Die Gartenlaube (1898)/Heft 24
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Theodor Gsell-Fels †. Am 12. Oktober ist in München der in weitesten Kreisen wohlbekannte Reiseschriftsteller Dr. Theodor Gsell-Fels gestorben. Er war am 14. März 1818 in St. Gallen geboren, stand somit im 81. Lebensjahre. In seiner Jugend hat er sich eine umfaßende Bildung angeeignet. Zuerst studierte er in Basel Theologie und Philologie, dann in Berlin Philosophie und Kunstgeschichte. In den Jahren 1845 bis 1848 widmete er sich in Paris dem Studium der Naturwissenschaften und Medizin. Hierauf bekleidete er einige Jahre in seiner Heimat die Stelle eines Staatsarchivars und vollendete im Jahre 1856 seine medizinischen Studien. Nun wirkte er als Arzt in St. Gallen, Nizza und Zürich; in letzterer Stadt war er einige Jahre Docent der Anthropologie und Ethnographie.
Gsell-Fels war vom Wandertrieb beseelt; schon in seiner Jugend hatte er eine Fußreise angetreten, die ihn durch ganz Italien führte. 1867 ging er nach Rom, von wo aus er während einiger Jahre Italien und die angrenzenden Länder bereiste. Hier sammelte er die Kenntnisse, die ihn in stand setzten, seine vorzüglichen Reisehandbücher über Italien, Sizilien, Korsika, Algier und Südfrankreich zu schreiben. Im Jahre 1870 ließ er sich in Basel nieder, wo er Schulinspektor ward und kunstgeschichtliche Vorträge hielt; im Jahre 1880 siedelte er nach München über. Aus seiner Feder erschienen außer den Reisehandbüchern noch die Bände „Die Bäder und klimatischen Kurorte der Schweiz“ und „Die Bäder und klimatischen Kurorte Deutschlands“. Zu den illustrierten Werken „Venedig“ und „Die Schweiz“ schrieb er die anziehenden Texte.
Schwankende Kirchtürme. Nachdem schon seit längerer Zeit durch sorgfältige Messungen festgestellt war, daß alle höheren Fabrikschornsteine, in ihrem Verhältnis zum Winde betrachtet, keineswegs feste, starre Körper, sondern vielmehr elastische, pendelnde Säulen vorstellen, wurden diese Messungen neuerdings auch auf die Kirchtürme ausgedehnt. Nach sorgfältigen, in Zürich ausgeführten Beobachtungen sind auch die Kirchtürme elastisch, aber was sie in regelmäßige Schwingungen versetzt, ist, wenigstens den bisherigen Messungen nach, nicht der Wind, sondern es sind die schweren, hoch in den Türmen aufgehängten Massen der Glocken.
Ein 40 m hoher Kirchturm mit fünf Glocken, die zwischen 425 und 3430 kg wiegen, war der erste Gegenstand der Untersuchung. Es stellte sich bei der genauen Beobachtung der Turmspitze heraus, daß dieselbe durch das Anstimmen des Geläutes alsbald in eine ellipsenförmige Rotation versetzt wurde, die, wenn auch nur nach Millimetern zählend, doch recht gut wahrgenommen werden konnte und ebenso regelmäßige Perioden aufwies wie die Bewegung der Glocken selbst. Am auffälligsten war dabei, daß nicht die größten und schwersten Glocken die stärksten Schwingungen verursachten, sondern die kleineren und schneller bewegten. Das Geläut einer Glocke von 705 kg Gewicht versetzte die Turmspitze in ovale Schwingungen von 3,6 mm Länge und 2,4 mm Breite, deren man 53 in der Minute zählte. Beim Zusammenläuten mehrerer Glocken störten und verwischten sich die Schwingungen zum Teil, nahmen aber an Zahl zu. Wenn das ganze Geläut in Bewegung gesetzt wurde, wobei die kleinste Glocke 57, die größte 43 Schwingungen machte, beschrieb der Turm in der Minute 160 Ellipsen, deren große Achse fast 6, die kleinere 4½ mm betrug.Elektrische Bahnen in Europa. Nach dem Stande vom 1. Januar 1898 besitzt Europa 204 elektrisch betriebene Bahnlinien. Ihre Gesamtlänge beträgt 2289,4 Kilometer; der Betrieb wird mit 4514 Motorwagen ausgeführt. Sowohl nach der Zahl der Linien, als auch nach deren Länge und der Zahl der Betriebswagen steht Deutschland obenan. So haben wir 65 Bahnlinien, Frankreich hat deren nur 44, Großbritannien 24, die Schweiz 23, Italien 11, Oesterreich-Ungarn 13 etc. Die Länge der Bahnlinien beträgt in Deutschland 1138,2 Kilometer, in Frankreich 396,8, in Großbritannien 157,2, in der Schweiz 146,2, in Italien 132,7, in Oesterreich-Ungarn 106,5 Kilometer. An Motorwagen stehen uns nicht weniger als 2493 Stück zur Verfügung, während Frankreich deren nur 664, Großbritannien nur 252 aufzuweisen hat. Was die Betriebsart anbelangt, so herrscht die oberirdische Stromzuführung vor. 172 Anlagen bedienen sich ihrer allein. 8 Anlagen haben unterirdische Stromzuführung, 8 weitere Betrieb mit Mittelschiene, 13 Anlagen benutzen ausschließlich Accumulatoren, und 3 Anlagen haben gemischten Betrieb teils mit Accumulatoren, teils mit Oberleitung.
Silicine-Glasmalerei ohne Einbrennen der Farben. Eine der herrlichsten und ältesten Kunstarbeiten ist die Glasmalerei, und es wurden daher im Laufe der Zeit vielfache Versuche unternommen, um diese Kunstarbeit auch den Liebhaberkünstlern zugänglich zu machen. Aber alle Versuche waren ohne wesentlichen Wert, die Erfolge befriedigten in keiner Weise und man gelangte höchstens zur Ausführung kleinerer Fensterbilder, die jedoch ebenfalls nicht recht befriedigten, insofern mit der Zeit die Farben entweder bleichten oder wohl gar absprangen und rissen. Das Problem lag in der Zusammensetzung einer geeigneten Farbe – ohne Zweifel ist dieses Problem durch die Erfindung der Silicine-Glasfarben nunmehr gelöst. Das echte, wahre Kunstgewerbe freilich wird sich überhaupt nicht mit Imitation befassen und darum der Silicine-Glasmalerei auch wenig Geschmack abgewinnen, aber dennoch dürfte die neue Erfindung weitere Kreise befriedigen! Für viele erschließt sich durch sie ein ganz neues, angenehmes Erwerbsgebiet, denn was vordem enorm teure, echte, eingebrannte Glasmalereien einerseits und billige Diaphanien oder Buntglasmosaiken anderseits besorgen mußten: eine wirksame Dekoration von Fenstern in Wohnräumen, Treppenhäusern, Badezimmern, Veranden etc., das wird und kann nun ersetzt werden durch echte Handmalerei, deren künstlerischer Wert durch wohlfeile Preise sich ergänzt und dadurch der allgemeinen Einführung nur förderlich ist. Aber auch zahlreiche Liebhaberkünstler werden die Erfindung der Silicine-Glasfarben mit Freuden begrüßen und sich gern selbst auch auf dem Gebiete farbigen Fensterschmuckes bethätigen. Die neuen, vom akademischen Maler Keilitz erfundenen Silicine-Glasfarben entsprechen bezüglich ihrer Leuchtkraft und Klarheit den Schmelzglasfarben, sie besitzen viel erprobte Widerstandsfähigkeit gegen verschiedene Einflüsse, wie Luft, Licht, nasse Reinigung, gehen leicht aus dem Pinsel, haften fest und dauernd auf dem Glase und bieten auch in den kleinsten Flächen deutliche, sichere Töne, wodurch sie sich auch zum Ausmalen photographischer Fensterbilder vorzüglich eignen. Sehr interessant ist die Arbeitsweise mit den Silicine-Farben. Man legt die Zeichnung – der Erfinder hat zugleich zahlreiche Vorlagen für alle möglichen Zwecke entworfen – unter die gut gereinigte Glastafel, zeichnet alle Linien mit schwarzer Konturfarbe nach, füllt die in Doppellinien markierten Bleifassungen mit Bleipasta aus und malt danach alle Zwischenräume mit den jeweils erforderlichen Farben oder den durch Mischung, beziehungsweise Verdünnung erzielten Farbennuancen aus. Zuletzt werden etwaige ornamentale Innenmuster mit Schattierfarbe in Strichlagen schattiert und bei komplizierten Mustern auch wohl einzelne Figuren noch radiert. Damit ist die schöne, durchaus den echten Glasmalereien täuschend ähnliche Arbeit fertig. Es bedarf keines Einbrennens der Farben, keines Lacküberzuges oder sonstigen Schutzmittels, wie etwa einer zweiten Glastafel etc. Die Farben befinden sich in kompletten, auch mit Vorlagen ausgestatteten Arbeitskästen, deren Vertrieb die „Geschäftsstelle des Hausfleiß“ in Leipzig-Oetzsch übernommen hat.
Metallmatratze mit elastischer Kante. Seit einer Reihe von Jahren sind in der Bettausstattung wesentliche Fortschritte erzielt worden. Unter anderen haben sich an Stelle der alten schwer handlichen und schwierig zu reinigenden gepolsterten Sprungfedermatratzen die sogenannten Metallmatratzen mehr und mehr eingebürgert. Der elastische Rost und die eigentliche Matratze sind bei ihnen getrennt, so daß man sie in bequemster Weise reinigen kann. Während aber die alten Sprungfedermatratzen auf ihrer gesamten Fläche elastisch sind, ist dies bei den neuen Rösten nicht der Fall. Das Metallnetz ist ringsum unmittelbar auf dem vierseitigen Holzrahmen befestigt, was zur Folge hat, daß nur das Mittelteil der Matratze wirklich elastisch ist, dagegen die Längsseiten eine harte Holzkante bilden. Dieser Uebelstand ist bei einer neuen Metallmatratze behoben worden, die unter dem Namen „Schlafe patent“ von der Möbelfabrik R. Jäkel, Berlin SW., in den Handel gebracht wird.
Bei dem neuen System hat der Rahmen einen vertieften Ausschnitt und das Metallnetz wird durch besonders angeordnete Stahlfedern getragen. Infolgedessen ist die Matratze in ihrer ganzen Breite bis zur äußersten Kante elastisch.
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Halbheft 24. | 1898. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Montblanc.
(3. Fortsetzung.)
Auf dem schräg abfallenden Außenmarkte von Tanger zwischen dem oberen Stadtthor und dem hochgelegenen Hotel herrschte jetzt im Abenddämmern das ganze Jahrmarktstreiben des Donnerstags. Die Feuerfresser und Zauberkünstler heulten, die dumpfe Pauke der Schlangenbändiger klang dazwischen, in dem elektrischen Licht, das von der deutschen Gesandtschaft her bis hinauf zu den letzten Häusern flammte, tanzten in einem Ring von Zuschauern die weißflatternden Mäntel der Schaukämpfer in tollen Sprüngen auf und nieder, knieten die Kamelkarawenen stumpfsinnig im Schlamm und schoben sich zwischen den zu Hunderten gefesselt dastehenden jungen Stieren die weißen, tiefverschleierten Gestalten der Araberinnen behende zu dem seitlichen Gewimmel des Fisch- und Gemüsemarktes.
Auch in dem burgartig hoch und frei gelegenen Hotel war ungewohnt geräuschvolles Leben. Cook und Sohn hielten ihren Einzug. In ganzen Haufen türmten sich, von den maurischen Lastträgern aus dem Hafen herbeigeschleppt, die Gepäckstücke mit den angehängten Pappnummern, suchend und spähend wandelte Albion in jeder Erscheinungsform zwischen ihnen auf und ab und an drei Orten zugleich, in sieben Sprachen mit aller Welt verhandelnd, waltete der Impresario, ein breitschulteriger, energischer Italiener, seines Amtes.
Nur Deutsch verstand er nicht und entschlüpfte behend den Klagen eines älteren, hageren und straffen Herrn, dessen an sich schon rötliches Gesicht mit dem grauen Schnauzbart nun infolge des Zornes beinahe purpurfarben erschien. Da ihm der Leiter der Herde entgangen war, wandte er seinen vollen Grimm wieder dem ersten Opfer, einem maurischen Träger, zu.
„Du Jauner!“ stöhnte er atemlos. „Kerl … wo haste mein Jepäck? Der Teufel soll dich lotweise frikassieren, wenn du es nicht auf der Stelle beischaffst!“
Der Maure verstand kein Wort. Aber um sich der Situation gewachsen zu zeigen, raffte er seinen ganzen aus vier Worten bestehenden deutschen Sprachschatz zusammen.
„Gutten Tag, mein ’Err!“ verkündete er verbindlich, und ein Lächeln erschien auf seinem schwermütigen Gesicht.
„Ich jlaube, der Kerl macht sich noch über mich lustig. Das ist ein jemeinjefährliches Individuum! Wo mein Jepäck ist, will ich wissen! Hast du’s heraufjeschleppt oder ein anderer von euch Halunken?“
„Gutten Tag, mein ’Err!“ bestätigte der Maure lächelnd.
„Mein Jepäck … “ Der alte Herr schnappte, kirschrot im Gesicht, nach Luft und wies auf die herumstehenden Koffer.
„Oh, Sir want luggage?“ triumphierte der braune Geselle, der jetzt begriffen hatte. „Luggage is coming, Sir!“
„Ich verstehe kein Englisch, du Hundesohn!“ Der zornige Tourist ließ die Augen im Kreise rollen. „Mein Jepäck will ich!“
„Yes, Sir! Luggage is coming just now from the port!“
„Yes, Sir! Yes, Sir! Was soll mir das? Verrückt werde ich noch in diesem Land!“
[742] „Er sagt, daß Ihr Gepäck unterwegs ist, Herr Major!“ tönte die tiefe Stimme einer die Terrasse heraufsteigenden schwarzgekleideten Dame, und zu dem Wirte gewendet fuhr sie in fließendem Französisch fort: „Haben Sie Ihr Versprechen gehalten und Zimmer für mich und meine Schwestern reserviert? Ja! Nun, dann ist’s ja gut! Einen Augenblick, Herr Major!“ sie verfiel wieder in Deutsch. „Ich will nur den Soldaten ihren Bakschisch geben!“ Sie winkte die beiden weißbärtigen Turbanträger heran und reichte jedem ein Fünf-Peseta-Stück. „Verdient habt ihr’s eigentlich nicht!“ erklärte sie dabei stirnrunzelnd in spanischer Sprache, welche die beiden alten Kerle einigermaßen radebrechten, und entließ die Stirn und Brust zum Dank berührende und ein „molto gracias“ kauderwelschende bewaffnete Macht.
Der Major sah sie staunend und bewundernd an. „Wieviel Sprachen verstehen Sie eigentlich?“
„Ach … wenn man so viel in der Welt herumgekommen ist wie ich!“ Die Gouvernante schüttelte ihm zum Willkommen die Hand. „Und wie ist es Ihnen ergangen seit San Sebastian?“
„Fragen Sie nicht!“ Der grauköpfige Herr sank, nachdem er auch Klara und Hilda begrüßt, auf einen Koffer nieder. „Es ist furchtbar! Nie wieder! Solch’ eine Cooksche Rundreise sollte man als Strafverschärfung für Vatermörder einführen! Ich bin froh, wenn ich ohne einen Anfall von Tobsucht nach Deutschland zurückkomme!“
„Ja, warum brechen Sie denn die Reise nicht ab!“
„Ich hab’ ja vorausbezahlt!“ Er starrte vor sich hin und der Zorn rötete wieder sein Gesicht. „Mein schönes Geld … und wofür? Ebensogut könnte man von den Heringen Eintrittsgeld erheben, ehe man sie in die Tonne verpackt und auf die Eisenbahn giebt. So rolle ich seit vier Wochen durch die Länder. Kein Mensch, nein, ein Frachtstück, das beliebig oft ein- und ausgeladen wird, wie es dieser breitschulterige Lümmel da, der italienische Impresario, angiebt. Der reine Rundreisekoffer! Ich wundere mich nicht, wenn sie mir an der Grenze den Leib aufknöpfen und meine Eingeweide durchsuchen. Und dieses Reisen in Spanien … meine lieben, guten Fräulein …. Sie haben das nicht so durchgemacht …“
„Wir waren auch in Granada, Cordova und …“ begann die Gouvernante. Aber der alte Herr war jetzt im Zug.
„Diese Eisenbahnen!“ wiederholte er, und ein wildes, bitteres Lächeln spielte unter seinem eisgrauen Schnauzbart. „Sie sind ja immer nur mit dem Expreßzug gefahren? Nicht wahr? Nun eben! Von dem Expreßzug kann man sagen wie der olle Galilei: ,Und er bewegt sich doch!‘ Langsam, aber sicher! Allerdings eingepfercht … na, Sie wissen ja, was die Spanier alles an Handgepäck mitnehmen … ich habe jeden Augenblick erwartet, daß sie auch noch einen lebenden Kampfstier, einen Palmbaum oder ein Pianino in dem Gepäcknetz verstauen … Aber sonst alles … alles, von der Sprungfedermatratze bis zur Schwiegermutter, vom Säugling bis zur Badewanne, alles muß mit auf die Reise!“
„Schließlich kommt man doch an!“ sagte die Gouvernante.
„Mit dem Schnellzug, ja! Aber steigen Sie mal in den gewöhnlichen Zug. Sie sitzen und warten, Stunde um Stunde. Er geht nicht fort. Allenfalls zuweilen so ein schwaches krampfhaftes Zittern und ein heiserer Pfiff. Es wird Abend. Es wird Morgen und wenn Sie zum Fenster hinaussehen, stehen noch dieselben Bettler und Krüppel und Gassenbengel draußen wie gestern und Sie haben höchstens zwei, drei Schritte Terrain gewonnen und merken: das ist keine Eisenbahn, sondern ein Asyl für Obdachlose, die es sich da mit Kind und Kegel und allem Hausrat in den Coupés für den Sommer bequem machen!“
„Wenn das schon die gewöhnlichen Züge sind,“ sagte die Gouvernante, „dann möchte ich wohl erst die gemischten sehen!“
„Die andalusischen Bummelzüge?“ Der alte Herr schrie auf und zog die Augenbrauen hoch. „Die stehen allerdings nicht still. Sie gehen unaufhaltsam rückwärts, wie es ja gar nicht anders sein kann. Und was ist das erst gegen die Provinz Murcia? Dort sollen ganze Wagen voll Passagiere verkehren, die seit Jahrhunderten zu Mumien eingetrocknet sind. Ich würde mich nicht wundern, wenn dort noch die Mammuts zwischen den Schienen weiden und die Lokomotive von Waldmenschen aus der Tertiärzeit gelenkt wird!“
Er brach erschöpft ab und trocknete sich die Stirne. Seine Freundin lächelte. „Sie sollten öfters drauflos wettern, Herr Major!“ sagte sie. „Sie haben zu viel Galle in sich aufgesammelt!“
„Ich muß ja! Wenn kein Mensch da ist, der mich versteht! Die ganze Karawane besteht ja nur aus Engländern und Amerikanern! Fluche ich, so sagen diese fischblütigen Geschöpfe nur: ,Oh indeed!‘ oder ,Oh yes!‘ und bestellen sich einen neuen Whisky mit Soda. Oder haben Sie je gehört, daß ein Engländer einem Menschen widersprochen hätte? Nie! Sie sind stets derselben Meinung. Prüfen Sie irgend jemand aus dieser Herde hier! Nehmen Sie ihn beiseite und erzählen Sie ihm, die Sonne sei froschgrün und der Himmel krebsrot – was wird er antWorten? ,Oh yes!‘ – Ich schwör’ es Ihnen!“
„Sie sollten lieber allein reisen!“
„Ja, das sagen Sie, Sie Weltumseglerin! Wenn Sie jetzt in China landen, sind Sie gleich zu Hause, fragen den nächsten Mandarinen auf mongolisch nach dem Weg und haben sich nach zwei Stunden in Peking so mollig eingerichtet wie in Ihrem Dresdner Stübchen. Aber ich? Mit meinem lahmen Bein. Und wo ich keine fremde Sprache kann – denn das Französisch, das ich vor vierzig Jahren im Kadettenkorps gelernt hab’, das ist auch schon ein bißchen eingerostet. Und dann überhaupt: früher hat mir der Dienst nie Zeit gelassen, zu reisen, und jetzt, wo ich endlich das Ziel meiner Sehnsucht erreiche, jetzt ist mir das alles so ungewohnt. Ich fühle mich so einsam und verlassen. Es kommt mir alles so spanisch vor in Madrid und Cadix und all den verwünschten Orten …“
„Da bliebe ich eben an Ihrer Stelle zu Hause.“
„Zu Hause!“ sagte der alte Herr traurig, „da ist’s öde und leer. Sie wissen ja, meine gute Frau ist tot. Meine Töchter sind verheiratet, an Lieutenants in Lothringen und Ostpreußen. Da kann ich auch nicht hin. Nein, glauben Sie mir: verwitwet und pensioniert in einem Jahr, das ist ein bißchen hart. Und ich hab’ so ’ne Sehnsucht, die Welt zu sehen – schon seit meinen Fähnrichsjahren. Nur mal ’raus aus dem Kram, eh’ man ganz grau und alt wird – das ist jetzt mein einziger Gedanke. Aber auf die Weise geht’s nicht, mit dieser Hammelherde von Cook und Sohn und dem ewigen Kommando: ’rin in die Kirchen! ’raus aus den Kirchen! ’rin ins Museum und wieder ’raus und in die Eisenbahn! Nein. Ich müßte mit einem guten Freund in der Welt herumbummeln, so hübsch gemütlich und ohne Hast, mit einem gleichgestimmten Menschen, der das Reisen versteht und erfahrener ist als ich!“
„Das wäre freilich das Beste!“ sagte die Gouvernante knapp. „Uebrigens, da kommen Ihre Koffer!“
„Meine Koffer erkennen Sie wieder?“ Der Major erhob sich mühsam. „Das ist eigentlich höchst – höchst schmeichelhaft für mich!“
„Kaum! Die Koffer haben sich mir eingeprägt, weil ich auf der ganzen Welt noch nie so unpraktisches Gepäck gesehen habe!“
„Stimmt!“ seufzte der alte Herr. „Stimmt auffallend. Uebrigens ist die Hälfte schon weg. Verloren und gestohlen. Neu hinzugekommen ist nur eine Unmenge falsches Geld, das man mir gegeben hat. Wer mich nur sah, der griff in die Tasche und wurde seine bleiernen Pesetas los. Aber wenn ich sie jetzt weiter in Verkehr bringen will, dann beißen die Kerle hinein, merken, daß sie von Blei sind, und lachen mich aus! Nein – das ist schon eine trübe Reise!“
„Nun, vielleicht wird die nächste besser!“ sagte die Gouvernante, und ein strenges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, während sie mit dem alten Herrn die Flurtreppe hinaufstieg. „Komm’ mit, Hilda, nach unseren Zimmern sehen! Du bleib nur unten, Klara, du machst doch nur malerisches Durcheinander statt uns zu helfen!“
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Die blonde Malerin hatte den Zuruf der ältesten kaum gehört. In Gedanken verloren saß sie da und schaute auf das Treiben des Außenmarktes zu ihren Füßen hinab. Immer noch klangen da die dumpfen Cymbeln des Schlangenbeschwörers, wie riesige weiße Kampfhähne schnellten und sprangen die Schaufechter durch die Luft und schwer wandelnd zog in langer Reibe eine Kamelkarawane aus Fez heran. Aber allmählich verlor sich [743] doch die Menge nach dem Brauch des Morgenlands, das mit den Hühnern schlafen geht und aufsteht. Unter und neben den flüchtig im Schlamme des Marktes aufgeschlagenen Zelten krochen friedlich Mensch und Tier zusammen, die gefesselten Stiere lagen wiederkäuend in langen Reihen, die Kamele bildeten ein abenteuerliches Klumpen- und Hügelgewirr auf der dunklen Erde. Die Nacht war da. Im Sternenfunkeln strahlte sie von dem reinen Himmel, und von der See her wehte ein kalter, würziger Hauch.
Ohne zu wissen warum, empfand Klara deutlich, daß sie nicht allein war. Sie fühlte, wer hinter ihr stand.
Und da hörte sie auch schon seine Stimme. „So einsam und in Gedanken?“ frug er. „Was ist Ihnen, Fräulein Klara?“
„Traurig bin ich!“ sagte sie und drehte sich nach ihm um.
„Traurig?“ Er nahm neben ihr Platz. „Weshalb? Sie haben doch wirklich keinen Grund dazu? Ja – wenn ich das sagte … Sie lachen … aber mir ist’s Ernst … seit wenigen Tagen … seit dem Abend, als wir uns neulich zum erstenmal in der Karawanserai gesehen haben.“
„Was ist Ihnen denn da passiert? Ein Fall mit dem Pferde! Das läßt sich doch schließlich verschmerzen.“
„Ein Fall aus allen Wolken …“ sagte er neben ihr gleichgültigen Tons. „Aus all den Luftschlössern, die man sich so als einsamer Mann baut – fern in der Wüste, wenn nachts um einen alles still ist und man in seinen Mantel gewickelt daliegt und zum Sternenhimmel aufschaut. Dann denkt man sich: wann endlich fängt das eigentliche Leben an? Wann bekommst du das, was du so lange suchst? Nun und sehen Sie, als ich da neulich von der Karawanserai in das Dunkel hinausritt und vor das Thor von Tetuan kam – da war ich plötzlich ganz ruhig und zufrieden – ganz überzeugt davon, daß ich am nächsten Morgen nur zuzugreifen brauchte, um reich zu werden, und das zu haben, was ich wollte. Aber wie der nächste Morgen kam, war alles weg und verflogen wie ein Traum. Das war ein dummes Erwachen und war der Grund, daß Sie mich in solch einem trostlosen Zustand in Tetuan gefunden haben! Darum erzähle ich es Ihnen. Vielleicht halten Sie mich trotzdem für einen Schwächling … oder gerade deswegen … ich kann es nicht ändern …“
Er brach ab. Auch Klara fand nicht gleich eine Erwiderung. „Ist sie denn ohne allen Abschied von Ihnen fort?“ frug sie endlich.
Er lachte. „Es ist nicht das erste Mal! So war sie eines Morgens mit ihrer Dahabieh verschwunden, als wir zu den Nilkatarakten aufwärts fuhren, und ein andermal aus ihrem Hause in Petersburg, nachmittags, während die Schlitten zur Ausfahrt vor der Thüre hielten. Damals war sie nach Paris gegangen, und ich habe sie dort im ,Grand Hotel‘ wiedergefunden. Aber gewöhnlich verlieren sich ihre Spuren in der weiten Welt. Sie selbst verwischt sie. Es ist, als ob sie Angst hätte, mir zu begegnen oder wenigstens länger mit mir zusammen zu sein.“
„Und dabei kennen Sie sie doch schon so lange?“
„Viele Jahre. Kurz vor dem Tode ihres Mannes haben wir uns zuerst auf dem Montblanc gesehen.“
„Woran starb er denn?“
Er zuckte die Achseln. „Er war ein österreichischer Aristokrat, ein bildschöner, lebensfroher, kräftiger Mensch, und ein ausgezeichneter Bergsteiger dabei! Und trotzdem that er beim Spaziergang einen Fehltritt an einer Stelle, wo, wie man so zu sagen pflegt, die Kühe herübergehen, stürzte ab und ertrank unten in dem Gletscherbach. Wenn es ein anderer gewesen wäre, dem das Schicksal nicht alles – Gesundheit, Reichtum und eine schöne Frau – gegeben, so hätte man argwöhnen müssen, er sei mit Absicht gestrauchelt. Aber so war es eben ein unglücklicher Zufall, wie er manchen anderen, so den großen Alpinisten Zsigmondy, ganz ähnlich getroffen hat. Und nun lassen wir’s! Sagen Sie mir lieber: warum sind Sie traurig?“
„Der alte Major thut mir leid. So sein ganzes Leben lang unter Menschen und in voller Thätigkeit und nun auf einmal verlassen und ohne Ziel und Zweck auf der Welt – das muß schrecklich sein!“
„Was geht aber das Schicksal des Majors Sie an?“
„Weil meines ungefähr ebenso ist ...“ ihre Stimme klang gepreßt, „oder vielmehr so wird … in nächster Zeit …“
„Ihr Schicksal, Fräulein Klara?“
„Nun ja. Sehen Sie denn nicht, wie es zwischen meiner Schwester und dem Major steht? Die beiden treffen sich doch nicht durch Zufall hier und ich gönne es ihr ja von Herzen. Aber wenn es dazu kommt, dann geht sie eben fort, und unser Nesthäkchen, die Kleine, bringen wir schon vorher nach Genf, zu fremden Leuten; mit blutendem Herzen, aber es geht nicht anders: sie muß sich eben auf eigene Füße stellen. Nun und dann bin ich eben ganz allein. Die ganze Zeit haben wir Schwestern so traulich miteinander gelebt und uns dazwischen mal gezankt und für die Kleine gesorgt und einander geholfen, so manche schwere Stunde zu tragen, denn allzuleicht haben wir’s wahrhaftig nicht im Leben gehabt. Und trotzdem waren wir immer zufrieden. Aber wie das jetzt mit mir werden soll, wenn ich in Dresden auf einmal allein in unserer Wohnung stehe, und niemand um mich, und vor mir ein langer, kalter Winterabend – ich glaube, ich setze mich hin und fange einfach an zu weinen, obwohl das sonst gar nicht meine Art ist.“
„Ich bin die Einsamkeit gewohnt,“ sagte die Stimme aus dem Schatten neben ihr, „aber allerdings die Einsamkeit der Wildnis, die ist groß. Unter Menschen mag sie schwerer zu ertragen sein.“
„Ein Mann kann das überhaupt nicht verstehen, der hat so vielfache Beziehungen zum Leben, seinen Beruf und …“
„Und Ihre Kunst? Hebt die Sie nicht über alles andere hinweg?“
„Meine Kunst?“ sie lächelte schmerzlich. „Nun ja, meine Bilder sind ja ganz nett und ich verkaufe sie, wenn ich Glück hab’, zu leidlichen Preisen. Aber das Eigentliche, das Große ist das nicht. Das werde ich nicht erreichen und kann es nicht erreichen. Aus einem sehr einfachen Grunde: ich muß illustrieren und malen, um nicht Hunger zu leiden – und so, wie es der Geschmack des Publikums verlangt. Und der ist in Kunstsachen – ach, reden wir nicht drüber! Der Abend ist so schön.“
„Das hätte ich nie geglaubt, daß Sie so verbittert sind.“
Sie stützte den Blondkopf in die Hand und sah in die Ferne hinaus, wo in der Nacht Meer und Himmel in ein einziges Grauen zusammenflossen. „Es thut schon weh, sein bißchen Talent so zu Markte zu tragen,“ sagte sie langsam. „Und das Schlimmste ist: man verliert dabei den Respekt vor sich selbst … vor dem eigenen Können, mein’ ich, indem man es erniedrigt. Aber anderseits muß ich doch froh sein, daß ich das bißchen Talent habe. Damals, als das große Unglück über uns kam, da war ich noch fast ein Backfisch mit meinen sechzehn Jahren und bildete mich halb aus Spielerei zur Malerin aus. Das ist mir nun zu gute gekommen – mir und meinen Schwestern, in den elf langen Jahren, die seitdem verflossen sind. Hilda hat es eigentlich noch am besten getroffen. Sie war damals noch ein Kind und hat den Wandel vom Reichtum zur Armut durchgemacht, ohne etwas davon zu empfinden.“
„Also das war das große Unglück, das Sie traf?“
„Mein Vater machte Bankerott!“ sagte sie ruhig. „Und er starb in derselben Nacht. Mehr brauch’ ich Ihnen wohl nicht zu erzählen. Er war schon Witwer, seit Jahren. Da standen wir nun, meine Schwestern und ich.“
„Da haben Sie wirklich viel durchgemacht!“
Sie schaute mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin. „Ach … wenn’s bloß das wäre!“ sagte sie halblaut.
