Die Gartenlaube (1898)/Heft 20
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Der größte Kabeldampfer der Erde wird ein augenblicklich für Rechnung der englischen Telegraph Construction Co. im Bau befindliches und noch bis zum Herbst dieses Jahres zu vollendendes Schiff werden. Seine erste Aufgabe dürfte möglicherweise darin bestehen, in dem noch von keiner Leitung durchquerten Großen Ocean das erste von Japan nach China über die Samoa-Inseln nach Britisch Nordamerika führende Kabel zu versenken. Das riesige Schiff, welches bei einer Fahrgeschwindigkeit von 12 Seemeilen in der Stunde und einer großen durch das Doppelschraubensystem hervorgebrachten Gewandtheit seiner Bewegungen 8000 Tonnen Kabel aufnehmen kann, ruft die Erinnerung an einen anderen und zwar den berühmtesten Kabeldampfer der Vergangenheit wieder wach.
Die photographische Wirkung des Lichtes der Glühwürmchen wurde durch Versuche, die in Kyoto in Japan angestellt wurden, festgestellt und die Eigenschaften dieses Lichtes geprüft. Etwa 300 bis 1000 Glühwürmchen, die dort sehr zahlreich vorkommen, wurden in einer kleinen flachen Schachtel zusammengepfercht, in welcher die Glühwürmer durch ein Hanfnetz am Wegfliegen verhindert wurden. Die Schachtel enthielt ferner eine photographische Trockenplatte, die in schwarzes Papier eingewickelt war. Diese wurde stets durch das Licht der Glühwürmchen beeinflußt. Bei weiteren Versuchen zeigte es sich, daß das Licht der Thiere Strahlen enthielt, die durch Karton, Holz etc. hindurchgehen können, also den Röntgenstrahlen entsprechen.
Pinselreißfeder nennt sich ein neuer Universalapparat, welcher nicht nur für Berufszeichner, Maler, Lithographen, Architekten und Techniker den allergrößten Wert besitzt, sondern auch für alle Liebhaberkünstler und Zeichenfreunde. Die Vorteile der neuen Pinselreißfeder gegenüber der sonst üblichen Reißfeder sind ganz außerordentliche: sie ergiebt Linien von der allergrößten Feinheit bis zur Stärke von 1½ cm, ebenso kann man Punkt- und Strichlinien, sogar Wellenlinien, ferner zwei-, drei- und vierfache Zierlinien ein- und mehrfarbig ziehen – ohne je absetzen zu müssen. Die Feder versagt während des Liniierens auch bei den breitesten Linien niemals, die Füllung an Tusche funktioniert stets tadellos und sparsam, die Handhabung ist ungemein einfach, dabei interessant und die Arbeiten werden durchaus peinlich sauber und überaus klar und präcis. Sie gestattet ferner jederlei Anwendung in gleich vielseitiger Weise wie auf Papier, auf Holz, Glas, Metall, Leder, Stein etc. Im übrigen aber erfüllt sie alle Zwecke jeder gewöhnlichen Reiß- und Zeichenfeder, nur mit dem willkommenen Unterschied, daß sie bedeutend länger Farbe giebt. Die Konstruktion des Mechanismus ist ebenso einfach wie dauerhaft, und es darf daher die Pinselreißfeder, die wohl in fast allen Schreib- und Zeichenutensilienhandlungen zu haben ist, als ein durchaus brauchbarer Apparat bezeichnet werden.
Herbstkränze als Zimmer- oder Gräberschmuck. Das Laub der Blutbuche, das sich im Herbste lederartig färbt, giebt in Verbindung mit einigen dazwischen gebundenen Koniferenzweigen einen haltbaren Schmuck, der auch Wind und Wetter längere Zeit Trotz bietet. Die Blätter werden für sich einzeln zwischen Löschpapier gut getrocknet, darauf mit farblosem Lack bestrichen und endlich mit einem feinen Blumendraht versehen. Aus dickem Draht wird die Form des Kranzes zurechtgebogen, und die Blätter nun so auf dem Draht befestigt, daß je ein Blatt seitlich steht, während ein drittes als Deckblatt in der Mitte liegt. Die Koniferenzweige, die man dazwischen bindet, müssen feinnadelig und klein sein, man bronziert sie silberfarben und verwendet sie nur in geringer Menge, da sie nur zur Belebung der lederfarbenen Buchenkränze dienen sollen.
Um Leder sehr effektvoll zu vergolden, nehme man nicht Blattgold, sondern Blattsilber und gebe diesem einen Ueberzug von goldgelbem Lackfirnis. Lederschnittarbeiten, Ledermalereien etc., deren Muster man teilweise gern metallisch glänzend hervorhebt, nehmen sich, in dieser Weise ausgeführt, äußerst prächtig aus. Die betreffenden Figuren oder Teilflächen werden zuerst angefeuchtet, nach dem Trocknen mit starker Hausenblasenlösung grundiert und hiernach mit einem Auftrag von frisch zu Schnee geschlagenem und wieder abgestandenem Eiweiß versehen. Noch vor dem Trocknen desselben legt man das Blattsilber vorsichtig mit einem breiten Pinsel auf, tupft es mit Watte an und malt nun den Lackfirnis darüber. Letzterer kann übrigens auch anders als goldig gefärbt sein, z. B. grün, blau, rot etc. Da der Lack schön lasierend ist, wirkt das Silber durch die Farben hindurch und verleiht ihnen den gewünschten eigenartigen Metallglanz.
Verwertung unreifer Weintrauben. Die Besitzer von Weinstöcken werden noch oft die traurige Erfahrung machen, daß manche Trauben, besonders an Hausspalieren, nicht reifen und zum Genuß unbrauchbar bleiben. In solchen Fällen ist die Verwertung der unreifen Trauben zu einem trefflichen Gelee sehr praktisch. Man wäscht die Beeren ab, entstielt sie und kocht sie mit wenig Wasser weich, worauf man den Saft filtriert und wiegt. Da der Saft sehr säuerlich ist, rechnet man auf jedes Liter Saft 1 kg besten Hutzucker. Hiermit kocht man den Saft unter fleißigem Schäumen auf starkem Feuer so lange ein, bis er, dick und breit, in schweren Tropfen vom Löffel fällt und auf einer Porzellanplatte rasch erstarrt. Man stellt passende Gläser vorher in warmes Wasser an eine heiße Herdstelle, so daß die Gläser leicht erhitzt sind, wenn man das Gelee einfüllt, was in möglichst heißem Zustande geschehen muß. – Da Gelee aus unreifen Trauben meist nicht ganz klar wird, ist es ratsam, es mit etwas Cochenille zu färben. Die Gläser werden mit Pergamentpapier gut verbunden und luftig aufbewahrt. – Einfacher ist die Verwertung unreifer Weintrauben zu einem dem bekannten rheinischen Apfelkraut ähnlichen Erzeugnis. Die abgebeerten Trauben werden mit etwas Wasser ausgekocht, durch ein feines Sieb gegossen und, mit 300 g Zucker auf jedes Liter Saft gerechnet, zu dickem Sirup eingekocht, der sich, in kleine Porzellankruken gefüllt und darin gut verbunden, ausgezeichnet hält. – Endlich kocht man aus den unreifen Weinbeeren eine treffliche Suppe. Ebenso wie zum Gelee und Sirup werden die Beeren erst in Wasser ausgekocht und durchgeseiht. Den erhaltenen Saft würzt man mit Citronensaft und süßt ihn genügend, worauf man in ihm Grieß oder feiner noch Sago weich kocht, so daß man eine sämige Suppe erhält. Man zieht diese mit einem Ei ab und giebt zu ihr kleine, in Butter und Zucker geröstete Brotstückchen oder kleine Biskuits.
Um Kattunkleider und Kattunschürzen zu reinigen, lasse man Weizenkleie, in ein Leinensäckchen gefüllt, in Wasser tüchtig aufkochen und wasche hierin die Kleider und Schürzen einmal ohne jede Seife kräftig durch, sodann wiederhole man das Waschen in einer neuen Abkochung, spüle den Stoff in kaltem Wasser nach, ringe ihn aus und hänge ihn an einem schattigen Ort zum Trocknen auf. Sollen Kattunkleider gestärkt werden, so empfiehlt es sich, sie nach dem Stärken einmal flüchtig durch kaltes Wasser zu ziehen; dadurch wird der Stärkeüberschuß entfernt und Stärkeflecken, wie sie sonst fast unvermeidlich sind, kommen nicht mehr vor.
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Halbheft 20. | 1898. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
(5. Fortsetzung.)
Es war Abend und die Arbeiter strömten in hellen Haufen aus den Fabrikräumen ihren Heimstätten zu, alle in kleinen Gruppen, zu dreien, zu vieren, schweigsam, plaudernd, je nachdem. Beinahe alle aber hatten sie die Röcke aufgeknöpft und schritten mit nachlässigem, behaglichem Schlenderschritt vorwärts. Es war nun kein Zweifel mehr: jetzt kam der Frühling mit Macht! Den ganzen Tag hatte die Sonne vom zartblauen Himmel gelacht, der mit lichten Lämmerwölkchen überflogen war, Veilchengeruch erfüllte die Luft, die Erde hatte endgültig das weiße Winterkleid abgeworfen. Von fernher vernahm man das helle Rauschen des Flusses, der, aus hundert frischen Quellen genährt, gegen seine Ufer schäumte.
Von den Gruppen der Heimkehrenden unterhielt sich eine
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„Störche hast jetzt erst gesehen?“ fragte der eine, ein langer, hagerer Mann, dessen Gliedmaßen so lose an seinem Körper pendelten, als gehörten sie nicht zu ihm. „Hast woll geschlafen die letzten zwei Wochen – was? Volle vierzehn Tag’ sind sie schon da, die Adebars – nich, Neubert?“
„Mußt keinen Junggesellen ’nach fragen, Karl Adamski!“ entgegnete dieser mit seinem pfiffigen Schmunzeln.
Die übrigen lachten, und Karl Adamski fuhr sich halb ärgerlich, halb verlegen mit der schwieligen Hand in sein Zottelhaar.
„Na, ich meine bloß, Neubert, weil du immer alles wissen thust und hast deine Augen und Ohren überall! Aber das wird mir keiner glauben wollen und doch hab’ ich’s heute ganz deutlich gehört: nämlich den Vogel Bühlow singen!“
„,Pirol‘ heißt es!“ belehrte einer der andern.
„Na, ich sag’ Bühlow, so nennt man ihm hierzulande. Und gesungen hat er heute!“
„I, Adamski, laß’ dir doch nich auslachen! Wie kann um diese Jahreszeit der Pirol –“
„Und ich hab’ ihn gehört, sag’ ich!“
„Der kriegt erst im Sommer Erlaubnis, zu singen. Mit die Vögel is ’s accurat so wie mit den Menschen – hat alles seine richtige Zeit!“
„Na ja, hab’ mich auch gewundert d’rüber, aber ich hab’ doch meine Ohren am Kopf!“
„Das stimmt! ’n paar ganz nette Löffel noch dazu!“
„Wer weiß, Karl Adamski, was für ’n Vogel dir im Kopp gesungen hat! Es giebt so ’ne Sorte –“
„Danke! Um Mittag? Da bin ich nüchtern. Und ich sag’ euch: hier an der Schneidemühl’, wie ich heut’ mittag nach Hause bin, da, wo unser Oberingenieur wohnen thut, hat es drei-, viermal geklungen: ,Junker Bühlow‘, ,Junker Bühlow‘, ‚Junker Bühlow‘! Aber wie ich mich auch umsah – kein Vogel war zu sehen!“
„Ja, das glaub’ ich! Wenn du den Vogel auch noch hätt’st zu sehen gekriegt, hätt’st dir müssen ’ne Prämie ’für bezahlen lassen!“
„Na, ich merk schon, ihr wollt mir nich glauben!“ sagte Karl Adamski beleidigt. „Einerlei, gesungen hat er doch!“
Das kleine Intermezzo mit dem „Vogel Bühlow“ hatte zwei sehr aufmerksame Zuhörer gehabt, während die andern sich damit begnügten, zu lachen und Karl Adamski zu hänseln.
Korty, der zwischen den zwei Kameraden seinen nachlässigen Schlendergang fortsetzte, als habe das alles für ihn nicht das mindeste Interesse, richtete seine wachsam funkelnden Augen auf den harmlosen Sprecher, der ihm als einer der bravsten, zuverlässigsten Arbeiter der Schneidemühle bekannt war. Getrunken hatte Karl Adamski, von der Fabrik kommend und zum Mittagsessen gehend, keinesfalls, und an irgend welchem Ueberschuß von Phantasie oder an Hallucinationen litt er auch nicht – der Pirol aber konnte um diese Jahreszeit noch nicht rufen – was also hatte das zu bedeuten? Irgend ein Signal vermutlich – aber von wem abgegeben? Und für wen bestimmt?
Der zweite Zuhörer war Oberingenieur Harnack. Durch die rasch zunehmende Dunkelheit gedeckt, war er unbemerkt und unerkannt hinter der Gruppe von Arbeitern hergegangen, langsam, denn er war von der angestrengten Thätigkeit des Tages und von der weichen, erschlaffenden Frühlingsluft sehr müde und ganz in Gedanken vertieft, die ihn auf das Gespräch der Leute erst achten ließen, als zufällig das Wort „Pirol“ an sein Ohr schlug. Da wurde er aufmerksam, hob den Kopf, strengte sich an, um zu hören, und hörte auch. Bei den Worten Adamskis: „Wo unser Oberingenieur wohnen thut!“ fuhr er leicht zusammen. Dann hielt er sich dicht hinter den Redenden und merkte weiter scharf auf, aber die Leute hatten das Thema gewechselt, und vom Pirol war keine Rede mehr.
Das Haus, in welchem Oberingenieur Harnack wohnte, war ziemlich groß, gleichfalls in gefälligem Schweizerstil erbaut und beherbergte den Direktor der Sägewerke samt Familie, den zweiten Ingenieur und einen jungen Techniker, der die Instandhaltung oder Reparatur der Maschinen zu überwachen hatte. Die beiden jungen Herren hielten treulich mit dem Direktor zusammen und hatten auch Harnack des öfteren heranziehen wollen, allein dieser verhielt sich spröde. Der Direktor hatte zwei erwachsene Töchter, und Harnack schwärmte durchaus nicht für Damenverkehr. Er liebte es, abends stundenlang auf seiner „Bude“ fachwissenschaftliche Werke zu lesen, und hatte sich bei den übrigen jüngeren Beamten, die gerade nur thaten, was sie mußten, und ihre Freistunden zum Skat oder zu geselligen Freuden verwendeten, in den Ruf eines ungemütlichen „Büfflers“ gebracht, dessen Abwesenheit man schließlich nicht zu bedauern brauchte.
Heute lagen sämtliche Fenster des Vorderhauses dunkel da. Der Direktor der Walzmühle feierte den Geburtstag seiner Tochter, die ein sehr hübsches Mädchen und der Stern der Kolonie Josephsthal war, durch eine Gesellschaft im nahen „Hotel“. Einladungen waren nach allen Seiten hin ergangen, es sollten lebende Bilder gestellt werden und man wollte tanzen. Die jüngeren Herren hatten Bouquets aus Greifswald verschrieben und eifrig Lackstiefel, Atlasschlipse und Klapphüte revidiert. Man hatte wochenlang offizielle Trauer um den Chef zur Schau getragen – nun war es höchste Zeit, daß man auch endlich einmal wieder mobil wurde. Die hübsche Direktorstochter war das einzige Kind, sehr lebenslustig, sehr wohlhabend, die Eltern machten ein angenehmes Haus. Man amüsierte sich immer famos in der Walzmühle.
Ingenieur Harnack bewohnte drei mäßig große Zimmer im ersten Stock des Hauses. Sie lagen nach dem Garten des Direktors hinaus und boten den Vorteil, daß es sich überaus gut in ihnen arbeiten ließ. Eine ältliche Witwe, die Frau eines vor einigen Jahren verstorbenen Maschinisten, reinigte die Zimmer der unverheirateten Herren, heizte die Oefen und besorgte die Wäsche. Die Mittagsmahlzeiten lieferte das in seiner Art berühmte Hotel der Kolonie Josephsthal, und Kaffee und Thee brauten sich die Herren selbst, was sie indessen nicht hinderte, sich so oft wie nur möglich in die verschiedenen Direktorfamilien einladen zu lassen oder bis in die halbe Nacht hinein im Wirtshaus zu sitzen. Harnack machte dergleichen Extravaganzen nicht mit; seine Kameraden hielten ihn deshalb für geizig. Er mußte gehörige Ersparnisse machen, denn er bezog ein hübsches Gehalt. Oder ob er Verpflichtungen nach auswärts hatte? Auch in Beziehung auf seine Verhältnisse war er äußerst zurückhaltend. Einmal hatte er Besuch von einem jungen Menschen gehabt, aber niemand wußte, wer es gewesen war oder was er gewollt hatte. Es war auch schon eine geraume Zeit her – – inzwischen war Harnack einmal in Hamburg gewesen auf wenige Tage, das einzige Mal, daß er sich Urlaub erbeten hatte. –
Im Flur brannte eine große Gasflamme unter einer Milchglaskuppel, als der Ingenieur die Thüre des Hauses öffnete. Bunte Läuferdecken lagen über den Treppenstufen, die Decken waren hübsch gemalt, die Treppengeländer mit rotem Sammet überzogen. Alles war wohnlich und behaglich eingerichtet, die Beamtenhäuser der Kolonie Josephsthal konnten sich sehen lassen. Gerade kam der junge Techniker, der im zweiten Stock residierte, mit langen Sätzen drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herab, den hellen Havelock lose um die Schultern geworfen, die strohfarbenen Glacés noch nicht geknöpft. Hinter ihm her stolperte die Wirtschafterin, die einen großen flachen Korb, mit einem Tuch zugedeckt, im linken Arm trug.
„Abend, Herr Oberingenieur!“ grüßte der Jüngling in atemloser Eile und hob flüchtig zwei Finger an den Hutrand. „Hab’ mich scheußlich verspätet – werden im Hotel schon auf mich warten – mußte aber mein Kostüm anprobieren – – Rokoko, – riesig kleidsam, sag’ ich Ihnen, – wird nett werden! Machen Sie ’n bißchen fixe Beine mit Ihrem Korb, Frau Lunk – da steckt nämlich der ganze Staat drin. Servus, Herr Oberingenieur!“
[615] „Viel Vergnügen,“ erwiderte dieser und stieg die Treppe hinauf.
Im Arbeitszimmer Harnacks lagen Broschüren und Bücher auf einem großen, in die Mitte der Stube gerückten Tisch. Seitwärts stand die Theemaschine mit dem kleinen Spirituskessel.
An der Wand hing eine mäßig große Photographie; zwei ältere, sehr kleinstädtisch und dürftig gekleidete Leute, Harnacks Eltern, waren darauf zu sehen, und zwischen ihnen, an die Kniee der Mutter gelehnt, die Hand aber in der des Vaters, stand ein auffallend hübscher, zierlich gewachsener Knabe, dessen feiner Tuchkittel und breiter weißer Kragen einen grellen Gegensatz zu der ärmlichen Kleidung der Eltern bildete.
Harnack sah auf das Bild, während er die bereitstehende Lampe anzündete; aber er that es ohne Bewußtsein. Seine Gedanken, die, als er den Heimweg antrat, noch das stolze schöne Mädchen umkreist hatten, das ihm so deutlich die Herrin gezeigt hatte und für welches ihn doch eine unüberwindliche Leidenschaft erfüllte, waren durch die aufgefangenen Worte der Arbeiter noch mehr verdüstert worden. Wie geistesabwesend setzte er die Spirituslampe unter der Theemaschine in Brand und holte aus einem Eckschrank kaltes Fleisch, Brot und Butter.
Der zuckende bläuliche Schein der Flamme beleuchtete von unten herauf sein energisches dunkles Gesicht mit den tiefliegenden schwarzen Augen. Er atmete gepreßt, während die buschigen Brauen immer dichter aneinander rückten. Dann setzte er sich, doch er aß und trank nur mechanisch. Bald schob er Teller und Tassen zurück und griff voll Ungeduld nach einer eben angekommenen Broschüre, riß hastig das Kreuzband herab und fing an, die Bogen mit einem Papiermesser aufzuschneiden.
Da erklang es vom Garten her dicht unter seinen Fenstern deutlich zu ihm empor: „Junker Bühlow – Junker Bühlow!“ Das Messer entfiel ihm. Blaß vor Schreck erhob er sich. Mit drei Schritten war er am Fenster, riß den herabgelassenen Vorhang hoch und öffnete den rechten Flügel. Die dunkle Frühlingsnacht, sternlos und schwül, verhüllte alles wie mit einem schwarzen Grabtuch. Nicht einmal die Umrisse der hohen Bäume waren zu erkennen.
„Junker Bühlow – Junker Bühlow!“ tönte es von neuem.
Da rief Harnack mit gedämpfter Stimme herunter: „Reinhold? Wirklich – Reinhold?“
„Wer denn sonst?“ klang es in weit weniger gedämpftem spöttischen Ton herauf. „Sei doch kein solcher Hase! Die ganze Gesellschaft ist ja ausgerückt, ich weiß auch wohin, ’s ist keine lebende Seele in der ganzen Bude, außer dir! Komm’ herunter und laß mich ein!“
Der andere gehorchte wie mechanisch. Er vergaß, das Fenster zu schließen, nahm die Lampe vom Tisch, suchte eine Weile nach dem Hausschlüssel, der, wie immer, an seiner bestimmten Stelle lag, und stieg schweren, langsamen Schrittes die Treppe hinunter.
„Wo bleibst du denn, alte Schneckenseele?“ schalt der Wartende ungeduldig und trat durch die geöffnete Thür ins Haus. „Blei in den Sohlen – hm? Freude über meinen unerwarteten Anblick scheint dich gerade nicht zu beflügeln!“
Harnack antwortete nichts, verschloß sorgsam wieder die Thür und stieg hinter dem Ankömmling die Stufen empor. Oben im Zimmer wehte ihnen ein heftiger Luftzug entgegen, Vorhang und Gardine flatterten durch das offene Fenster.
„Wetter! Hast du’s ungemütlich!“ Mit flinken, geschickten Händen griff der Ankömmling zu und machte Ordnung, doch plötzlich schauerte er zusammen, trotzdem es im Zimmer warm und die Luft draußen mild war. „So! Das hätten wir! Nun steh’ nicht wie der steinerne Gast, alter Will, und sieh deinen einzigen leiblichen Bruder nicht so an, als wär’ dir der leibhaftige Gottseibeiuns auf die Bude gerückt!“
Wilhelm Harnack nahm die dargebotene Hand und hielt sie fest, er konnte aber immer noch nichts sagen. Keine Spur von Ähnlichkeit war zwischen den zwei Brüdern zu finden. Der eben Gekommene, bedeutend jünger als der Ingenieur, war ein schlanker, beweglicher, sehr hübscher Mensch, blond, mit feinen Zügen und hellen, doch unruhigen Augen, sehr elegant nach der neuesten Mode gekleidet. Er war zeitlebens seines älteren Bruders Liebling und Sorgenkind gewesen. Die Eltern hatten diesen spätgeborenen Sohn, eln ungewöhnlich schönes, intelligentes und lebhaftes Kind, geradezu vergöttert. Reinholdchen mußte alles haben, für Reinholdchen mußte alles da sein, wonach er seine begehrlichen kleinen Hände ausstreckte. Es verstand sich von selbst, daß Wilhelm, der „Große“, sich alles abdarbte und dem „Kleinen“ gab; von den Entbehrungen, die Wilhelm durchgemacht, so lange er zu denken gelernt hatte, durfte für den Jüngsten nicht die Rede sein. Das vergrämte Gesicht der Mutter strahlte, wenn sie nur von ihrem „Holdchen“ redete – der schwerfällige, früh gealterte, kranke Vater nickte schmunzelnd, wenn von dem Kleinen gesprochen wurde: „Ja, – der! Der wird’s zu was bringen im Leben! Der muß was Großes werden!“
Sie hatten es nicht mehr erlebt, was aus ihrem Abgott wurde, die Eltern. Frühzeitig von harter Arbeit, Krankheit und Entbehrung aufgerieben, starben sie beide rasch aufeinander, als Wilhelm, der wortkarge, scheue, eisern fleißige Junge, bereits mit siebzehn Jahren im technischen Bureau arbeitete, sich durchhungerte und durchfror, um das „Höhere“ zu lernen, um Ingenieur zu werden.
Der Kleine, kaum siebenjährig, stand neben dem Sterbebett des Vaters, dessen letzter, bewußter Blick „seinem Jungen“ galt; er stand neben dem Sterbebett der Mutter, die mit schon brechenden Augen und versagender Stimme den ältesten Sohn anflehte: „Sorg’ für mein Holdchen! Will, verlaß mein Holdchen nicht!“ Und was der stille, blasse junge Mensch mit einem einzigen festen: „Ja, Mutter!“ versprochen, das hatte er jetzt durch volle sechzehn Jahre redlich gehalten. Der Kleine hatte von der Not und Sorge des Lebens nichts zu spüren bekommen; der Große sorgte wie ein Vater für den jüngeren Bruder, der sich überall beliebt zu machen verstand, schon durch die Art, wie er sein feines Blondköpfchen hob und die Leute mit seinen lichtblauen Augen anlächelte.
Ein kinderloses Paar nahm ihn für weniges Geld in Kost und Pflege, andere steckten ihm Leckerbissen und Spielzeug zu, schenkten ihm hübsche Matrosenblusen und Sammetmützen, „er war ja ein so reizendes Kind, dem alles stand“. Mit „Bruder Will“ sprang der Schelm nach seinem Belieben um; er dachte auch nicht fünf Minuten darüber nach, was der ältere Bruder für ihn that, ob es ihm schwer fiel, für sie beide zu sorgen.
Reinhold war Elektrotechniker geworden, und er hätte sehr tüchtig in seinem Fach werden können, da er Geschick zu allem besaß, was er angriff. Er wollte aber nichts ernstlich angreifen, ihm gefiel es weit besser, „sein Leben zu genießen“, und bald kam Klage auf Klage aus Hannover, wo der junge Mensch seine Studien betreiben sollte, an Wilhelm, der damals eine Stelle in Westfalen hatte. Er reiste selbst nach Hannover, bezahlte Schulden über Schulden und redete dem Bruder ins Gewissen. Holdchen machte ein zerknirschtes Gesicht, fand es „rührend“ von seinem alten Will, ihn „herauszuhauen“, und gelobte Besserung.
Nach einem halben Jahr saß er wieder fest, ließ sich aufs neue vom „lieben alten Will“ loseisen und halb widerwillig mit nach Westfalen nehmen, wo Wilhelm ihm in seiner Fabrik eine Stelle ausgewirkt hatte, um den Bruder unter seiner Aufsicht zu haben. Das war aber auch nicht gegangen; der junge Mensch ließ sich weder zügeln, noch raten; er verschwand nach kurzer Zeit, und zwar unter so bedenklichen Verhältnissen, daß Wilhelm nichts anderes übrig blieb, als gleichfalls seine Stellung zu kündigen und sich eine andere zu suchen, die sich ihm dann in Josephsthal beim Baron von Hofmann darbot. Seitdem hatte er nur mit Aufbietung all seiner Kräfte den jüngeren Bruder vor Not und Schande bewahren können; er gab und gab ohne Aufhören, bis ihm zuletzt der Mut sank und er Reinhold mit der letzten größeren Summe, über die er noch verfügen konnte, nach Amerika schickte. Er hatte ihn selbst in Hamburg aufs Schiff gebracht und seither mit steigender Sorge auf Nachricht gewartet; – auf eine solche Lösung war er nicht vorbereitet gewesen!
„Na, also –“ Reinhold machte seine Rechte wieder frei und schlug dem Bruder mit der flachen Hand ein paarmal kräftig auf den Rücken, „sei so gut und finde zunächst mal deine Sprache [616] wieder! Hab’ ich denn die Pest oder den Aussatz oder – oder – sonst was derartiges, daß du so vor mir erschrickst? Ich war schon mal hier bei dir, so um Mittag herum –“
„Ja, und hast auch da schon den Pirol rufen lassen. Die Arbeiter haben sich gewundert!“ sagte der Ingenieur mit gepreßter Stimme.
„Na, warum soll der Pirol denn nicht mal ausnahmsweise jetzt schon schreien, wenn’s ihm so beliebt?“ fragte der junge Mann mit einem leichtsinnigen Lachen. „Und wenn sich eure Dickschädel von Arbeitern mal zu wundern haben, das kostet ja nichts! Ich hätt’ ja auch am hellen lichten Tag zu dir kommen können, ohne das Zeichen und alles –“
„Du vergißt, daß Herr von Hofmann, der deine Antecedenzien kannte, mir auf die energischste Weise angesagt hatte, du dürftest dich in der Kolonie Josephsthal niemals blicken lassen, ich dürfte nie in persönlichen Verkehr mit dir treten –“
„Na, der hat ja jetzt aufgehört, Gesetze für dich oder sonst wen zu erlassen!“
„Hast du das in den Zeitungen gelesen?“
„Natürlich! Voll genug sind sie ja davon!“
„Und hast du das drüben …. aber,“ unterbrach der Ingenieur sich hastig, „die Zeit war ja so kurz – laß mich nachrechnen, wann ich dich nach Hamburg brachte …. du …. du bist am Ende gar nicht drüben in Amerika gewesen!“
Reinhold steckte die Hände in die Hosentaschen, lehnte sich gegen den Tisch und fing an zu lachen – es klang aber gezwungen genug.
„Natürlich bin ich drüben gewesen, alter Will! Machen wir alles! Kenn’ den ganzen Yankee Doodle unterm Sternenbanner wie meine Tasche! Hab’ auch Glück drüben gehabt! Bißchen gejeut …. na, na, keine Bange, alter Kronensohn! Solider Knopp, der du bist! Warum ich zurückgekommen bin, möchtest du wissen? Na, siehst du, ich kann Gedankenleser werden. Also erstens: Amerika ist nix für ’n Menschen wie ich einer bin. Fremdes Volk, das scharf arbeitet, jawohl – aber in meiner Branche, versteh’ mal, Will, da sind sie uns drüben überm Wasser um zehn Pferdelängen voraus. Das ist nicht sehr ermutigend, wirst du mir zugeben –“
„Aber ich an deiner Stelle, ich hätte dort tüchtig gelernt!“ fiel Wilhelm ein.
„Ja, du an meiner Stelle! Glaub’ ich dir gern! Bloß, daß du und ich, die liebe Gotteswelt aus grundverschiedenen Gesichtspunkten ansehen! Du sagst, wir sind auf Erden, um zu büffeln – ich – Gott, du weißt, arbeiten ist für mich bloß immer ’n sogenannter Genuß gewesen. Und außerdem – na, sieh mal, wer so alles Weibliche voll Hoheit übersieht, wie du es thust, der hat keinen Schimmer davon, wie einem ist, wenn er so über Hals und Kopf in der Verliebtheit drin steckt und meint, nicht leben zu können ohne …. Na, also – da, wo ich zuletzt war, hatt’ ich so ’n .... so ’n .... Verhältnis – ’ne kleine Flamme – oder vielmehr richtiger: ’ne große! Die konnt’ ich da drüben nicht entbehren, die mußt’ ich wieder haben, und da sie nicht übers große Wasser wollte, auch nicht konnte, wegen Familiengeschichten – na, so entschloß ich mich eben kurz und kam schnell wieder zurück!“
„Und – deine – deine Absichten mit dem – dem – Verhältnis, wie du das nennst –“ der Ingenieur sprach so schwerfällig, als müßte er jedes Wort erst suchen „die sind doch hoffentlich ehrlich – ehrlich und solide? Du möchtest dich also verloben –“
„Thu mir den Gefallen, Mensch, und spiel’ dich nicht auf den Moralfatzken hinaus, ja? Steht dir scheußlich, und macht mir nicht die Bohne Eindruck! Uebrigens, wenn’s dich beruhigt: sehr möglich, daß ich mich verlobe und verheirate, so blödsinnig es eigentlich für ’n junges Blut, wie ich eines bin, wäre …. verschwören will ich das nicht!“
„Du müßtest aber doch erst tüchtig arbeiten und dir dann eine neue Stelle suchen. Freilich, deine Zeugnisse – –“
„Sind nicht die glänzendsten! Stimmt, mein Lieber! Aber Stelle suchen? Das eilt vorläufig nicht. Wer momentan so dasteht wie ich – brauchst mich gar nicht so mißtrauisch mit den Blicken anzubohren – ich will nichts von dir, brauch’ dich nicht auszupumpen – armer Kerl, ich hab’s ohnehin bis jetzt oft genug gethan! Kann dir, wenn du’s brauchst, sogar was zurückgeben; kommt mir auf ’n paar tausend Märker schließlich nicht an –“
Der junge Mensch faßte in die linke Brusttasche und wollte ein Portefeuille herausziehen. Sein älterer Bruder fiel ihm hastig in den Arm.
„Laß nur, laß! Ich will nichts wieder haben! Ich versteh’ nur nicht, wie du in der kurzen Zeit – du kannst ja kaum sechs Wochen drüben gewesen sein! Wie du da so viel Geld –“
„Ja, wenn der Mensch einmal Glück hat! Pfennig für Pfennig verdient sich natürlich so was nicht!“
„Aber wie ist denn das zugegangen?“
„Na, nun öd’ mich aber nicht länger mit dem Gefrage! Biet’ mir lieber was zu trinken an! Diese liebliche Frühlingsluft hat noch ’n kalten Nachgeschmack, und ich bin –“
„Bist du hier im ‚Goldenen Lamm‘ abgestiegen?“
„Fällt mir nicht ein! Ich komme von der nächsten Bahnstation, wo ich auch mein Gepäck habe. Wo hast du denn gesteckt, als der Vogel Bühlow heut’ mittag rief? Um die Zeit bist du doch sonst immer in deiner Behausung gewesen!“
„Ich hab’ heute gar kein Mittag gegessen, bin im Maschinenhause gewesen. An der einen Turbine war etwas in Unordnung geraten, ich habe mit zwei Monteuren nachgesehen und gearbeitet …“
„Arbeit ist das Brot des Lebens!“ nickte Reinhold mit spöttischem Lächeln. „Na, wem’s Vergnügen macht, immer los! Wenn du mir also was zu trinken geben willst –“
„Natürlich! Möchtest du Thee?“
„Thee?“ Der Jüngere dehnte das Wort so hin, als hätte es vier bis fünf Silben. „Gott steh’ mir bei, hab’ ich ’nen tugendhaften Herrn Bruder! An dem müssen die kleinen nackten Engelchen im Himmel ihre unschuldige Freude haben! Laß mal sehen, was da im Wandschrank steckt!“
Er schlug die beiden Thüren des kleinen, in die Vertäfelung eingelassenen Schränkchens auf, streckte suchend den Kopf vor und kam gleich darauf mit zwei Flaschen im Arm an den Tisch zurück.
„Die ganze Ausbeute! Mager, alter Will – heillos mager! Na – müssen uns einzurichten suchen. Hier alter Arrak – hältst du dir wohl für Krankheitsfälle, was? Und dies Sherry, ganz anständige Marke wenigstens! Also, prosit!“
Er hatte sich wieder in den zurückgeschobenen Stuhl geworfen, füllte ein herbeigeholtes Wasserglas bis an den Rand und trank es mit langen Zügen leer.
„Nicht schlecht. Hol’ dir doch ein zweites Glas und thu’ mir Bescheid!“
„Entschuldige mich. Ich bin kein Weintrinker, und um diese Stunde schon gar nicht. Sei vernünftig, Hold, trink’ auch nicht weiter, das ist ein sehr schwerer Wein!“
„Keine Sorge!“ Das Glas wurde von neuem gefüllt. „Ich kenn’ solchen Sherry, und ich kenn’ auch mich! Der thut mir nichts. Wenn ich dir den Beutel nicht leer mach’, thu’ ich’s wenigstens mit dieser Flasche. Dein Wohl, brüderliche Liebe!“
Wilhelm Harnack saß dem Bruder gegenüber, nur durch die Breite des Tisches von ihm getrennt. Mit seinen scharfen Augen – ihre Spürkraft war in der Kolonie Josephsthal sprichwörtlich geworden – forschte er in dem Gesicht des jungen Menschen, den er so sehr geliebt, dem er so viel geopfert hatte. Immer noch war es ein hübsches Gesicht mit einnehmenden Zügen, aber da war etwas in den Augen, was den Beobachter beunruhigte, ein starrer, bleierner Blick, wie er ihn oft bei Gewohnheitstrinkern im Anfangsstadium gesehen hatte.
„Na – was studierst du denn so andächtig an mir herum? Willst wohl taxieren, ob ich den Weiberchen noch gefährlich werden kann? Aber sehr, will ich dir sagen! Hab’ sie alle am Bändel!“
„Und trotzdem auch noch so viel Glück im Spiel?“ zwang sich der ältere Harnack zu scherzen.
„Ich? – Aber ja natürlich! Das dämliche Sprichwort! Ist ja alles Kaff! Ich pfeife d’rauf! Va banque hier va banque dort – nur vorwärts!“
„Wenn du dabei nur nicht scheiterst, Reinhold!“
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[618] „Ach, unk nicht, ’s ist wirklich nicht schön anzuhören! Lieber erzähl’ mir was von hier, von deinem Leben! Was macht dein Freund Hagedorn?“
Der Ingenieur zuckte die Achseln und machte finstere Augen. „Warum fragst du nach dem?“
„Nun – weil du mir von ihm damals in Hamburg erzählt hast, ihn deinen Dorn im Auge nanntest. Ist er noch hier? Aber er geht jetzt natürlich, nicht wahr?“
„Nein! Er bleibt!“
„Was der Teufel! Bleibt hier? Protegiert ihn wohl gar der englische Neffe, der hier jetzt am Ruder ist?“
„Er bleibt!“ wiederholte der Ingenieur als einzige Antwort.
„Na, also dann gehst du?“
„Nein, ich bleibe ebenfalls!“
„Bleibst ebenfalls?“ Reinhold goß sich den Rest aus der Sherryflasche in sein Glas und leerte es bedächtig. „Versteh’ ich nicht! Ist mir zu hoch! Redest wie ’ne Sphinx. Na, mußt ja wissen, warum du’s thust!“
„Du, du meintest wohl,“ begann der Aeltere zögernd, „wenn ich auch ginge, könnten wir beide, ich und du, es wieder mal zusammen an einem Etablissement versuchen? Oder – oder – Herr von Hofmann hätte dich allerdings nie hierher genommen – er wußte vieles von dir und leider nichts Vorteilhaftes! – aber jetzt, da er tot ist – – vielleicht, wenn ich mit Mr. Whitemore, vor allem mit …. mit …. ich meine, wenn ich für dich redete …. vielleicht, daß du jetzt hier, in der Kolonie Josephsthal, eine passende Stellung finden könntest!“
„Hier? – Ich? – Bist du verrückt?“
Das kam mit einer so unmotivierten Heftigkeit, mit einem so unverhohlenen Ausdruck des Entsetzens heraus, daß Wilhelm Harnack erschrak. Sein Bruder war aufgesprungen, hatte ihm die Frage gleichsam ins Gesicht geschleudert und blitzte ihn aus so verstörten Augen an, als sei ihm eine tödliche Beleidigung mit dieser Zumutung angethan worden. Auch der Aeltere hatte sich unwillkürlich erhoben, der leidenschaftliche Ausbruch seines Bruders war ihm unverständlich, bis ihn der Gedanke einigermaßen beruhigte, daß die große Menge des starken Weines jetzt doch ihre Wirkung übe und den jungen Menschen momentan unzurechnungsfähig mache.
„Wie kannst du so aufgeregt sein?“ sagte er beschwichtigend. „Ich meinte ja nur, wenn du dich um eine neue Stellung – du mußt doch irgend eine Beschäftigung –“
„Und ich sag’ dir, ich huste auf Stellen und Beschäftigung!“ Reinhold sprach immer noch in erregtem Ton. „Hab’ ich gar nicht nötig! Geld wie Heu! Brauch’ mich von keinem hochnäsigen Chef herumkommandieren zu lassen, um mich bei den verflixten Maschinen und Experimenten halb blödsinnig zu tüfteln. Hol’ alles der Henker! Sei du meinetwegen glücklich bei deinem Amtseifer und werde selbst zur Maschine …. ich thu’ nicht mehr mit! Ich hatte gehofft, ich würde dich loseisen können hier von deiner gepriesenen Kolonie Josephsthal –“
„Loseisen? Du – mich? Und warum?“
„Weil sich hier alles jetzt geändert hat – weil – oder fesselt dich blöden Schäfer etwa gar die ‚schöne Müllerin‘?“
„Von wem sprichst du?“
„Das weißt du doch alleine, also warum das Gefrage? Sie haben sie hier in der Gegend so getauft und nennen sie allesamt mit dem Namen, weil sie doch ihre fünf, sechs Mühlen geerbt hat.“ Er zog die zweite Flasche zu sich heran und goß sich ein. „Nun – also, mir kann’s recht sein – wenn sie so schön ist – – ihr Wohl!“
„Halt, halt – Reinhold! Sieh zu, was du thust! Das ist reiner Arrak!“
„Ach, mach’ doch keine Geschichten! Auch der thut mir nichts mehr! Das lernt sich alles, wenn man –“
Er vollendete nicht, trank ein paar tüchtige Züge und schüttelte sich.
„Scharf, aber thut doch gut! Ist dir wohl neu an mir, daß ich so viel vertragen kann? ,Es wächst der Mensch mit seinen höhern Zwecken!‘ Und vor allen Dingen werd’ ich dir etwas sagen, weiser Will –“ Reinhold knöpfte sich den Rock auf und fuhr sich mit dem Zeigefinger hinter den Hemdkragen, als würde es ihm zu warm im Zimmer – „merk dir’s: das waren kluge Leute, die den Wein und was zu der Sorte gehört, Sorgenbrecher nannten. Nämlich, das ist er wirklich! Kein probateres Mittel auf der Welt, um alle Quälereien hinter sich zu werfen!“
„Hast du denn so besonders viel Sorgen und Quälereien?“ fragte der Ingenieur und sah aufmerksam in das Gesicht seines Bruders, das sich lebhaft zu röten und oben an den Haarwurzeln kleine Perltröpfchen zu zeigen begann.
„Na, welcher Mensch hat die denn nicht? Bloß immer auf Rosen und Vergißmeinnicht durchs Leben zu tanzen, das ist doch am Ende nur wenigen beschieden. Und wenn man ein paar Flaschen von dem Sorgenbrecher im Leib hat – siehst du, dann kann man auch schlafen, fest und ungestört, und das will gleichfalls was heißen!“
„Seit wann schläfst du denn schlecht? Du mit deinen vierundzwanzig Jahren? Als wir zusammen drüben im Westfälischen waren, da hab’ ich dich des Morgens kaum aus dem Bett bekommen, hab’ dich mit Wasser anspritzen müssen! Und abends bist du mir oft mitten im Reden eingeschlafen. Ich bin so viel älter als du, aber wenn ich mich tagüber müde gearbeitet habe, dann fallen mir schon um Zehn, halb Elf die Augen zu –“
„Ja, ja, Prediger in der Wüste! Müde gearbeitet! Natürlich! Gilt wieder mir und meinem Nichtsthun! Triefst ja förmlich von Lebensweisheit! Aber die Zeiten ändern sich eben und mit ihnen die Menschen! Auch ich hab’ mich geändert –“
„Nicht zu deinem Vorteil, Hold, laß mich’s dir ehrlich sagen! So wie jetzt hab’ ich dich doch noch nie – – du trinkst jetzt nicht mehr. Reinhold, keinen Tropfen, sag’ ich dir! Gieb die Flasche her!“
Mit einem wüsten Lachen verbarg der Jüngere die Flasche hinter seinem Rücken.
„Glaubst wohl, ich lief’ wieder als zweijähriges Baby mit ’m weißen Kinderschürzchen herum, und der große Bruder Will wäre von den Eltern dazu gesetzt, mich zu bemuttern? Nichts da, Freundchen! Das Holdchen geht jetzt seine eigenen Wege, und kuriose Augen würdest du machen, wenn du zuschauen könntest, wie die manchmal aussehen!“
Er setzte statt des Glases die noch halbvolle Flasche an den Mund und trank. Wilhelm stürzte auf ihn zu und suchte ihm die Flasche zu entwinden. Er hatte starke, geschickte Hände und einen eisernen Griff. Mit einem halb unterdrückten Fluch ließ Reinhold endlich los, die Flasche zerbrach, stürzte zu Boden, und der scharfe Geruch des starken Arraks verbreitete sich rasch im Zimmer.
„Tölpel, der du bist! Was haben wir jetzt davon?“
„Besser noch so, als du hättest das Zeug in dich hineingegossen!“ entgegnete Wilhelm finster. „Hab’ ich dir mit der Flasche die Hand verletzt?“
„Pah, eine kleine Schramme! Nicht der Rede wert!“
„Gieb acht, daß nichts hineinkommt. Laß mich ein reines Tuch herumbinden!“
„Dummes Zeug!“ Der junge Mann riß einen feinen, hellseidenen Foulard aus seiner Brusttasche und wickelte ihn rasch um die Linke, deren innere Fläche einen blutenden Riß zeigte.
„Sei nicht eigensinnig, Hold!“ bat der Ingenieur jetzt in aufrichtiger Besorgnis. „Laß mich die Wunde wenigstens ansehen. Aus solchen anscheinenden Kleinigkeiten kann so leicht etwas Schlimmes entstehen. Wenn du etwas kaltes Wasser –“
„Hörst du nicht auf der Stelle mit dem Gefasel auf, so geh’ ich im Augenblick! Möchtest mir wohl gleich den berühmten Chirurgen der Kolonie Josephsthal herholen, damit er sein Kunststück an mir macht?“
„Doktor Petri ist ein tüchtiger Arzt, über den niemand zu spotten hat!“ sagte Harnack ernsthaft. „Wenn er den Baron Hofmann nicht hat retten können, so ist’s wahrhaftig nicht seine Schuld gewesen. Es war eben ein hoffnungsloser Fall!“
„Du – – du hast den Baron noch gesehen?“ fragte der jüngere Bruder stockend und halb widerwillig, die Augen beharrlich auf das seidene Tuch, das seine linke Hand umschloß, geheftet.
[619] „Gewiß, und den Anblick werde ich Zeit meines Lebens nicht vergessen!“ Der Ingenieur war ganz in die Erinnerung versenkt, die schwarzen Brauen schoben sich zusammen und bildeten eine einzige Linie auf der Stirn. „Hätte der feige Schuft ihn wenigstens auf der Stelle totgeschossen, es wäre nicht annähernd so entsetzlich gewesen! Aber nun, tagelang wie eine lebendige Leiche dazuliegen, mit diesem wächsernen Totengesicht, die Binde um die Stirn, regungslos wie ein Steinbild hingestreckt, und diese bläulichen Lippen, die sich von Zeit zu Zeit öffneten, um das schauerliche Stöhnen auszustoßen, das jedem, der es anhören mußte, durch Mark und Bein ging – –“
Er redete nicht weiter, denn zufällig, während der letzten Worte, war sein Blick auf den Bruder gefallen, und der stand vor ihm, erdfahl im Gesicht, aus hohlen, stieren Augen ihn anstarrend, mit bebenden Lippen, die keines Wortes mächtig waren – „Reinhold! Um Gott! Was fehlt dir? Das kommt von diesem unvernünftigen Trinken! Oder ist etwa die Schnittwunde in der Hand –“
Er kam dicht an ihn heran, aber der andere schob ihn unsanft zurück.
„Nichts – gar nichts, was soll mir denn fehlen? Es ist bloß … wie du einem so gräßliche Dinge erzählen kannst! Ich kann so was nun mal nicht anhören! Schon als Kind hab’ ich das nie gekonnt – du wirst dich besinnen …. so besinn’ dich doch – ich hab’ es nie vertragen können!“
Wilhelm besann sich freilich nicht darauf, aber er nickte, um den noch immer gänzlich Verstörten zu beruhigen.
„Siehst du! Also du erinnerst dich! Nur gut, daß du dich erinnerst, Will. Mir ist’s bis auf die neunte Haut gegangen, pfui, ich werd’ das Bild nicht mehr los!“ Ein Schauer packte und schüttelte ihn, während er sprach. Er wickelte hastig das Tuch von der Hand und trocknete sich die Stirn, auf welcher der Schweiß in großen Tropfen stand.
„Wenn du schon von meiner Schilderung so mitgenommen wirst, so dank’ dem Schicksal, das dir solchen Anblick ersparte; ich werd’ ihn nie vergessen. Und zu denken, daß es dem Staatsanwalt und den Richtern immer noch nicht gelungen ist, den Mörder zu ergreifen, so große Mühe sie sich auch geben – – Willst du fortgehen, Reinhold?“
„Allerdings! Da du mich von nichts anderem zu unterhalten weißt als von Mördern, lebendig Toten und Staatsanwälten –“
„Mein Gott, es ist doch natürlich, daß man an einem Ort, wo vor kurzem ein so schweres Verbrechen begangen worden ist, darüber spricht – ich noch dazu, der ich so nahe beteiligt bin –“
„Du? Beteiligt?“
„Nun ich war doch Herrn von Hofmanns erster Beamter, sein Vertrauter in allen Dingen, er hat mich oft seine rechte Hand genannt, und ich bin das auch gewesen. In der ganzen Kolonie stand ihm kein einziger so nahe wie ich!“
„Schön – ja, ich glaub’ es! – Also – adieu denn!“
„Du willst wirklich fort?“
„Und zwar so rasch als möglich.“
„Und wann seh’ ich dich wieder?“
„Ich – das – ich weiß noch nicht – ich schreib’ dir vielleicht – oder – oder du hörst sonstwie von mir. Das findet sich ja alles!“
„Und du bist wirklich ausreichend mit Geld –“
„Ja, genug – übergenug! Laß nur, laß – ich finde den Weg – darfst nicht mit mir kommen –“
Der Ingenieur ließ es sich nicht nehmen, den Bruder dennoch hinunterzubegleiten. Er hätte noch viel zu sagen und zu fragen gehabt, bei der offenbaren Verstörtheit des Trunkenen unterließ er es aber. Ein paar hastige Abschiedsworte – ein kaum fühlbarer, scheuer Händedruck …. und nach einer Minute war Wilhelm Harnack wieder oben in seinem einsamen Zimmer, wo die zertrümmerte Flasche am Fußboden lag und ein widerlicher, betäubender Dunst die Luft erfüllte. Er riß die Fenster auf und beseitigte die Scherben. Als er sich hinauslehnte, um nach dem Bruder zu sehen, war dieser bereits im Dunkel verschwunden.
Waldweben! Man konnte es nicht Wind nennen, was da so lind durch die Bäume strich; wie ein Säuseln war’s, wie ein wohliges, sanftes Atemholen des Waldes, der lange in der Erstarrung gelegen hatte und nun aufgewacht war zu neuem Leben. Er konnte dankbar sein, der Wald – viel, viel hatte der Lenz für ihn gethan, hatte goldene Sonnenstrahlen geschickt, die das Eis tauen ließen und den Schnee schmolzen, hatte warme, fächelnde Luft gespendet und stundenlangen milden Regen. Nun trieb, nun wuchs es mit aller Macht, überhauchte mit zartem Grün den Erdboden, die Zweige und Aeste; es hing weiche, schaukelnde Weidenkätzchen an die geschmeidigen Aeste, rollte all die aneinandergedrückten Triebe zu krausen, kleinen Blättern auf und drang vor bis ins Herz des Waldes, die tiefe Einsamkeit zu schmücken.
Die Anemonen, die Windröschen blühten hier zu Hunderten, um den Fuß alter Linden und Buchen geschart; Maiblumen waren üppig emporgeschossen, da und dort grüßten aus ihrer grünen Hülle die weißen Glöckchen. Erquickender Duft stieg auf von dieser jungen, üppig emporschießenden Blumenwelt. Frisches lichtes Grün wiegte sich an den Bäumen im Sonnenlicht, und in den Zweigen hüpfte und flatterte es und sang werbende Liebeslieder; emsig bauten die Vögel unterm schützenden Blätterdach ihr Nestchen, während buntstrahlende Schmetterlinge hinauf in die blaue Luft schwebten.
Die breiten Wege, die Schneisen, die sich durch die sorgsam gehegten Forste ziehen, nehmen hier ein Ende. Ein schmaler Pfad nur windet sich aufwärts zwischen Brombeergestrüpp und Himbeerbüschen. An ihnen hängt noch der Morgentau in klaren Tropfen, denn die Sonne ist noch nicht bis hierher gedrungen, sie kommt erst gegen Mittag.
Von dem letzten Ausläufer des breiten, gebahnten Weges her ertönt ein Wiehern und Schnaufen. Ein Pferd wird sichtbar, ein zweites, und ein gutes Stück hinter den beiden ein drittes. Die arabische Schimmelstute macht den Anfang. Sie hat schlanken Trab gehen müssen bis hierher, einmal sogar kurzen Jagdgalopp; sie hat nichts dawider, jetzt so sacht zu schreiten. Sie käut ab und wirft den Kopf, daß die weißen Schaumflocken fliegen; der spiegelglatte, feingebogene Hals, den die Hand der Reiterin beruhigend klopft, hebt und senkt sich kokett mit dem zierlich aufgesetzten Köpfchen, und die Füße setzen sich tänzelnd und werfen sich aus dem Gelenk vor, als ob die Stute den spanischen Schritt ausführen wolle.
Der lichte Braune, der hinter ihr dreingeht, bekommt Lust, das nachzuahmen, darf aber nicht und muß es im Lauf dieser letztvergangenen Stunde zum vierten-, fünftenmal fühlen, daß er einen sehr exakten Reiter trägt, der wohl seinen eigenen Willen durchsetzt, die Launen seines Pferdes aber nicht zu dulden geneigt ist. Es gab sogar beim Aufsitzen einen kleinen Kampf, der Braune hatte lange gestanden und wollte doch zeigen, daß er Temperament besaß; aber in zwei Minuten merkte er, wer hier zu regieren hatte.
Tommy, des verstorbenen Baron Hofmann englischer Groom, der in gemessener Distanz folgte, hatte seine stille Genugthuung an beiden Reitern. Namentlich an dem Herrn. Tommy war Trainer gewesen, auch Jockey, er verstand sich auf seine Sache. Dieser Mister Hagedorn war ihm eine wahre Augenweide: leicht in der Hand – der Lichtbraune zeigte nicht einen Schweißtropfen und war so frisch, als sei er eben erst aus dem Stall gekommen – elegant im Sitz und vollkommen stilgerecht in der Haltung, mit dem unnachahmlichen Chic des gewiegten Herrenreiters, der sattelgerecht ist und sich auf jede Gangart versteht. Tommy würde gern einmal mit Mister Hagedorn über Pferde ins Gespräch kommen, noch lieber ihn freilich bei einem Hindernisrennen sehen, auf einem so tadellosen Vollblut, wie er, der Jockey, sie früher „in der Mache“ gehabt hatte – – das müßte ein Anblick sein!
Auch die Miß – das deutsche „Baroneß“ wollte dem Engländer schwer über die Zunge – saß korrekt im Sattel und regierte ihre „Primrose“ sicher und anmutig; was nicht immer leicht war. denn „Primrose“ hatte Capricen, war nervös und wurde leicht scheu; Mister Hagedorn hatte schon ein paarmal seine Hand ausgestreckt und die Schimmelstute bei der Kinnkette genommen.
[620] Die tanzenden Sonnenlichter, die goldig über Alix’ Gestalt hingegaukelt waren und ihr Haar unter dem niedrigen schwarzen Hütchen aufglühen ließen, folgten den Reitern nicht mehr bis hierher, lichtgrüne Dämmerung wob nun ihre Schleier um sie. Die jungen Leute hatten zuvor die Pferde tüchtig ausgreifen lassen, dazwischen lebhaft miteinander geplaudert; nun schwiegen sie beide, wie auf Verabredung, und lauschten dem Herzklopfen des Waldes. Ein junges Reh tauchte rechts von ihnen im Gebüsch auf, duckte sich einen Augenblick, blieb dann stehen und äugte herüber. Deutlich waren die klaren Lichter zu erkennen, wie es stand und witterte, bis es plötzlich mit zwei, drei hastigen Sprüngen verschwand. Die Farnwedel und hochgeschossenen Gräser, zwischen denen es gestanden hatte, zitterten und wankten noch eine ganze Weile.
„Haben Sie gesehen?“ fragte Hagedorn lächelnd, mit halber Stimme.
Alix nickte. „Das wunderhübsche kleine Tier! Sehen Sie, für die Jagdpassion habe ich nun gar kein Verständnis, obgleich ich gestehen muß, daß mir Wildbret gut schmeckt. Aber hinter einem wehrlosen Geschöpf her sein und alle Listen anwenden, um es zu töten – – – nein, ich könnte es nicht! Aber, bitte, sollen wir hier noch weiter? Der Weg ist so schmal, und hier verliert er sich ganz …. müssen wir denn nicht umkehren?“
„Wenn Sie die Aussicht sehen wollen, von der ich Ihnen sprach, nicht. Es ist allerdings kein regelrechter Weg da, aber man kommt doch durch. Ganz zuletzt werden wir wohl absteigen müssen. Lassen Sie ,Primrose‘ links gehen und geben ihr, bitte, die Zügel etwas freier; sie verträgt es nicht, so kurz gehalten zu werden.“
Alix gehorchte schweigend.
„Ist es nicht merkwürdig und traurig,“ begann sie von neuem, „daß ich mich auf dem Grund und Boden, der meine Heimat ist, so gar nicht zurechtfinde? Daß Sie mir hübsche Aussichtspunkte zeigen, mir die Wege weisen müssen, während es umgekehrt sein sollte?“
„Es hat wohl nicht an Ihnen gelegen, daß es so kam?“
Alix schüttelte den Kopf. „Papa wollte mich nicht hier in Josephsthal haben. Er konnte mich nicht brauchen. Er baute viel, hatte immerzu neue Projekte und Ideen, da fand er keine Zeit für mich, und so bin ich meiner Heimat eigentlich entfremdet.“
„Sie werden sich wieder heimisch machen, einleben! Wenn man so jung ist, fällt das nicht so schwer, und Sie lieben ja Ihre Heimat, das sehe ich!“
„Primrose“ bekam einen lang herabhängenden, geschmeidigen Birkenzweig ins Gesicht und prallte zurück. Sie schnob hörbar und begann hinter sich zu treten. Doch Alix verlor nicht die Fassung.
„Sehen Sie, so empfindlich ist sie gleich! Nein, bitte, lassen Sie“ – Hagedorn hatte die Hand nach dem Zügel ausgestreckt – „ich muß doch allein mit ihr zurechtkommen, und solche Unarten dürfen ihr nicht ungestraft durchgehen!“
Er blieb ein wenig zurück und sah beifällig zu, wie Alix das aufgeregte Pferd meisterte. Sie sprach zu ihm, klopfte ihm beruhigend den schlanken Hals, hob sich leicht im Sattel und bekam schließlich die Stute so weit, daß sie nahe an dem schaukelnden Birkenzweig, der sie so erschreckt hatte, vorüberging und nur durch beschleunigtes Atmen, das ihr die Nüstern blähte, ihre innere Erregung zeigte.
Alix, deren Gesicht sich während der Anstrengung leicht gerötet hatte, wandte sich im Sattel zurück und sagte plötzlich:
„Sie haben mir übrigens noch kein Wort darüber gesagt, wie Ihnen Ihre neue Stellung gefällt!“
„Nein,“ entgegnete Raimund einigermaßen zerknirscht, „das that ich nicht, und Sie haben es mir selbstverständlich als schreienden Undank ausgelegt!“
„Gar nicht! Sie mußten sich ja erst einarbeiten - zurechtfinden, Ihre Umgebung kennenlernen, ehe Sie sich ein Urteil bilden konnten. Ich habe absichtlich nicht früher danach gefragt.“
„Aber jetzt möchten Sie es wissen?“
„Natürlich möchte ich!“
„Und ich soll die reine, ungeschminkte Wahrheit sagen?“
„Darum bitte ich!“
„Also denn“ – er lenkte sein Pferd, so gut es auf dem schmalen, holperigen Wege gehen wollte, neben das ihre und hielt den Blick auf die Zügel gerichtet, wie wenn er sehr achtsam darauf sein müsse. „Ich kann gegen den Direktor und gegen die andern Beamten, mit denen ich zu thun habe, nichts sagen, sie sind höflich und sogar rücksichtsvoll gegen mich, denn von meinen kaufmännischen Leistungen werden sie schwerlich sehr entzückt sein. Niemand chikaniert mich, aber – –“
„Aber?“ wiederholte Alix lächelnd.
„Aber,“ der junge Mann hob leicht die Achseln, „ich bin eben leider ich – und bleibe es! Ich habe meine Musikleidenschaft von einem Comptoirsessel auf den andern mitgenommen, und da sitze ich nun fest mit ihr, und alle herzliche Dankbarkeit für die mir erwiesene gütige Fürsorge hilft mir darüber nicht weg!“
„Ja,“ sagte Alix gedankenvoll, „das kann ich mir sehr gut denken – wie könnte es eigentlich auch anders sein?“
„Baroneß sind zu gütig –“
„Wo in aller Welt ist dabei meine Güte? Etwas Verständnis für Ihre Situation – das ist alles! Ueberdies wünschte ich, Sie sagten nicht ‚Baroneß‘ zu mir! Das klingt so ungeheuer förmlich, und wir sind doch Verwandte!“
„Gnädiges Fräulein also?“
„Auch nicht! Finden Sie, daß das besser oder weniger ceremoniell klingt? Können Sie mich nicht einfach beim Vornamen nennen?“
„Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mir das zu gestatten. Dann würde ich aber Alexandra sagen, denn verstümmelte Namen mag ich nicht!“
„Gut! Und ich nenne Sie Raimund!“
Auch das noch! sagte sich Hagedorn mit einer Art bittern Humors. Wenn ich nicht wüßte, daß all dies freundliche Entgegenkommen nichts wie ein Pflaster auf die Wunde ist, die ich so unvorsichtig war, ihr zu entdecken – ich könnte mir wahrhaftig einiges darauf zu gute thun!
Der Weg wurde jetzt so eng, daß die beiden Pferde nicht mehr nebeneinander bleiben konnten. Hier stand Laub- und Nadelholz wahllos gemischt, die dunkle ernste Tanne neben der weißstämmigen, zierlichen Birke, die blaugrüne Kiefer neben der lichtgrünen Buche, die hochaufgeschossene Lärche, umrahmt von schlanken Eschen. Schon blitzte da und dort zwischen den Baumstämmen der Wasserspiegel auf.
„Hier müssen wir absteigen, Cousine!“ sagte Hagedorn, indem er von seinem Braunen heruntersprang. „Ich darf Ihnen wohl helfen!“
Nicht eine Sekunde länger, als nötig war, hielt er die schmiegsame Mädchengestalt in den Armen, aber doch ging ein heißer Schauer über ihn hin, als er, sie vorsichtig zu Boden gleiten ließ.
„Halten Sie die Pferde, Tommy!“ sagte Alix, über die Schulter zurückgewendet, zu dem Reitknecht, dann stieg sie an des jungen Mannes Seite vollends die leichte Anhöhe empor.
Sie hatten es nicht weit mehr, aber es war ein beschwerliches Gehen zwischen den hier sehr dicht stehenden Bäumen hindurch. Tief versank der Schritt in dem Blätterlager, das vergangene Herbste aufgehäuft, und dennoch mühte sich die junge Vegetation, auch hier das Alte, das Ueberlebte zu verdrängen und sich siegreich zu behaupten. Junger Graswuchs sammelte sich dicht um die Baumstämme, weiche, tiefgrüne Moospolster breiteten sich über bloßliegendes Wurzelgeflecht. Nun standen sie oben. Sonnenüberschienen lag das Haff; auf seinen sanft gekräuselten Wellen tanzten Goldfunken auf und nieder. Gleich einem weißen hingeschlängelten Band flimmerte drüben die Nehrung, auf der man die kleinen Ortschaften deutlich liegen sah; aus manchen Häuschen stiegen Rauchwölkchen zum klaren Himmel aufwärts. Da und dort schaukelte ein Kahn über die leicht bewegte Wasserfläche, kleine weiße Segel tauchten gleich Schwänen hinauf und hinab, und drunten auf dem schmalen Streifen Strand, zu dem der Wald hier ziemlich steil abfiel, gingen ein paar flachsköpfige Kinder umher und lasen Muscheln und Steinchen auf.
[621]
[622] „Wie schön!“ sagte Alix und sog durch die halboffenen Lippen die feuchte, weiche Frühlingsluft ein.
„Nicht wahr!“ fragte ihr Begleiter zurück. „Aber Baroneß – – Pardon, Alexandra, Sie müßten einmal zum Sonnenuntergange hier sein! Der ist schöner noch als am Meer, weil wir hier durch die Nehrung, die sich davorschiebt, die doppelte Spiegelung haben, und das giebt einen Farbenschmelz, eine Glut und Pracht, daß man mitten in den Süden hinein sich versetzt fühlt. Wenn die Damen nicht seekrank zu werden fürchten, fahre ich Sie und Frau von Sperber einmal dort hinüber – mit dem Ruderboot, wenn Ihnen das sicherer ist, noch lieber freilich thät’ ich’s mit dem Segel!“
„Natürlich! Für Frau von Sperber kann ich nicht einstehen, aber ich bin ganz seetüchtig. Ich würde auch lieber segeln! Was sind das für Kinder dort unten?“
Raimund bog sich hastig vor, um besser sehen zu können.
„Gewiß aus einem von den Dörfern hier weiter unten – aus der Kolonie Josephsthal sind sie keinesfalls!“
„Sie kennen wohl viele von den Josephsthaler Kindern?“
„Beinahe alle, wenigstens dem Ansehen nach. Das beruht darauf, daß die kleine Bande mich kennt, wahrscheinlich vom Zweirad her. Ich genieße eine Art von Popularität wenigstens bei diesem Teil der Bevölkerung; mancher semmelblonde Wicht, der kaum laufen und reden kann, schreit mir, wenn ich des Weges daherkomme, sein: Tag, Herr Hagedorn! zu.“
„Und diese Art von Beliebtheit ist Ihnen angenehm, nicht wahr?“
„Eigentlich ja! Ich habe Kinder gern, und es macht mir Spaß, sie zu beobachten. Der künftige Mensch mit seinen Zu- und Abneigungen kommt in den kleinen Geschöpfen oft in der drolligsten Weise zum Vorschein, und das hat auch seine ernste Seite. Man macht da so nebenher feine psychologischen Studien!“
„Ich wäre Ihnen dankbar,“ sagte Alix nach einem leichten Zögern, „wenn Sie, der Sie doch schon seit längerer Zeit hier und gewiß ein ganz guter Beobachter sind – bitte, dies nicht als ein Kompliment aufzufassen, es ist durchaus nicht so gemeint! – wenn Sie mir also einigen Aufschluß über die Leute, aus denen sich die Fabrikbevölkerung zusammensetzt, geben wollten. Sind sie gutartig, leicht oder schwer zu lenken?“
Raimund wiegte zweifelnd den Kopf. „Das läßt sich nicht so ohne weiteres beantworten. Unter einen einzigen Gesichtspunkt lassen sich mehrere hundert Arbeiter absolut nicht bringen. Ich finde, man geht heutzutage darin vielfach zu weit. Eines freilich pflegt überall zuzutreffen: der gute Geist unter den Leuten hängt wesentlich davon ab, ob gute oder schlechte führende Elemente vorhanden sind.“
„Selbstverständlich! Und wie verhält es sich nun damit hier bei uns in Josephsthal?“
„Im ganzen genommen günstig. Ihr Herr Vater hatte für bedenkliche Elemente, die sich einfanden, einen sehr raschen, sichern Blick und einen erbarmungslosen Griff, sie alsbald zu entfernen. Da war vor kurzer Zeit zum Beispiel hier ein Monteur – Kraßna hieß er, von Geburt ein Pole – ein tüchtiger Arbeiter, brachte gute Zeugnisse, fing aber an zu hetzen, kleine Broschüren auszuleihen, Winke zu geben, da und dort hätten es die Leute besser, schließlich enthüllte er sich geradezu als Anarchist, und sobald Ihr Vater davon erfuhr, wurde er entlassen. Allzuviel Boden hatte er nicht hier gewonnen; im allgemeinen erhitzt sich der hiesige Menschenschlag nur schwer. Aber eine kleine Gemeinde hatte der Pole doch schon; es giebt ja immer Leute, die unzufrieden sind, namentlich unter den jungen, unverheirateten Männern; die Familienväter sind vorsichtiger, weil für sie zuviel auf dem Spiel steht!“
„Und dieser Kraßna – wo ist er geblieben? Was ist, nachdem mein Vater ihn entlassen hatte, aus ihm geworden?“
Alix fragte das mit einer so gepreßten Stimme, als sei ihr der Atem plötzlich ausgegangen. Alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen, und die Hand, mit der sie in die Falten ihres schwarzen Reitkleides griff, zitterte.
Raimund Hagedorn begriff sie auf der Stelle und schüttelte abwehrend den Kopf.
„Nein, nein, Cousine, was Sie denken, trifft nicht zu. Kraßna blieb nach seiner Entlassung noch kurze Zeit in der hiesigen Gegend, wandte sich dann nach Mecklenburg und nahm dort eine Stelle an. Man hat ihn nach – nach dem Unglück sogar gerichtlich vernommen, er hat aber ein so vollkommen glattes Alibi nachweisen können, daß jeder Verdacht sofort weggefallen ist. Was ich jedoch glaube, ist, daß Kraßna der Schreiber der anonymen Briefe war, die Ihr Herr Vater erhalten hat, Zwar mangelt auch dafür jeder Beweis, zumal außer Baron Hofmann niemand diese Briefe hat prüfen und lesen können …. aber nach allem, was ich von diesem Menschen sah und hörte, möchte ich wetten, daß er der Verfasser dieser Schriftstücke ist!“
„Und man hat ihn nicht in Untersuchungshaft genommen?“
„Einen einzigen Tag nur. Sein Alibi war, wie gesagt, nicht zu beanstanden; er hatte wenigstens acht oder neun Zeugen, die sämtlich zu seinen Gunsten aussagten!“
„Wissen Sie, Raimund“ – Alix sprach den Namen nur zögernd – „daß auch ich einen anonymen Brief vor einiger Zeit empfing?“
„Keine Silbe! Wann ist das gewesen?“
„An dem Tage, als Sie mir Ihren ersten Besuch machten, mir Ihre Lebensgeschichte erzählten!“
„Und der Inhalt?“
„Die Drohung, ich könnte das Los meines Vaters teilen, wenn ich die berechtigten Forderungen der Arbeiter nicht erfüllte!“
„Was haben Sie mit dem Briefe gethan?“
„Ich habe von ihm dem Justizrat Ueberweg, sowie dem Staatsanwalt und Untersuchungsrichter Mitteilung gemacht; sie wollten alles thun, um den Urheber zu ermitteln. Das scheint ihnen indessen nicht gelungen zu sein; sie hätten es mich sonst doch wohl wissen lassen!“
„Und nahmen die Herren den Versuch des Schreibers, sich als Anwalt der Arbeiter aufzuspielen, ernst?“
„Ich selbst hielt diesen Versuch für ein Manöver. Aber veranlaßt hat mich der Brief doch, über die Lage meiner Arbeiter nachzudenken. Ich ließ eine Art Komitee zusammentreten, die Direktoren der verschiedenen Werke, die obersten Ingenieure.
Mein Vetter Cecil Whitemore präsidierte. Ich legte den Herren ernstlich und dringlich die Frage vor, ob Aenderungen, Verbesserungen bei den Arbeitern geboten seien, ob die Leute anderswo bei ähnlichen Unternehmungen besseren Lohn erhielten, mit einem Wort, ob das Verlangen dieses Anonymus irgendwie gerechtfertigt sei!“
„Und die Herren antworteten Ihnen mit Nein!“
„Mit Nein – und zwar einstimmig und einmütig, ohne eine einzige abweichende Meinung – sogar ohne Zaudern. Ich möchte wissen, welches Ihre Ansicht über diese Sache Wäre!“
Raimund wandte der Sprecherin voll sein offenes, einnehmendes Gesicht zu.
„Ich spreche als Laie – als Dilettant gewissermaßen, müssen Sie bedenken, nicht als Sachverständiger. Insofern hat meine Aussage keine Bedeutung. Rede ich als Mensch zum Menschen ….“
„Nun, dann?“
„Dann habe ich zu konstatieren, daß es ungünstiger situierte Arbeiter giebt als die Josephsthaler, aber auch günstiger gestellte, daß der hiesige Arbeiter unter normalen Verhältnissen, wenn er fleißig und nüchtern ist, auskommen kann, ganz entschieden sogar …. daß aber die Einrichtungen, die für Ausnahmefälle da sind: für Krankheit, ungewöhnlich zahlreiche Familie, längere Arbeitsunfähigkeit und so fort, daß hier diese Einrichtungen mir, nach meiner Idee, teilweise unvollkommen, teilweise auch zu knapp geraten erscheinen, und daß eben auf diesem Gebiet Abhilfe, vielmehr Erweiterung und Verbesserung der bestehenden Verhältnisse, ein großer Segen sein würde!“
Alix hatte mit einem Anteil zugehört, der ihre Augen im intensivsten Blau leuchten ließ. Sie reichte Hagedorn freimütig die Hand hin.
„Ich bin Ihnen dankbar dafür, wenn Sie mir sagen, [623] was Sie denken – Sie sollen das immer thun, ich bitte Sie darum! Ich habe den ernstlichen guten Willen, den Leuten zu helfen, allmählich hier und da Reformen einzuführen, und ich hoffe, mit der Zeit soll mir das gelingen. Es beruhigt mich so, daß Sie doch auch sagen, die Arbeiter sind hier so gestellt, daß sie unter normalen Verhältnissen mit ihrem Lohn auskommen können.“
„Sie dürfen meinen Worten kein großes Gewicht beimessen, ich sagte Ihnen ja, was ich auf diesem Gebiet nur sein will und kann –“
„Ein Dilettant, jawohl, ich weiß! Jedenfalls aber einer, der sich sein menschlich fühlendes Herz bewahrt hat, während ich den andern Herren gegenüber doch das Gefühl hatte, als sei ihnen das im Lauf der Zeit vor lauter Geschäftskenntnis und Amtseifer ein wenig abhanden gekommen. – Ich wollte auch so gern persönlich nach meinen Kräften eingreifen, den Leuten allgemach nähertreten – dazu schienen mir ihre Frauen und Kinder das beste Verbindungsmittel, ich dachte daran, den Kindern zunächst irgend ein Fest zu geben, ein Maifest zur Pfingstzeit zum Beispiel –“
„Ein glücklicher Gedanke, an dessen Ausführung Sie niemand hindern wird!“
„Doch! Die Herren waren, als ich die Idee nur andeutete, eigentlich alle dagegen. Namentlich Herr Oberingenieur Harnack protestierte lebhaft.“
„So?“ Raimund zog die Brauen hoch. „Und welche Gründe gab er an?“
„Er sagte, diese Idee mache meinem edlen Herzen – so drückte er sich aus – alle Ehre, wäre aber bedenklich in ihren Folgen. Wüßten erst die Leute, die er, Ingenieur Harnack, sehr genau zu kennen und richtig zu beurteilen behauptet, daß seitens des Besitzers der Kolonie Josephsthal Geld zu überflüssigen Dingen, zu Vergnügungen und Spielen für sie vorhanden sei, so wäre Thor und Thür geöffnet, sie würden mit hundert Bitten, Vorschlägen, Wünschen anrücken und dies damit begründen: das seien lauter notwendige Dinge, die die Herrschaft verpflichtet sei, ihnen zu gewähren, da sie sogar für einen bloßen Zeitvertreib eine größere Summe geopfert habe. Jetzt wissen die Leute genau, sie haben nichts zu fordern, sie haben sich nicht zu beklagen, sie müssen selbst Rat und Abhilfe schaffen; in ganz besonders schwierigen Fällen dürfen sie sich höchstens an ihren Direktor wenden, niemals an den Chef der Werke. Der Chef muß oberhalb und außerhalb dieser Dinge stehen, wie es bisher der Fall gewesen ist!“
„Mit nichten! Das ist eine total falsche Auffassung, der ich widersprechen muß!“ rief Raimund eifrig. „Die Sachlage war allerdings so, wie Harnack sie Ihnen geschildert hat, aber sie bestand zu Unrecht – Verzeihung, wenn dies einen Tadel für Ihren Vater enthält und wohl demjenigen, dem die Macht und die Mittel gegeben sind, bestehende Verhältnisse, die ihm unzureichend erscheinen, zu heben und zu bessern! Daß Ingenieur Harnack die Josephsthaler Arbeiter so sehr gut kennt, bestreite ich durchaus. Ihre Leistungsfähigkeit kennt und beurteilt er ja richtig, von ihren Charakteren, ihrer Lebensauffassung weiß er nichts. Das Sprichwort, wem man den kleinen Finger hinreiche, der greife alsbald nach der ganzen Hand, es würde hier nicht zutreffen. Die Leute würden sich freuen, wenn man ihren Kindern ein Fest gäbe und noch lange nicht für sich die Folgerung daraus ziehen, mit unverschämten Forderungen zu kommen, und wenn einzelne dreist genug dazu sein sollten, so muß man sie eben in ihre Schranken zurückweisen. Warum an den Menschen beständig zweifeln, ihnen unbedingt Schlechtes zutrauen? Ich glaube an das Gute in ihnen, und wer sie da zu fassen versteht, wo sie, die meisten von ihnen wenigstens, am selbstlosesten und am tiefsten empfinden: ihren Kindern gegenüber – der wird nicht umsonst an dies Gute appellieren und wird seine Freude daran erleben.“
Alix atmete hoch auf.
„Ich war, trotz des Widerspruchs, den ich erfuhr, doch gesonnen, bei meiner ursprünglichen Idee zu bleiben – jetzt bin ich fest darin. Ob ich etwas ausrichten werde und was, das muß die Zukunft lehren, ich kann nur immer wieder sagen: Ich will – ich will!“
Sie war schön, wie sie das sagte, ihr Gesicht so durchleuchtet von Energie und Entschlossenheit, daß Hagedorn ihre herabhängende Hand nahm und feurig küßte. Gleich darauf trat er, ärgerlich auf sich selbst, zurück, seine impulsive Natur hatte ihn wieder einmal fortgerissen.
„Ueberschätzen Sie nur nicht, was ich da eben gesagt habe,“ brach er ab in gezwungenem Ton und sah an ihr vorbei auf das sonnenüberblitzte, leise wogende Wasser, „Sie sind klug und entschlossen genug, um allein Ihren Weg vor sich zu sehen –“
„Doch nicht, ich sagte es Ihnen ja! Und ich wollte Sie gerade zu meinem Bundesgenossen werben!“
Das kam so einfach und warm heraus, daß Raimund von neuem im Begriff stand, sich fortreißen zu lassen – er nahm sich aber zusammen.
„Sie dürfen nicht vergessen, Cousine, daß das Interesse für den Arbeiterstand, die sogenannte soziale Frage, meinem eigentlichen Lebenselement ganz fern liegt. Jetzt rede ich wohl darüber, aber sechs Takte aus der Neunten Symphonie, und ich weiß kein einziges Wort mehr davon!“
Wenn es in seiner Absicht gelegen hatte, das stolze Mädchen zu verletzen, so war ihm dies gelungen. Eben noch hatte er so eifrig und überzeugt gesprochen, so voll Begeisterung ihre Hand geküßt, sie hatte geglaubt, die Sache interessiere ihn wirklich, sie hatte auch glauben müssen, ihre Persönlichkeit komme dabei mit ins Spiel, und es lag so nahe, das zu denken. Sie war durch Erfolge verwöhnt, wußte, daß sie den Männern gefiel, auch ohne den goldenen Hintergrund gefallen konnte, und dies Bewußtsein ließ sie mit jener unbefangenen Sicherheit auftreten, die ihre Wurzel in einem stark entwickelten Selbstgefühl hat. Wenn ihr Raimund Hagedorn gefiel – und sie machte sich selbst gegenüber kein Hehl daraus, daß dies in ungewöhnlichem Maße der Fall war – so nahm sie als etwas Selbstverständliches an, daß dies auf Gegenseitigkeit beruhe, daß es ihn erfreue und beglücke, in ihre Nähe gezogen zu werden, und daß nur seine Stellung ihm den unliebsamen Zwang auferlege, warten zu müssen, bis sie jedesmal die Initiative ergriff und ihn zu sich entbot.
Und nun gab er ihr unverhohlen zu verstehen, daß er über ein paar Takten schöner Musik nicht nur die Fragen, die sie interessierten, nein, wohl auch sie selbst ohne weiteres zu vergessen imstande sei!
Alix warf leicht den Kopf hoch, und in ihr vor UnWillen errötendes Gesicht trat der hochmütig verächtliche Zug, den ihre Verehrer gut genug an Baroneß Hofmann kannten.
Ganz „Diana von Versailles“, wie sie da stand und mit der Reitpeitsche in kurzen Zwischenräumen gegen den nächsten Baum schlug!
Raimund sah mit einem einzigen Blick, was er angerichtet hatte. Ein heißer, beschämender Schreck stürzte gleichsam über sein Herz her, gleich darauf aber wappnete sich dies Herz in Trotz: es war gut so! Was sollte dies Einvernehmen zwischen ihm und der reizenden Cousine, das immer mehr Anlaß zu Verabredungen, Begegnungen bot, immer heftiger eine Flamme schürte, die ihm schon im ersten Aufflackern bedenklich erschienen war! Es that ihm weh, sie beleidigt zu haben; lieber aber noch das als das gefährliche Spiel, das seine ohnehin schon schlimme Lage noch erschwerte!
Er sagte also nichts, kein versöhnendes oder entschuldigendes Wort; daß seine Augen Abbitte thaten, und zwar sehr sprechend und deutlich, das kam ihm nicht zum Bewußtsein.
Ueber den beiden raschelte es, im jungen Frühlingslaub bebte und schwankte ein Aestchen. Eine Schwarzamsel saß darauf und schickte ihr kleines Lied in die lachende, sonnige Welt hinein. Sie lockte die Gefährtin, lockte immer wieder, mit kurz anhebendem, sehnsüchtig ausklingendem Laut, daß es klang wie „Komm’ – komm’ – o komm’!“
Die zwei Menschen, die da regungslos unter der jungen, mit zartgrünen Blättchen behangenen Buche standen, störten den kleinen Sänger nicht. Sie sprachen ja kein Wort, sie machten keine Bewegung, aber alle beide hörten sie, verstanden sie den lockenden, werbenden Liebeslaut: „Komm’! Komm’! O – komm’!“ (Fortsetzung folgt.)
[625] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
[626]Von der II. Münchener Kraft- und Arbeitsmaschinenausstellung.
Alle Rechte vorbehalten.
Zu den gewohnten künstlerischen Anziehungspunkten der schönen Jsarstadt, den großen Ausstellungen der Münchener Künstlergenossenschaft und der „Sezession“, gesellt sich diesen Sommer eine sowohl dem Inhalt wie dem Standort nach von jenen ganz verschiedene. Denn nicht in dem Kunstcentrum König Ludwigs erheben sich ihre Bauten, sondern weit draußen an der frisch strömenden Jsar, wo noch vor einem Menschenalter außer dem von den Künstlern hochgeschätzten „Grünen Baumwirtshaus“ nur elendes Winkelwerk stand und die einsame wüste „Kohleninsel“ sich abwärts der großen Brücke erstreckte. Heute nun trägt diese zum reizenden Park umgeschaffene und durch eine blütenreiche Gartenausstellung verschönte Insel einen weißen, abends in elektrischem Licht erstrahlenden Gebäudekomplex von imposanten Formen: Säulenhallen, Giebel und Kuppeln, auf deren oberster, von Titanenkräften getragen, die Erdkugel schwebt. Der ganze Anblick dieser in unglaublich kurzer Zeit hervorgezauberten Bauten (vergl. die obenstehende Abbildung) ist heiter und künstlerisch schön; sie bilden den Schauplatz der Ausstellung, die aus Anlaß des fünfzigjährigen Jubelfestes des Allgemeinen Gewerbevereins München veranstaltet wurde. Gleich ihrer Vorgängerin, der Ausstellung vom Jahre 1888, bietet sie dem Beschauer ein interessantes und lehrreiches Bild der Fortschritte, welche die Technik in den letzten Jahren errungen hat.
Dort sieht man zunächst in das ungeheure Gewirr der tausend Räderwerke von Motoren, Lokomobilen, Ventilatoren, Beleuchtungs- und Kraftmaschinen aller Art, die nur der Fachmann voll würdigen kann. Aber auch der Laie betrachtet staunend z. B. die Reihenfolge und wunderbare Vielseitigkeit der Holzbearbeitungsmaschinen: zuerst die mit sechs Sägen zugleich arbeitende Bretterschneide, dann die ungeheuern schwedischen Eisenkolosse zur massenhaften Herstellung von Parketttafeln und zuletzt die unendlich fein und mannigfaltig arbeitenden Bohr-, Frais- und Schneideapparate für Kehlleisten und Holzornamente. Nicht weit davon steht die große Ziegelmaschine, die in ihrer oberen Trommel den Lehm empfängt und aus einem langen, sich stets verengernden Kanal seitwärts die fertigen Ziegel abgiebt. Auf der andern Seite rüttelt sich unausgesetzt die große Getreidesichtmaschine, durch deren regelmäßige, genau berechnete Erschütterung die Körner verschiedener Dicke unfehlbar in die betreffenden Fächer geschleudert werden.
Nahe dabei betreiben nett gekleidete Mädchen eine kleine Cigarettenfabrik: sie breiten den Tabak auf die obere Fläche einer schütternden Maschine aus, die ihn einnimmt und seitwärts einen endlosen Papierstreifen abwickelt. Weiter unten öffnet sich ein Messingkanal, und aus diesem fallen in ununterbrochenem Fluß die fertigen Cigaretten mit Firmenstempel – 10 000 Stück in der Stunde! Sie brauchen nur noch in Kistchen verpackt zu werden, um zum Verkauf fertig zu sein. So dicht umlagert wie dieser staunenswürdige Apparat sind auch die andern, dem Laienpublikum ohne weiteres verständlichen und elektrisch bewegten: die Schuhmanufaktur, mit den flinken Arbeiterinnen, aus deren Händen unzählige Stiefelschäfte hervorgehen, die Buchbindereien, wo mit merkwürdiger Schnelligkeit und Genauigkeit Einbände, Portemonnaies, Notizblocks u. dergl. in ganzen Stößen emporwachsen, vor allen der surrende Webestuhl, der ohne menschliche Hilfe seinen bunten Stoff rastlos vergrößert, sowie die Setz- und Schreibmaschinen.
Drüben schwirrt eine kleine Armee von Nähmaschinen und zeigt den Hochstand und die große Leistungskraft unserer deutschen Industrie. Sehr merkwürdige Exemplare zeigt auch die große Singer-Compagnie. Außer tadellos arbeitenden Knopfloch- und Knopfannäh-Apparaten sieht man da die vor einigen Jahren bereits eingeführte Stickmaschine, die immer noch nicht so allgemein bekannt ist, als ihre Vortrefflichkeit verdiente. Ihr gesellt sich jetzt ein neuer Apparat derselben Ringschiffmaschine zu, eine Vorrichtung, um den bisher nur mit der Hand zu nähenden Hohlsaum leicht und schnell zu machen. Dieselbe Maschine, nur mit anderem Schuh, stellt auch jede gewöhnliche Weißzeug- und Kleidernaht her.
Wohin man die Blicke wendet in dem weiten Raum, überall ist rastlose Bewegung mit Ticken, