mit Fischleim aufgeklebte Kalenderblock durch ein Kärtchen aus Holzpappe gedeckt; darauf kommt die Jahreszahl, ein Wunsch oder Spruch; eine olivengrüne Bandschleife, durch das oben eingebohrte Loch gezogen, dient zum Aufhängen.

Wandkalender auf einer Glasplatte.

Die Ränder faßt man mit Band ein, nach Art der bekannten Kästchen aus Glastafeln. Die Malerei wird auf der Rückseite angebracht: erst mit dem Pinsel die Formen fein konturieren, ausmalen mit Oelfarbe und gut trocknen lassen, dann mit Siccativ den ganzen Grund ebenfalls von rückwärts betupfen und mit einem in Mull gewickelten Wattebausch das nicht zu helle Bronzepulver daraufstäuben – ganz gleichmäßig oder etwas wolkig. Die Wirkung von Olive und Creme auf Gold ist besonders fein.

Feuerzeugbehälter zum Aufhängen.

Feuerzeugbehälter zum Aufhängen. Für das Streichholzkästchen, welches bekanntlich zu den eines festen Platzes sehr bedürftigen Gegenständen gehört, läßt ein hübsch aussehendes Behältnis sich auf folgende Weise herstellen. Man kauft in einem Holzwarengeschäft oder beim Schreiner ein aus einfachem weißen Holz gefertigtes, oben offenes Kästchen mit etwa 18 cm langer Rückwand; dies verziert man entweder mit Brandmalerei oder bestreicht es mit farbigem Lack, auf den mit Oelfarbe ein leichtes Blumenmuster entworfen wird. Ebensogut kann man sich auch die einzelnen Teile des Kästchens, Vorderteil, Boden, zwei Seitenteile und Rückwand, aus Pappdeckel schneiden, sie zusammenfügen und mit Leder überkleben, zu dessen Ausschmückung Lederbrand oder Lederschnitt dient. Aufgehängt wird das Wandkästchen in beiden Fällen mittels einer rückwärts angenagelten oder angenähten Seidenbandschlinge.

Pompadour in Kleeblattform.

Pompadour in Kleeblattform. Nun erscheint auch der uns unentbehrlich gewordene Pompadour als glückbringendes Kleeblatt. Diese Form verlangt, um die Aehnlichkeit besser hervorzubringen, grünes Futter (Atlas, Seide), während als Oberstoff bräunliches Tuch oder Leder sehr hübsch aussieht. Nach der kleinen Schnittübersicht fertigt man sich zunächst einen Naturgrößen Schnitt und schneidet nach diesem Oberstoff und Futter ganz gleich, je in zwei Hälften, zu. Bon 8 abwärts sind die Seitennahte auszuführen, jedoch mit Berücksichtigung des später zwischen 8 und 12 anzubringenden Zugsaumes. Längs der oberen gerundeten Blattformen müssen Oberstoff und Futter verstürzt miteinander verbunden werden. Durch den Zugsaum ist für den Schluß Schnur oder Band in Farbe des Oberstoffs mit Gegenzug zu leiten.

Sohlen aus Bindfaden für Hausschuhe. Wer an kalten Füßen leidet, trägt zu Hause gern wollene, gestrickte oder gehäkelte Schuhe und empfindet dabei als Unannehmlichkeit, daß die Filzsohlen daran gewöhnlich dünn sind und sich rasch durchtreten, auf jeden Fall aber Feuchtigkeit durchlassen.

Um dem vorzubeugen, haben wir uns Sohlen aus Bindfaden hergestellt, die mit Eisenlack bestrichen fast so hart und ebenso dauerhaft, nur wärmer sind als Ledersohlen. Die Arbeit ist nicht sehr mühsam und ihrer großen Haltbarkeit wegen sehr lohnend.

Man schneidet aus dünnem Pappdeckel genau die gewünschte Sohlenform, beschafft sich Bindfaden, guten Leinenfaden zum Aufnähen und eine kurze ziemlich dicke Nähnadel.

Von Bindfaden Nr. 3 flicht man einen vierfachen Zopf und näht diesen, genau der Form der Sohle nachgehend und außen beginnend, mit Leinenfäden fest. Man sticht den Zopf so an, daß der Bindfaden von seitwärts gefaßt und das Annähen nicht sichtbar wird, weil der Faden sich sonst zu rasch abnutzen würde.

Man näht eine Reihe von dem Zöpfchen ganz dicht an die andere und fährt damit so lange fort, bis die ganze Soble damit überzogen ist.

Nun wird die Sohle auf der Filzsohle befestigt oder, wenn sie als einzige dienen soll, eine warme Einlegsohle mit Wiener Papp dagegen geklebt und dann an den Schuh befestigt. Will man die Sohle völlig wasserdicht machen, so streicht man sie vor dem Gebrauch zweimal mit Eisenlack. Zwischen dem ersten und zweiten Streichen läßt man sie einige Tage trocknen.


–– Hauswirtschaftliches. ––

Vom Verwenden. Eine Anfrage aus unserem Leserinnenkreise veranlaßt uns heute, auf dieses für das Hauswesen so wichtige Kapitel einzugehen. Kluge Verwendung spart manchen neuen Ankauf und vermindert den vielen „Kram“ in Spinden und Schubladen. Wie vielerlei läßt sich nicht aus alten Resten und Flicken herstellen! Hausschuhe, Herdangreifer, Ueberzug für den durchgebrannten Griff des Bügeleisens aus den kleinen Tuchlappen, Höschen für die jüngsten Herren aus Papas langen Rockschößen, die noch brauchbar sind. Kinderkleidchen und Schürzen ergeben sich aus Resten von Wollstoff, Pompadourbeutel, kleine Deckchen, leichte Strandmützen aus ebensolchen von buntem Seidenzeug, ganz abgesehen von den vielen Applikationnn und Mosaikarbeiten in Seide und Sammet, die auch das kleinste Fleckchen zu verwenden gestatten. Allerdings muß man sich für solche eigene Kartons halten, ebenso für Spitzenreste, die ja bei der heutigen Mode als kostbares Material für Applikationen auf Kleider, Hüte und Blusen dienen. Was aber fängt man mit unmodern gewordenen Waschkleidern an? Wenn sie hellblau, rosa etc. gemustert sind, können sie als Nachthemdchen für Kinder vortrefflich dienen; ist das Muster hierfür nicht passend, so läßt sich aus dem Rock sehr wohl eine hübsche Morgenjacke schneidern, deren Aermel man der Taille entnimmt. Garnitur von getragenen, neu gewaschenen Spitzen und Bändern giebt der Jacke ein hübsches Aussehen. Aus noch guten einfarbigen Wollröcken verfertigt man mit passender Garnitur von Volants etc. Winterunterröcke. Die abgetrennten Bezüge von Diwans etc. geben entweder Fensterdecken, wenn sie noch anständig in der Farbe und durch Aufnähen von Litzen und Wolle zu verzieren sind, oder in abgeschossenem Zustand ein schätzbares Verdichtungsmaterial für Balkonthüren im Winter, für Rollen zwischen Fenster und Vorfenster. Hoffnungslos zerrissene alte Leintücher haben immer noch vier gute Eckteile, die zu Staubtüchern geschnitten und eingesäumt werden können; kurz, es giebt nicht leicht einen Stoffrest, aus dem nicht ein kluger Kopf und eine geschickte Hand noch irgend etwas Brauchbares machen könnte. Was dennoch direkt nicht mehr verwendbar ist, das sammle man und schneide es, wenn genügend Vorrat vorhanden, in Streifen von 2 bis 3 cm Breite, deren Enden nur mit ein paar Stichen flach aufeinander genäht werden. Man wickelt je 10 m auf einen Knäuel und schickt diese an die Teppichweberei von A. Nietzer, Bopfingen, Württemberg, wo aus diesen Streifen recht hübsche, haltbare Läufer für Gang und Vorplatz gegen geringe Vergütung gewebt werden. 25 Knäuel zu je 10 m ergeben etwa einen Quadratmeter Teppich.

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Allerlei Kurzweil.


Auflösung des Umstellrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 27.
Omdurman. – 1. Stolp. 2. Roman, 3. Midas, 4. Aluta, 5. Meran, 6. Pamir, 7. Stade, 8. Linde.


Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 27.
Vorhang, Vorwand.


Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 27.
L – es – er.



[ Es folgt - hier nicht dargestellte - Produktwerbung für den amerikanischen Markt und Werbung für Bücher des Ernst Keil-schen Verlags.]




Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.