„Also noch mehr?“
„Genug!“ Sie stand auf und lachte. „Sie sitzen da wie ein Beichtvater im Dunkeln und wollen mir alle Geheimnisse herauslocken!“
„Ich habe Ihnen ja vorhin auch gebeichtet … und auch im Dunkeln.“
„Ja, das ist wahr. Aber von mir wird jetzt nicht mehr gesprochen!“
„Von mir auch nicht. Also von was?“
„Man braucht ja nicht immer zu reden!“ sagte sie. „Man kann ja auch einfach dasitzen. Die Seeluft thut so wohl!“
Sie hatte sich wieder ihren Stuhl herangezogen. Es war still zwischen den beiden. Ueber ihnen glitzerte durch das im Nachtwind rauschende Laub der südliche Himmel und wie ein Hauch aus weiter Ferne umfächelte das Wehen des Oceans ihre Wangen.
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[745] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [746] „Wer das jetzt malen könnte!“ sagte sie nach einer Weile, scheinbar mehr zu sich als zu ihrem Freunde. „Der weiße Schimmer der Stadt da unten … die violette Nacht überm Meer und überall, im Vordergrund die schwarzen Umrisse der Bäume und über dem Ganzen der große, kalte, weite Sternenhimmel .....“
„Malen Sie es doch!“
„Ich kann’s nicht. Es wird nichts Rechtes draus. Nacht und Sonnenschein haben wir nicht auf der Palette. Das muß von innen kommen. Vom Kopfe durch die Hand!“
„Und in dem armen Blondkopf steckt’s nicht drin?“
Sie lachte. „Da steckt überhaupt viel weniger darin, als Sie glauben!“
„Nun … wenn Sie das so vergnügt sagen,“ er rückte ihr etwas näher, „dann ist es eher ein Beweis für das Gegenteil!“
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, so daß er die blassen, hübschen Züge deutlich im Dämmerschein erkennen konnte. „Was hilft es denn schließlich, traurig zu sein?“ sagte sie. „Ich kann mir das große Talent nicht herbeizaubern! Und wenn ich’s hätte, wer weiß, ob ich dann glücklicher wäre! Ich meine, es steckt in jedem Menschen, wie er auch ist, die Möglichkeit, glücklich zu sein. Das Schlimme ist nur: oft findet man den Weg nicht; man sieht vielleicht das Nächste nicht. Und dann hat man so dumme Stimmungen wie ich heute abend. Seien Sie nicht böse, daß ich Sie damit belästigt hab’. Und nun will ich gehen und Toilette machen. Es ist Zeit zum Diner! Zu Ihrem ersten europäischen Diner seit zwei Jahren. Das ist ein feierlicher Augenblick für Sie!“
„Oft liegt das Glück dicht vor einem und man sieht es bloß nicht!“ Klaras Worte klangen im Ohre des Afrikaforschers nach, während er auf dem festen Sand an der Flutgrenze des Oceans dahinschritt, weit vor sich die Weiße, hochgetürmte Häusermasse von Tanger, hinter sich die langgestreckte öde Küste, die nur einige nachtschwarz lustwandelnde Franziskanermönche, ein paar wilde Hunde und ein galoppierender Araber auf prächtigem Maultierschimmel belebten.
Er fühlte sich körperlich frei und leicht, beinahe gesund. Die plötzliche Anregung durch diesen letzten Vorposten der Civilisation gab seinen Nerven neue Spannkraft. Er hatte am Abend vorher zum erstenmal eine europäische Mahlzeit genossen, eine Flasche guten Bordeaux getrunken und sich im Rauchzimmer von den eleganten diplomatischen Attachés der verschiedenen Großmächte, die als Pensionäre im Hotel wohnten, die Weltbegebenheiten erzählen lassen. Natürlich waren die Herren dabei über deren Auffassung in Streit geraten, es hatte einen amüsanten Wortwechsel in englischer und französischer Sprache gegeben, und schließlich trennte man sich, sehr angeregt und befriedigt von dem Zusammentreffen mit dem berühmten Reisenden, den die Ladies anfangs, als er sich in seiner Wüstentracht, als der einzigen, die er besaß, zur Tafel setzte, mit einem erschrockenen „shocking“ begrüßt hatten.
Auch der heutige Vormittag war sehr genußreich. Ein Bad, ein kräftiges Frühstück, ein Ritt am Strand entlang zu den Ruinen der uralten Phönikerstadt Tingis, deren aus mächtigen Quadern geformtes Hafenthor jetzt weit von dem zurückgewichenen Ocean entfernt zwischen Sumpf, Busch und Brakwasser die Jahrhunderte durchträumt, und nun dieser erfrischende Rückweg zu Fuß, die steife Seebrise um die Ohren, den blauen Himmel über sich, klagender Möwenschrei und fernes Segelblinken, all die unermeßliche Freiheit, die das Weltmeer atmet!
Und trotzdem war bei aller neu erwachenden Spannkraft des Körpers sein Geist gedrückt und mißmutig. Er empfand eine reuevolle Stimmung, einen Aerger über sich selbst und sein Mißgeschick.
Sein Ungeschick vielmehr, durch das er in Tetuan die vielleicht nie wiederkehrende Gunst des Zufalls verscherzt hatte! Wieder sah und hörte er um sich das nächtliche Getümmel der Arche Noah vor dem kanonengeschmückten Thor und dazwischen Angelas helle Stimme. Warum hatte er sich an jenem Abend in thörichter Zuversicht von ihr getrennt und die Fonda d’España aufgesucht, um am andern Morgen ihr Nest leer zu finden?
Er wußte ja, daß sie vor ihm floh, obwohl oder vielleicht gerade weil er ihr nicht gleichgültig war. Es war ja nicht das erste Mal und war, wenn auch unerklärlich, so doch nicht das Schlimmste und ganz Hoffnungslose, daß sie bei aller Sympathie für ihn doch etwas wie Angst vor seiner Nähe zu fühlen schien. Darum hätte er ihr folgen sollen! Die Spur war leicht zu finden. Sie wies nach Ceuta. Dort konnte er sie einholen und sich trotzig eine Antwort erzwingen, statt daß er in der elenden Fonda, Cigaretten rauchend, auf dem Bette lag und sich vor Mißmut und Enttäuschung in eine Krankheit hineinärgerte.
Hinter ihr her hätte er jagen müssen! Statt dessen lenkte er sein Pferd gen Westen und ritt bescheiden und bedächtig mit den drei Sachsenmädchen über Land. Jetzt zuckte er die Achseln darüber. Was gingen sie ihn an? Wie kam er in solch zahme Gesellschaft?
Er empfand plötzlich Lust, unverzüglich nach Tetuan zurückzureiten! Warum, das wußte er selbst nicht. Er hatte nur ein dumpfes Gefühl, als müßte sich dort noch irgend eine Spur, ein Zeichen von Angela finden, das ihn auf den Weg nach Ceuta führte. Aber vor Ceuta lag die weiße Jacht „Liberty“ und trug ihre leichte Last hinaus auf das dämmernde Meer. Wohin – das erfuhr wohl der britische Kapitän des Oceanrenners selbst erst auf hoher See, wenn er vom Schiffsherrn, dem kleinen Petroleumkönig, die trockene Weisung empfing, ihn und seine Gefährten nach Afrika, nach Amerika oder Asien zu steuern.
Gott weiß, wo sie jetzt schon schwammen. Vielleicht segelten sie der Bucht von Monte Carlo zu, um gelangweilt einen Regentag an der Spielbank totzuschlagen. Oder sie warfen am Goldenen Horn Anker und fuhren mit der unterirdischen Zahnradbahn in das buntscheckige Gassengewühl von Pera hinauf. Vielleicht waren sie auf dem Weg nach Jaffa, um Jerusalem zu besichtigen, vielleicht unterwegs nach Neapel, um im Schatten der Rauchwolke vor Anker zu gehen, die als ein schwarzer Riesentrichter über dem Aschenkegel des Vesuv steht.
Wo sie auch waren – er fand sie so leicht nicht wieder und seine Briefe blieben, wie der letzte, ohne Antwort. Es war ja alles umsonst. Mehr und mehr war in ihm die Ueberzeugung aufgestiegen, daß sie ihm immer von neuem entgehen, daß er das Ziel seines Lebens so wenig erreichen werde, wie man den Regenbogen mit Händen greifen kann, der scheinbar nahe und dennoch unerreichbar sich vor den Augen spannt.
Aber freilich … wer immer in die Ferne schaut, sieht nichts zu seinen Füßen. Das Glück! … Dieses Glück des Philisteriums, der Ehe, über das er so oft gelacht! Noch spielte er mit dem Gedanken und merkte doch, wie der immer stärker wurde und in immer neuen lockenden Verkleidungen sich bei ihm einschlich.
Gewiß war es hier schön und angenehm in Tanger. Aber er mußte trotzdem mit dem heutigen Dampfer, mit dem auch die drei Damen fuhren, nach Gibraltar! Schon seiner Kleider wegen. Es war ja ein Skandal. Und neue Anzüge, neue Wäsche ließen sich erst dort beschaffen. Dort konnte er auch hoffen, durch die anglo-ägyptische Bank telegraphisch Geld aus seinem Münchener Guthaben zu ziehen. Dort war er ungestört, während hier natürlich nun schon die Kunde seiner Ankunft alle Gesandtschaften und Hotels erfüllt hatte und er einer Menge Menschen, lästigen Besuchen und Höflichkeitspflichten nicht mehr entgehen konnte. Nein, da war es schon besser, so rasch wie möglich nach Gibraltar zu fahren, das dort am anderen Ende der blauen Wasserstraße als ein kaum sichtbarer zuckerhutförmiger Dunstzacken vor dem Himmel stand.
Er blieb stehen und lachte laut auf. So viel Worte und Pläne, um nur die eine Thatsache vor sich selbst zu verhehlen, daß er an der Gesellschaft der blonden Malerin mehr als Vergnügen und Zufriedenheit fand! Es schien, als sei ihm ihre freundliche Heiterkeit, ihr helles Lachen schon unentbehrlich geworden seit jenem Regenabend, wo sie sich im Dämmern der Karawanserai El-Fondak zum erstenmal gesehen. Er sträubte sich dagegen und fühlte sich eigentlich doch ganz wohl dabei. In dem Gefühl, jeden Augenblick den Fuß aus der Schlinge ziehen zu können und mit der Gefahr nur zu spielen.
[747] Er konnte es ja beweisen und in Tanger bleiben! Der Trotz erwachte in ihm, während er gleichwohl schneller und immer schneller der Stadt zuschritt. Denn fast unbewußt hatten seine Augen ihn belehrt, daß der auf der Reede schaukelnde, von der Nußschalenflottille umwimmelte Dampfer schon zur Abfahrt bereit war, und ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er sich in seiner Zeitberechnung um zwei Stunden geirrt hatte.
Es war schon fast zu spät, den Dampfer zu erreichen, und jedenfalls unmöglich, mitzufahren. Denn sein Gepäck befand sich ja oben im Hotel und seine Rechnung war noch nicht bezahlt. Das Einzige, was er thun konnte, war, rasch an Bord zu gehen und den Damen Adieu zu sagen, und das war ja auch das Beste!
Aber so leicht ließ sich das Schiff nicht erreichen. Erst ein Wortwechsel mit den an der Landungsbrücke gescharten, in greulichem Mohrenenglisch um den Fahrpreis feilschenden Bootsleuten, dann eine Schaukelfahrt quer über die Reede und endlich ein hoffnungsloses Durcheinander der um den Leib des Dampfers auf den Wellen tanzenden und mit ihnen unter dem betäubenden Zankgeschrei der Insassen abwechselnd hoch in die Höhe steigenden und wieder in den Wogenthälern versinkenden Kahnflottille! Das Passagierboot selbst rollte dabei an dem sich straffenden Anker schwer von einer Seite zur andern und tauchte bald sein Fallreep tief in die klatschende Flut, bald wieder hob es die Schiffstreppe unerreichbar hoch über das Gewühl der Nußschalen empor. Es war eigentlich ein Wunder, wie die Cooksche Karawane hatte ungefährdet das Oberdeck erreichen können.
Aber mit Hilfe kräftiger Matrosenfäuste, die die Touristen wie Warenballen von Hand zu Hand hinaufbeförderten, war es doch geglückt und alle Schutzbefohlenen von Cook und Sohn in unbeschreiblicher Verfassung auf dem ersten Platz vereinigt. Die Seekrankheit wütete bereits in dem ganzen Schwarm der Vergnügungsreisenden. Denn ein plötzlicher Defekt an der Maschine verhinderte auf Stunden hinaus die Abfahrt, während das festliegende Schiff stärker schaukelte und stampfte, als wenn es in voller Fahrt gewesen wäre. Alte Damen und bleichsüchtige Backfische, hagere Reverends und weinende Kinder füllten, in Plaids und Mäntel bis zu unkenntlichen, stöhnenden Klumpen eingewickelt, das ganze Deck. Sie saßen, hoffnungslos lächelnd, auf dem Boden und lagen schweigsam auf den Seitenbänken ausgestreckt, ihr Röcheln drang aus den unteren, in unbeschreiblichem Zustand befindlichen Kabinen, ja manche hatten sich schutzsuchend bis in den Vorderraum verirrt, wo eine Anzahl Mauren unbeweglich, mit gekreuzten Beinen auf den Planken kauernd und halbzugekniffenen Auges ihre Geschäfte in Gibraltar überlegend, dem Spiel der Wellen trotzte.
Auch der Afrikaner war – das wußte er aus vielen früheren Reisen gegen die Seekrankheit beinahe völlig gefeit. Aber unbehaglich war ihm der Aufenthalt auf dem Vergnügungsschiff doch und er strebte, in der Runde nach den bekannten Gesichtern blickend, ihn möglichst abzukürzen.
„Jräßlich!“ stöhnte es neben ihm. „Jräßlich! Nicht zu sagen!“ Da saß der Major, ganz geknickt und vornübergesunken, daß die grauen Schnurrbartenden trostlos herabhingen. Neben ihm, ihn tröstend und stützend, die düstere Gestalt der Gouvernante, die schwarzgekleidet, aufrecht und mit harten Zügen wie die Göttin der Seekrankheit unter ihren Opfern thronte. In dem schweigsamen Bündel von Decken daneben ließ sich die Kleine vermuten, die, gefaßt auf diese neue Wendung ihrer Erholungsreise, gottergeben dalag.
Die blonde Malerin saß etwas abseits. Auch ihr hübsches Gesicht war bleich. Aber sie lächelte dem Freunde tapfer zu. „Gott sei Dank, daß Sie endlich kommen!“ rief sie. „Ich fürchtete schon, Sie würden die Abfahrt versäumen!“
Er sah sie erstaunt an. Sie schien gar keine Ahnung zu haben, daß er gar nicht an die Abfahrt dachte.
„Aber Ihr Gepäck ist schon da!“ fuhr sie eifrig fort. „Man hat es vom Hotel aus besorgt. Und da ist auch der Hotelkurier mit der Rechnung!“
„Wie kommt denn der Mann dazu?“
Sie blickte betroffen auf. „Ich weiß nicht. Ich hab’ mich nicht hineingemischt. Die Leute im Hotel sagten, Sie würden auch reisen!“
In der That, da lagen, sich scharf von den üblichen Gepäckstücken ringsum abhebend, seine bunt bestickte und mit Lederschnüren verzierte Reittasche aus Maroquin, wie man sie im Innern Marokkos trägt, und daneben die Maultierlast mit seinen Habseligkeiten, zwei von dem scharlachroten Tuch der Eingeborenen umhüllte Walzen.
„Wer zum Teufel hat Ihnen denn gesagt, daß ich reise?“ frug er den Kurier halblaut, so daß es Klara nicht hören konnte.
Der bräunliche Elegant lächelte. Die Ladies hätten gesagt, sie wollten zum Steamer. Und da der Herr doch zu den Ladies gehöre und sie nicht allein würde fahren lassen ....
Genug! Er winkte ihm, zu schweigen, und bezahlte. Eigentlich hatte der Mann ja ganz recht: wenn jemand mit drei Damen ankommt, so reist er gemeinhin auch mit ihnen weiter. Jetzt wieder mit Sack und Pack den Dampfer verlassen, das ging nicht an. Es hätte der Malerin, die blaß und ahnungslos dasaß, zu weh gethan. Er lachte ärgerlich und trat wieder zu ihr. „Ein netter Aufenthalt!“ sagte er. „Der Menschheit ganzer Jammer packt einen an. Der Katzenjammer natürlich. Das ist nun der Herr der Schöpfung – diese Pakete da in allen Winkeln!“
Sie sah zu ihm auf. „Werden Sie denn nicht seekrank?“ frug sie mit schwacher Stimme.
„Nein. Und Sie?“
„Ach, ich bin’s schon! Mir ist schrecklich zu Mute!“
„Dann legen Sie sich beizeiten hin,“ befahl er und machte ihr, ohne eine Antwort abzuwarten, ein Lager zurecht. „Besser wird’s doch nicht, ehe Sie nicht wieder festen Boden unter den Füßen haben. Also wozu sich unnütz quälen?“
Sie gehorchte mit einem geduldigen Lächeln ihrer blassen Lippen und ließ sich fügsam von ihm zudecken. Dann schloß sie ermattet die Augen. Er war nun ganz sich selbst überlassen.
Er schaute umher. Das Bild wurde immer trostloser. Der Major war jetzt ganz abgefallen, um ihn herum lagen die anderen Opfer der See, und dazwischen saß düster die schwarze Rachegöttin. Aber auch ihre Zeit schien zu kommen, nach dem gelblichen Ton zu schließen, der allmählich ihr Antlitz überzog.
Und nirgends ein Eckchen, ein Winkel, um dem Greuel zu entfliehen! Wenn er nun doch das Schiff verließ? Aber da, weit am Ufer, tanzte schon sein Boot auf den Wellen und überhaupt … Nein. Nun war er gefangen!
Gefangen in diesem dichtgefüllten, schwimmenden Philisterkäfig. Er wickelte sich zornig in seinen Mantel und trat ganz nach vorne, an die Ankerwinde des Dampfers.
Zu thöricht! Das kam davon, daß er sich in das Spiel eingelassen. Nun hielt es ihn fest mit der Tücke des Zufalls und fester noch da innen. Er fühlte es wohl, daß er, in Tanger zurückgeblieben, mehr Reue empfunden hätte als jetzt Aerger über die unselige Fahrt. Oder vielmehr über das Stillliegen auf der Reede. Denn eine Stunde verstrich und eine zweite, ohne daß sich der Anker hob. Von unten, aus dem Maschinenraum, tönten Hammerschläge und zorniges Stimmengewirr.
Er ging wieder zurück, um nach Klara zu sehen, und berührte leicht ihre schlaff herabhängende Hand. Sie öffnete die Augen. „Gott sei Dank!“ hauchte sie. „Sind wir in Gibraltar?“
„Nein. Wir liegen immer noch vor Tanger!“
Da drehte sie sich mit einem ganz verzweifelten Ruck herum, und er sah nur noch ihr blondes Haar durch die Lücken des Mantels schimmern. Mißmutig kehrte er auf seinen Platz neben der Winde zurück, die jetzt, von zwei Matrosen gedreht, die triefende Kette aufnahm und den Anker schlammüberzogen an das Tageslicht beförderte. Die Maschine begann zu arbeiten und trieb das Schiff in die schwere Dünung hinaus, die auch bei ruhigem Wetter stets hier in dem Zusammenfluß des Atlantischen Oceans und des Mittelmeers zwischen den Säulen des Herkules zu stehen pflegt, zwischen dem leuchtturmgekrönten Kap Spartel in Afrika und der Punta Marroqui gegenüber, der Südspitze Europas, wo als ein Haufe weißer Pünktchen Tarifa, einst das letzte Maurenbollwerk in Europa, herüberschimmert.
Wenige Reisende sahen die Pracht dieser blauen Wasserstraße zwischen der niederen Küste Andalusiens und den hochgezackten, dräuenden Felsen des Rif. Die andern lagen klagend da, mochte die Sonne noch so golden Land und Meer verklären und die [748] Delphine noch so lustig im weißen Kielwasser schnalzen. Es war wie ein schwimmendes Lazarett. Es erzeugte geradezu Ekel und Aerger. Man kam sich wie ein Gefangener vor.
Du bist ja auch auf dem besten Weg, ein Gefangener zu werden, ging es dem einsamen Mann durch den Kopf, der vorn an den nassen Anker gestützt in den Tanz der Wellen hinaussah. Ein Gefangener aus freiem Willen. Oder vielmehr: dein Wille, der starke und freie, ist durch Krankheit und Ermattung gebrochen. Du sehnst dich nach Ruhe! Das beweist schon, daß andere Mächte in dir mehr zu sagen haben als du selbst, Mächte von außen, die dich schmeichelnd bei der Hand fassen und hinabführen ins Philisterland, in diese schwächliche, gleichgültige Menschheit hier ringsherum, mit der du nichts gemein hast!
Nein, wahrlich nichts! Sein Trotz wurde immer stärker. Wer spielte eigentlich hier mit ihm, lockte ihn auf dies Jammerschiff und weiter in die bekannte kleinste Hütte, die Raum für ein liebendes Paar bietet? War er der Mann, so mit sich schalten und walten zu lassen, er, der der allmächtigen Natur selbst seinen Willen aufgezwungen, ihre unnahbarsten Berghöhen erklommen, ihre fernsten, im Schleier des Urwaldes verborgenen Geheimnisse enthüllt hatte? Er wußte, sowie er sein „Ich will nicht!“ sagte – da war er wieder frei, und immer deutlicher lag das Wort auf seinen Lippen.
Es gab ein Dichterwort:
„Der weite Himmel ist des Adlers Bahn,
Die weite Welt des Edlen Vaterland.“
Jawohl, die weite Welt! Da grüßte sie ihn wieder, hier, wo Europa und Afrika sich einen, im Brausen der Brandung, im Lachen des Sturms, im Trotze sonnengebadet zum blauen Himmel aufsteigender Steinkolosse. Dort hinten wuchs es gewaltig aus der blauen See. Dreifach gezackt schaute der Felsen von Gibraltar gebieterisch über die Länder und Meere, die Stadt schmiegte sich, in grüne Gärten gebettet, an seinen Fuß und davor flimmerte es von dem Gewirr der Rahen und Masten, dampfte es aus Dutzenden von Schloten und ankerten weithin die Schiffe aller Völker im Hafen von Gibraltar.
Als der verspätete Dampfer das andalusische Ufer mit seinen öden Weidesteppen und zerfallenen Wachttürmen erreicht hatte und in die mächtige Bucht einfuhr, dämmerte es schon stark. Die am Eingang ankernden britischen Panzer, die mehr wie unwahrscheinlich große, mit allerhand Buckeln und Auswüchsen gezierte Bügeleisen als wie wirkliche Schiffe auf dem Wasser lagen, waren noch deutlich zu erkennen. Aber der Mastenwald des Handelshafens dahinter verschwamm schon in dem Dunkel, das wie der Schatten des darüber ragenden Bergkegels vom Himmel niedersank, und drüben überm Meer ließ nur noch ein unbestimmter Schein, die Hafenlichter von Ceuta, die Nähe Afrikas erraten.
Er blickte zurück. Dort lag der schwarze Erdteil, der ihn wiederum zwei lange Jahre festgehalten hatte. Noch einmal war er seiner tödlichen Umarmung entgangen. Würde er ihn wiedersehen? Die Kraft finden, wieder hinauszupilgern in das Reich der Abenteuer und Gefahren, in das Leben voll seltsamer Buntheit, in das es den Jüngling unwiderstehlich zog, das der gereifte Mann mitten in allem Glück und aller Ruhe nicht mehr entbehren konnte?
Die Sehnsucht ward stark in ihm. Er schaute finstern Gesichts nach rückwärts, in die Nacht hinaus, die Afrika verhüllte.
Und es war, als teilte sich das Dämmern über dem Meer. Etwas Weißes war darin sichtbar, ein schlankes, schneeig leuchtendes Ding, das, rasch aus der Richtung von Ceuta näher und näher kommend, mehr wie ein großer Märchenvogel über die Wellen hinzugleiten als sie zu durchschneiden schien. Jetzt tauchte es voll aus dem Schatten auf, mit seinen zurückgelegten Masten, dem überschlanken, schmalen Schiffsrumpf, dem lautlosen Flug ein Bild eleganter Kühnheit, wie geschaffen, nach freier Laune die Meere zu durchkreuzen und Anker zu werfen, wo die Gunst des Augenblicks lächelt.
Jacht „Liberty!“ – Er kannte sie wohl! Und er wußte ja auch, daß der Petersburger Petroleumkönig mit ihr seine Tochter und deren Freunde von Ceuta hatte abholen wollen. Wäre er deren Einladung gefolgt, dann fuhr er selbst jetzt auf dem kecken Renner durch die Fluten, statt an Bord dieses schmutzigen, rollenden Krankenhauses mit seiner rings im Dunkel ächzenden Menschheit.
Jählings erfaßte ihn jetzt, während die Jacht weiß, rasch und schweigsam wie ein Geisterschiff im aufgehenden Mond an ihnen vorbeiglitt, ein Gefühl der Reue. Er hätte gewünscht, an Bord zu sein. Und mit Angela zusammen. Noch einmal bot ihm das Schicksal die jüngst in Tetuan scheinbar unwiederbringlich versäumte Gelegenheit. Eine bessere als je! Hier auf dem Schiff konnte ihm Angela nicht entfliehen. Wohin sie floh, er fuhr mit. Er erzwang sich von ihr die Aussprache und vielleicht den Sieg.
Warum sollte er eigentlich nicht an Bord gehen? Willkommen war er dem Petroleumkönig gewiß. Er sah, wie der weiße Schatten in der Ferne, zwischen den farbigen Laternen anderer Dampfer still lag, und hörte das kurze Rasseln des Ankers. An Land ging die Gesellschaft heute gewiß nicht mehr, die ja auf der Jacht weit mehr Bequemlichkeit fand als in den dürftigen Hotels von Gibraltar. Er traf sie sicher beim Diner vereinigt, weitgereiste, die Welt überblickende Menschen in tadellosem Frack und weißer Binde, Angelas Madonnengesicht und silberhelles Lachen dazwischen. Und hier …
Er schaute umher. Es kam jetzt, wo das Schiff in ruhigerem Hafenwasser fuhr, allmählich Leben in die Gesellschaft. Wie wenn Tote aus ihrem Schlafe erwachen, lugten bleiche Gesichter aus den zurückgeschlagenen Hüllen und richteten sich steifgewordene Gestalten langsam auf. „Jräßlich! Jräßlich!“ tönte die Klage des Majors und dahinter das beruhigende Baßgemurmel seiner Freundin. „Jetzt sind wir da!“ hörte er ihre Stimme. „Wir liegen schon still. Steh’ auf, Hilda! Was hast du denn schon wieder, daß du so jammervoll dreinschaust? Und du, Klara … es ist Zeit!“
Ringsum ein Frösteln, ein klägliches Lächeln, schlechte Witze, ein herdenartiges Gedräng am Fallreep, wo die Ruderboote harrten, die auf der wohl viertelstündigen Fahrt bis zur Alten Mole den noch enger als bisher zusammengepferchten Touristen unfehlbar eine neue Auflage der Seekrankheit bescheren mußten – nein, der Gedanke an dies Zukunftsbild entschied seinen Entschluß. Er winkte den an Bord klimmenden Agenten des Hotels heran, übergab ihm sein Gepäck und brachte mit seiner Hilfe, ehe die große Masse der Seekranken mobil wurde, die Damen und den Major in dem ersten, vom Schiff abstoßenden Kahn unter. Noch ganz betäubt ließen sie alles mit sich geschehen. Erst als der plumpe Kasten schon frei im Ruderschlag schwankte, hörte er Klaras Stimme.
„Sind Sie denn nicht mit?“ rief sie herauf.
„Nein, ich komme nach! Ich habe noch etwas zu thun!“
„Auf dem Schiff? Haben Sie etwas vergessen? Hier haben wir ja Ihre Sachen!“
Er wollte nicht heucheln. „Ich mache rasch einen Besuch auf der Jacht ,Liberty‘,“ rief er hinunter. „Auf Wiedersehen nachher!“
Es kam keine Antwort und der Kahn verschwand im Dunkel.
Im Dämmerschein des gedämpft aus ihren Luken strahlenden elektrischen Silberlichts lag die „Liberty“ wie ein großer, weißer Schatten über der nachtblauen See. Die Wogen, unter deren Rauschen der heransteuernde Nachen ungestüm schwankte, spielten nur mit dem geschmeidigen Leib des Oceanrenners, daß er sich wohlig und träumerisch in ihnen wiegte und hoch oben die bunten Signallaternen der Masten in sanftem Schaukelschwung vor dem Sternengeglitzer auf und nieder glitten.
Die Thüre der Bordwand war geöffnet, das Fallreep herabgelassen, als erwarte man den späten Gast. Aber kein Mensch war zu sehen. Nur von dem Vorderteil des Schiffes klang das Raunen tiefer Männerstimmen – wachthaltende Matrosen, die da irgendwo, ihr Priemchen kauend, zwischen Taurollen und Fässern saßen.
Der Fremde brauchte ja auch keinen Empfang durch das Schiffspersonal. Er war ja nur zu gut zu Hause in diesem schwimmenden, kostbar eingerichteten Gebäude, das seine Bewohner fügsam unter der Drehung des Steuerrades von einer Küste zur andern trug. So entlohnte er den Bootsführer, klomm [749]
das Fallreep hinauf und ging über das hell vom Licht beschienene, völlig leere Deck auf die große Salonkajüte zu.
Während er, mit der Hand über die schwere Eichenschnitzerei des Geländers hingleitend und mit dem Fuß tief in dem Smyrnateppich versinkend, die Treppe hinabstieg, horchte er auf. Aber kein Laut war vernehmbar, nichts regte sich hinter der getäfelten, mit einem bronzenen Löwenkopf geschmückten Thüre, die zum Speiseraum führte. Und doch mußten sie jetzt dort alle versammelt sein. Fiel doch auch durch die mit schweren Portieren verhängten Fenster ein schmaler Lichtstreifen heraus in die Nacht.
Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Das Schiff kam ihm wie verzaubert vor in seiner Helle, seiner Pracht und seinem Schweigen. Um die Beklemmung los zu werden, pochte er an und trat auf das von innen tönende, gleichgültige „Come in!“ in das Gemach, Angelas Bild vor Augen, die ihm ja im nächsten Augenblick mit ihrem gewohnten hellen Lachen die Hände entgegenstrecken mußte.
Er blieb betroffen stehen. Das reich ausgestattete Speisezimmer war fast menschenleer. Nur eine Gestalt saß einsam und melancholisch in Frack und weißer Binde an der silberbeladenen, mit Blumen verzierten Tafel, eine Gestalt, die dem ersten Blick in ihrer Schmächtigkeit und Bartlosigkeit fast knabenhaft erschien. Aber die Züge des heiter lächelnden Gesichtes mit der hellblonden Perücke darüber waren gefurcht und die Augen glänzten kalt und alt darüber hin.
Niemand hätte sagen können, ob Nikolai Augustus Rey, der Petroleumkönig, 35 oder 55 Jahre zählte. Sein Aeußeres war ein Rätsel, wie denen, die ihn näher kannten und in ihm nicht nur den verdammenswerten Spekulanten sahen, der ganze Mensch. Wie er jetzt den Kopf langsam von den Papier- und Zeitungsstößen hob, die während der einsamen Mahlzeit seinen Teller umrahmten, war sein Gesicht das eines sorgenvollen, ergrauten Kaufmanns. Aber kaum erkannte er seinen Gast, so glitt ein spitzbübisches, jungenhaft übermütiges Lächeln über seine Züge, und er sprang mit jugendlicher Behendigkeit vom Stuhle auf.
„Da ist er ja!“ rief er mit seiner schmeichelnd hellen Stimme. „Unser Afrikaner! Ich weiß schon: Sie sind kein Gespenst! Sie leben wirklich! Angela hat es mir geschrieben: ,Wenn er nach Gibraltar kommt und nach mir fragt, so erschrick nicht, sondern pflege ihn ordentlich‘. Also setzen Sie sich, Freund! Ein Glas Port? Schön! ... Noch eins! ... Kein Widerspruch! Meine Tochter hat befohlen, Sie zu Kräften zu bringen.“
„Ja, wo ist sie denn?“ Der Fremde setzte sein Glas ab und schaute suchend umher.
Nikolai Rey lachte vergnügt. „Der reine Wilde! Er giebt sich gar keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Aber es hilft nichts. Sie müssen schon mit mir vorlieb nehmen. Meine Tochter und ihre Freunde sind fort!“
„Wo sind die Herrschaften denn?“
„Hm!“ Der Petroleumkönig geleitete seinen Gast zu einem Stuhl und schob, auf den elektrischen Knopf drückend, den ganzen Wust von Depeschen und Druckpapier zur Seite. „Hm .. ja ... wo liegt die Jacht eben? ... Doch in Gibraltar? Ich vergesse nämlich in meinen Geschäften oft, an welcher Küste oder in welchem Erdteil ich mich gerade befinde. Also Gibraltar! Und gegenüber liegt dies spanische Nest ... eine Festung ...“
„Ceuta!“
„Richtig! Ceuta! Dort war ich heute abend, um Angela und ihre Sippschaft aus Afrika herüberzuholen. Finde aber nur ein paar Zeilen von ihr vor, sie und die beiden andern seien aufgebrochen, um den höchsten Berg da in der Nähe ... weiß der Henker den Namen ... ja den Dschib-El-Musa ... zu ersteigen! Gefährlich? Was? Natürlich. Dort wohnen doch die Nachkommen der berühmten Rifpiraten, denen unsere [750] seefahrenden Staaten bis in die Mitte des Jahrhunderts Tribut zahlen mußten. Es ist sicher anzunehmen, daß ein Unglück passiert. Aber reden Sie einmal mit meiner Tochter und deren Freunden! Meine Hoffnung ist, daß es morgen in Strömen gießen wird. Aber Sie sehen mich trotzdem wirklich bekümmert,“ er warf einen zerstreuten Blick auf ein vor ihm liegendes Kabeltelegramm, „… diese ewigen tollen Streiche machen mich nervös. Nachher wollen sie wieder führerlos auf den Montblanc, infolge einer Wette. Und ich liege hier einsam und verlassen.“
„Ich hätte ruhig noch zwei Tage in Tanger bleiben können,“, fuhr er fort, während ein schwarzgalonnierter Diener lautlos eintrat und ein zweites Gedeck auflegte. „Dort besuchte mich mein Freund, der alte Sir Roß von der Admiralität …. Sie wissen, der Tigertöter. Flitzte einfach mit einem Torpedoboot Ihrer Majestät in fünfviertel Stunden die ganze Meerenge lang, kam tropfnaß an und war närrischer als je. Ja, den habe ich nun auch im Stich lassen müssen. Nun, wenigstens finde ich jetzt Zeit, meine Geschäfte zu erledigen. Sie wissen doch … oder vielmehr, Sie können es nicht wissen, daß wir wieder einen Weltring anstreben. Das Petroleum soll viel, viel teurer werden auf der ganzen Erde!“
„Ein löblicher Vorsatz, Nikolai Gawrilowitsch!“
„Ja, es ist schlimm!“ Der alte Deutschrusse senkte den Kopf, daß die strohblonde Knabenperücke im Kerzenlicht glänzte. „Diese Ausbeutung des Volkes ist ein Verbrechen. Und leider sind wir stärker als das Gesetz. Es bietet keine Handhabe gegen uns!“
„Und das sagen Sie?“
„Glauben Sie mir, lieber Freund!“ Der Petroleumkönig hob langsam das sorgengefurchte Antlitz. „Wenn ich nicht Nikolai Augustus Rey wäre – einer der großen Leute in Baku und der großen Millionäre in Petersburg – ich würde auf der Stelle ein Sozialist. Gegen Leute wie uns haben diese Gegner des Bestehenden vollkommen recht. Wir sind Blutegel am lebendigen Organismus. Wir sind Feinde der Menschheit. Wir gehörten ausgerottet zu werden!“
Der Gast schwieg.
„Ausgerottet!“ wiederholte Nikolai Rey und schaute gramvoll in dem Prunkraum umher. „Jeder Zoll an dieser Jacht ist unrecht erworbenes Gut. Aber was soll ich machen? Soll ich allein den Weltlauf ändern? Das kann ich nicht. Also muß ich meinen Gang gehen und weiter Trusts bilden. Der prächtige alte Sir William hat mich gestern noch bei seiner zweiten Flasche 1811er Portweins getröstet! Er sagte: ,Der Tiger ist dazu da, um zu reißen, und das Schaf, um gerissen zu werden. Beide können nichts dafür. Also zerreißen auch Sie weiter die kleinen Leute. Dazu hat Sie die Natur nun einmal bestimmt!‘ Das traf den Nagel auf den Kopf. Sie kommen ja auch aus der Wildnis: können Sie mir nicht auch solch einen Kernspruch sagen?“
„Ich glaube, Sie brauchen gar keine Tröstung,“ meinte der Afrikaner gelassen. „Sie fühlen sich ganz wohl in Ihrer Haut.“
„Nein!“ Nikolai Rey schüttelte kummervoll das Haupt. „Es geht mir wirklich nahe, namentlich an so einsamen Abenden wie heute und wenn das Schiff schwankt, was ich nicht leiden kann. Jetzt habe ich mich wieder verleiten lassen, eine große Spekulation in Weizen zu unternehmen. Und natürlich glückt es auch wie immer und ich gewinne eine Menge Geld. Aber nun versetzen Sie sich, bitte, in die Lage eines Menschen, der sich über jede Hungersnot freuen muß! Der sich die Hände reibt, wenn er von Epidemien der Eingeborenen in Indien hört, oder von Wolkenbrüchen in Ungarn oder von Trockenheit und allgemeiner Not in Argentinien. Ich versichere Sie, solch ein Mensch ist übel dran. Besonders, wie gesagt, bei rauher See, wenn man nicht in Ruhe essen kann!“
Er legte seinem Gast einen gebratenen Ortolan auf den Teller und lehnte sich nachdenklich zurück. „Ich hoffe ja, daß es eine allgemeine Mißernte auf der Welt giebt,“ murmelte er. „Ja, ich habe Grund, es als positiv anzunehmen, besonders bei uns in Rußland. Da wird eine Masse Menschen Hungers sterben und ich gewinne. Glauben Sie mir, das thut weh! Nur anderseits sage ich mir eben: wenn du nicht spekulierst, wächst kein Halm Getreide mehr und wird kein Mund mehr satt. Warum sollen also nicht wenigstens einige Bevorzugte auch aus dem Unglück Geld machen, da sie es ja doch nicht zurückhalten und ändern können? Schließlich habe ich die Welt nicht geschaffen und muß jede Verantwortung dafür ablehnen, wie es auf ihr zugeht!“
Er verstummte. Sein Gast sah ihn mit unbehaglicher Neugier an. Wie beim Betreten des Schiffes hatte er jetzt wieder die Empfindung einer verzauberten Welt, in der alles anders war als da draußen, die Gefühle, die Gedanken, die Menschen.
Dieser kleine Mann ihm gegenüber mit dem klugen, faltigen Knabengesicht und den grauen, eiskalten Augen kam ihm, wie er im Schaukeln des Schiffes bald mit seiner Tischkante über ihn stieg, bald wieder von ihm weg nach hinten sank, wie ein seltsames, unbeseeltes Wesen vor, aus dem befremdend eine menschliche Stimme tönte. Die See draußen mußte gröber geworden sein. Alle Dinge im Zimmer schwangen und klirrten in wiegender Bewegung, wie im Raume eines Hexenmeisters das leblose Gerät gespenstisch in den Winkeln spukt und kichert. Jenseit der Holzwände gurgelte es und klatschte in schwerem Wogenprall und immer rascher schwankte das Speisegemach mit dem lächelnden, rittlings auf einem Stuhl sitzenden Hausherrn.
Der war schon wieder in bester Stimmung. „Ich habe zuweilen solche Anwandlungen!“ sagte er und seinem Zuhörer fiel es wieder ein, daß Nikolai Rey bekanntermaßen außerstande war, von etwas anderem als von sich selbst zu sprechen, und daher selten Gelegenheit fand, seinen Redestrom ungehemmt zu ergießen. „Ich habe aber zum Glück auch eine robuste Gesundheit, körperlich und geistig. Es geht mir nicht leicht etwas nahe! Nicht, daß ich es von mir hielte – etwa mit einer großartigen Handbewegung aller menschlichen Not und Sorge abwinkte – im Gegenteil, meine Wohlthätigkeit ist verschwenderisch und das will in Petersburg und Moskau wirklich was heißen! Aber es packt mich nicht! Ich bleibe so angenehm kühl, gewissermaßen in einer wohlwollenden Neutralität dem Kampf ums Dasein gegenüber. Es ist wirklich ganz amüsant, ihn sozusagen von der Loge aus anzusehen wie ich hier von meiner Jacht!
Früher habe ich mich manchmal über meine Empfindungslosigkeit geängstigt. Mir gesagt: das ist doch nicht normal. Aber nun sehe ich, daß meine Tochter gerade so ist! Ganz genau so! Das tröstet mich. Auf irgend eine Weise erlebt man eben immer Freude an seinen Kindern!“
Der Gast erhob sich. Es ward ihm schwül und beklommen. Es drängte ihn hinaus aus dieser schwimmenden Raubritterburg des 19. Jahrhunderts und fort von ihrem unermüdlich und mit spitzbübischem Lächeln plaudernden Schloßherrn, der offenbar sich selbst als das einzig wichtige und zugleich noch ungelöste Problem des Weltalls erschien.
„Grüßen Sie, bitte, Ihre Tochter,“ sagte er, „und haben Sie Dank! Ich gehe jetzt an Land!“
„Schön!“ Trotz seines freudigen Empfanges und seines Mitteilungsdranges fiel es dem Petroleumkönig nicht ein, einen Menschen, der gehen wollte, zurückzuhalten. „Ich werde Angela Ihr enttäuschtes Gesicht schildern. Kommen Sie morgen wieder?“
„Nein. Ich reise.“
„Und wo trifft man Sie denn einmal wieder in irgend einem Winkel der Welt?“
„Ich weiß noch nicht. Vielleicht … habe ich ein paar Tage in Genf zu thun!“
„Da sind wir uns ja ganz nahe! Ich erzählte Ihnen ja von den Montblanc-Plänen. Da ich Gesellschaft liebe, muß ich meine Jacht in Marseille lassen und mit nach Chamounix. Von da nach Genf ist’s ja nur ein Katzensprung.“
„Ich glaube, wir werden uns trotzdem nicht sehen!“
Das bübische Lächeln erschien stärker als je auf dem Gesicht des unheimlichen Hausherrn, der, knabenhaft klein und schmächtig, neben dem straffgewachsenen Afrikaner auf das Verdeck trat.
„Das sollen Sie neulich in Tetuan auch erklärt haben,“ sagte er kichernd, „und sind doch schon wieder mein lieber Gast! Sie kommen immer wieder zu uns zurück, zu mir und meiner Tochter.
Sie müssen, scheint mir! Auf Wiedersehen am Montblanc. Da will ich schon dafür sorgen, daß Ihnen Angela nicht wieder entrinnt!“ (Fortsetzung folgt.)
[751]
Alle Rechte vorbehalten.
Die Dienstboten vor dreihundert Jahren.
Endlos sind die Klagen unserer Hausfrauen über die Dienstboten. Gewiß gebe es fleißige, treue und zuverlässige, aber diese schienen doch die Minderheit zu bilden! Namentlich in den Großstädten sei mit den Dienstmädchen nicht mehr auszukommen! Da sei es doch besser gewesen in der guten alten Zeit, als noch patriarchalische Zustände herrschten, es keine Fabriken gab und Freizügigkeit unbekannt war. Damals gingen die jungen Mädchen gern und willig in den Dienst und verstanden etwas von der Hausarbeit: sie hatten Achtung vor der Herrschaft und hielten oft in einer Stelle bis ins Alter aus. Wie anders ist das alles jetzt geworden! Wo bist du hin, du schöne gute alte Zeit!
Also denkt die Hausfrau unserer Tage, beneidet ihre Urahne, und der Aerger mit dem Dienstmädchen, der ja keiner erspart bleibt, wird von ihr doppelt schwer empfunden. Vielleicht wird sie sich getröstet fühlen, wenn sie erfährt, daß dieser Uebelstand kein Erzeugnis der Gegenwart ist, sondern schon in alter und wohl auch ältester Zeit bekannt war.
Es liegen uns zwei Zeugnisse aus dem sechzehnten Jahrhundert vor, aus denen wir Belehrung schöpfen können, wie die Dienstboten vor mehr als dreihundert Jahren beschaffen waren. Das eine sind die Wirtschaftsbücher des Nürnberger Ratsherrn Paul Behaim, die im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg aufbewahrt werden. Mit peinlicher Sorgfalt von dem Ratsherrn selbst geführt und nach dessen Tode von dessen Gattin Magdalena, einer geborenen Römer, fortgesetzt, gewähren sie einen Einblick in das Hauswesen und die Bedürfnisse einer wohlhabenden bürgerlichen Familie jener Zeit. Sie enthalten auch lehrreiche Aufzeichnungen über die Dienstboten des Behaimschen Hauses.
Die zweite Schrift besteht in einem dicken in Schweinsleder gebundenen Folianten, der durch Peter Schmid im Jahre 1587 zu Frankfurt a. M. gedruckt wurde und den Titel „Theatrum diabolorum“ führt. Es werden darin menschliche Laster und Schwächen gegeißelt und als Ausfluß teuflischer Verführung dargestellt. Verschiedene Schriftgelehrte haben an diesem „Teufelstheater“ geschrieben und in vierundzwanzig Traktaten sich gegen allerlei Teufel gewendet. Dementsprechend lauten die Ueberschriften der Hauptabschnitte: „Der Hoffartsteuffel“, „Der Neidteuffel“, „Der Schmeichelteuffel“, „Der Eheteuffel“, „Der Spielteuffel“, „Der Kleyderteuffel“, „Der Hosenteuffel“, „Der spekulationische Teuffel“ etc. Uns interessiert hier besonders der Abschnitt vom „Gesindteuffel“, der von M. Peter Glaser, Prediger zu Dresden, verfaßt wurde.
„Der Teuffel hats jetzt darhin gebracht,“ klagt der Prediger, „daß vom Gesind kein gut Wort gefellt; gönnen den Herren nicht das Maul, daß sie fragten, darumb zu fragen war; werden sie gefraget, so wissen sie nicht, ob sie antworten sollen; man darf sie wol einmal oder drey fragen, ehe man ein Wort auß jnen bringt. Und ob sie gleich antworten, so sagen sie Mum Mum, daß einer nicht weyß, obs gehauen oder gestochen ist, wenden das Maul von Herrn und Frauwen, kehren ihnen den Rucken zu und gönnen jnen nicht das Angesicht oder antworten mit schnorrenden, porrenden, hönischen und schnüppischen Worten ….
Es ist auch das Gesinde jetzt so klug und Nasenweiß worden, daß sie alles besser wissen und können wölln, denn Herren und Frauwen, und wölln immer was anders thun an deß statt, das jnen befohlen wirt, oder aber thun das befohlene nicht so bald als mans haben wil, sondern thun zuvor was anders, das ist ein sehr verdrießlich Ding.“
Diesen Verdruß hat die Hausfrau auch heute nur zu oft. Wenn sie aber glaubt, daß die Dienstboten in alten Zeiten sich leichter zurechtweisen und belehren ließen, dann irrt sie; denn Peter Glaser klagt:
„Item, wenn das Gesinde gestrafft wird, schmollen und zürnen sie einen Tag oder etliche; wölln kein Wort reden, hangen das Maul oder werffens auf, schlagen nach sich die Thüre mit Gewalt zu, werfen Krüge und Kannen, Töpfchen, Tiegel und Pfannen, Schüssel und Teller und alles über ein hauffen; und will man Friede im Hause haben und grössern Schaden meiden, so muß man stillschweigen.“
Gerade wie bei uns begann die Not mit den Dienstboten vor Jahrhunderten schon vor dem Antritt des Dienstes; denn der Dresdner Prediger belehrt uns:
„Nachdem die Mägde sich zu Dienst versprochen, stoßen jnen bisweilen, wie sie meynen, bessere Dienste für, und finden sich Leute, die schlagen jnen andere bessere und leichtere Dienste für, entweder bey sich selbst oder bey andern. Und wirt also das Gesinde offt dahin gebracht, daß es den Dienst auffsagen oder auffkündigen lässet, schicken den Herren und Frauwen das Gelt wider, welches sie darauf genommen, ziehen entweder an frembde und andere Oerter, oder so mans nicht nachgeben will, stellen sie sich kranck und bleiben eine zeitlang daheym oder anderßwo, bis die Herren andere gemieten, darnach werden sie bald wieder frisch und dienen anderen.“
Und wie war es wohl in der alten Zeit mit dem Einhalten des vereinbarten Dienstjahres bestellt? Hören wir einmal, wie der „Teufel“ in dieser Hinsicht das Gesinde beeinflußte:
„Wenn das Gesinde angezogen ist, und sie sehen, daß sie nicht bessere Gelegenheit haben, denn zuvor, und so gute Tage, wie sie jnen haben träumen lassen, da dencken sie, wie sie mögen loß werden, lauffen entweder darvon oder machens und erzeigen sich also, Laß man sie solle oder auch wol muß ziehen lassen, will man anderß großes Schadens, mancherley Verdrießlichkeit und Beschwerung überhoben sein. Und wenn die Arbeit am nötigsten ist, da man sie am wenigsten und übelsten entrathen oder entbehren kann, sind sie am aller mutwilligsten, thun und lassen, was sie wöllen, und so es die Herren nicht leiden wöllen, setzen jnen bald den Stul vor die Thür und sprechen: ,Diene ich euch nicht, so gebet mir meinen Lohn und schaffet euch ander Gesinde!‘ Gehen darauf darvon, verklagen die Herren. Und man findet auch Oberkeit, welche dazu hilfft, daß man solchem losen Gesind das Lohn geben und nicht furhalten soll, damit denn die Bosheit deß Gesindes gestärcket werde …. Etliche auch damit sie vom Dienste, der jnen nicht gefellet, mögen loß werden, gebrauchen sie Tück und List, stellen sich kranck, damit die Herren verursachet werden, jnen zu erlauben heimzuziehen.“
Ueber die naschhaften Dienstboten erfahren wir:
„Wie die gantze Welt darüber klaget, findet man jetzt wenig treuw Gesinde. Und darff fast niemands dem Gesinde die Schlüssel vertrauwen, ja sie machen jnen wol selbst Schlüssel. Benaschen erstlich alles was in Töpffen, Schüsseln oder anderswo ist, und verderben offt das andere, was sie lassen bleiben, wie denn manche Kost und Speise dadurch verderbet wird, wenn man mit Fingern drein tauchet und darauß naschet. Etliche stelen sonst allerley, was zu essen dienet, als Eyer, Butter, Milch, Käß, Speck, Fleisch, Mehl, Obst und dergleichen, und lassen sich bedüncken, dieweil es solch Ding ist, das zu essen dienet, so sey es keine Sünde.“
Doch genug der Beispiele aus dem „Theatrum diabolorum“! Blättern wir jetzt ein wenig in den Wirtschaftsbüchern des Ratsherrn Paul Behaim! In knapperen und dürren Worten geben sie uns fast dasselbe Bild. Wir erfahren zunächst, daß man die Köchin Susanne, welche nur ein Vierteljahr, von Lichtmeß bis Walburgis (2. Februar bis 1. Mai) 1556, im Dienste des Hauses stand, „fahren ließ, umb das sie so gar faul und langksam gewest ist“.
Die Köchin Klara „ist gar faul, frech und entwicht (nichtsnutzig) gewest“; sie wurde nach kaum vier Monaten am 10. Febr. 1561 „geurlaubt“, während die Untermagd Endlein, die Lichtmeß 1562 in den Dienst getreten, bereits zu Laurenzi wieder entlassen werden mußte, „umb wegen, daß sie so gar kindisch unachtsam gewest ist, und ir nichts zu vertrauen großer Ungeschicklichkeit halber“. – Die Köchin Els wurde Lichtmeß 1562 angenommen „und nach dem ir mutter gestorben ist, hat sie vil ursachen furgewendt (vorgebracht), nit zu pleiben, also hat sie mein weib am 20. marcio (März) 1563 faren lassen“. – Die Untermaid Juliana mußte nach einjähriger Dienstzeit am 29. Juli 1563 „geurlaubt werden, da sie sich mit der kindsmaid nit hat konnen betragen“. – Eva wurde Allerheiligen 1562 als Kindsmaid angenommen, „hat mein weib itzt liechtmeß 1563 wider geurlaupt, umb sie so gar pos und heftig ward“. – Nicht viel besser war eine andere Kindsmaid, die Magdalena. Nachdem sie Laurenzi 1564 gedingt worden, wurde sie Laurenzi 1565 „geurlaupt, von wegen, daß sie unter mein kindern allein einem kind, dem Friedrich, ist obgelegen, und ir die andern zu vil sind gewest, der ihrer zu warten“. – Die Köchin Ketterle diente von Laurenzi 1563 bis eben dahin 1565; sie mußte entlassen werden, „umb sie als bos gegen andern maiden gewest ist und sonst nichts kenth (verstanden) hat“. – Die Untermaid Werble aus Bamberg trat ihren Dienst zu Laurenzi 1563 an und ist nach Verlauf eines Jahres „geurlaupt worden von wegen, daß sie sich mit der kochin nit hat können vertragen“. Bald darauf mußte auch ihre Nachfolgerin die Untermaid Berblein den Dienst aufgeben, „umb sie gar faul und nit arbeitsam gewest“. – Die Kindsmaid Margrett, von Laurenzi 1565 bis Lichtmeß 1566 im Dienst, „hat mein weib faren lassen, umb sie ein gar grober püssel gewest ist“. –
Zum bessern Verständnis dieser Mitteilungen sei noch hinzugefügt, daß, wie wir aus andern zeitgenössischen Berichten wissen, in Nürnberg ehedem die Dienstboten meist auf ein Jahr gemietet wurden, daß aber diese Zeit von beiden Teilen selten innegehalten wurde. Feststehende Mietstermine waren Mariae Lichtmeß, Walpurgi, Laurenzi und Allerheiligen. Der Lohn war den damaligen Verhältnissen durchaus angemessen. Die Untermaid erhielt auf das Jahr 4, die Köchin 6, die Kindsmaid sogar 7 fl.
Aus einigen Bemerkungen Behaims erfahren wir, daß es damals, wie jetzt, auch gute und treue Dienstboten gegeben hat. Nur wurde ihr Lob nicht so laut verkündet. Um gerecht zu sein, muß man schließlich des Sprüchleins gedenken „Wie der Herr, so der Diener“; oft ist das Gesinde schlecht, weil die Herrschaft nicht viel taugt, und wo die Hausfrau sich um die Wirtschaft nicht bekümmert, kann es keine gute Magd geben.
Darum ist auch zu beklagen, daß nicht aus jener alten Zeit auch eine Kunde von Beschwerden der Dienstboten über ihre Herrschaft, an denen es sicherlich nicht gefehlt haben wird, auf uns gekommen ist. Dem Zeitbilde, das auch ohne sie interessant genug ist, würde dann nichts mehr an seiner Vollständigkeit fehlen. G. S.
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Alle Rechte vorbehalten.
In der Porzellanfabrik.
Auch die Erfindungen spiegeln ihre Zeit wider. Die großen Erfolge der heutigen Naturwissenschaft, welche uns lehrten, durch Dampf und Elektricität Raum und Zeit zu besiegen – wie weltumgestaltend wirken sie, verglichen mit der Erfindung, welche in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Augen der Welt auf sich zog. Und doch begrüßte man in der Erfindung des Hartporzellans, die um 1730 dem sächsischen „Alchimisten“ Böttger gelungen war, eine wichtige Förderung des Nationalwohlstandes. Galt es doch als sicher, daß die für jene Zeit beträchtlichen Summen, die für das vielbegehrte Töpfergut bisher nach Ostasien gewandert waren, nunmehr dem Vaterlande zu gute kommen würden; Grund genug, daß kunstsinnige Fürsten und erwerbseifrige Industriegesellschaften allerorten Fabriken bauten, um die neue Erfindung auszubeuten.
Nicht unbestritten ist dem Deutschen Böttger der Ruhm seiner Erfindung geblieben. Man hat sich bemüht, nachzuweisen, daß lange vor ihm schon in Europa Porzellan erzeugt worden sei. Einige Verwirrung hat in diese Untersuchungen die in alten fürstlichen Inventarien schon seit dem 14. Jahrhundert vorkommende Erwähnung gewisser „Vasa porcellanea“ gebracht. Jetzt dürfte ziemlich feststehen, daß sich diese Bezeichnung auf die in Silber und Gold gefaßten Prunkgefäße aus der Schale der porcella, einer Seemuschel, beziehen, vielleicht auch auf einzelne wirkliche Gefäße aus Hartporzellan, die auf dem Handelswege von China ins Abendland verschlagen waren und die man hier nach der Aehnlichkeit ihres Stoffes mit demjenigen der erwähnten Muschel auf den Namen derselben taufte. An Versuchen, derartige chinesische Originalgefäße nachzubilden, hat es im Abendlande schon früher nicht gefehlt. Doch stellen sich die sogenannten Medici-Porzellane, welche um 1580 in Florenz hergestellt wurden, sowie derjenige Stoff, welcher gegen Ende des 17. Jahrhunderts in St. Cloud erzeugt wurde, als eine wesentlich andere, bei niedrigerer Temperatur schmelzbare Masse, als sogenanntes Weich- oder Frittenporzellan dar. Um den grundsätzlichen Unterschied derselben von dem eigentlichen Hartporzellan, der Erfindung Böttgers, zu verstehen, ist es notwendig, auf die Natur der letzteren einen kurzen Blick zu werfen, dem sich eine Schilderung des heutigen Ganges der Porzellanfabrikation anschließen möge.
Der unterscheidende Bestandteil des Hartporzellans ist das Kaolin, ein Thon, der aus der Verwitterung thonerdehaltiger Silikate entsteht und in Deutschland an verschiedenen Stellen in den Ablagerungsebenen am Fuß der Urgebirge vorkommt. Neben diesem an sich unschmelzbaren Bestandteil enthält das Porzellan einen zweiten, das Flußmittel, meist im Verhältnis von 70 zu 30. Als Flußmittel, welches für sich unbildsam ist, verwendet man meist Feldspat, auch Kiesel, Feuerstein, Porzellanscherben u. ähnl. Die Flußmittel schmelzen mit dem Kaolin zu einer glasartigen, aber undurchsichtigen Masse zusammen; indem sie die Thonteilchen beim Schmelzen umhüllen und miteinander verbinden, machen sie das Schmelzprodukt kompakt, klingend, glashart und bis zu einem gewissen Grade durchscheinend.
Wenn wir eine Porzellanfabrik besuchen, um uns an der Hand eines kundigen Führers in die Herstellung dieses einst so teuer geschätzten, heute so alltäglichen Gebrauchsmaterials einweihen zu lassen, so werden wir zunächst in diejenige Abteilung geführt, in welcher die Zubereitung der Materialien vor sich geht. Wir erstaunen über die Sorgfalt, mit welcher dieselbe vorgenommen wird. Der Thon, der entweder an Ort und Stelle gegraben oder von auswärts bezogen wird, muß, um von allen fremden Beimengungen befreit und absolut gleichmäßig zu werden, dem Prozeß des „Schlemmens“ unterzogen werden. Man löst die feingemahlene Erde in reichlichem Wasser auf, füllt den milchartigen Brei in offene Fässer oder Bottiche und läßt die fremden Bestandteile zu Boden sinken, worauf man die gereinigte Masse durch Hähne, die in verschiedener Höhe angebracht sind, abläßt. Neben dieser älteren Methode wendet man in größeren Betrieben zu demselben Zweck die Schlemmgruben an, eine Reihe flacher Bassins in verschiedener Höhenlage, in deren oberstes die unreine Flüssigkeit eingefüllt wird, um nach Senkung der fremden Stoffe in das nächstfolgende Bassin abgelassen zu werden, bis dem untersten die reine, zum Verarbeiten geeignete Thonerde entnommen werden kann.
Das Flußmittel, das in Form von Steinbrocken zur Verfügung steht, wird zunächst durch Rösten brüchig gemacht, alsdann in einem Stampfwerk zu Pulver zerkleinert. Ist nun Thon und Fluß in dem oben angegebenen Verhältnis gemengt, so läßt man die Masse, mit Regenwasser angefeuchtet, einige Wochen liegen, damit sie verwittert. Es tritt eine Art Gärung ein, welche die Masse so fein werden läßt, daß sie sich wie Seife anfühlt. In früherer Zeit wendete man zur Verfeinerung der Masse das Sieben an. Ein an seinem unteren Rande mit Taffet oder feinem Leinen bezogenes Sieb wurde auf zwei Lattenstücken über die oberste Oeffnung eines aufrechtstehenden Fasses gestellt. Mit einem Handkübel füllte man [753] die von der Mühle gekommene Masse, welche durch Zusatz von Wasser die Dichte einer etwas dicken Milch erhielt, in das Sieb; durch Anschlagen mit den Händen von beiden Seiten wurde die Masse nach und nach durch letzteres durchgetrieben und floß in der gewünschten Feinheit in das Faß ab. Unsere Illustration S. 752 führt uns in die Massenmühle. In einem Bottich wird durch ein von der Maschine bewegtes Rührwerk ein inniges Gemenge der einzelnen Bestandteile der Masse herbeigeführt; eine Arbeiterin wartet auf das Anfüllen ihrer Kufe aus dem Bottich, um die fertige Masse in die Arbeitsräume zu tragen.
In der Dichte, welche die Masse in der Mühle erlangt hat und die einem zum Gießen angemachten Gipsbrei entspricht, wird dieselbe nur zum Ausziehen der Formen gebraucht, womit wir auf dem Bilde S. 754 rechts einen Arbeiter beschäftigt sehen. Wir werden später noch einer anderen Verarbeitung der Masse begegnen, wollen uns jedoch zunächst mit den Gußformen beschäftigen, zu welchem Zwecke uns unser Führer das Atelier der Modelleure öffnet. Denn nicht nur zu Ziergefäßen und zu dem täglichen Geräte unseres Tisches wird das Porzellan verwendet, es hat Besitz von der Kunst ergriffen und schon ein halbes Menschenalter nach seiner Erfindung ein wichtiges Gebiet der Kleinplastik erobert. Dieselbe Rolle, welche bei den Griechen die so hochgeschätzten Thonfiguren aus Tanagra, der Stolz unserer Museen, spielten, wurde den Porzellanfiguren und -gruppen zugewiesen, die bald die begehrtesten Erzeugnisse der Fabriken von Berlin, Meißen, Höchst, Frankenthal, Ludwigsburg etc. wurden. Betrachtet man die geradezu fabelhaften Preise, welche auf heutigen Auktionen für wohlerhaltene Exemplare dieser zierlichen Kunstwerke gezahlt werden, so könnte man auf den Schluß kommen, daß ihre Herstellung heute verlorengegangen wäre. Und doch blüht dieselbe mehr als je zuvor; nicht allein daß man, wie in Meißen und Berlin, die alten Formen noch heute benutzt – namhafte Künstler sind vielmehr damit beschäftigt, teils im Sinne der alten, teils in durchaus moderner Auffassung, wie in Berlin, Werke der Kleinplastik zu schaffen, die bei Liebhabern und Sammlern begeisterte Abnahme finden.
In das Atelier dieser Künstler führt unser obenstehendes Bild. Im vollen Licht der hellen Atelierfenster modelliert der eine, der rechts steht, eine Genrefigur, ein anderer eine kleine Büste. Der Mittelste läßt unter seinem Modellierholz eine weibliche Gestalt in schwungvoller Pose entstehen, die vielleicht zur Dekoration einer großen Ziervase bestimmt ist. Die in Modellierthon bossierten Figuren werden in Gips in sogenannten Stückformen abgeformt; der vierte Modelleur scheint im Begriff zu sein, eine solche Form zu „putzen“. Ganz wie beim Gipsgießen werden dann die einzelnen Stücke der Form zusammengesetzt und die flüssige Porzellanmasse hineingegossen. Der poröse Gips zieht bald das Wasser aus dem Gießbrei an sich, so daß nach kurzer Zeit die Form geöffnet und die Figur zu weiterem Trocknen herausgenommen werden kann. Besonders losgelöste Teile wie Arme und Beine werden für sich geformt und mit Massebrei an die Körper angeklebt. Dies Ansetzen, sowie das „Uebergehen“ der fertigen Figur mit dem Modellierholz, um die Nähte und sonstigen kleinen Fehler zu entfernen, fordert besonders geschickte Arbeiter; auf der Illustration S. 756 sehen wir sie am Mitteltisch bei der Arbeit.
Das Gußverfahren in Hohlformen wird aber nicht nur bei der Herstellung der Figuren, sondern auch bei den meisten Gefäßen angewendet, besonders wenn dieselben Reliefverzierungen haben. Nur bei größeren Gefäßen ist die Arbeit auf der Drehscheibe in Uebung. Die Masse, welche hierfür eine Dichte wie plastischer [754] Thon haben muß, wird aus dem dünnflüssigen Brei durch Auspressen des Wassers gewonnen, zu welchem Zwecke man sie in die „Massenpresse“ (s. S. 752 rechts) bringt. Hierauf wird sie auf der gewöhnlichen Töpferscheibe mit der Hand und hölzernen Instrumenten „aufgedreht“, bis sie annähernd die gewünschte Form hat. Man läßt sie ein wenig antrocknen und bringt sie dann in eine auf der Drehscheibe stehende Hohlform von Gips, in welche sie eingedreht wird, um gewünschten Falles die in der Form vertieft vorgesehenen Reliefverzierungen zu erhalten. Man unterwirft sie hierauf einem weiteren Trocknungsprozeß, bis sie „lederhart“ ist, und dreht sie auf der Scheibe nochmals ab, wobei namentlich den Wandungen die überflüssige Dicke genommen wird. In der linken Ecke unserer Illustration S. 756 sehen wir den Dreher bei der Arbeit. – Der lederharte Zustand des Gefäßes ist auch derjenige, in welchem bei durchbrochener Arbeit, Gitterwerk u. dergl., die durchbrochenen Stellen mit feinen Messern ausgestochen werden. Freies Modellieren in der plastischen Masse kommt nur bei der Blumenarbeit vor, bei welcher einzelne Blättchen von besonders darauf eingeübten Arbeiterinnen mit den Fingern geknetet und zusammengesetzt werden. Mehr noch als diese zum Teil sehr kunstvolle Blumenarbeit pflegt von Laien die bei Porzellanfiguren häufig angewendete Dekoration mit Tüll und Spitzen bewundert zu werden. Und doch ist dieses zuerst von der Berliner Manufaktur aufgebrachte Kunststück sehr einfach: der Tüll wird in dünnflüssige Masse eingetaucht, bis sich die Fäden damit vollgesogen haben, und um die Finger drapiert. Im Ofen verbrennt der Tüllfaden und das feine Gewebe bleibt als Porzellan zurück.
Soweit die Formerei! – Um aus dem „lufttrocken“ gewordenen Gegenstand das blanke Porzellanstück herzustellen, muß dasselbe glasiert und gebrannt werden. Vorher jedoch bringt man ihn in den „Rauch- oder Verglühofen“, in welchem ihm durch schwachen Brand größere Festigkeit gegeben wird (S. 755 unten). Dieser Ofen hat im Prinzip Aehnlichkeit mit einem Backofen. Wir sehen den Schmelzer, nachdem er die Thür des auf Weißglühhitze gebrachten Ofens geöffnet hat, die zu verglühenden Gegenstände auf einem Blechuntersatz hineinschieben. Aus diesem Ofen geht das Porzellan als weiße, poröse Masse hervor. Diese kommt in die Hand des Malers, wenn die farbige Dekoration mit „Unterglasurfarben“ vorgenommen werden soll. Zu diesen gehört z. B. das Blau des bekannten Meißner Zwiebelmusters. Unterglasurfarben kann auch der Laie beim fertigen Stück leicht erkennen, wenn er mit dem Finger über die Malerei fährt: er wird bei denselben keinerlei Erhöhung fühlen, bei Punkten und Tupfen vielmehr eine kleine Vertiefung, während die auf die Glasur aufgetragenen Farben sich dem Gefühl immer als schwache Erhöhung bemerklich machen. Die meisten Fabrikmarken werden unter Glasur aufgetragen.
Die Glasur ist ein milchartiger Brei, dessen Bestandteile, im wesentlichen Kiesel, Porzellanscherben und Gips, auf der Glasurmühle zerkleinert worden sind. Der Auftrag der Glasur geschieht durch Eintauchen. Nur diejenigen Gegenstände, welche in sogenanntem Biskuitporzellan ausgeführt werden sollen, werden ohne Glasur in den Ofen gebracht.
Um die zu brennenden Gegenstände vor jeder Verunreinigung oder Beschädigung zu schützen, werden sie in geschlossene Kapseln oder Muffeln aus feuerfestem Thon gestellt und mit diesen in den Ofen gebracht. Mit dieser Thätigkeit sehen wir die Arbeiter auf unserem größeren Bilde (S. 757) beschäftigt. Der Brenner trägt sie in den Glattofen, einen großen, cylindrischen Bau, welcher oben mit einer Kuppel geschlossen und dessen Inneres aus feuerfesten Ziegeln gebildet ist. Die Feuerzüge, welche unterirdisch angelegt sind, gestatten, das ganze Innere in Glut zu versetzen. Im Innern dieses Kuppelraumes baut nun der Brenner die gefüllten Muffeln kunstvoll auf, so daß das Feuer zwischen den Lücken derselben hindurchschlagen kann.
Ist der Ofen bis zur Kuppel gefüllt, so wird die Eingangsthür mit feuerfesten Steinen vermauert; kleine Schaulöcher, mit Marienglas verschlossen, gestatten, das Innere während des Brandes zu kontrollieren. Die Temperatur des „Glattofens“ schwankt je nach der Zusammensetzung der Masse zwischen 2400 und 3000 Grad Celsius. Ist der Brand beendet, so wird nach langsamem Erkalten die fertige Ware sortiert, wobei sich verhältnismäßig wenig ganz fehlerfreies Porzellan ergiebt.
Die letzte Arbeit ist das Bemalen und Vergolden oder „Staffieren“ auf der Glasur. Waren zum Malen unter Glasur nur wenige Farben geeignet, so ist die Palette des eigentlichen Porzellanmalers beinahe unbeschränkt und enthält Farben von besonderer Schönheit und Leuchtkraft. Die Arbeit der Maler sehen wir auf dem obern Teil des Bildes auf S. 755 dargestellt. Das Einbrennen der Farben erfolgt wieder in Muffeln, jedoch bei schwächerem Feuer. Das Gold, sofern nicht das billige „Blankgold“ angewendet wird, kommt als braungelbe Farbe aus dem Brand und erhält erst durch Polieren seinen Metallglanz.
Die Arbeit des Porzellanmalers erfordert natürlich je nach den gestellten Aufgaben ein sehr verschiedenes Maß von Künstlerschaft. Während wir in den kleineren thüringischen Fabriken barfüßige Bauernmädchen finden, die um bescheidenen Taglohn jene bekannten Streublümchen malen, die meist zur Verdeckung kleiner Glasurfehler dienen, kommen wir in den großen Manufakturen Berlin, Meißen, Sèvres, Kopenhagen etc. in [755] Künstlerateliers, in welchen hochbezahlte Meister farbenprächtige Blumenstücke, stimmungsvolle Landschaften oder Kopien berühmter Gemälde auf dem Porzellan darstellen.
Werfen wir nach dieser Darlegung des technischen Verfahrens bei der Porzellanbereitung noch einen kurzen Blick auf die Geschichte dieser Fabrikation in Deutschland. Der Erfinder des Porzellans, Johann Friedrich Böttger, der als Alchimist in kursächsischen Diensten stand, gelangte nur auf Umwegen zu der Herstellung des weißen Hartporzellans. Im Jahre 1711 trat er zuerst mit Gefäßen an die Oeffentlichkeit, welche, aus rotbraunem oder schwärzlichem glasharten Steingut verfertigt, sich als Nachahmungen der unter dem Namen Bukhara-Theekannen bekannten ostasiatischen Erzeugnisse darstellten. Erst 1730 bezog er zum erstenmal die Leipziger Messe mit Gefäßen aus weißem Hartporzellan. Der große pekuniäre Erfolg der neuen Fabrikation, von deren Schwierigkeiten man außerhalb der eingeweihten Kreise keine Ahnung hatte, ließ bald nach Böttgers Erfindung eine Menge Fabriken entstehen, welche als Leiter entlaufene Dresdener „Acranisten“ (von arcanum, Geheimnis, also Eingeweihte) mit schwerem Gelde zu gewinnen suchten und sich hinsichtlich der Leistungsfähigkeit derselben meist betrogen sahen. So entstand 1718 die Fabrik zu Wien, unter dem aus Meißen gekommenen Samuel Stenzel. Mit manchen Mißerfolgen kämpfend, fristete sie sich bis 1744 hin, in welchem Jahre sie von Maria Theresia zur Staatsmanufaktur erhoben und größerer Blüte entgegengeführt wurde. 1744 wurde in Braunschweig die Fürstenberger Fabrik gegründet, zwei Jahre später diejenige zu Höchst a. M., der zuerst der Meißner Löwenfink vorstand. Auch diese Fabrik, über deren Schicksale wir durch eine ausgezeichnete Monographie von E. Zais unterrichtet sind, hatte Jahre schweren Ringens mit Mißerfolg und Geldmangel durchzumachen, bis das Kurfürstentum Mainz sich derselben annahm. Die Periode größten Ruhmes der Höchster Fabrik war diejenige, in welcher der bedeutende Bildhauer Melchior die Modelle für die daselbst erzeugten Figuren machte, die noch heute im Kunsthandel sich der höchsten Wertschätzung erfreuen.
Die Berliner Fabrik wurde 1751 als Privatunternehmung des Kaufmanns Wegeli gegründet; 1763 wurde sie für 225000 Thaler von Friedrich dem Großen, der sich schon als Kronprinz für dieselbe interessiert hatte, in ein Staatsinstitut umgewandelt, als welches sie nach mannigfachen Schicksalen noch heute in erhöhtem Glanz besteht. Da der „Scherben“ der Berliner Manufaktur stets als der vorzüglichste galt, so hatte sie zu allen Zeiten ihres Bestehens das unbestrittene Uebergewicht für alle Gefäße zu chemischen und andern technischen Zwecken. In ihrer künstlerischen Entwicklung machte sie alle Stilwandlungen durch, bis ihr in neuester Zeit durch eine Anzahl jüngerer Künstler ein Aufschwung in ganz modernem Sinne beschieden war, der seinen höchsten Triumph auf der Ausstellung zu Chicago feierte.
Ein Jahr nach der Berliner Fabrik, 1751, wurde die zu Frankenthal in Rheinbayern gegründet. Der erste Meister dieser Fabrik war der aus Straßburg stammende Kunsttöpfer Hannong; ihr Hauptförderer der als Schutzherr der Kunst bekannte Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz.
Eine große Zahl anderer Fabriken entstand noch in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, wie Ludwigsburg, Nymphenburg, Kassel, Fulda, Rudolstadt, Gotha, Gera – ihre Geschichte bietet fast überall das gleiche, wenig erfreuliche Bild: Streitigkeiten mit den „Arcanisten“, welche ihre Versprechungen nicht zu halten vermochten, unzulängliche Einrichtungen, in deren Folge zahlreiche Fehlbrände den Betrieb unrentabel machen; endlich letzte Hilfe vor dem Bankerott durch das Eingreifen des Landesherrn.
Für die stilistische Entwicklung des deutschen Porzellans ist die Meißner Fabrik am meisten maßgebend, deren erste Periode unter Böttger wir oben bereits verfolgt haben. Nach Böttgers Tode 1720 kam ein tüchtiger Maler Namens Herold an die Spitze der Fabrik; während seiner Thätigkeit sind zwei stilistische Richtungen zu unterscheiden: eine ältere, welche versuchte, die chinesischen und japanischen Vorbilder täuschend nachzuahmen, und eine jüngere, die sich von diesem Geschmack ziemlich befreite und den Uebergang zum Barockstil bildete. Dieser charakterisiert sich durch seine Vorliebe für das Derbe und Schwülstige, wodurch freilich die schlichte Grazie der älteren Formen verloren ging, aber auch oft eine wundervoll malerische und kraftvolle Wirkung erzielt wurde.
Das Jahr 1740 brachte durch einen Maler Keltner den Rokokostil zur Geltung, der zwar keine neuen konstruktiven Elemente kannte, sondern seine Gefäßformen vielfach den von dieser Formengruppe beherrschten Silbergefäßen entlehnte; die Hauptrolle spielte bei ihm eine willkürliche aber äußerst anmutige Ornamentik. Die Bemalung hielt sich in hellen, gebrochenen Farben und nahm auch chinesische Motive in ihr System auf. Später jedoch begann man, die Gefäße mit plastischen Ornamenten zu belegen. Und von da [756] an war es nur ein Schritt, um das Porzellan in den Dienst der Plastik zu stellen. Dieser Schritt wurde bald gemacht: man fabrizierte nicht mehr nur Gefäße, sondern auch Figuren der mannigfaltigsten Art, bis zu den kompliziertesten Gruppen, von welchen der berühmte „Parnaß“ eines der bezeichnendsten Beispiele ist.
In der Malerei verschwanden jetzt die chinesischen und japanischen Elemente vollständig: Jagd- und Schlachtscenen traten an ihre Stelle; bald verlangte man hier eine Symbolik, und nicht selten auf Kosten der Kunst. Diese und andere Umstände mußten zum Niedergang der gesamten Porzellanindustrie führen. Beschleunigt wurde dieselbe durch die Napoleonischen Kriege, nachdem von 1765 bis 1780 unter dem Grafen Marcolini ein Uebergangsstil, gekennzeichnet durch Einfachheit in den Gefäßformen, und gegen Ende des Jahrhunderts eine Periode steifer Klassicität eingetreten war. Glücklicherweise ist seit jenen Tagen wieder ein bedeutender Aufschwung in dieser Industrie erfolgt, und gegenwärtig befindet sie sich, dank hauptsächlich der Rückkehr zu den Mustern des Rokoko, wieder in erfreulicher Blüte.
Schloß Josephsthal.
(Schluß.)
Seit zwei Tagen war die ganze Physiognomie des Josephsthaler Schlosses völlig verändert. Die elektrischen Glocken waren zum größten Teil abgestellt, die Diener huschten auf noch leiseren Sohlen als sonst, die Thüren gingen geräuschlos in ihren Angeln, zwei barmherzige Schwestern aus Greifswald waren häufig auf den Gängen und Treppen anzutreffen, Aerzte kamen und gingen, ein alter Herr mit schneeweißem Haar und traurigen blauen Augen schlich beständig, wie ein ruheloser Geist, von Zimmer zu Zimmer, von Stiege zu Stiege, um immer wieder an eine verschlossene Thüre zurückzukehren – Kübel mit Eis und Kompressen von Leinen oder Wundwatte mit Jodoform wurden umhergetragen ... es war wie in den schauerlichen Sterbetagen des Barons von Hofmann: das Schloß war in ein Krankenhaus umgewandelt.
Wenn der junge Mann, der da auf seinem Sterbebette lag – für Françoise stand es fest, daß er sterben mußte! – auch sehr hübsch war und die Baroneß ihn ihren Vetter und den alten Herrn „Onkel Eberhard“ nannte ... mon Dieu, die Thatsache stand doch fest: er war Buchhalter in der Oelmühle und bezog jährlich so und so viel Gehalt aus Alix’ Tasche! – Françoise wagte natürlich nicht, zu Mignonne direkt etwas zu äußern. Aber ihre ganze Persönlichkeit war in diesen Tagen nichts als ein lebensgroßer Protest. Zehnmal des Tages lief sie zu Frau von Sperber: „Ich kann nicht schweigen, ich muß mir mein Herz erleichtern! O, Madame, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir Ihre wahre Meinung: billigen Sie dies? Finden Sie es richtig, daß eine unverheiratete, vornehme junge Dame einen jungen unverheirateten Herrn in ihr Haus aufnimmt und ihn da verpflegen läßt, als sei er ein Prinz?“
Die Majorin konnte nicht umhin, wenngleich in etwas veränderten Wendungen, allemal dieselbe Antwort zu geben: „Liebe Françoise, ich kann nichts Unpassendes dabei finden. Die Baroneß ist, obgleich jung an Jahren, doch klug genug, um zu wissen, was sie thut, und die Konsequenzen ihrer Handlungsweise zu tragen. Sie steht auch nicht allein und ohne mütterlichen Rat und Schutz, wofür wäre ich denn da? Hätte Alix, die über so viel Mittel und helfende Hände verfügt, den jungen Mann hilflos im Walde in seinem Blute liegen sehen und nach Hause reiten und gemütlich frühstücken sollen, als wenn nichts geschehen wäre?“
„Nein, aber sie konnte ihn ins Josephsthaler Krankenhaus bringen lassen und, wenn sie schon ein übriges thun wollte, für eine gute Verpflegung dort sorgen.“
Dann seufzte die Französin; und Frau von Sperber seufzte auch, wenngleich aus andern Gründen.
[757]
[758] Sie konnte das Gesicht nicht vergessen, mit welchem Alix an jenem Schreckensmorgen vor sie hingetreten war und ihr gesagt hatte: „Es ist ein Unglück geschehen; ein Duell hat stattgefunden, und ein Schwerverwundeter wird hierher nach dem Schloß gebracht, auf meinen speziellen Wunsch. Ich bin rasch vorausgeritten, sowie wir aus dem Walde heraus waren, um es Ihnen zu sagen. Wir werden alle Vorkehrungen treffen, Pflegerinnen aus Greifswald kommen lassen, und, nicht wahr, liebe Frau von Sperber“ – hier hatte Alix plötzlich beide Arme um den Hals der Dame geschlungen – „Sie werden uns mit Ihrer Erfahrung, Ihrem Rat zur Seite stehen – um meinetwillen?“
Da hatte die Majorin das junge Mädchen zum erstenmal mit mütterlicher Innigkeit ans Herz gedrückt und mit gerührter Stimme alles zu thun versprochen, was in ihren Kräften stand, denn in jenem Augenblick hatte sie Alix’ Geheimnis erraten; sie wußte, den Mann, welchen sie jetzt unter das Dach ihres Hauses führte, diesen Mann mußte Alexandra von Hofmann lieben!
Sie waren einander um vieles näher gekommen in diesen beiden Tagen, die zwei Frauen. Frau von Sperber, die lange ihren leidenden Mann gepflegt, wußte im Krankenzimmer gut Bescheid und ordnete alles Erforderliche mit Ruhe und Umsicht an. Sie war im Zimmer, als Doktor Petri die Kugel herauszog, sie machte, ehe die barmherzigen Schwestern aus Greifswald eintrafen, den Assistenten des Arztes, that alle Handreichungen, scheute vor nichts zurück und erntete Doktor Petris höchste Anerkennung. Sie brachte Alix von dem Verlauf der wichtigen Untersuchung Bescheid, duldete nicht, daß das junge Mädchen die Krankenstube in diesen entscheidenden Stunden betrat, und beruhigte den alten Vater Hagedorn, der zugleich mit den Pflegerinnen, auf Alix’ Benachrichtigung, von Greifswald herübergekommen war.
Der alte Herr hatte völlig den Kopf verloren. Die Schreckensnachricht hatte ihn ganz unvorbereitet getroffen und ihn total daniedergeworfen. Er wollte beständig im Krankenzimmer bei seinem „Jungchen“ sein, gebärdete sich daselbst aber ganz fassungslos, begann zu weinen, behauptete, den Anblick nicht ertragen zu können, und lief davon, um nach zehn Minuten mit geröteten Augen auf den Fußspitzen wieder heranzuschleichen, Besserung zu geloben und, kaum wieder zu dem Kranken gelassen, dieselbe Scene zu wiederholen. Doktor Petri sowie der aus Greifswald herbeitelegraphierte Arzt hatten Frau von Sperber bereits dringend ersucht, die Anwesenheit des alten Herrn im Krankenzimmer zu verhindern – er würde seinen Sohn, wenn er zur Besinnung käme, unnütz aufregen.
Aber Raimund Hagedorn kam noch immer nicht zur Besinnung. Er hatte hohes Wundfieber, erkannte niemand von seiner Umgebung und phantasierte ohne Aufhören. Meistens war es die Musik, mit der er sich beschäftigte. Bald komponierte er, erbat stürmisch Notenpapier und Stift, um alle musikalischen Ideen, die ihn bedrängten, niederzuschreiben – bald wieder glaubte er sich am Dirigentenpult und studierte dem Orchester eine seiner Kompositionen ein … Dann hatte er seinen Aerger mit dem Orchester, das seine Intentionen nicht verstand, seine musikalischen Ideen nicht so herausbrachte, wie es wünschenswert, nein, notwendig erschien.
Hoch sprang der fieberglühende Mann im Bett empor, daß der Eisbeutel herumflog und der Verband sich lockerte. Die Pflegerinnen konnten ihn nicht halten, sie mußten sich männliche Hilfe herbeiholen. Der alte Herr Hagedorn war unbrauchbar und Frau von Sperber ließ James rufen, um den Delirierenden nötigenfalls im Bett festzuhalten. – Am Morgen des dritten Tages ging Alix mit dem alten Herrn Hagedorn im Park auf und nieder. Die Nacht war sehr unruhig gewesen, die Schlafmittel hatten sich als wirkungslos erwiesen. Die Pflegerinnen konstatierten ein neues Steigen der Temperatur, und Doktor Petri, der ganz früh dagewesen war, hatte sich sehr besorgt geäußert. Er habe den Fall wohl gleich für ernst, aber nicht im entferntesten für so schwer angesehen; wenn das mit dem Fieber weiter fortginge, so …
Er hatte nicht zu Ende gesprochen, aber man denkt sich alles Weitere, wenn die Aerzte sich derartig äußern.
Der alte Herr war selbstverständlich nicht dabei gewesen, als Doktor Petri diesen Ausspruch that, aber die besorgten Mienen und ausweichenden Antworten der Majorin, sowie der Pflegerinnen ließen ihn leicht erraten, daß es nicht gut stand.
„Daß Doktor Petri dies entsetzliche Fieber gar nicht zum Stillstand oder wenigstens zum Sinken bringen kann,“ sagte Hagedorn senior endlich nach langem Schweigen und richtete seine guten Augen mit einem hilflosen Ausdruck auf das junge Mädchen.
„Lieber Onkel Eberhard, wir müssen es abwarten. Doktor Petri kommt in einigen Stunden wieder. Er giebt sich die denkbarste Mühe!“
„Meinen Sie wirklich? Das heißt – – nein, – das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, – wie soll ich dazu kommen, einen Zweifel aussprechen zu wollen, wo ich nichts als Sorgfalt und Güte sehe!! Ach, Kind, Sie sind so gut und nachsichtig, zwanzigmal am Tag frage ich Sie dasselbe, ich weiß es recht gut, und nie sind Sie ungeduldig, immer finden Sie noch ein beruhigendes Wort, einen Trost für mich! Aber Sie müssen auch bedenken: er ist mein Einziger! Wenn ich mir vorstelle, er sollte vor mir hingehen, und ich alter Mann bliebe allein und verlassen übrig –“
„Onkel Eberhard, bitte bitte!“
Ihre zitternde Hand legt sich auf die seine, aber der alte Mann ist zu erregt, er bricht ratlos in Thränen aus.
„Sie sind jung, Kind, und stehen an der Schwelle des Lebens, Sie können das nicht so verstehen!“ stammelt er fassungslos. „Ich aber – mit mir ist’s vorbei, wenn mein Raimund nicht mehr da ist!“
Jawohl, sie ist jung, steht an der Schwelle des Lebens, und dies Leben hat ihr vieles geschenkt, was Tausenden versagt blieb: Schönheit, Reichtum, Gesundheit und Intelligenz! Aber doch finden seine Worte ein Echo in ihrer Seele, und sie spricht dieselben im stillen nach: „Mit mir ist’s vorbei, wenn mein Raimund nicht mehr da ist!“
Sie meint das in anderem Sinn als der alte Mann, der wohl denkt, er werde daran sterben. Alix ist nicht exaltiert, nicht überschwenglich genug angelegt, um überzeugt zu sein, sein Tod werde den ihrigen nach sich ziehen. Es stirbt sich nicht so leicht, wenn man kaum zwanzig Jahr alt und gesund an Leib und Seele ist! Sie denkt nur für sich: mit dem Besten und Schönsten in mir ist es vorbei, wenn er mir stirbt, denn ich weiß: das Schönste in meinem ganzen Leben bisher war und wird ferner sein diese meine erste, starke und heiße junge Liebe!
Das muß sie in sich verschließen, während sie neben dem alten Mann steht und ihn weinen sieht. Zum hundertstenmal wohl in diesen schweren Tagen ringt sich das bange Stoßgebet aus ihrer Seele los: „Schone, mein Gott, dies Leben!“ und unmittelbar hinterher schleicht der Zweifel und fragt: „Wird es geschehen? Wird es?“ – – –
Aus einer Seitenallee kommt James und bringt die Postsachen. Alix hat schnell aus den ihr überreichten Briefen einen mit dem Blick herausgesondert, dessen Handschrift sie wie ihre eigene kennt, einen Brief, der den Poststempel einer kleinen Ortschaft in Südtirol trägt. Maria hat in letzter Zeit nur Postkarten an Alix geschrieben, da ihre bevorstehende Reise ihr wenig freie Zeit gönnte. Nun endlich dieser Brief!
„Gehen Sie, Herzenskind, und lesen Sie in Ruhe!“ sagt der alte Herr neben Alix. „Ich werde Sie gewiß nicht stören!“
„Sie bleiben hier in der Nähe, ja, Onkel Eberhard?“ fragt das junge Mädchen liebevoll. „Sie werden nicht ins Schloß gehen und versuchen, ins Krankenzimmer zu kommen, sondern hier draußen in der schönen frischen Luft bleiben und ein wenig auf und nieder gehen, bis ich mit meiner Lektüre fertig bin?“
„Ich werde gehorsam sein!“ erwidert er mit einem trüben Lächeln.
Sie nickt ihm freundlich zu und zieht sich mit ihrem Brief auf ein halbrundes Bänkchen zurück, das von einer schönen Esche mit tiefhängenden Zweigen überschattet wird.
„Dies ist meine erste freie Stunde, geliebte Alix. Die neue kleine Sommerresidenz ist eingerichtet, wegen Bedienung und Essen alles Nötige verabredet, mein Mann hat auf mein Zureden mit seinem Kollegen Herter, der zum Glück auch hierher gekommen ist, einen Spaziergang unternommen, die Kinder spielen draußen mit zwei niedlichen jungen Kätzchen, die sie hier [759] vorgefunden, und ich sitze in der hübschen, rebenübersponnenen Laube, die zu unserer Wohnung gehört, und führe das aus, wozu mein Herz mich schon lange, lange trieb: ich rede mit Dir, mein Liebling!
Daß sich Werner beinahe ganz und Elschen noch lange nicht vollständig erholt hat, sagten Dir meine Karten. Die Aerzte sind ja zufrieden und behaupten, man dürfe nach einer lebensgefährlichen Krankheit nicht mehr verlangen; ich aber meine, ein Kind, noch dazu ein bis dahin immer so gesundes, kräftiges Kind, wie unser Töchterchen es war, das müßte sich weit rascher erholen. Werner ist rührend gut und rücksichtsvoll gegen die kleine Schwester; er zankt nie mehr mit ihr, giebt fast immer nach, spielt geduldig Puppen mit ihr und benimmt sich wie ein kleiner Ritter ihr gegenüber. Von Dir reden beide Kinder täglich und machen damit die Tradition, daß alle Kinder treulose, leicht vergeßliche Geschöpfe sind, zu schanden. Du hättest ihnen gar nicht so schöne Sachen schicken dürfen, um sie an Dich zu erinnern, das geschieht ohnehin! Sie haben sich aber beide unendlich gefreut und werden Dir nächstens schriftlich danken.
Mein Mann ist tüchtig überarbeitet, und die Ferienruhe wird ihm sicher gut thun. Ich selbst habe die Bücher bestimmt, die in die Sommerfrische mitgenommen wurden, lauter belletristische Sachen, nur ein paar populärwissenschaftliche Werke darunter. Er soll seinen Geist ausspannen. Daß sein Kollege Herter hier ist, freut mich von Herzen. Mein Mann hat ihn sehr gern, Herter ist viel jünger als er, sehr heiter und humoristisch angelegt, gut Freund mit den Kindern und ein leidenschaftlicher Tourist – da muß mein Mann mit, er mag wollen oder nicht, und das ist ihm sehr dienlich!
Ich selbst bin gesund; meine Stimmung ist die beste, wenn es meinen Lieben gut geht. Ich wollte, Du könntest unser reizendes Häuschen sehen, im gefälligsten Villenstil erbaut, mit der Rückseite gegen die Berge gekehrt, die sehr imposant und schön sind, von Bäumen umstanden, von grünem Gelände umgeben, und der Garten mit der Laube so gut gehalten! Die Wirtin ist eine sehr behäbige, freundliche Frau, die auch ihre kleine Landwirtschaft hat und uns die köstlichste Milch, die frischesten Eier liefert. Das Dorf ist langhingestreckt, sehr groß und entschieden wohlhabend, die Häuser sind alle geräumig, nicht ohne Geschmack und Zierlichkeit gebaut, die Kirche könnte jeder Mittelstadt zum Schmuck gereichen, sie enthält wunderschöne Schnitzereien und sogar einige künstlerisch wertvolle Gemälde.
Da hast Du den Rahmen, der uns umschließt, Liebste – da hast Du das Bild selbst, das Du so gut kennst, zu dem Du so ganz gehörst, und dem Du doch fehlst … ach, mir, mir vor allen andern!
Ich kann nicht ohne Sorge an Dich denken, mein Kind – meine liebste Freundin! Du bist umgeben von Menschen, die ich samt und sonders nicht kenne, und Du glaubst es nicht, wie mich das oft nachdenklich und traurig stimmt. Ich sähe so gern in Deine Umgebung hinein, ich tauschte so gern mein Urteil mit dem Deinen aus, wüßte so gern, wie alle, die meine Alix mir so lebhaft schildert, sich zu ihr stellen, mit welchen Augen sie meine frühere Pflegetochter ansehen.
Dein letzter ausführlicher Brief – denn die Karten zählen nicht mit, das sage auch ich! – hat mir viel zu denken gegeben. Es hat mir vieles darin sehr gefallen, und ich habe das meiste aus vollem Herzen gebilligt. Immer bist Du, und das söhnt mich mit manchem, was ich nicht gutheißen kann, wieder aus, ganz Du selbst, unbeeinflußt durch andere. – Wenn ich warnen, eingreifen wollte, kam ich überdies oft schon zu spät, und Du tratest mir hochgemutet mit dem Spruch entgegen: ‚Ich hab’s gewagt und will des End’s erwarten!‘ Im Geist sehe ich das stolze Leuchten Deiner Augen dazu und spreche, wie ich so oft früher sprach: ‚Möge sich alles zum besten wenden!‘
Auch jetzt käme Rat und Warnung wohl zu spät, wäre selbst dann zu spät gekommen, wenn ich Deinen lieben Brief hätte umgehend beantworten können! Mein Herz, Du hast Schicksal spielen wollen, Du willst helfen, und ich müßte Dich nicht so genau kennen, wenn ich nicht wüßte: Deine Absicht ist die beste! Aber ach, das Leben führt unsere guten Absichten nicht immer so hinaus, wie wir es uns denken! Wir legen die Lose sorgsam und nach bestem Ermessen … aber eine gewaltige Hand kommt und wirft sie durcheinander und rüttelt alles um und um, daß wir uns, staunend, schmerzlich fragen: ist dies dasselbe noch, was Du gewollt? Hast Du das beabsichtigt, was jetzt entstanden ist?
Kind, kein Mensch, vor allem kein Mann hat es gern, wenn jemand anders, wenn zumal eine Frau für ihn Schicksal spielen will. Er begehrt, wenn er ein rechter Mann ist, sein Lebensschiff selbst zu lenken – – ja, er wird der Hand, die unbefugt zum Steuer greift, zürnen, und wenn sie noch so geschickt sein Schiff über Untiefen und Klippen hinwegbringt! – Du wirst sagen: er darf es ja nicht erfahren! Alix, ich weiß es, Deine Erlebnisse sind nicht die meinigen, und wir beide sehen, trotz aller Freundschaft und Liebe zu einander, die Welt und die Menschen doch vielfach mit andern Augen an, aber ich bitte Dich, traue hierin meiner Erfahrung, meinen reiferen Jahren: einmal kommt immer die Zeit, da der Betreffende erfährt, was geschehen ist, indessen – und hier liegt das Bedenklichste – selten oder nie erfährt er es so, wie es wirklich gemeint war, wie es sich in Wahrheit zugetragen hat. Es schieben sich Menschen, neue Verhältnisse dazwischen, es vergeht die Zeit, andere Gesichtspunkte greifen Platz, die ganze Begebenheit bekommt ein verändertes Aussehen!
Was ich Dir rate, zu thun? Was ich an Deiner Stelle thäte?! Du weißt es wohl selbst schon, willst Du es aber dennoch schwarz auf weiß lesen, so sei es drum: fasse einen raschen, einen mutigen Entschluß, wie schwer er Dir immer fallen mag – tritt vor ihn hin, und sag’ ihm: das und das hab’ ich für Dich gethan, in dem und dem Sinn gethan – nun entscheide Du, nimm an oder verwirf! Und wie er entscheidet, so, mein geliebtes Kind, fallen die Würfel über Dein Leben, das fühle, das weiß ich! Was ich empfinde, indem ich Dir das schreibe, läßt sich mit Worten nicht sagen. Um meine eigene Tochter, wenn sie schon erwachsen wäre, könnt’ ich nicht mehr zittern und bangen, ich könnte sie nicht inniger lieben als Dich, nicht stolzer auf sie sein, als ich es auf Dich bin! Und gerade um dieses meines Stolzes willen, Liebling, bekenne, was Du thatest, es wird Dich nicht gereuen! Du hast mir oft gesagt, Du fühltest Dich ,geborgen‘ bei mir! Nun, Kind, in gewissem Sinn warst Du das auch, geborgen in meiner Liebe! Nun hab’ ich Dich hergeben müssen, nun schaukelt Dein Lebensschiff, dem sichern Hafen entführt, auf hoher See, und ich stehe am Strand und sehe es mit an, das Herz voller Liebe und voller Sorge!
Auch erfüllt eine Notiz, die ich heute in der Zeitung las, meine Seele mit Bangigkeit. Es heißt darin, die Justiz habe in Bezug auf den seiner Zeit so viel Aufsehen erregenden Josephsthaler Mord eine neue Spur gefunden, die aller Wahrscheinlichkeit nach zum Ziel führen werde und die allgemeine Aufmerksamkeit wiederum auf diese bis dahin in undurchdringliches Dunkel gehüllte That lenken dürfte. Es war nur eine kurze Notiz, aber sie versetzte mich in begreifliche Aufregung. Wenn man auf die richtige Fährte gelangt und die ganze Sache von neuem aufrührt, so stehen Dir, mein Liebstes, auch in dieser Hinsicht schwere Tage bevor.
Sei tapfer, meine Alix, sei mutig und stark! Das Schicksal hat Dir nicht umsonst diesen offenen, furchtlosen Sinn, dieses unbestechliche Rechtsbewußtsein mit in die Wiege gelegt! Sei ehrlich und gerecht gegen Deine Umgebung, aber sei es auch gegen Dich selbst und vergiß nie, was Du Deinem eigenen Ich schuldig bist. Die erste Pflicht, die wir in diesem Leben haben, ist die, daß wir mit Ehren bestehen können vor uns selbst!
Treu immerdar Deine Maria!“
Die Hand, die den Brief gehalten, sank in den Schoß, die Augen des Mädchens irrten ziellos ins Weite.
Freilich hatte sie recht, die gute und kluge Freundin: die Verhältnisse verschoben sich von einem Tag zum andern und nahmen neue Gestalt an: was gestern noch geboten schien, war heute eine Unmöglichkeit, was heute unausdenkbar war, vollzog sich morgen mit der größten Einfachheit!
Wäre alles geblieben wie es früher war, stände Raimund Hagedorn jetzt, in diesem Augenblick, frisch und lebensvoll vor Alix … impulsiv, wie sie einmal war, hätte sie wahrscheinlich den Mut gefunden, Marias Bitte zu willfahren. Denn oft schon [760] hatte sie in der kurzen Zeit, die ihrem „Vorsehungspielen“ gefolgt war, quälende Zweifel empfunden, ob sie recht gethan. Das Gute hatte sie gewollt, das stand fest; ob es auch das Richtige war, schien ihr fraglich, besonders fraglich seit jenem Abend nach Raimunds Rückkehr aus Stettin.
Ja, jetzt mit einem raschen Entschluß das selbstgesponnene Gewebe zerreißen, offen und frei sprechen können! „Ich hab’ es gethan um deinetwillen, um dich deinem dir vom Schicksal vorgezeichneten Beruf zurückzugeben. Verzeih’ mir, daß ich es eigenmächtig that, und nimm das an, was mir kein Opfer ist, unterdrücke einmal deinen Mannesstolz, deinem Beruf, deiner Zukunft zuliebe!“ In der raschen und starken Aufwallung, die Marias Brief ihr gebracht, in dem Bestreben, deren schönes Zutrauen in sie und ihr Können zu rechtfertigen, da hätte Alix es vermocht! – – – Aber nun! Dort hinter den herabgelassenen lichten Fenstervorhängen – Alix entfernte sich nie weit vom Schlosse! rangen sie beide, das starke Leben und der starke Tod, um ihre Beute! Wer würde Sieger bleiben? Wer konnte sagen, ob das Bekenntnis, das sich nur mit schwerem Entschluß von Alix’ Lippen ringen konnte, jemals durfte gesprochen werden? –
Ein Schauer ging über sie hin mitten in Sommersonne und Blumenpracht, der Schauer, den Jugend und prangende Lebensfülle empfindet, wenn der Odem der Vergänglichkeit kalt über sie hinstreift. Gott, mein Gott, nur nicht ihn sterben lassen!
Der alte Hagedorn, der von Zeit zu Zeit vorsichtig nach dem jungen Mädchen hinübergespäht hat, sieht jetzt, daß sie mit ihrer Lektüre zu Ende ist. Es fällt ihm auf, wie traurig sie vor sich hin blickt, und im Nu ist er an ihrer Seite.
„Doch keine schlimmen Nachrichten, mein liebstes Kind?“
„Nein, gottlob, nicht!“ Sie bemüht sich, zu lächeln, steht auf und legt ihren Arm in den seinen. „Kommen Sie, Onkel Eberhard, wir promenieren noch ein Stückchen!“
„Ja, gewiß, es ist so gütig von Ihnen – nur – nur – Sie müssen nicht böse sein“ – der alte Herr sieht sie ängstlich und bekümmert an – „es ist doch schon so sehr lange, seit wir draußen sind und nicht wissen, wie – wie es ihm geht! Ich will ja gar nicht hinein zu ihm,“ setzt er hastig hinzu, „Sie – Sie können mit mir kommen, sich überzeugen, daß ich das nicht will – bloß leise an der Thür fragen, wie es steht – ob es nicht ein ganz klein wenig besser inzwischen geworden ist!“
Alix erwidert nichts und schlägt ohne weiteres den Weg nach dem Schloß ein. Ach, wie soll während einer guten Stunde der Zustand des Kranken sich geändert, wohl gar gebessert haben? Wie sanguinisch der alte Herr ist in all seiner Angst! Alix wünscht, sie könnte ebenso sein, aber ihr liegt das Herz schwer in der Brust, und es ahnt ihr nichts Gutes.
In der großen Halle herrscht wohlthuende Kühle. Das strenge, schöne Antlitz der bronzenen „Industrie“ sieht auf die Eintretenden von seiner Höhe herab wie damals an jenem traurigen Februarabend, da Alix, nach zehnjähriger Abwesenheit, ihren Einzug gehalten hatte in ihr Vaterhaus. An der Thür des Krankenzimmers nimmt Schwester Euphrosyne, die jüngere der beiden Pflegerinnen, sie in Empfang. Sie ist freundlicher, zugänglicher als ihre Kollegin, hat großes Mitleid mit der Seelenangst des alten Vaters und läßt dies auch merken, besonders, wenn die andere Schwester nicht zugegen ist.
Alix will durch die Thürspalte mit ihr flüstern, aber Euphrosyne wirft einen Blick auf den alten Mann und sagt leise: „Wollen Sie nicht ein wenig hereinkommen, alle beide? Der Zustand ist derselbe, der Kranke ahnt nichts von Ihrer Anwesenheit. – Sie können auf meine Verantwortung nähertreten!“
Der Vater läßt sich das nicht zweimal sagen, drückt der jungen Pflegerin dankbar die Rechte, geht auf den Fußspitzen zum Krankenlager und zieht seine Begleiterin an der Hand mit sich.
„Aber, bitte, nicht anreden, Herr Hagedorn!“ warnt Schwester Euphrosyne leise. „Auch nicht antworten, wenn Sie denken, er spricht mit Ihnen!“
„Nein, nein!“ murmelt der alte Mann. „Ich will ihn bloß still ansehen!“
Raimund liegt unbeweglich, nur die Hand greift und zuckt zuweilen oder sein Kopf schiebt sich ein wenig auf dem Kissen hin und her, wie wenn er etwas suchen wolle. Die Augen sind halb geschlossen, und die Lippen flüstern beständig.
„Das weiße Kleid – das weiße Kleid! Ja, das zieh’ an – und dann soll wieder der Magnolienstrauch im Abendwind zittern und soll dich mit seinen weißen Blüten überschütten …. aber du darfst nicht wissen, daß ich davon träume! Und weiße Moosrosen stecke wieder an die Brust wie die, die du mir gegeben – immer fühl’ ich den Duft – aber wo sind sie hingekommen – die weißen Moosrosen? Und wo – wo bist du hingekommen – du selbst?“
Ganz rasch und eintönig, wie etwas Eingelerntes, flüstert Raimund das vor sich hin, zuweilen verwischt sich ein Wort. Jetzt wendet er den Kopf von neuem auf dem Kissen und scheint zu horchen, ob denn keine Antwort kommt.
Er hat noch nie von Alix gesprochen, wenn sie bei ihm war – – – stets nur von Musik. In ihr zieht sich das Herz zusammen und thut dann bange, laute Schläge. Der alte Vater und die Pflegerin wissen nicht, können nicht wissen, was und wen er meint mit seinen Worten …. sie natürlich versteht, weiß, was der Magnolienstrauch zu bedeuten hat und das weiße Kleid und die Moosrosen! Die hatte sie im Walde, als sie den Verwundeten langsam vor ihr hertrugen, zufällig noch an ihrer Brust entdeckt, wo Frau von Sperber sie ihr in aller Morgenfrühe befestigt, und sie hatte sie losgenestelt und auf die Decke gelegt, die sie über den Schwerverletzten gebreitet hatten. Zuweilen hatten sich seine Augen halb geöffnet gehabt, es war ein verständnisloser Blick gewesen, der seine Umgebung streifte, und Doktor Petri hatte gesagt, er sei ganz ohne Bewußtsein .... aber er mußte doch Alix für einen Augenblick erkannt und die weißen Moosrosen gesehen haben.
„Keiner kann mir das sagen als nur mein Herz! Aber das hat zu rasch zu schlagen – kann nicht folgen – auch nicht im Takt – gar kein Takt! Aber wenn ich dich finde – weißt du noch: ,Am stillen Herd, – in Winterszeit‘ – da fing es an! Sing’ mir einmal nach!“
Und er fängt an zu summen: „Am stillen Herd, – in Winterszeit –“
Alix erträgt das nicht mehr; sie winkt mit der Hand, sie wolle gehen, man möge sich nicht um sie bekümmern, und verläßt das Gemach.
Doch lange bleibt sie nicht in ihrem Zimmer, in das sie sich geflüchtet hat, sich selbst überlassen. Die Majorin klopft, und als sie Einlaß erhält, sagt sie, indem sie mit der Hand über des Mädchens Haar streicht: „Möchten Sie nicht in Ihren kleinen Salon kommen, sobald es Ihnen möglich ist? Justizrat Ueberweg ist da und möchte Sie gern sprechen!“
Alix erhebt sich stumm, haucht rasch in ihr Tuch und drückt es gegen die Augen.
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„Meine liebe Alix,“ – der Justizrat kam ihr mit herzlicher Bewegung entgegen – „ich bin der Ueberbringer wichtiger Nachrichten. Doch zunächst … wie geht es unserem Kranken?“
„Ich fürchte, nicht gut!“
„O, nicht so kleinmütig! Kopf hoch, liebe Alix! Hagedorn ist jung und kerngesund – ein Körper wie von Eisen, sagt Petri selbst! Er wird es durchsetzen, und ich werde ihm noch dankbar seine Künstlerhand schütteln dürfen. Warum ich komme: es sind noch keinerlei Gerüchte über diesen – diesen Harnack bisher zu Ihnen gedrungen, nicht wahr?“
„Ueber den älteren oder den jüngeren Bruder?“
„Den Junior, liebes Kind, den Junior! Was den älteren betrifft, so geht er ja einstweilen auf freiem Fuß einher: ich meine den Verhafteten. Dieser hatte eine schlecht geheilte Schnittwunde in der linken Hand, innerhalb der Fläche: ich weiß nicht, ob man Ihnen davon gesprochen hat; jedenfalls hat der junge Mensch die Sache gar nicht beachtet und nichts dafür gethan. Wohl aber alles dagegen. Er hat ein Leben geführt, wie man jetzt erfahren hat – nun, das gehört nicht hierher – jedenfalls hat seine starke Neigung zum Alkohol die Wunde sehr verschlimmert. Sie hat so böse ausgesehen, daß man ihm sofort nach seiner Verhaftung durch Korty den Arzt ins Untersuchungsgefängnis geschickt hat. Der hat strenge Verhaltungsmaßregeln
[761][762] gegeben. Sei es nun, daß er aus Widerspenstigkeit oder aus Leichtsinn die ihm verschriebenen Arzneimittel nicht gebraucht hat … die Geschichte hat eine bedenkliche Wendung genommen. Der Mann ist aufgebraucht, er hat schlechte Säfte, verdorbenes Blut, und dazu kommt noch, daß er, wie vorauszusehen war, jetzt, nach der ganz plötzlichen Entziehung des Alkohols, gänzlich niederbricht. Der künstliche Ansporn, der ihn immer noch gewaltsam in die Höhe riß, besteht nicht mehr; nun sinkt der Organismus in sich zusammen.“
„Und hat er in dieser Verfassung nun etwas gestanden?“
„Nichts. Er behauptet, zur Zeit des Mordes noch in Amerika gewesen zu sein. Er will dort von Ort zu Ort gegangen sein, sich nirgends lange aufgehalten und sein Geld in Columbia binnen zwei oder drei Abenden durch großes Glück im Spiel gewonnen haben. Zurückgekehrt nach Deutschland will er erst Ende März sein. Es handelt sich nun darum, etwaige Zeugen aufzutreiben, die ihn um die Mitte des Februar oder überhaupt nur innerhalb dieses Monats in Deutschland, vielleicht speziell in unserer Provinz, gesehen haben, oder darum, ihm ein unumwundenes Geständnis zu entreißen. Auf dies letztere macht sein Zustand in der That Hoffnung. Die Zerrüttung seines Körpers schwächt auch seinen Willen und seine Geistesverfassung. Zuweilen hat er sich schon in Widersprüche verwickelt, die er freilich selbst gleich hinterher entdeckte und gutzumachen trachtete … aber scharfe Kreuzverhöre ermüden und verwirren ihn leicht – und wer wollte es der Justiz verdenken, wenn sie sich einen solchen Umstand zunutze macht?“
„Hat er sich während seiner Haft jemals irgendwie über seinen Bruder geäußert?“ fragte Alix zögernd.
„Er weigert sich entschieden, ihn zu sehen, behauptet, das habe keinen Zweck; Ingenieur Harnack werde sich schämen, einen Bruder zu haben, der wegen eines Mordverdachtes in Untersuchungshaft sitze. Er möge nur ruhig fortfahren, Maschinen zu konstruieren und Berechnungen anzustellen, die den Kapitalisten das Geld scheffelweise zuführen.
Ich möchte nur wissen,“ fuhr Ueberweg nachdenklich mit zusammengezogenen Brauen fort, „weshalb Harnack, ich meine jetzt den Ingenieur, solchen Haß auf Hagedorn geworfen hat, um ihm gleich ans Leben zu gehen! Gut haben ja die beiden nie miteinander gestanden, wie die Direktoren der verschiedenen Mühlen einstimmig versichern – aber diese Antipathie muß doch einen bedenklichen Höhepunkt erreicht haben, wenn es bis zu einem Duell mit so scharfen Bedingungen kommen konnte. Ob es nur der Groll darüber war, daß Hagedorn der Justiz den Aufenthaltsort des jüngeren Harnack entdeckt hat, der den älteren Bruder zu seiner Herausforderung bestimmte?“
Alix verfärbte sich leicht und gab eine ausweichende Antwort. Sie glaubte die Ursache dieses verschärften Hasses zu durchschauen – sie durfte nur an den Blick zurückdenken, mit dem der Ingenieur damals den eintretenden Hagedorn gemessen hatte, als er mit ihm bei Alix zusammentraf. Harnack hatte ihm das Feld räumen müssen, er sah, mit dem Scharfblick der Eifersucht, einen Nebenbuhler in diesem neu entdeckten Vetter, und Alix’ Spazierritte und häufige Zusammenkünfte mit demselben waren ihm sicher nicht verborgen geblieben. Dazu nun noch Hagedorns „Denunziation“, wie der Ingenieur es nannte ... und das Maß war voll! –
„Ich kann es vor Gott und der Welt bezeugen,“ fuhr der Rechtsanwalt lebhaft fort, „wie schwer dem jungen Hagedorn das wurde, was er für seine Pflicht hielt und auch halten mußte: ich meine, dem Gericht die Anzeige von dem zu erstatten, was er in Stettin über den jüngeren Harnack vernommen hatte. Er hat sich gesträubt bis zuletzt, und ich bin überzeugt, hätte ich damals nur eine unvorsichtige, vorschnelle Aeußerung gethan oder wäre ich heftig in ihn gedrungen: er würde sich noch im entscheidenden Augenblick anders besonnen und die ganze Geschichte für sich behalten haben. Für all die Quälerei hat er jetzt zum Lohn eine Kugel zwischen die Rippen gejagt bekommen, so daß es zweifelhaft ist, ob er mit dem Leben davon kommt. Empörend!“
In diesem Augenblick sahen die beiden durch das geöffnete Fenster des kleinen Salons, das den Blick über die Ausfahrt gewährte, einen leichten, kleinen Einspännerwagen in vollem Trabe anfahren und vor dem Schloßportal halten.
„Doktor Petri!“ sagten beide wie aus einem Munde und erhoben sich gleichzeitig.
„Wenn Sie gestatten, liebe Alix, gehe ich mit Ihnen und warte ab, bis Petri mit seiner Krankenvisite fertig ist. Ich möchte auch gern wissen, wie es um den prächtigen Menschen steht, den ich förmlich ins Herz geschlossen habe.“
Das junge Mädchen nickte zustimmend, und ein warmer Blick ihrer schönen Augen fiel auf den Justizrat, als sie an seiner Seite das Zimmer verließ. – Der Arzt traf die Majorin oben an der Treppe und begab sich mit ihr zusammen in das Krankenzimmer. Es dauerte ziemlich lange, bis er wieder im Vestibül erschien, begleitet von dem alten Hagedorn, über dessen gutes Gesicht ein zaghafter Hoffnungsschimmer gebreitet lag.
„Herr Doktor?“ – Alix sah den Ausdruck in den Zügen des alten Mannes, es wollte heiß aufwallen in ihrem Herzen; doch unterdrückte sie diese Regung mit aller Macht. Sie wagte es noch nicht, zu hoffen! –
Doktor Petri reichte ihr die Hand und hielt ihre feine Rechte fest mit dem kräftigen Druck, der eine so gute Zuversicht giebt.
„Ich finde, wir haben einen kleinen Schritt zur Besserung in diesen letzten Stunden gethan,“ sagte er und nickte dem Justizrat zu, den er jetzt erst entdeckte, „freilich ist’s nur ein bescheidener, kleiner Schritt, aber man lernt, mit wenigem zufrieden sein! Ich hoffe, der Greifswalder Kollege wird meine Aussage bestätigen, denn mir allein glaubt ja der skeptische Papa nicht. Nein, nein, alter Herr, keine Widerrede! Sie glauben, ich mache Ihnen Wind vor, aber lassen Sie sich sagen“ – Doktor Petris lächelndes Gesicht wurde plötzlich ernst – „daß ich dies am Krankenbett für ein schweres Unrecht ansehen würde. Für den weiteren Verlauf kann ich nicht einstehen – die augenblickliche Besserung ist da!“
„Aber – aber,“ warf der alte Hagedorn verschüchtert dazwischen, „er hat niemand erkannt, als wir zuvor bei ihm im Zimmer waren! Und was hat er alles zusammengeredet: von weißen Damenkleidern, und von Moosrosen und blühenden Magnolien –“
„Na, das sind wenigstens angenehme Phantasien! Gönnen Sie die doch Ihrem Sohn!“
Aus Doktor Petris jovialem Ton und dem schelmisch zwinkernden Blick seiner Augen merkte Alix am deutlichsten, daß es besser mit dem Patienten stand – tief, tief und zitternd holte sie Atem. Hoffnung und Leben – hielten sie aufs neue ihren Einzug ins Josephsthaler Schloß?
Voll gespannter Aufmerksamkeit hatte Alix den Brief überflogen, der ihr von James soeben überbracht worden war; jetzt steckte sie ihn in das Couvert zurück, ein seltsames Gemisch von Bestürzung und Freude war in ihr. Es war ihr unsagbar schwer geworden, an Steglhuber die Bitte zu richten, fortan mit offenen Karten zu spielen und den alten Herrn Hagedorn in das Geheimnis einzuweihen, das sie bisher über ihre Hilfe hatte gewahrt wissen wollen. Aber sie hatte sich überwunden, Maria zuliebe, die ihr so beschwörend geschrieben, und sie hatte das Gelübde gethan, diesen Schritt zu unternehmen, wenn Raimund Hagedorn genesen sollte.
Und jetzt war er so gut wie genesen.
Aber nun schrieb ihr Steglhuber, die Geschäfte gingen so flott, daß er gut imstande sei, aus eigenen Mitteln die verabredeten regelmäßigen Zahlungen zu leisten. Hatte es jetzt noch einen Sinn, dem alten Hagedorn, und durch ihn dem Sohn, ein Geständnis zu machen, das ihr so namenlos schwer geworden war und das doch nun vielleicht so aussah, als wolle sie den Dank einernten von Vater und Sohn – oder – oder – als … Sie konnte das „oder“ nicht zu Ende denken, der Herzschlag setzte ihr darüber aus.
Sie sprang empor: wenn sie noch versuchte, es rückgängig zu machen, wenn sie depeschierte: „Brief nicht absenden. Noch warten!“ – Doch hieß es nicht in Steglhubers Schreiben: „Noch in dieser Stunde teile ich dem alten Herrn Hagedorn den wahren Sachverhalt mit.“ Und dieser wollte in einer knappen Stunde nach Greifswald fahren, um seine Miete zu bezahlen und sich einige Sachen zu holen! Der Brief würde nach Greifswald gerichtet sein; der alte Herr würde ihn also noch heute erhalten!
[763] Nun, sei es denn, sei es! Etwas von fatalistischem Trotz kam über Alix. Sie hatte das Gute, das Rechte gewollt in beiden Fällen – an ihm, an Raimund war es nun, das zu durchschauen, sie zu verstehen! Daß er eine große Leidenschaft für sie empfand, wußte Alix. Blind und thöricht hätte sie sein müssen, es nicht zu wissen. Ob seine Liebe aber auf einem tieferen Verständnis ihres Wesens begründet war, dafür hatte ihr das Leben noch keine Beweise gegeben.
Seit sie an Raimunds Krankenlager gestanden, seit sie in Todesangst um sein Leben gezittert, seit sie mit heißen Thränen des Glücks Gott in der Stille gedankt hatte für seine Genesung, wußte sie, daß ihr ganzes Herz ihm gehörte, daß sie auch das, was ihr in seinem Wesen noch fremd und unverständlich war, freudig tragen könnte – wäre es ihr nur vergönnt, mit ihm vereint durchs Leben zu gehen! Würde auch er sich mit allem versöhnen können, was ihn an ihrem Charakter befremdete?
Auch nachdem der Kranke sein Lager verlassen hatte – vor wenigen Tagen war es geschehen – hatte Alix ihn täglich mehrmals gesehen, immer aber nur im Beisein der Majorin von Sperber. Von Alix’ Anwesenheit an seinem Leidenslager wußte er nichts, die Fieberphantasien waren in seinem Gedächtnis ausgelöscht. Fürs erste stand Raimund noch ganz im Zeichen der Genesung, jenes wohlig müden, dankbaren, innerlich staunenden Zustandes, der nicht grübelt, nichts fragt, sich über nichts beunruhigt. Es ist da allerlei gewesen, was ihn gequält hat, er weiß das wohl, auch liegt seine Zukunft, wenngleich etwas heller, doch immer noch schleierhaft vor ihm – es thut ihm jetzt nichts! Das hat alles noch Zeit, er schiebt es von sich fort einstweilen und genießt sein Glück, wie in einem seligen Traum.
Ist das nicht Glück für ihn, hier im Josephsthaler Schloß zu leben, gepflegt, bedient, verwöhnt wie ein Prinz? Dazu Sommerluft, strahlender Sonnenschein, Blumenpracht, wohin das Auge blickt, unvergleichlich schöne Abende und solch’ zauberhafte Mondnächte, daß man sich’s, wenn man einmal aufwacht, kaum wünschen mag, von neuem einzuschlafen; es träumt sich, so mit weitoffenen Augen in dies hereinflutende Silberlicht schauend, gar zu wonnig!
Was aber war dies alles gegen das eine Gefühl: sie könnte kommen – sie wird kommen – da ist sie! Gegen die beseligende Gewißheit: Du bist bei ihr! Sie sieht nach dir – sie denkt an dich, sinnt darüber nach, was dir Freude machen könnte – kurz, sie beschäftigt sich mit dir! Und wie stolz auch im Grund seines Wesens Raimund Hagedorn war – so, wie er gegenwärtig empfand, that es ihm wohl, alles, alles von ihr, die er liebte, entgegenzunehmen!
Ach, und das heimliche Glück, wenn ihre Blicke sich trafen und selbstvergessen ineinander ruhten, wenn er vergaß, zu antworten, weil er sich nicht satt sehen konnte an ihr – an ihrem weißen, feingeschnittenen Gesicht, den blauen Augen, dem leuchtend braungoldenen Haar! Nahm er das Weinglas, das sie ihm bot, entgegen und berührten sich dabei zufällig ihre Hände, wie es ihm heiß zum Herzen strömte! Oder wenn sie ihm vorlas, welche Wonne bereitete es ihm, sie ungestört anzusehen und auf ihre Stimme zu lauschen, bis sie ihre langen, seidigen, tiefdunklen Wimpern hob, als fühlte sie seinen Blick, um nach einer kleinen verlegenen Pause hastig weiter zu lesen, als gälte es eine große Versäumnis nachzuholen! Und war auch immer die Majorin zugegen – was that das? Die war eine gute und kluge Frau, die war auch einmal jung gewesen und hatte ein so gütiges, mütterliches Lächeln ..... es that nichts, wenn sie verstand!
Ueber das Duell wurde nicht mehr gesprochen. Wozu denn auch? Es war abgethan, es lag hinter ihm! Raimund wußte, daß Oberingenieur Harnack sechs Monate Festungshaft zuerkannt worden waren und daß er diese Strafe demnächst antreten würde. Auch er selbst würde eine solche, wenn auch kürzere Haft verbüßen müssen, sobald er erst vollständig hergestellt wäre. Auch von der Mordaffaire redete niemand im Schlosse zu ihm, und er fragte nicht danach.
Besuch bekam der junge Mann, nachdem der Arzt überhaupt die Erlaubnis erteilt hatte, solchen zuzulassen, mehr als ihm lieb war. Sein Name war in aller Mund, und es zeigte sich bei dieser Gelegenheit recht deutlich, wie beliebt Raimund Hagedorn und wie unbeliebt Ingenieur Harnack war.
Cecil Whitemore war vielleicht der einzige in der ganzen Kolonie Josephsthal, der den Ingenieur Harnack wirklich vermissen und seine Abwesenheit beklagen würde. Da er sein Vorgesetzter gewesen war und ihn dies, bei aller Höflichkeit und Achtung vor des Ingenieurs Kenntnissen, stets hatte fühlen lassen, so war ihm der hochmütige Ton, die kalte, überlegene Art, das verächtliche Herabblicken Harnacks, das die andern so oft empört hatte, fremd geblieben, und er hatte nur den tüchtigen Beamten in ihm gesehen, der Eminentes leistete und sich in die Josephsthaler Verhältnisse in einer Weise hineingearbeitet hatte, daß sein Fehlen in der That als ein großer Verlust anzusehen war. Cecil konnte aber, trotz seiner reservierten Art, im Lauf der Zeit nicht umhin, Interesse an Raimund Hagedorn zu nehmen. Als schlechter Geschäftsmann hätte dieser ihm eigentlich antipathisch sein müssen, aber in dieser Beziehung hatte er nichts mit Hagedorn zu thun gehabt, mithin keine Gelegenheit gefunden, sich über ihn zu ärgern. Cecil hatte sich daran gewöhnt, diesen entfernten Verwandten als einen speziellen Schützling seiner Cousine Alexandra anzusehen, er drückte wegen dieser weiblichen Marotte nachsichtig ein Auge zu. Und als der junge Mann schwer verwundet ins Josephsthaler Schloß gebracht wurde, fühlte sich Cecil Whitemore doch verpflichtet, sich um ihn zu kümmern, ihm gewissermaßen als Pseudo-Schloßherr die Honneurs zu machen. Und da begab es sich, daß den steifleinenen Sohn Albions die offene, freimütige Art Raimund Hagedorns wunderbar ansprach.
Gegen Mittag ist es. Der Krankenstuhl ist in den Schatten zweier gewaltiger Linden gerückt, die reich in Blüte stehen und stark duften. Ein kleiner kühler Weiher liegt rechts, von gebückten Weiden und dichtem Erlengebüsch umstanden; an einer Stelle treten die Weiden auseinander, und man kann deutlich über dem Wasserspiegel, der gleich dunkelpoliertem Metall glänzt, die schlanken Libellen hinschießen sehen.
Doktor Petri ist dagewesen, hat die Wunde untersucht, sich zufrieden geäußert und versprochen, sehr bald den Verband abzunehmen. An seinem Arm ist Raimund ein paarmal auf und ab gegangen, langsam, langsam, vielleicht zweihundert Schritte im ganzen. Es hat noch nicht gut damit gehen wollen, es ist immer noch Schwäche vorhanden. Aber es ist eine Schwäche, die dem Patienten wohlthut – er will sie noch gar nicht abschütteln.
Alix trägt wieder ein weißes, luftiges Kleid und zartduftende rote Oleanderblüten im Gürtel – leicht zurückgelehnt in ihren Stuhl, sitzt sie vor ihm, blickt über den Rand des Buches, aus dem sie ihm vorlas, nach ihm hin, und ihre Augen begegnen sich ….
Der alte Hagedorn sitzt auch unter den Linden im Schatten und hat zugehört. Er hält eine Strähne weißer Baumwolle über den Händen, und die Majorin wickelt die Strähne bedächtig ab. Sie ist gut Freund mit dem alten Herrn, nennt ihn in der Stille ein liebes, weißhaariges Kind, und er verehrt die stattliche Dame, die ihm seinen Jungen so schön gepflegt hat, hoch und ist glücklich, wenn er ihr einen kleinen Dienst leisten darf.
„Ich kann mir gar nicht denken, daß einmal eine Zeit kommen wird, da es anders um uns vier stehen könnte – ich meine, da wir nicht mehr bei einander sind!“ sagt des alten Hagedorn Stimme laut und unvermittelt in das Stillschweigen hinein.
Raimund zuckt zusammen. Der alte Herr bemerkt die flüchtige Bewegung seines Sohnes und schaut Alix fragend und bittend an: hat er etwas Ungehöriges gesagt?
„Dort kommt Mr. Whitemore!“ ruft die Majorin und deutet nach rechts hinüber. „Wie sonderbar! Um diese Zeit ist er doch immer beschäftigt!“
Cecil kam um den kleinen Teich herum mit ziemlich raschen Schritten. Er winkte der Gruppe unter den Lindenbäumen schon von weitem mit der Hand zu.
„Was giebt es, Vetter?“ fragte Alix und sprang auf.
„Etwas Wichtiges für Sie – – für uns alle! Harnack junior – hat ein Geständnis abgelegt!“
Zuerst tiefe Stille, dann ein allgemeiner Ruf des Staunens. Die Majorin und der alte Hagedorn waren gleichfalls von ihren Sitzen aufgestanden, selbst Raimund machte Miene, sich zu erheben, aber Alix, deren Blick sofort zu ihm zurückgegangen war, winkte ihm ab: „Nein, Sie nicht! Bitte, bleiben Sie ruhig! Vetter Cecil, wollen Sie uns sagen –“
Sie stellte sich neben den Lehnsessel, eine Hand auf die Seitenwand gestützt, wie um den Patienten vor Aufregung zu [764] bewahren. „Also – bitte!“ Die Majorin schob dem Engländer einen Stuhl hin. „Wollen Sie sich setzen?“ !
„Danke – nein! Die Zeit ist mir knapp; Justizrat Ueberweg wartet, er will gleich nach Greifswald zurück; ich kam nur, Ihnen die Nachricht sogleich zu bringen. Der Mensch also war sehr krank. In seinen Fieberphantasien hat er verraten, was wir wissen wollten. Bald rief er, er stecke im Schnee mitsamt dem Schlitten und dem toten Mann, und er könne nicht heraus – es schneie zu stark, und der Schnee balle sich um ihn herum fest, wie eine eiserne Mauer! Dann wieder stöhnte er: ,Der Mann ist noch gar nicht tot, wohl liegt er wie eine Leiche auf dem Bett, aber er lebt noch, Tage und Tage, und ist nicht lebendig und nicht tot!‘ Dann wieder sprach er von Hamburg, von Verkleidung und falschem Namen. Aber das konnten bloße Phantasien sein. Endlich, nach vielem Mühen der Aerzte, ließ das Fieber nach, die Besinnung kehrte zurück, und nun wollten sie versuchen, ihn zum Geständnis zu bringen. Er merkte das aber und hat lange kein Wort gesprochen; er kehrte das Gesicht gegen die Wand und that, als hörte er nichts. Zuletzt, in vergangener Nacht, das heißt gegen Morgen, es war schon hell, da ist er fürchterlich unruhig geworden, ein Schüttelfrost hat ihn gepackt, eiskalter Schweiß ist ihm ausgebrochen, er hat die rechte Hand zur Faust geballt und hat mit schrecklicher Stimme gerufen, er fühle, er müsse ja doch zur Hölle fahren, und darum wolle er auch in drei Teufels Namen gestehen: Ja, er habe den Baron von Hofmann ermordet!“
Cecil machte eine Pause. Alix deckte die Linke über die Augen. Wie sie in ihr wieder lebendig wurde, die fürchterliche Zeit, die sie neben diesem Krankenbett, das immer und immer noch kein Totenbett werden wollte, zugebracht hatte!
Niemand sprach zu ihr; jeder schonte den Schmerz der Tochter, der in qualvolle Erinnerungen tauchte – aber Alix fühlte, wie sich eine leise zitternde Hand auf ihre Rechte legte, die auf der Seitenlehne des Krankenstuhles ruhte. Raimunds Hand – sie wußte, fühlte das, ohne hinzusehen, und mitten in dem schneidenden Weh, das über sie gekommen war, that es ihr wohl, zu denken: er empfindet mit dir und er gehört zu dir!
Cecil Whitemore räusperte sich leicht, um damit anzudeuten, daß er jetzt fortfahren möchte.
„Die Leute, die bei ihm wachten, haben ihn gefragt, ob er das vor dem Untersuchungsrichter wiederholen werde. Ja – in des Satans Namen – ja! Ihm sei nun alles einerlei, er fühle den Tod und das sei gut. Einer von den Leuten war fortgestürzt, den Untersuchungsrichter zu wecken und herbeizuholen – dieser war in kurzer Zeit mit dem Protokollführer zur Stelle, auch der Arzt war dabei, um sein Gutachten über die geistige Verfassung des Menschen abzugeben. Er hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. Daß er auf alle Millionäre einen Haß gehabt, einen ganz persönlichen aber auf den Baron von Hofmann, der ihn einmal in einem Brief schwer gereizt und beleidigt hatte. Daß er dringend Geld brauchte, und zwar viel Geld, denn mit den paar armseligen Groschen, die ihm sein Bruder gegeben hätte, sei nichts anzufangen gewesen. Daß er vorgegeben habe, nach Amerika zu gehen, um den Bruder ganz sicher zu machen, inzwischen aber erfahren habe, daß Herr von Hofmann an dem und dem Tage um die und die Stunde eine große Summe abzuliefern gedächte und daß er wahrscheinlich allein, wie das seine Gewohnheit war, mit dem Selbstkutschierer fahren würde. Er hat sich da sofort vorgenommen, wenn er ihn allein anträfe, ihn zu töten. – – Wer ihm die Mitteilung gemacht, so genau gemacht, das hat er nicht ausgesagt. Natürlich ist es dieser Schuft Kraßna gewesen, aber Harnack hat den Namen nicht genannt, auch als der Richter ihn dringlich gefragt, ob es nicht Kraßna gewesen sei, und ihn ermahnt hat, jetzt auch das noch zu gestehen, konsequent geschwiegen.“
„Und – und – dieser Mensch ….“ fragte Frau von Sperber leise und zögernd, „lebt er noch?“
Cecil zuckte die Achseln. „Er lebte noch,“ sagte er mit starkem Nachdruck auf dem letzten Wort, „als der Untersuchungsrichter Herrn Justizrat Ueberweg das Protokoll zu lesen gab, der Arzt hat aber gemeint, sein Dasein zähle nur noch nach wenigen Stunden.“
Wieder tiefe Stille – nur die Bienen summten geschäftig im Sonnenschein um die blühenden Linden. So hatte der schöne Park auch vor einem Jahr im Sonnenlicht dagelegen, so hatten auch die Bienen die Linden umschwärmt – und unter diesen Linden weg war raschen, energischen Schrittes, erhobenen Hauptes ein kräftiger Mann geschritten, rastlose Pläne formend. Umwälzungen, Neuerungen – und alle die Hunderte, die dort hinter dem Park arbeiteten, dienten ihm – das Gold strömte ihm zu in Fülle, die Provinz war stolz auf ihn, sein Name war gekannt und geachtet, weit und breit!
Jetzt schlummerte er als Opfer eines Mordes im Sarge, und eben, hier, hatte man erfahren, wer sein Mörder gewesen war!
Alix ließ die Hand von den Augen sinken und sah verstört um sich. Es war ihr, als sei der Vater ihr eben jetzt zum zweitenmal gestorben. – „Sie erlauben, Mr. Whitemore,“ sagte der alte Herr Hagedorn schüchtern, sich an den Engländer wendend, „Sie erwähnten, daß Herr Justizrat Ueberweg sehr bald nach Greifswald zurückfährt, dürfte ich mich vielleicht ihm anschließen, da ich dort gleichfalls zu thun habe?“
„Selbstverständlich, Sir, es steht dem nichts im Wege!“ entgegnete Cecil höflich. „Wenn Sie mich zur Walzmühle begleiten wollen – ich habe dorthin zu gehen! Cousine Alexandra – kommen Sie mit mir ins Schloß?“
Alix schüttelte stumm den Kopf. Sie wandte sich und schritt allein, ohne sich umzuschauen, den Weg hinunter, der zu einer Seitenpforte des Parkes und von da zur Schloßkapelle führte. –
Sie ließ sich zur Zeit des Diners entschuldigen: es wäre ihr nicht ganz wohl, sie wünschte niemand zu sehen.
Es war gegen Abend, als sie Françoise, die sich dann und wann um sie zu schaffen machte, wenn sie auch nicht zu reden wagte, beiläufig fragte, ob der alte Herr Hagedorn schon von Greifswald zurückgekehrt sei.
„O ja! Schon seit zwei Stunden! Und er hat gleich nach Ihnen gefragt, ob Sie nicht zu sprechen wären. Als ich es verneinte, ist er zu Monsieur Raimund gegangen, und Frau von Sperber hat gesagt, das wäre schön, daß er käme, sie abzulösen, sie hätte einen wichtigen Brief zu schreiben – und sie ist gegangen.“
„Da sind also die beiden Herren miteinander allein geblieben?“
„Gewiß.“
Alix schwieg. Wie würde Raimund die Nachricht, welche er jetzt wohl erhalten haben mußte, aufnehmen? Sollte sie jetzt zu ihm hinüber? Sollte sie heute noch … Die Sonne war schon hinunter, der Patient mußte in seinen Wohnräumen sein. In dem kleinen Vorzimmer, wo Alix so oft Doktor Petri erwartet hatte, traf sie auf James. „Wer ist bei Herrn Hagedorn im Zimmer, James?“
„Niemand, Baroneß! Frau Major von Sperber schreibt einen Brief, und den alten Herrn hat Herr Hagedorn selbst vor einer Weile fortgeschickt – er wünschte, allein zu sein.“
„Gut, James Sie – Sie können mich melden und dann gehen; ich habe mit Herrn Hagedorn zu reden. Er wird läuten, wenn er Sie braucht. Und noch eins, James: ich wünsche ungestört mit Herrn Hagedorn zu sprechen!“
„Sehr wohl, Baroneß!“ In seiner geräuschlosen Art geht und kommt er, schiebt die Thür weit zurück und tritt mit einer Verbeugung beiseite: „Herr Hagedorn läßt ergebenst bitten!“
In Baron Hofmanns Arbeitszimmer sitzt Raimund in seinem Krankenstuhl vor dem großen, jetzt so sorgsam aufgeräumten Diplomatenschreibtisch. Der rosige Abglanz des Abendhimmels fällt auf das eintretende Mädchen. Die welkenden Oleanderblüten hat sie aus dem Gürtel gezogen und fortgeworfen, sie ist schneeweiß von Kopf bis Fuß – das Haar flammt auf, die Augen leuchten. Sie sagt kein Wort, kommt langsam heran, setzt sich auf einen Stuhl neben ihn und wartet, daß er sprechen werde.
„Ihr Vater hat Ihnen gesagt –“ hebt sie unsicher an, da er immer noch schweigt.
„Ja – und ich danke Ihnen, daß Sie kamen.“ Es kommt sehr mühsam und gezwungen heraus.
„Sie sind mir böse?“ fragt sie traurig.
„Böse? Ich? Und Ihnen? Wie könnte ich das? Sie wollen die gute Fee sein, die mich mit Schätzen überschüttet –“
„Nein, nein – nicht so!“ Sie läßt ihn nicht weiterreden. „Ich hab’ Ihnen helfen wollen, weiter nichts, Raimund – ehrlich und redlich helfen wollen, weil ich an Ihr Talent und an Ihre
[765][766] Zukunft glaube! Wäre ich vor Sie hingetreten und hätte Ihnen gesagt: nehmen Sie alles, was Sie zu Ihrem Studium brauchen, von mir, aus meiner Hand entgegen – hätten Sie es gethan? Sie schütteln den Kopf! Ich wußte es. Aber wenn ich ein Mann und Ihr Freund gewesen wäre …. Sie hätten sich das ruhig gefallen lassen. Von mir, wie ich einmal bin – nicht!“
„Ganz recht – von Ihnen – wie Sie einmal sind – nicht!“ Raimund betonte jedes einzelne Wort schwer.
„Sie brauchen ja das jetzt auch nicht, die Pein bleibt Ihnen erspart!“ sagt Alix mit herber Stimme. „Das Schicksal kommt Ihrem Stolz zu Hilfe, wie Sie sehen. Ihr Schuldner kann Ihrem Vater in der That aus eigenen Mitteln seine Schuld zurückerstatten und meine Großmut braucht Sie nicht zu drücken!“
„Ohne diese Ihre Großmut, die Kaution, die Sie für ihn stellten, wäre er nie in stand gesetzt worden, das zu thun!“
„Vielleicht doch! Vielleicht nicht! Warum war ich so thöricht, Ihnen überhaupt nachträglich die Wahrheit zu bekennen?“ rief Alix heftig.
Sie bereute es unmittelbar darauf; ein eigentümliches Lächeln ging über Raimund Hagedorns blasses, erregtes Gesicht, und seine Augen fingen an, zu strahlen, als er langsam wiederholte: „Und was bewog Sie, mir nachträglich die Wahrheit zu bekennen?“
Sie raffte sich energisch zusammen.
„Dazu bewog mich in erster Linie mein Stolz, den ich habe, so gut wie Sie, zu dem ich mich bekenne, so gut wie Sie! Im ersten Impuls meines Mitempfindens bin ich auf das einzige Mittel verfallen, das mir zu Gebot stand, und es schien mir damals gut. Aber jahrelang mich verstellen müssen – Komödie spielen, Ihnen und auch andern gegenüber, das hätte ich schwerlich können, und hätt’ ich es auch gekonnt, ich hielte es meiner und – Ihrer für unwürdig! Dazu bewog mich aber auch meine Freundin Maria Laurentius, die mein oberster Gewissensrat ist und die mich warnte vor solchen Heimlichkeiten, die stets ans Licht kämen – nur niemals so, wie sie sollten, wie sie beabsichtigt wären. Was mich zuletzt bewog – das war –“
„Nun?“ Er neigte sich in seinem Sessel vor und sah ihr nahe ins Gesicht.
„Wir sind einander näher getreten in dieser Zeit“ – sie redete jetzt langsam und mit Anstrengung und suchte gleichsam nach jedem Wort, ehe sie es aussprach – „der Tod hat vor Ihrer Thür gestanden, ich habe mich um Sie sorgen müssen. Was ich damals gethan und ohne Besinnen that und für Recht hielt, es schien mir für unsere – Freundschaft nicht mehr das richtige –“
„Freundschaft! – Freundschaft?“ fiel er ihr stürmisch ins Wort. „Bei mir ist es das nicht, war es das nie! Alexandra, warum sagst du nicht Liebe?“
Sie sagte es nicht, denn sie vermochte nicht zu reden – nur ihre Augen gaben ihm Antwort – ihm, der mit einem leidenschaftlich flehenden, selbstvergessenen Ausdruck in seinem beweglichen Gesicht zu ihr hinübersah. Und er las wohl in diesen Augen etwas, das ihm den Mut zum Weitersprechen verlieh – die Worte stürzten ihm aufs neue über die Lippen:
„Um mich war’s ja geschehen gleich beim erstenmal, da ich dich sah – und ich fühlte das mit jedem neuen Mal deutlicher. Darum hab’ ich fortwollen – – – lieber hundert Meilen weiter Buchhalterdienste thun als hier. Aber was es für mich gewesen wäre, fortzugehen, Alexandra – solange ich denken kann, hab’ ich die Sonne lieb gehabt …. aber lieber wollt’ ich mir die Sonne vom Himmel fortnehmen lassen als dich!“
Und er zieht sie an beiden Händen zu sich herüber, ein verklärt lächelndes Mädchen, das sich von dem Liebsten im Arm halten und küssen läßt und denkt: Was gehört jetzt noch mir und was ihm, wenn wir vereint sein sollen für immer – für immer!
Der rosige Himmel erblaßt, nimmt ein zart getöntes grünliches Licht an, die feingeschwungene Mondsichel schwimmt darin wie ein Silbernachen. So schön und so keusch dies schlanke Mädchen in dem schneeweißen Kleid!
„Es ist so viel Schweres über mich gekommen in letzter Zeit,“ sagt Alix leise, „meinst du nicht, daß nun das Schicksal mir mein Glück wird gönnen wollen?“
„Dein Glück, Alexandra! Das bin ich?“
„Wer sonst?“
„Ein armseliges Glück, das du dir da ausgesucht hast!“
„Ich, ich finde es reich!“
„Wie die Menschen staunen und – und – spotten werden!“
„Mögen sie immer!“
„Aber sie dürfen es nicht früher erfahren, als bis ich etwas geworden bin!“
„Gewiß nicht!“
„Aber meine stolze Königin wird warten müssen, wird sie das können?“
Es klingt eine so heiße Angst durch die Frage. Aber Alix lächelt sehr zuversichtlich.
Wäre ihre Liebe die echte, wenn sie das nicht könnte?
„Kolonie Josephsthal, Mai 189..
Weißt Du noch, Maria, wie ich Dir vor drei Jahren um diese Zeit – es war auch zu Ende des Mai – einen langen, ausführlichen Brief schrieb, in dem zu lesen war, ich wolle ‚Schicksal spielen‘? Du Gute, Du Kluge, hast damals schon genau gewußt, wie es um mich stand, besser jedenfalls als ich selber, die ich mir damals noch nicht völlig klar über meine Gefühle war.
Wenn ich zurückdenke, was alles diese drei Jahre uns gebracht haben!
Erst das Wiedersehen mit Dir und die Freude, die beiden mir auf Erden liebsten Menschen einander zuzuführen! Nie werde ich es Dir genug danken können, wie Du Dich dann meines Liebsten annahmst, der so glücklich war, in Eurem Hause die behaglichste Gastfreundschaft zu genießen, während er in Frankfurt seine musikalischen Studien zum Abschluß brachte. Und dann die lange Wartezeit, während meine Verlobung mit Raimund unser Geheimnis bleiben, und ich in Schloß Josephsthal ein geselliges Leben führen mußte, das in kaum ertragbarem Gegensatz zu den Bedürfnissen meines Herzens stand! Oft genug hab’ ich Dir und Raimund mein Leid geklagt, Dir rückhaltloser als ihm, denn bei ihm hieß es, vorsichtig sein, wenn, trotz aller Reserve meinerseits, diese Bewerber auftauchten, die sich nicht abschütteln lassen wollten! Ich bin unausstehlich gewesen – übermütig – hochfahrend – Diana von Versailles von Kopf bis Fuß …. es half mir alles nichts! Schrieb ich Dir schon, daß die alte Gräfin Versing neulich sehr spitz und spöttisch gegen mich bemerkte: ‚Wissen Sie, Liebe, daß Ihr Benehmen wirklich sehr sonderbar ist und entschieden zu denken giebt? Wenn man nicht wüßte, daß eine heimliche Verlobung für eine Baroneß Hofmann eine Unmöglichkeit ist, man könnte auf diesen sinnlosen Gedanken verfallen! Sie machen einen so – so unbekümmerten Eindruck wie jemand, der seiner Sache absolut sicher ist!‘ – Ach, Maria, diese Versuchung, der klugen Dame meinen tiefsten Knix zu machen und zu sprechen: ,Ihre Weisheit, Frau Gräfin, in hohen Ehren! Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen!‘
Nun, sie wird ja demnächst ihre Vermutung schwarz auf weiß bestätigt finden und staunen – staunen!! Könnte ich jede der dreihundert elegant gestochenen Verlobungskarten, die da neben mir aufgestapelt liegen, als ein Mäuschen begleiten und all die Ohs und Achs, die Ausrufe der Entrüstung, des Staunens, des Entsetzens anhören – welch ein Gaudium! ‚Raimund Hagedorn, Hofkapellmeister! Ach, um Gottes willen – ist denn das eine Partie?‘ – ‚Diese hochmütige Person – und das ist ihr gut genug?‘ – ‚Raimund Hagedorn – war der Mensch nicht einmal Buchhalter, noch dazu ein sehr untauglicher Buchhalter, in einer von den Mühlen der schönen Müllerin? Und den will sie heiraten? –‘
Bitte, meine Herrschaften – nur zu! Genieren Sie sich ja nicht! Ja – den will ich in der That heiraten!!
Und bald, Maria, das darf und das wird Dich nicht wundern! Raimunds Stellung in K. ist sehr günstig, er schreibt, so kurze Zeit er erst dort sei – er finge doch schon an, sich beim Publikum beliebt zu machen. Brauche ich Dir erst zu sagen, daß ich ihm das aufs Wort glaube? Ich hab’ ihn kennengelernt, als es ihm, Gott weiß es, nicht nach Wunsch ging, und konnte nicht anders, als ihn lieben. Wie sollen ihm jetzt die Herzen nicht zufliegen, da es ihm so gut geht in seinem geliebten Beruf und da ihm sein inneres Herzensglück aus den Augen leuchtet und von den Lippen lacht?
Seine ,Frühlingsphantasie‘, die er unmittelbar vor dem [767] Duell komponiert und fast vollendet hatte, ist letzten Winter wiederholt zur Aufführung gelangt, und immer mit gleichem Beifall! Raimund war überglücklich – nicht daß ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen wäre …. nein, ich weiß, was ihm so wohl thut: daß er ihn allein sich selbst und seinem Können zu verdanken hat. Ich kann es ihm wahrlich nachfühlen – – das ist sein wunder Punkt: er will selbst etwas leisten, selbst etwas bedeuten! Ich meine, er hat sein Können glänzend bewiesen und wird es weiter thun. Mit seinem Orchester ist er sehr zufrieden, er darf alle neuen bedeutenden Werke einstudieren und komponiert inzwischen fleißig, da seine Arbeiten so viel Anklang finden. Mit Recht wird in ihnen besonders die Frische und Ursprünglichkeit der Erfindung und die reich quellende Melodik gerühmt. Er behauptet immer, das alles verdanke er nur mir, und ich glaube ihm das schon zu gern! Papa Hagedorn behagt sich ausnehmend in diesen Verhältnissen. Seines ,Jungchens‘ Erfolge machen ihn, wie Raimund schreibt, so eitel und übermütig, daß es oft des Guten zu viel wird. Nach mir empfindet er große Sehnsucht, er schreibt mir die liebevollsten Briefe und freut sich wie ein Kind auf unsere Hochzeit.
Ja, bald, im Juli, meine Liebste, wenn ,tote Saison‘ für die schönen Künste ist und die Herren Lehrer, Professor Laurentius obenan, ihre Ferien haben – dann hat Dein Pflegekind Hochzeit, und Du kommst endlich, endlich mit Mann und Kindern herüber zu Deiner Alix nach Schloß Josephsthal!
Ich habe Dir ja von allem, was ich inzwischen geändert und – nach meinen Begriffen! – gebessert, getreulich Bericht erstattet, aber die eigene Anschauung ist doch allein entscheidend. Du wirst keine musterhaften, tadellosen Verhältnisse finden, denk’ das ja nicht! Aber einiges giebt doch Zeugnis von meinem guten Willen. Die Unfall- und Krankenhausverhältnisse sind aufgebessert, die Schule ist erweitert, in jedem Sinn, eine Handarbeitabteilung für Mädchen und Knaben gegründet, die jüngeren oder besonders schwächlichen Jungen lernen Korb- und Mattenflechterei und einfache Schnitzarbeiten. All diese Neuerungen habe ich mir Schritt für Schritt erkämpfen, oft geradezu von Cecil abbetteln müssen, weshalb ich doppelt stolz darauf bin. Er ist nicht hartherzig, auch nicht übelwollend, mein vortrefflicher englischer Vetter, aber er hängt mit zäher Energie an dem Grundsatz: diesen Leuten gebe man gerade nur das Aeußerste, dessen sie bedürfen – kein Gran mehr, sonst züchtet man Habsucht und Unzufriedenheit groß. Er giebt nach, weil er schließlich muß! ,Sie sind ja die Herrin von Kolonie Josephsthal, Cousine!‘ heißt es stets am Ende unserer Debatten. ,Sie haben zu bestimmen, und ich muß mich fügen!‘ – Daher hüte ich mich, zu viel auf einmal zu verlangen und zu oft mit Reformen zu kommen. Ich will mir Cecil erhalten, er ist mir sehr nützlich, nimmt meine Interessen vortrefflich wahr, und ich wüßte nicht, was ohne ihn anfangen. Wir kommen im ganzen ausgezeichnet miteinander zurecht – auch ich mit Gwendolen!
Du wunderst Dich, daß ich nicht mehr von ihr schreibe! Liebes Herz – es ist mit dem besten Willen nicht viel von ihr zu schreiben; sie ist für Cecil die rechte Frau, eine richtige englische Mustergattin, die sich um nichts kümmert als das, was ihr Gatte ihr erlaubt und für sie passend erachtet. Blond, zart, rosig, gesund, vernünftig, so ist sie, und so verspricht ihr Baby zu werden, ein kleines Geschöpf von fünf Monaten, der Mutter wie aus den Augen geschnitten, so regelmäßig abgewartet, so regelmäßig zunehmend und gedeihend, daß man es nach der Uhr abmessen könnte. Zwischen Cecil, Gwendolen und mir ist ein musterhaftes Verhältnis. Wir sind gleichmäßig freundlich gegeneinander, mit Cecil berede ich geschäftliche und mit seiner Gattin häusliche Dinge – im übrigen hat Mrs. Gwendolen ihre hübsche, geräumige Wohnung im linken Flügel des Schlosses, und ich im rechten, wir sehen uns nicht zu häufig und sind einander im Innern so fern und fremd, als lebten wir auf zwei verschiedenen Planeten.
Du fragst in Deinem letzten Briefe, ob ich inzwischen einmal irgend etwas von Ingenieur Harnack gehört habe ….. jawohl, Liebste, noch ganz kürzlich sogar!
Du weißt, daß er nach verbüßter Festungshaft übers Meer ging, was ich in jeder Hinsicht für ihn richtig fand; hier konnte er nicht bleiben, und ich verstand ihn gut, als er mit schwerer Betonung zu mir sagte: ‚Jetzt nur so weit fort als möglich!‘ Immer noch sehe ich ihn vor mir, als er in der ersten und letzten Unterredung, die ich ihm nach all den schmerzlichen Ereignissen bewilligte, von mir Abschied nahm. Vor einigen Wochen hörten wir durch einen Geschäftsfreund, der aus New Orleans kam, Mr. William Harnack sei dort als Leiter eines großen technischen Unternehmens thätig und sehr angesehen wegen seiner gründlichen Kenntnisse und seiner Tüchtigkeit. Auf meine spezielle Nachfrage, wie er sich sonst gebe, meinte der Geschäftsfreund, er gebe sich eigentlich gar nicht, sei wortkarg, unzugänglich, verschlossen und gelte im allgemeinen als ausgesprochener Menschenfeind. Ich hatte dies leider vorausgesehen – es waren schon hier alle Keime dazu vorhanden, und das, was er erleben mußte, wird ihn nicht milder gestimmt haben.
Du meinst, wenn ich verheiratet sein werde, wird mein Interesse für die Kolonie Josephsthal allmählich schwinden …. nein, Maria, das kann, das wird nie geschehen! – Kein Tag vergeht, da ich nicht meines Vaters gedenke, der Energie und Umsicht, mit der er sein Lebenswerk verwaltet, der fast leidenschaftlichen Anhänglichkeit, die er dafür gehabt hat. Ich fange an, es besser zu verstehen, wie er so ganz in seinen geschäftlichen Unternehmungen aufgehen konnte. Es hieße, sein Andenken schlecht in Ehren halten, ohne Pietät und ohne Verständnis sein, wenn ich über meinem persönlichen Glück jemals das vergessen sollte, was ich ihm schuldig bin! Jawohl – schuldig! Denn auch die Toten haben noch ihre Ansprüche an die Lebenden zu erheben, und wehe denen, die sich ihnen ganz entziehen! Und eins noch, Liebste: ich habe der Kolonie Josephsthal viel, viel zu danken! Im intimen Umgang mit der Natur, in häufiger Einsamkeit bin ich mehr zur Besinnung gekommen, mehr ich selbst geworden, als mir dies inmitten der Zerstreuungen einer Großstadt, selbst unter Deiner treuen Obhut, möglich gewesen wäre. An Leib und Seele bin ich gesünder geworden, habe mich sammeln können – und vor allen Dingen, ich habe arbeiten gelernt. Arbeiten – sorgen für andere – nicht nur mein eigenes Ich hätscheln und in den Vordergrund stellen! Wie oft hat meines armen Vaters lakonisches Wort: ,Ich baue!‘ mich früher entrüstet! In diesen Jahren hab’ ich auch von mir sagen können: ,Ich baue!‘ aber nicht nur die Häuser, die längs des Flusses entstanden sind – ich baue Dinge, die man nicht sieht, die aber schwerer oft hinzustellen sind als ein neues Haus, denn das Material ist feiner als Ziegel, Mörtel und Steine – es ist Selbstüberwindung und Menschenliebe!
Darum werde ich jedes Jahr – und Raimund kennt mein Vorhaben und billigt es! – eine Zeit lang auf Schloß Josephsthal leben, werde mich den Leuten, den Beamten nicht entfremden, werde getreulich aus der Nähe, wie aus der Ferne, wachen über allem, was geschaffen wurde und was noch geschaffen werden soll. Meine alte Françoise nehme ich mit mir in meine neue Häuslichkeit, sie würde die Trennung von mir nicht ertragen, sie würde denken, Mignonne könne nur von ihr frisiert und bedient werden, und sie wird, davon bin ich überzeugt, heimlich drei Kreuze schlagen, wenn sie das ,Exil‘, in dem sie mehr als drei Jahre hat aushalten müssen, verlassen kann. Meine gute Frau von Sperber, die Du mit Recht in Dein Herz geschlossen hast, wie sie Dich, bleibt hier. Sie hat mich darum gebeten, und ich habe es ihr mit Freuden bewilligt. Kennt sie doch meine Intentionen, wird sie mir doch getreulich über alles und jedes berichten und in meinem Sinn und Geist regieren – freilich nur, soweit Vetter Cecils praktische Weisheit dies zuläßt. – Die Kinder werden mich hier freilich vermissen, sie hängen wirklich an mir, und das diesjährige Kinderfest fiel, im stillen Gedenken an die nahe Trennung, so besonders schön und reichlich aus, daß allgemeiner Jubel herrschte. Aber meine getreue Frau von Sperber wird die kleine Gesellschaft nicht vergessen – – und auch ich werde das nicht!
Morgen, Maria, versende ich die Verlobungsanzeigen – in acht Wochen, so Gott will, heiße ich Alexandra Hagedorn! Du warnst mich immer: ich soll mir meine Zukunft nicht zu rosig ausmalen …. das versuche ich redlich, Liebste, Beste! Ein schattenloses Glück – wer darf das beanspruchen – wer erwarten? Aber ich licöe, und ich werde geliebt – – darin liegt Glück die Fülle! Bestätige Du es mir – Du, selbst eine glückliche, liebende und geliebte Frau!
Sowie die Ferien beginnen, kommt Ihr! Ihn werdet Ihr schon vorfinden. Auf frohes Wiedersehen!
Deine Alix!“
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Alle Rechte vorbehalten.
Das Kartenschlagen.
Es war zu einer späten Abendstunde im Floréal des Jahres I der französischen Republik – im Mai 1703 –, als drei Männer die Rue Tournon in Paris durchschritten und das Haus Nr. 153 (heutzutage Nr. 5) betraten. An der Thür des Hauses sah man ein Schild mit der Aufschrift „Mlle. Lenormand, Buchhändlerin.“ Die drei Männer waren unauffällig gekleidet und in große Mäntel gehüllt, indessen ein aufmerksamer Menschenbeobachter hätte in ihren Zügen doch eine beredte Sprache lesen können. Der erste hatte einen intelligenten Gesichtsausdruck, und seine dünnen, fest zusammengepreßten Lippen verrieten rücksichtslose Entschlossenheit und die Fähigkeit grausamen Hasses, der zweite zeigte wilde, gemeine und brutale Züge und die funkelnden Augen eines Tigers, der dritte ein ideal schönes, schwärmerisches Antlitz, aber zugleich den leidenschaftlichen Ausdruck eines Fanatikers seiner Ueberzeugungen.
Die Männer betraten ein einfach ausgestattetes Zimmer und wurden von einer stattlichen jungen Dame anfangs der zwanziger Jahre mit klug blickenden Augen empfangen.
„Bürgerin Lenormand,“ sagte der eine der Besucher, „erschrecken Sie nicht! Wir wünschen von Ihnen unsere Zukunft zu erfahren.“
Die Angeredete stutzte eiuen Augenblick, mischte dann mehrere Kartenspiele und begann die Karten auf dem Tische auszubreiten. „Ihr Schicksal war mir schon bekannt, Bürger,“ sagte sie dann zögernd und sehr betreten, „und die Karten bestätigen es auch heute wieder. Erlassen Sie mir, es auszusprechen, fragen Sie nicht!“
„Wir sind nicht Männer, die man durch Prophezeiungen schrecken kann. Sprechen Sie!“
„Nun, wenn Sie es denn wünschen: Sie werden, ehe noch das kommende Jahr vollendet ist, alle drei eines gewaltsamen Todes sterben –“
Die Besucher entfernten sich mit gezwungenem Lachen.
Es waren Robespierre, Marat und Saint-Just. Marat wurde zwei Monate später von Charlotte Corday ermordet, die beiden andern endeten im Juli 1794 auf der Guillotine. Und die Wahrsagerin, die ihnen ihr Schicksal vorhergesagt hatte, war die berühmte Kartenlegerin Lenormand, die Sibylle von Paris …
So wird uns erzählt, und wer die damalige Zeit kennt, der wird kein Bedenken haben, an dieser Erzählung jedenfalls so viel für wahr zu halten, daß die drei großen Revolutionsmänner in der That die bekannte Kartenlegerin aufgesucht haben. Zur Zeit, als diese Scene spielte, griff das Schicksal gewaltig in die Lebensverhältnisse ein. Menschen, die heute noch angesehen und wohlhabend dastanden, bestiegen auf irgend ein unvorsichtiges Wort, eine heimtückische Denunziation hin morgen das Schafott; charakterlose Abenteurer aus der Hefe des Volkes kamen zu Ehren, um über kurz oder lang von ihrer Höhe zu stürzen; zahllose Familien hatten Angehörige, die in den Gefängnissen schmachteten, aus denen es selten einen andern Ausgang gab als den zur Guillotine. Der Boden war mit Blut gedüngt, niemand war des morgigen Tages sicher. Eine solche Zeit war dem Wahrsagewesen günstig wie keine zweite. Alle Gesellschaftsklassen strömten in das kleine unscheinbare Haus in der Rue Tournon, in dem vom Jahre 1792 bis zu ihrem Tode die Sibylle wohnte, die mit Hilfe der Karten den dunklen Schleier der unheimlichen, drohenden Zukunft zu lüften verstand und von deren Kunst man Wunderdinge erzählte.
Marie Anne Lenormand war im Jahre 1790 als junges Mädchen nach Paris gekommen, um sich einen Broterwerb zu suchen. In Alençon (Orne) 1772 geboren, hatte sie eine gute Erziehung im Kloster der Benediktinerinnen genossen; sie war nicht ungebildet und vor allem eine Menschenkennerin ersten Ranges, von feiner Beobachtungsgabe und sicherem Takt, den sie oft bei ihren Wahrsagungen hochstehenden Persönlichkeiten gegenüber zu bewähren hatte. Es mag sein, daß sie überdies eine hochgesteigerte Fähigkeit besaß, aus der Gegenwart, aus den gegebenen Situationen und aus den Charakteren der Personen, die sie aufsuchten, im natürlichen Zusammenhang der Dinge auf die Zukunft zu schließen. Nur diese Eigenschaften können die Erfolge erklären, die sie erzielte. Ihre Karten dienten ihr dabei wahrscheinlich nur als nebensächlicher Hokuspokus, als äußerliches Beiwerk für ihre nach den Schilderungen der Zeitgenossen oft wunderbar zutreffenden Prophezeiungen.
In der Lenormand erreichte ein Aberglaube seine höchste Blüte, dessen Entstehung und Entwicklung wir in Frankreich vorzugsweise beobachten können. Die abergläubische Kunst des Kartenschlagens oder Kartenlegens wurde von jeher in den romanischen Ländern besonders gepflegt. Die romanischen Völker sind im allgemeinen mehr zum Aberglauben und zu phantastischer Mystik geneigt als die nüchterne germanische Rasse. Die abergläubische Sitte tritt gleichzeitig mit den Spielkarten überhaupt in Europa auf, sie wurde gegen Ende des 14. Jahrhunderts besonders durch die Zigeuner, die Träger und Vermittler so vielen Aberglaubens, eingeführt und fand allmählich immer weitere Verbreitung.
Wir hören, daß schon unter Ludwig XIV eine gewisse Marie Ambruget großes Ansehen als „Cartomancienne“ genoß, wie der französische Ausdruck für diese Art von Wahrsagerinnen lautet. Sie soll dem König den Sieg bei Denain über den Prinzen Eugen vorhergesagt haben, wofür sie nach Eintreffen ihrer Prophezeiung von dem „Roi solei“ ein Honorar von 6000 Livres erhalten haben soll. Unter Ludwig XV begann die Kartenschlägerei bereits in der guten Gesellschaft Mode zu werden; es werden uns die Namen verschiedener Kartenschläger und Kartenschlägerinnen genannt, die großen Zulauf hatten.
Kein Aberglaube ist so dumm und ungereimt, daß man ihn nicht in ein System bringen könnte. Wie Frankreich in der Lenormand die berühmteste Pythia des Kartenschlagens hervorgebracht hat, so war auch der erste Theoretiker dieser „Kunst“, der sie mit vieler Gelehrsamkeit zu einer „Wissenschaft“ erhob, ein Franzose. Alliette hieß dieser „Gelehrte des Kartenschlagens“, er war ein Perückenmacher seines Zeichens. Unter dem Pseudonym Etteilla, einer Umkehrung seines Namens, schrieb er in den Jahren 1780 bis 1790 – also vor der Lenormand – sehr tiefsinnige Werke über die Theorie der Kunst, aus den Karten zu wahrsagen, eine Sammlung abergläubischer und phantastischer Weisheit, angeblich aus uralten ägyptischen und chaldäischen Quellen geschöpft. Er wurde der Hohepriester des Kartenschlagens, der dem Aberglauben Ordnung und System gegeben hat, und noch heute gilt er als der Meister der Theorie dieser Kunst; die zahllosen Anleitungen dazu stützen sich auf die Autorität des „berühmten Etteilla.“
Ueber Alliette und seine Anhängerschaft brausten die Stürme der Revolution dahin, und in den gewaltigen politischen Umwälzungen verschwand er vom Schauplatze der öffentlichen Wirksamkeit, die für ihn immerhin so einträglich gewesen war, daß er ein eigenes Haus in Paris und ein nicht unbedeutendes Vermögen besaß. Er hatte den Boden vorbereitet für das Auftreten seiner größeren Nachfolgerin, der Lenormand, die ihm in der Praxis bedeutend überlegen war. Sie, die in einer Zeit der gewaltigsten politischen Umwälzungen in Europa lebte, sah in ihrem Kabinett fast alle Größen, geistige und politische Berühmtheiten ihrer Epoche, sie hat unter vier Augen mit ihnen gesprochen, ihre geheimen Wünsche erfahren, sie hat ihre Physiognomien, ihre Charaktere studiert, ihre verborgenen Schwächen beobachtet. In der That, die Lebensgeschichte der Lenormand bietet uns eine der seltsamsten Komödien des Aberglaubens – ein heiteres Schauspiel glücklicherweise, denn wir können nicht sagen, daß der Einfluß der berühmten Sibylle irgendwie direkt unheilvoll gewesen sei. Dazu war sie zu sehr die Wahrsagerin der großen Welt, in der man den Ton des Anstands wahren mußte. Man kann nur staunen, wenn man hört, wer alles bei ihr sich Rat erholt hat. Wenn sie ihre Memoiren geschrieben hätte, so würden wir darin zweifellos manchen interessanten Beitrag zur intimeren Zeitgeschichte finden. Leider hat sie nur eine Reihe von Schriften hinterlassen, die zwar vielfach an die politischen Ereignisse der Zeit anknüpfen, aber von phrasenhaftem Stil, mit Prophezeiungen untermischt und ohne tieferes Interesse sind. Diese Werke hatte sie [769] selbst im Verlag, und darum bezeichnete sie sich in der Öffentlichkeit als Buchhändlerin. Gewiß wurde die Lenormand vielfach lediglich aus Neugierde aufgesucht; die Beschäftigung mit der Wahrsagerei galt als eine Art seltsamer Unterhaltung, die einmal Mode war, aber es gab genug Leute, die sie in ernsten Dingen zu Rate zogen und sie in ihre geheimsten Angelegenheiten einweihten. Und dazu gehörte z. B. die erste Gemahlin Napoleons I, Josephine Beauharnais, bei der sie besonderes Vertrauen genoß. Schon als diese noch Madame Beauharnais war, soll die Lenormand ihr den Tod ihres ersten Gatten und ihre Wiederverheiratung mit einem Offizier vorhergesagt haben, dessen Stern sie noch zu hohen Ehren bringen werde, und ebenso ihre spätere Scheidung von Napoleon I. Auch als Kaiserin ließ Josephine noch die Wahrsagerin in ihr Palais kommen. Hier hat diese auch, wie sie selbst erzählt, eine Begegnung mit Napoleon gehabt, der sie schon vor Jahren konsultiert haben soll, als er den abenteuerlichen Plan hegte, Frankreich zu verlassen und in die Dienste des Sultans zu treten. Sie hat auch auf Veranlassung der Kaiserin Josephine im Jahre 1807 das vollständige Horoskop Napoleons I aufgestellt, das ihr bei ihrer Verhaftung im Jahre 1809 abgenommen und seitdem auf der Pariser Polizeipräfektur aufbewahrt wurde und in dem man auch eine Stelle finden will, die auf Napoleon III deutet. Wir glauben indessen kaum, daß ein Mann wie Napoleon I ihren Wahrsagungen eine ernstere Bedeutung beigelegt hat. Sehr erklärlich ist dagegen das Vertrauen, das ihr seitens der Kaiserin Josephine entgegengebracht wurde. Denn diese war Kreolin von Geburt und abergläubisch wie nur eine Kreolin es sein kann.
Ludwig XVIII hat schon als Graf von Provence am Abend vor seiner Flucht aus Paris die Lenormand aufgesucht und gab ihr auch als König häufig geheime Audienzen in den Tuilerien; sie soll ihm die Ermordung des Herzogs von Berri vorhergesagt haben.
Die Fürsten, die im Jahre 1818 zum Aachener Kongreß versammelt waren, suchten fast alle die Sibylle auf, die sich damals ebenfalls nach Aachen begeben hatte. Friedrich Wilhelm III von Preußen soll sich, wie erzählt wird, als Bauer verkleidet und scherzend zu ihr geäußert haben, er sei „un paysan sans soucis“ („ein Landmann ohne Sorgen“), worauf sie ihm schlagfertig erwidert habe: „Das ist richtig, da Sie der Besitzer von Sanssouci sind.“ Wie die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ 1840 bei Gelegenheit des Todes Friedrich Wilhelms III berichtete, soll die Lenormand im Jahre 1815 dem Könige sein Todesjahr und dasjenige Napoleons I richtig vorhergesagt haben. Ein merkwürdiges
Schauspiel fürwahr, zu sehen, wie die Männer, die selbst an der Geschichte ihrer Zeit mitarbeiteten, das Orakel der Kartenschlägerin zu Rate zogen!
Es konnte nicht ausbleiben, daß eine Wahrsagerin, die von politischen Persönlichkeiten der verschiedensten Parteien aufgesucht wurde, selbst auf das zu den Zeiten der Lenormand nicht ungefährliche politische Gebiet geriet. Es widerfuhr ihr mehreremal, daß sie sich mit den herrschenden Gewalten in Konflikt setzte. Gleich in der ersten Zeit ihrer Wirksamkeit wurde sie vom Wohlfahrtsausschuß als verdächtig verhaftet und kurze Zeit gefangen gehalten. Später hatte sie das Mißgeschick, sich den Zorn Napoleons I zuzuziehen. Eine Wahrsagerin, die seinem Ruhm als Heroldin diente, hätte sich Napoleon gefallen lassen, aber niemand, auch die Sibylle nicht, durfte es wagen, ihm zu widersprechen oder seinen Unternehmungen ungünstigen Ausgang vorherzusagen. Als sie dem ersten Konsul, der eine Expedition gegen England plante, öffentlich den Mißerfolg einer Landung an der großbritannischen Küste vorhersagte, wurde sie verhaftet und mit einem Jahre Gefängnis in einem Kloster bestraft. Noch einmal wagte sie es, den Gewaltigen herauszufordern, dessen Willen niemand trotzen durfte. Im Jahre 1809 wurde sie abermals wegen ungünstiger Prophezeiungen, die sie veröffentlicht hatte, gefangen gesetzt und später ausgewiesen. Sie rächte sich, indem sie von Brüssel aus Napoleons Untergang in einer Schrift vorhersagte, eine Prophezeiung, die ihrem historischen Scharfblick Ehre macht. Mlle. Lenormand ist stets von Gesinnung Royalistin gewesen, und diese Gesinnung machte sie zeitweise besonders populär. Als am 31. März 1814 die Verbündeten in Paris einzogen, wurden ihr von der Menge Ovationen gebracht, weil sie die Wiederherstellung der Dynastie prophezeit hatte.
Die Thatsache, daß die Großen und Mächtigen dieser Erde zu jener Zeit fast alle die Sibylle von Paris aufgesucht haben, kann uns psychologisch nicht in Erstaunen setzen. Einmal ist ja bekannt, welchen Einfluß die Mode auf alle Gesellschaftsklassen hat, und die Lenormand war eben damals Mode. Dann aber sind solche Menschen, die auf den politischen Höhen stehen, Herrscher und Staatsmänner, dem Schicksal in seinen großen Wandlungen mehr ausgesetzt, ihr Interesse, sozusagen, an der Zukunft ist ein größeres als bei den Menschen, die in der Alltäglichkeit leben, und so ist das Verlangen, in die Zukunft zu blicken, bei jenen sehr erklärlich. Im Charakter Wallensteins hat Schiller diesen Zug meisterhaft dargestellt. Wie der bekannte langjährige Vorleser Kaiser Wilhelms I, der Hofrat Louis Schneider, in seiner Lebensgeschichte des Kaisers erzählt, hatte er oft die Gelegenheit, zu beobachten, daß in den Kreisen der [770] Fürsten und Herrscher ein besonderes Interesse für übernatürliche Dinge, für Geister- und Gespenstergeschichten und Wahrsagungen vorhanden ist, eine Schwäche, von der übrigens, wie er ausdrücklich hervorhebt, Kaiser Wilhelm selbst gänzlich frei gewesen sei. Schneider erklärt diese Erscheinung durch den unheimlichen Reiz, den die Vorstellung von unerklärlichen Einflüssen, die auch dem Mächtigsten nicht erreichbar sind und denen auch der gewaltigste Herrscher unterworfen ist, für die Mächtigen der Erde hat.
Ueber die Art und Weise, wie die Lenormand ihre Kunst ausübte, berichten uns verschiedene Zeitgenossen, so ein deutscher Geistlicher, den die Ereignisse von 1813 nach Paris geführt hatten. Die Wahrsagerin ließ sich für das „grand jeu“ („große Spiel“) 4 Napoleonsd’or und für das „petit jeu“ („kleine Spiel“) die Hälfte bezahlen, je nachdem ihre Prophezeiungen eingehend waren. Sie fragte den Besucher nach dem Anfangsbuchstaben seines Taufnamens, seines Vatersnamens, seines Heimatlandes und seines Geburtsortes, nach dem Tage der Geburt und endlich nach dem Namen seiner Lieblingsblume, seines Lieblingstieres und desjenigen Tieres, das ihm am meisten zuwider sei. Dann breitete sie nach den üblichen Vorbereitungen durch Mischen und Abheben eine Anzahl der verschiedenartigsten Kartenspiele auf dem Tische aus, und endlich studierte sie die Linien der Hand. Man sieht, daß sie einmal auf eine gewisse Charakteristik des Besuchers ausging und anderseits nicht nur das Kartenschlagen, sondern auch die Handwahrsagerei oder Chiromantie pflegte. Zum Schluß äußerte sie sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Besuchers in längerer Ausführung, die sie auf Wunsch auch schriftlich gab. Im übrigen verschmähte sie den mystischen Humbug in ihrem Aeußeren und ihrer Umgebung und war entsprechend ihrer eleganten Kundschaft mehr Weltdame als Zauberin und Hexe. Wie einträglich ihr Gewerbe war, zeigte sich bei ihrem Tode. Als sie im Jahre 1842 starb, hinterließ sie ein Vermögen von über einer Million Franken und eine ganze Anzahl kostbarer Gemälde und Kunstwerke.
Mlle. Lenormand – sie ist unverheiratet geblieben – bezeichnet den Höhepunkt der Kartenschlägerei. Keine ihrer Nachfolgerinnen hat im entferntesten wieder die Bedeutung gehabt und solche – Einnahmen wie sie. Die Zeiten waren der Wahrsagerei nicht mehr so günstig wie früher, der Aberglaube hatte aufgehört, Mode zu sein. In den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts gelang es in Paris noch einmal einem Wahrsager nach der Art der Lenormand, einem gewissen Edmond, einigen Ruf zu erlangen und die höheren Kreise der Gesellschaft anzuziehen, indessen war das nur eine vorübergehende Erscheinung.
In Deutschland hat die Kartenschlägerei niemals ähnliche Blüten hervorgebracht wie in Frankreich. Vereinzelt haben wir Beispiele, daß geschickte Schwindler und Schwindlerinnen einen größeren örtlichen Wirkungskreis gefunden und mehr oder weniger große Einnahmen erzielt haben, irgendwelche zeitgeschichtliche Bedeutung haben solche Erscheinungen nicht gehabt. Heutzutage blüht der Aberglaube vorzugsweise im geheimen. Wir wollen nicht behaupten, daß er ausschließlich auf die Ungebildeten beschränkt sei; denn gelegentlich zeigen uns Gerichtsverhandlungen, wenn es einmal einem solchen Betrüger gefährlicherer Art an den Kragen geht, daß auch in den gebildeten Kreisen die Anhänger der Wahrsagerei nicht fehlen. Aber es ist nicht mehr „guter Ton“, an dergleichen zu glauben; man schämt sich heutzutage, zu einer Wahrsagerin zu gehen, weil es als ein Zeichen von Unbildung gelten würde. Zum Teil wird die Kartenschlägerei ja vielfach als Scherz geübt, als harmlose Unterhaltung wie das Bleigießen in der Sylvesternacht und ähnliches. Insgeheim aber hat sie ihre Anhänger und besonders Anhängerinnen. Auf dem flachen Lande sind es umherziehende Zigeuner, Hausierer, Handels- und Jahrmarktsleute, die vor dem leider immer noch sehr abergläubischen Landvolk ihre schmutzigen Karten ausbreiten, stets in Furcht vor dem Gendarm und der Polizei. In den Städten sind es gewöhnlich einzelne ältere Frauen, die im geheimen ihren Kundenkreis haben, ganz besonders unter den Mädchen, denen der Liebste untreu geworden ist, oder die wissen wollen, ob er sie heiraten wird. Aber man sagt, daß mitunter – natürlich inkognito – auch andere Leute erscheinen. Ja, diese Kartenschlägerinnen kündigen sich sogar in den Zeitungen an, allerdings sehr verblümt, denn unsere Rechtsprechung steht auf dem Standpunkt, daß die öffentliche Ankündigung der Wahrsagerei als „grober Unfug“ aus § 360 Nr. 11 des Strafgesetzbuches zu bestrafen ist. Es ist das eine der bekannten freieren Auslegungen des „Groben-Unfug-Paragraphen“, die gewiß in diesem Falle nicht zu tadeln ist. Ebenso können in dem Wahrsagen gegen Entgelt unter Umständen die Voraussetzungen des Betruges gefunden werden. Im allgemeinen kann man sagen, daß die Kartenschlägerei, wie viele andere abergläubische Bräuche, im Abnehmen begriffen ist. Anderer, mehr moderner Aberglaube ist an ihre Stelle getreten.
Am Hügelsaum kennst du den Mauerrand?
Dahinter liegt das stillste Stückchen Land!
Wie milde Trauer träumt es dort waldein
Im Abendschein.
Die Fichtennadeln regnen fort und fort
Ganz leis aus eingesunk’ne Gräber dort;
Die Drossel singt ein Lied von süßer Ruh’
Den Toten zu.
Es ist, als schliefen dort im Waldpalast
Der Menschheit letzte Sprossen ihre Rast:
Und um sie webt goldgrün ihr Totenkleid
Die Ewigkeit!
Max Haushofer.
Aufruf für Edmund Stubenrauch. Ein tragisches Geschick hat den bekannten thüringer Volksdichter Edmund Stubenrauch in Hellingen im Herzogtum Koburg ereilt. Der Poet, der den Pflug besang, mit dem er seine Heimaterde bestellte, den Bach, an dem er nach heißem Mühen träumend rastete, die Sterne, die ihm auf dem Heimweg erstrahlten, und den Nachtwind, der ihm geheimnisvolle Märchen zuflüsterte, hat jetzt Abschied nehmen müssen von allem, was so lebensvoll zu ihm sprach, was er durch die Macht seines quellfrischen dichterischen Gemüts beseelte. Zu lange war Frau Sorge seine Begleiterin gewesen; sie entwand ihm die Laute und umringte ihn mit den schwarzen Schatten, von denen jetzt sein kranker Geist sich verfolgt wähnt. So ist ein Poet aus der Reihe der Schaffenden gedrängt worden, den die Kritik nach seiner letzten verheißungsvollen Gabe „Pflug und Laute“ (Verlag von Baumert u. Ronge in Großenhain) als einen wahren Volksdichter, bei dem größte Innigkeit mit markiger Kraft sich verschmolz, feierte, und so ist ein Mann im Staub der Straße verschmachtet, ehe er für die Zukunft der Seinen zu sorgen vermochte. Sein Gütchen seinem heranwachsenden Sohne zu erhalten, bildet jetzt die Sorge seiner Frau und seiner Freunde. Wer dazu helfen will – und gewiß werden sich im Leserkreise der „Gartenlaube“ viele finden, die nicht ohne innere Anteilnahme von diesem düsteren Poetenlos hören und zu einem Liebeswerk beitragen wollen – sende sein Scherflein an die Kasse der Koburg-Gothaischen Kreditgesellschaft in Koburg, von der die gesammelten Spenden der Frau Stubenrauch eingehändigt werden sollen.
Erdpyramide in Südtirol. (Zu dem Bilde S. 741.) An vielen Punkten Tirols verteilt finden sich merkwürdige Erdgebilde. Auf einem senkrechten oder pyramidal nach oben sich verjüngenden Felsenpfeiler ruht ein großer Block hutähnlich aufgesetzt. Schon beim Ueberwinden der ersten Brennerhöhe bemerkt man bei Station Patsch diese sonderbaren Gestalten jenseit der Schlucht sich über der vielfach gewundenen Brennerstraße erheben; bei Bozen finden sich ihrer gegen hundert in der Nähe von Klobenstein (vgl. die Abbildung S. 449 im Jahrgang 1896) und weiter zu gegen Meran über dem Schloß Tirol treten solche Pyramiden fast nadelförmig auf.
Die Entstehung dieser interessanten Gebilde ist an besondere Bedingungen geknüpft. Nur da, wo einstmals vor unvordenklichen Zeiten gewaltige Gletscher Moränen vor sich hergeschoben haben, oder wo von den Bergen herab in den Rinnsalen alter Wildwässer Jahrtausende hindurch der Trümmerschutt der Felsen sich anhäufte, können Erdpyramiden entstehen. Dieser Trümmerschutt muß aber auch noch eine besondere Zusammensetzung haben; es müssen vereinzelte große Felsblöcke oder Platten, möglichst wagerecht gelagert, in einer aus kleineren Steinen gebildeten Masse stecken. Während nun Regen und Ablaufwasser der Berghänge das leichtere Geröll fortschwemmen, beschützt die große Felsplatte wie ein Regenschirm die unter ihr liegenden kleineren Gesteinspartikeln, die sie durch ihren Druck noch dazu fester zusammenhält. Und so kommt es, daß aus dem allmählich abgetragenen Grunde ein Steinpfeiler emporragt, wie ihn unsere Abbildung zeigt, die nach einer bei Ruine Ravenstein in der Nähe von Bozen stehenden Erdpyramide gefertigt ist. Da das Gestein meistens sehr fest zusammengebacken ist, schreitet die Verwitterung nur langsam fort, und derartige Gebilde können daher weit über ein Menschenalter hinaus scheinbar unverändert an gleicher Stelle stehen, bis endlich die rastlose Arbeit der kleinen Kräfte, die unsern ganzen Erdball umformt, ihren
[771] Fuß untergräbt und in irgend einer Gewitternacht wieder ein paar solcher Kolosse unter donnerartigem Krachen zusammenbrechen, den Felsgrund mit Trümmern besäend. H. M.
Das Kaiser Wilhelm-Denkmal in Stuttgart. (Mit Abbildung.) Unmittelbar nach dem Tode Kaiser Wilhelms I trat im März des Jahres 1888 eine Anzahl von Bürgern in Stuttgart zusammen, um die Errichtung eines würdigen Denkmals für den glorreichen Führer Deutschlands in der großen Zeit seiner Erhebung in Anregung zu bringen. Ein Komitee wurde gewählt, und das Ehrenpräsidium übernahm Prinz Wilhelm von Württemberg, der auch als König nach seiner im Jahre 1891 erfolgten Thronbesteigung die Arbeiten zur Errichtung des Denkmals mit Rat und That förderte. Nicht nur die Stadt Stuttgart, sondern das gesamte Land Württemberg beteiligte sich an den Sammlungen, und als die Mittel gesichert waren, wurden mehrere Preisausschreiben veranstaltet. Man einigte sich schließlich dahin, den Entwurf von Prof. W. v. Rümann und Prof. Friedr. Thiersch in München zur Ausführung zu bringen. Als Aufstellungsort wurde der schöne von Baumanlagen umrahmte Karlsplatz in Stuttgart bestimmt. Den Guß besorgte die kunstgewerbliche Werkstätte von Paul Stotz in Stuttgart, während die Granitarbeiten das Granitwerk Blauberg lieferte.
Am 1. Oktober dieses Jahres wurde das Kaiser Wilhelm-Denkmal im Beisein des Königs und der Königin feierlich unter Kanonendonner und Glockengeläute enthüllt. Eine vieltausendköpfige Festversammlung füllte den Platz, Abordnungen aller Stände waren vertreten, das Militär marschierte mit Fahnen und Standarten auf, die Krieger-, Turn- und andere Vereine waren erschienen, und, von ihren Lehrern geleitet, nahmen gegen 10 000 Schulkinder an der erhebenden Feier teil.
Das Denkmal macht einen überaus schönen und harmonischen Eindruck. Sein mächtiger Unterbau besteht aus Granit; an der Vorderseite ruhen zwei Löwen, während an der Rückseite zwei schlanke Obelisken emporragen; auf ihnen sind mit goldenen Lettern Daten eingetragen, die an die ruhmreichen Siege vom Jahre 1870/71 und an die Gründung des Deutschen Reiches erinnern. In der Mitte des Unterbaues ruht ein Sockel aus Granit, mit dem Reichswappen geschmückt, und hoch oben steht das eherne Reiterstandbild des Heldenkaisers.
Kaiser Wilhelm I ist in einfachem Interimsrock und langem Mantel dargestellt, der Helm deckt sein Haupt, seine Linke hält die Zügel und die Rechte stützt sich auf die Hüfte. Das prächtig modellierte Pferd schreitet langsam aus mit wehendem Schweife. In seiner Gesamtheit wirkt das Denkmal überaus vorteilhaft. Da ein Uebermaß an Nebenschmnck vermieden wurde, tritt das Hauptstück, die Reitergestalt, um so mächtiger und ausdrucksvoller hervor.
Am St. Leonhardstag in Tölz. (Zu dem Bilde S. 744 und 745.) Uralt heilige Bräuche aus sagenhafter Vorzeit leben auf, wenn sich am 6. November in Tölz die Bauern der Landschaft zu ihrer berühmten Wagenprozession auf den Kalvarienberg vereinigen. Den alten Germanen schon war die Höhe ein heiliger Berg; an die Stelle der Opferstätte, auf welcher man seinen Besitz an Rossen und Herden dem Schutze Wotans empfahl, ist die Kapelle getreten, in welcher nun auch schon seit unvordenklicher Zeit Sankt Leonhard als Schutzpatron von Pferd und Rind verehrt wird. Naive Religiosität in inniger Mischung mit weltlichem Behagen giebt diesem kirchlichen Fest einen ganz besonders anziehenden Reiz. Es ist eine reiche fruchtbare Gegend dort oben in dem bayrischen Alpenvorland an den Ufern der Isar, mit stattlichen Gehöften. Und der Vollbauer, der mit den vier besten seiner Gäule seinen altehrwürdigen Leonhardswagen bespannt, welcher nur an diesem Tag in Gebrauch kommt, legt für die Fahrt nicht nur seinen Sonntagsstaat an, er steckt auch manch harten Silberthaler in den Beutel; denn es ist ihm eine Ehrenpflicht, nach der Rückkehr von der Fahrt sein Gesinde reichlich zu bewirten. Mit feierlichem Ernst besteigen in der Frühe die Dirndln, mit ihrem besten Schmuck über dem seidenen Fürtuch, den Wagen; aber nach dem Gottesdienst wandelt sich der Leonhardstag für alle in fröhliche Lustbarkeit, und bei dem Tanz, der das Fest krönt, gelangt so mancher stille Herzenswunsch zur Erfüllung, an welche früher oder später sich wohl gar eine Hochzeit schließt.
So ein Leonhardswagen, wenn er zur Fahrt bereit steht, ist an sich schon eine Sehenswürdigkeit. Die Längswände der festgefügten „Truhe“ sind schön bemalt; auf dem hellblauen Grund sieht man Scenen aus dem Leben des Landmanns und Heiligenbilder, von gereimten Sprüchen umgeben. Wie die reichgeschirrten Pferde an Schopf und Mähne mit Zweigen und Bändern geschmückt sind, so ist auch der Wagen rings mit frischem Grün besteckt und mit Blumengewinden umhangen. Auf mancher „Truhe“ finden sich kunstreiche Nachbildungen von Kapellen oder dem Kalvarienberg. Mit leuchtenden Farben aber belebt sich der Wagen, wenn die Frauen und Mädchen in ihren kleidsamen Trachten ihre Plätze einnehmen. Die Burschen kommen auf ein Trittbrett am Ende des Wagens zu stehen oder geben diesem zu Pferd das Geleit. Die Führung übernimmt der Hofbauer selbst; er lenkt vom Sattelgaul aus seine Rosse. In der Hauptstraße von Tölz treffen sich die Wagen und ordnen sich zum Zuge. Ein Herold mit Banner reitet voraus, dem die Kaleschen der Geistlichkeit und des Magistrats folgen. Während der Priester vor der St. Leonhardskapelle den Segen spendet, fährt ein Wagen nach dem anderen an ihm vorüber. Die Zahl derselben beläuft sich bis auf siebzig. Diese Einsegnung wird von allen Beteiligten mit Gesängen und Gebeten begleitet. Ist das sich daranschließende Hochamt vorüber, so beginnt ein allgemeines Begrüßen. Auf dem Platz vor der Kirche, wo die Wagen jetzt halten, stehen Buden mit Erfrischungen. Die Flaschen kreisen unter den Männern; alt und jung trinkt sich zu. Dann geht’s unter heiteren Gesprächen und lustigem Peitschengeknall hinunter nach Tölz, wo die Wirtshäuser in festlichem Schmuck der Gäste harren. Schnell füllen sich die Räume, und oft sehen sich die zuletzt Anfahrenden genötigt, zunächst auf dem Wagen zu bleiben und dort den ersten Erfrischungstrunk entgegenzunehmen. Der Leonhardswagen auf dem Bilde von Friedrich Prölß, das unser Holzschnitt auf S. 744 und 745 wiedergiebt, befindet sich in der Einfahrtshalle eines Tölzer Wirtshauses. Das eine der Mädchen, mit dem weißen Adlerflaum auf dem Hut, hat soeben einen frisch gefüllten Maßkrug von einem ihr befreundeten Burschen gereicht bekommen und plaudert vergnügt mit ihm, während die neben ihr stehende Schwester ungeduldig nach ihrem Schatz ausschaut. Die gegenübersitzende Freundin ist noch von andächtiger Stimmung umfangen.
[772] Einfluß verschiedenfarbigen Lichtes auf das Pflanzenwachstum. (Mit Abbildung.) Die Botaniker haben schon seit längerer Zeit festgestellt, daß verschiedenfarbige Lichtstrahlen verschiedenartig auf die Entwicklung der Pflanzen wirken. Neuerdings hat der bekannte Astronom Camille Flammarion in der Nähe seines Observatoriums in Juvisy sehr interessante Versuche ausgeführt. In vier Glaskästen wurden gleich starke Pflanzen einer und derselben Pflanzenart gesteckt. Der eine Kasten wurde mit roten, der zweite mit grünen, der dritte mit blauen und der vierte mit weißen Glasscheiben versehen. Nach drei Monaten waren die Unterschiede in dem Wachstum der Pflanzen auffallend. Unsere der Zeitschrift „La Nature“ entnommene Abbildung stellt das Ergebnis des Versuchs mit der Sinnpflanze (Mimosa pudica) dar, deren fiederartige Blättchen beim Berühren sich aneinander legen und herabneigen.
Unter den weißen Glasscheiben hat sich die Pflanze normal entwickelt und erreichte eine Höhe von 100 mm, unter dem Einfluß blauen Lichtes ist sie gar nicht gewachsen und hat ihre Empfindlichkeit völlig eingebüßt; im grünen Lichte wurde die Mimose 152 mm hoch, ihre Triebe erschienen aber etwas bleich und kränklich; ungemein stark wuchs dagegen die Pflanze im roten Lichte; sie erreichte die Höhe von 423 mm, trieb Blüten und ihre Empfindlichkeit war aufs höchste gesteigert. Aehnlich verhielten sich andere Pflanzenarten. Auch die Färbung der Blüten und der Blätter bei buntblättrigen Pflanzen, wie z. B. Coleus, wurde durch farbiges Licht verschiedenartig beeinflußt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß derartige Versuche mit der Zeit im Gartenbau zu praktischer Nutzanwendung Anlaß geben werden. *
Der neue Leuchtturm in Warnemünde. (Mit Abbildung.) Am Ausfluß der schiffbaren Warnow in die Ostsee gelegen, ist Warnemünde der Hafenplatz von Rostock. Er erfreut sich auch als Seebad eines zahlreichen Besuchs und wird von Nervenkranken als Winterkurort benutzt. In letzter Zeit erhielt der Flecken einen neuen Leuchtturm, den unsere nebenstehende Abbildung wiedergiebt. Derselbe erhebt sich am Anfang der Bismarck-Promenade auf einem 6 m über See gelegenen Plateau zu der stattlichen Höhe von 36,90 m. Er ist aus hellen Backsteinen erbaut und mit dunklen Verblendsteinen geziert. Zwei Galerien umgeben ihn. Der Helm des Turmes birgt die Laterne, eine aus Phosphorbronze bestehende Lampe, die durch ein Pumpwerk mit Petroleum aus dem feuersicheren Keller versorgt wird. Das Licht ist ein Fresnelsches Festfeuer mit einem rotierenden Vorlinsensystem, das in bestimmten Pausen hellere Blinke von drei Sekunden Dauer erzeugt. Bei der behördlichen Prüfung am 19. Oktober ergab sich eine Sichtbarkeit des Feuers auf 16 Seemeilen. Nach Westen zu prangt in einer Nische eine polierte Tafel von schwarzem Marmor. Sie trägt als Relief einen goldenen Greif, das Wahrzeichen Rostocks. Der Bau ist von der Stadt Rostock nach einem Plane des Hafenbaudirektors Kerner ausgeführt worden. *
Die neuesten Nachrichten. (Zu dem Bilde S. 749.) Längst haben die beiden Eheleute auf unserm Bilde den Höhepunkt des Lebens überschritten. Rüstig haben sie jahrzehntelang gearbeitet, ihre Kinder großgezogen und versorgt und auch so viel erübrigt, daß ihnen ein ruhiger Lebensabend gesichert ist. Friedlich fließen die Tage dahin in dem schlichten, aber traulichen Heim. Die Zahl der alten Freunde ist geschmolzen, denn die einen sind nach auswärts verzogen, die anderen gestorben, und so meldet sich nur selten ein Besuch, um ein Plauderstündchen zu halten. Da ist den beiden Alten die Zeitung zu einer lieben Freundin geworden; tagtäglich kommt sie und bringt die neuesten Nachrichten aus Stadt und Land und der weiten Welt. Früher konnten die fleißigen Leute das Blatt nur flüchtig durchsehen, jetzt studieren sie es gründlich und das Wichtigste wird sogar laut vorgelesen. Zu unabweisbarem Bedürfnis ist ihnen das Lesestündchen geworden, und sie würden lieber Milch und Zucker auf ihrem Kaffeetisch missen als die „neuesten Nachrichten“.
Ein afrikanisches Gastmahl. (Zu dem Bilde S. 761.) Seit Jahresfrist bilden in verschiedenen deutschen Städten die Aufführungen der Löwenbändigerin Miß Claire Heliot für das schaulustige Publikum eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges. Die anmutige „Dompteuse“ ist in England geboren, hat aber ihre Erziehung von früher Jugend an in Deutschland erhalten. Ihr Entschluß, Löwen zu dressieren, entstammt ihrer großen Zuneigung zu den Tieren. In dem durch seine erfolgreiche Löwenzucht berühmten Zoologischen Garten zu Leipzig fand sie das geeignete Tiermaterial, neun Löwen, die beim Beginn der Dressur etwa ein Jahr alt waren. Miß Heliot hat die mildesten Mittel zur Bändigung angewandt und dadurch den Vorteil erreicht, daß ihre Aufführungen nichts Rohes an sich haben, sondern anmutig berühren. Es ist der Miß gelungen, zwei ihrer Löwen, Sascha und Nero, zu Seiltänzern auszubilden, was in der Geschichte der Löwendressur durchaus neu ist. An einigen Nummern des reichhaltigen Programms nehmen auch zwei deutsche Doggen teil. Unser Bild wurde von F. Specht nach dem Leben gezeichnet, als Miß Heliot in Nills Zoologischem Garten zu Stuttgart Vorstellungen gab. Es stellt die Scene im Centralkäfig dar, in welcher die Bändigerin einen Teil ihrer Löwen an einer Tafel mit Fleischstücken füttert.
Erster Frost. (Zu dem Bilde S. 769.) Gestern noch schien die herbstliche Sonne warm über die gelichteten Baumkronen, heute nacht hat der Frost die letzten Blätter von den Aesten gestreift und die Sonnenblumenstauden im Gärtchen tief niedergebeugt. Gestern noch hoffte ein junges Herz auf Liebe und Glück, heute lesen die Augen enttäuscht, daß diese Hoffnung trügerisch war – der „erste Frost“ ist ins Innerste gefallen und still traurig wandelt die Verlassene durch die herbstlich öde Landschaft. Es geht ein Hauch der Melancholie von dem feingestimmten Bilde aus, das durch seine einfache Empfindung Blick und Gedanken des Beschauers fesselt.
Pallas Athene. (Zu unsrer Kunstbeilage.) Die Lieblingstochter des Zeus, die nach der Sage aus dessen Haupte gewappnet und mit hochgeschwungenem Speere entsprang, hat von allen Göttinnen Griechenlands die höchste Verehrung genossen. Sie galt den Hellenen als Lenkerin der Schlachten, die denen Sieg verleiht, welche nicht bloß mit Tapferkeit, sondern auch mit Klugheit und Besonnenheit die Waffen führen. In ihr verkörperte sich die geistige Kraft, welche die Griechen befähigte, sich sowohl in den Künsten des Kriegs wie in denen des Friedens den Barbaren überlegen zu zeigen. Die Athener verehrten in ihr in jeder Beziehung die Schutzgöttin ihrer Stadt, die nach ihr den Namen trug: die Weisheit ihrer Staatsmänner und Kriegshelden stand unter dem Einfluß der Göttin, auch Handel und Gewerbe, auf denen Athens Wohlstand beruhte, erfreuten sich ihres Schutzes. Sie persönlich sollte den ersten Oelbaum auf Attikas Boden gepflanzt haben. Kein Wunder, daß die griechische Kunst, deren Pflege in Athen zur höchsten Blüte gelangte, unerschöpflich war in Gestalten der Pallas Athene. Für den auf der Akropolis Athens ihr geweihten Tempel, das Parthenon, schuf Phidias das berühmte Standbild aus Gold und Elfenbein, das sie als „Verleiherin des Sieges“ (Athene Nikephoros) darstellte. Sie trug in der vorgestreckten Rechten eine Figur der Göttin des Siegs, der Nike, in der Linken den gesenkten Schild. Andere große Bildhauer haben sie mit geschwungenem Speer, andere wieder ganz ohne Waffen gestaltet. Immer aber hatte ihr Antlitz den Charakter ernster Nachdenklichkeit, und ihre feingeschnittenen Züge zeigten mehr Würde als Anmut. Die „Verleiherin des Siegs“ stellt auch der Münchner Maler Franz Stuck in dem Bilde der Göttin dar, das unsre Kunstbeilage wiedergiebt. Als Brustharnisch trägt die Gewaltige das schlangenumsäumte Fell der Aegis mit dem Haupte der Gorgo; beide Ungetüme hatte sie selbst erlegt.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[772 a]
Photographieständer. Die bildlich dargestellte Vorlage in der Art eines Leporelloalbums bietet Aufnahme für sechs Kabinettbilder. Man braucht für die Grundformen kräftigen, etwa
2 bis 3 mm starken Karton, für die Bekleidung der Bilderrahmen einfarbigen Atlas oder sonstigen Seidenstoff und für den Bezug der vorderen und hinteren Deckelfläche einen recht schönen gemusterten oder geblümten Stoff in Wolle und Seide, zum Beispiel feinen Möbeldamast; zur weiteren Ausstattung gehören noch ein 3 cm breiter, 20 cm langer Streifen aus Seidenplüsch, zum oberen Bezug passend, und fast 1 cm breites Goldbörtchen und -band. Zunächst stellt man sich nach der mit Maßangaben versehenen kleinen Uebersicht eines Bilderrahmens einen naturgroßen Schnitt her und schneidet nach diesem aus dem Karton 6 Bilderrahmen und ohne Berücksichtigung des inneren Ausschnittes, also nur nach den Außenkonturen, beide Deckelflächen. Dann werden, ebenfalls nach dem Grundschnitt, die Stoffbekleidungen zugeschnitten, sechs für die Rahmen, zwei für die Deckel; diese Teile erhalten aber an allen Rändern 1 bis 2 cm Stoffzugabe. Nun bezieht man die Rahmen je auf einer Seite, die Deckel auf den leicht mit Watte zu unterlegenden Außenflächen recht glatt mit den Stoffteilen, indem man die Stoffzugaben auf den Rückseiten festklebt. Dies geschieht am besten mit Stärkekleister, mit dem man den Karton bestreicht, worauf man die Stoffränder mit einem sauberen Tuch andrückt. Hier und dort wird vielleicht ein leichtes Einschneiden der Ränder nötig werden. Vor dem Weiterarbeiten ist ein Beschweren und völliges Trocknen der einzelnen Teile nötig An beiden Seiten mit dem Goldbörtchen begrenzt, ziert der Plüschstreifen, schräg übergelegt, den vorderen Deckel, die Innenseiten beider Deckel bekleidet dann weißes Papier. Ist wieder alles trocken, so klebt man je zwei und zwei Rahmen mit ihren Rückseiten zusammen und jeder Deckelfläche einen Rahmen auf; hierbei muß aber auf das spätere Einschieben der Bilder, was von oben geschieht, Rücksicht genommen werden. Die oberen Ränder bleiben deshalb bis auf die Ecken unverbunden, ebenfalls sind rings um die Bilderausschnitte die Teile lose zu lassen; wie weit der Spielraum sein soll, bestimmt man am leichtesten und sichersten durch das Auflegen eines Kabinettbildes. Bei diesem Zusammenkleben hat man auch gleich für die Verbindung der fertigen Rahmen und Deckelflächen je zwischen zwei Kartonlagen, je 2 cm von den oberen und 3 cm von den unteren Ecken entfernt, das Goldband zwischenzufügen, von dem knapp 1 cm sichtbar bleibt. Der dann fertige Ständer wird, flach gelegt, nochmals beschwert, bis der Kleister vollständig trocken ist.
Säckchen für Knöpfe und dergleichen. Die untenstehend abgebildeten vier kleinen Säckchen sind ein reizendes Weihnachtsgeschenk; sie sind für Knöpfe, Haken und andere kleine Nähutensilien sehr praktisch, auf Reisen und im Nähkorb unentbehrlich. Man gebraucht 80 cm Seidenband von 7 cm Breite dazu, je 20 cm zu einem Säckchen. Säumt man beide Enden und näht die Außenränder des Bandes fein mit genau passender Nähseide zusammen, so ist der Sack fertig. 2 cm vom oberen, gesäumten Rand und ½ cm vom Außenrand näht man 4 Knopflöcher in jeden Sack, so groß, daß ein feines Atlasband als doppelte Schnirre durchgezogen werden kann. Die vier kleinen Säcke verbindet man, indem man stets zwei der Säume 2 cm breit oben aneinander näht. – Unsere Vorlage ist aus geblümtem „Pompadourband“ gefertigt, doch kann man auch einfarbiges Seidenband nehmen und selbst Streublümchen oder kleine Netzbilder darauf malen. E. R.
Pfeifenständer. Einem Wunsch aus unserem Leserkreise entsprechend, bringen wir Zeichnung und Ausschmückung für einen Pfeifenständer, als Wandbrett gehalten. Die Form des Brettes läßt man vom Schreiner in festem Birnbaum- oder Eschenholz schneiden. Die beiden ziemlich flach gerundeten Querbretter werden aufgeleimt, können auch durch Scharniere und ganz kurze Stütze zum Umklappen eingerichtet sein. Das obere Brettchen erhält Einschnitte an der vorderen Kante, das untere runde Locher, in denen das untere Ende der Pfeifen ruht: kleine Haken zum Aufhängen von kürzeren Pfeifen können zwischen den oberen Einschnitten angebracht werden.
Die Dekoration des Brettes ist orientalisch gehalten. Die Umrisse sind kräftig zu brennen; dann giebt man dem Holz einen dunkleren Ton und zugleich Firnis durch Ueberstreichen mit der bei den Möbelschreinern erhältlichen „Mattierung“. Man überstreicht das Brett im ganzen und setzt dann erst die Emailfarben hinein, die auf dem rohen Holz sonst stark einschlagen.
Der dunkelste Ton auf unserer Zeichnung stellt ein tiefes Dunkelblau vor, der hellere Grundton ein mildes Rot: die schraffierten Flächen sind erst durchweg in Linien gebrannt und darüber vergoldet, da das Gold auf unebenem Grund viel glänzender wirkt. Das Muster selbst bleibt im Holzton auf dem farbigen Grund stehen.
Bei pünktlicher Ausführung macht sich diese Art der Verzierung schön und reich.
Arrowdin- und Viktoria-Backpulver heißen zwei neue für die Küche sehr wertvolle Fabrikate der Firma Jaedike in Berlin. Das erstere, ein außerordentlich feines, dem Mondamin ähnliches Mehl, eignet sich, mit Milch gekocht, vorzüglich als Nahrungsmittel für Kinder und Kranke, außerdem aber zur Bereitung von Pudding, gestürzten kalten Cremes, zur Verdickung von Saucen u. a. m., wo man stets mit ganz kleiner Portion eine sehr ergiebige Wirkung erzielt. Ganz vortrefflich werden die damit bereiteten Sandtorten, wenn man zum Mehlgewicht die Hälfte Arrowdin nimmt, sie erhalten dadurch ebensoviel Leichtigkeit, als Feinheit des Geschmackes. (Die Anweisung vieler Kochbücher, nur Pudermehl, Mondamin etc. zu nehmen, ist unrichtig, die Bindekraft dieser Mehle ist eine so große, daß die Torte unangenehm trocken wird.) Das Viktoria-Backpulver laßt sich für alle feineren Bäckereien an Stelle der Hefe auf kaltem Wege anwenden und entwickelt eine vortreffliche Triebkraft, ohne dem Gebäck den leisesten Geschmack mitzuteilen. Hierdurch unterscheidet es sich vorteilhaft von manchen anderen im Handel befindlichen Präparaten, die so leicht am fertigen Kuchen hervorschmecken.
Besonders für die heiße Jahreszeit und für Orte, wo Hefe schwer erhältlich, dürfte dies Backpulver eine große Küchenhilfe sein. Es hat ebenso wie das Arrowdin einen niederen Preis und ist in allen großen Nahrungsmittelgeschäften zu erhalten. Die Anweisung zum Gebrauch liegt den Paketen bei.
Schüsselflundern. In der folgenden Zubereitung geben die billigen Flundern – ebenso alle Schollen und Goldbutten – ein ganz vortreffliches preiswertes Mittagsgericht, welches allen sparsamen Hausfrauen willkommen sein wird.
Man legt die gereinigten Fische einige Stunden, mit Salz bestreut, in etwas Oel und Essig. damit ihr Fleisch fester wird, dann schneidet man sie in Stücke und legt sie nebeneinander in eine gut mit Butter ausgestrichene irdene Schüssel. Auf jedes Fischstück legt man etwas entkernte Citrone, streut Pfeffer, Kapern, gehackte Petersilie darüber, legt einige Butterstückchen obenauf und gießt 1 Glas Apfelwein und 1 Glas Wasser, in dem eine Messerspitze Fleischextrakt gelöst wird, darunter. Die Schüssel wird fest zugedeckt und auf ein Gefäß mit siedendem Wasser in den heißen Ofen gestellt, in welchem die Fische eine halbe Stunde unter öfterem Begießen mit ihrer Sauce gedünstet werden.
Man bringt die Fische in ihrer Schüssel zu Tisch und giebt Salzkartoffeln, die mit gehackter Petersilie bestreut werden, dazu. Wenn die Fischsauce zu reichlich und dünn sein sollte, bindet man sie mit gerösteten Semmelkrumen. L. H.
Metallene Leuchter, die durch geschmolzenes Wachs oder Stearin verunreinigt sind, soll man niemals abkratzen, da sie durch dieses Reinigungsverfahren beschädigt und unansehnlich werden. Am besten ist folgendes Reinigungsmittel. Taucht man die Leuchter einfach in siedendes Wasser, so schmilzt das Wachs oder Stearin vollständig ab, und die Leuchter können dann leicht mit einem Läppchen nachgeputzt werden, ohne im mindesten etwas am schönen Aussehen einzubüßen.
[772 b]
Rätsel.
Es bringt nach Tages Lasten dir
Eins, Zwei die wohlverdiente Ruh’;
Durch Wogenbraus lenkt Drei und Vier
Das Schiff dem sichern Hafen zu.
Ist seines Fußes dann beraubt
Der Erst’ und Zweiten Silbenpaar
Und fehlt der Dritt’ und Vierten Haupt,
So wird das Ganze man gewahr.
Begegnet ist’s im Lebenslauf
Wohl einem jeden Menschen schon;
Doch schneid’, wenn du’s erzählst, nicht auf,
Sonst erntest du nur Spott und Hohn.
Oscar Leede.
Ergänzungsaufgabe.
Nachstehende 14 Wortfragmente sind dadurch zu ergänzen, daß man an Stelle der Striche je einen Buchstaben setzt. Sind alle Wörter richtig ergänzt, so nennen die an erster und vierter Stelle eingesetzten Buchstaben (beide Reihen von oben nach unten gelesen) die Anfangszeile eines wohlbekannten älteren Gedichtes.
1. –er–er, 2. –rm–da, 3. –pe–ht, 4. –ic–te, 5. –og–en, 6. –sb–st, 7. –ri–le, 8. –si–or, 9. –at–ll, 10. –un–en, 11. –er–un, 12. –mo–en, 13. –rf–rt, 14. –ei–er.
Skataufgabe. Von K. Buhle.
Der Spieler in Vorhand hat mit folgenden Karten:
(p (p.s.) (p s.) (0.2.) (o.v.) (v.s.) (LLr.ä,n) (CLI.S.) (vLr.8.) (onr.7.) das Spiel auf Tournee behalten. Er tourniert so glücklich und bei so günstiger Sitzung, daß er, ohne eine Zehn zu schneiden, 61 Augen hereinbekommt und von jedem der Teilnehmer 88 gezahlt erhält.[1] Die Gegner haben gleichviel Augen in ihren Karten.
Welches Blatt hat Vorhand tourniert und welches gefunden? Wie sind die übrigen Karten verteilt und wie ist der Gang des Spiels?
- ↑ Bezüglich der Wertberechnung der Spiele gelten die Vorschriften im §. 35 der „Allgem. Deutschen Skatordnung“ von Buhle, 3. Auflage. (Leipzig, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H.)
Wechselrätsel.
Mit a ein Fluß im Nachbarland,
Mit i als Pflanze ist’s bekannt,
Mit r ein Gott und auch ein Stern,
Mit u hat man’s im Haus nicht gern.
F. Müller-Saalfeld.
Auflösung des Zauberquadrats auf dem Umschlag von Halbheft 23.
Auch je zwei schräge Reihen, die zusammen fünf Felder haben und auf entgegengesetzten Seiten einer Eckenlinie liegen, ergeben die Summe 100.
Auflösung des Rösselsprungs auf dem Umschlag von Halbheft 23.
Eins soll der Mensch von Grund aus lernen;
In einem Stücke muß er reifen,
Und in der Nähe, in der Fernen
In seiner Kunst das beste greifen,
Dann kann er dreist mit Fug und Recht,
Sei’s Handwerksmann, sei’s Ackerknecht,
Sich stellen in der Bürger Reih’n,
Er wird ein Mann und Meister sein.
Fritz Reuter.
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 23. Schlagbaum, Baumschlag.
Auflösung des Ausschnitträtsels auf dem Umschlag von Halbheft 23. Eigelb, Igel.
Auflösung des Bilderrätsels „Die Insel“ auf dem Umschlag von Halbheft 23.
Von jeder Möwe zieht man eine senkrechte Linie zu den Buchstaben, dann ebenso von jeder Palme. Alle Buchstaben unter den Möwen geben zeilenweise gelesen den ersten Teil, alle Buchstaben unter den Palmen den zweiten Teil der Lösung, die lautet:
1) Zufriedenheit ist ein Eiland,
2) an dem die wenigsten landen.
[ Verlagswerbung und Produktvwerbung für „Quilt Muster“, „Sapolio“ und „Mrs. Winslow“ – hier nicht dargestellt]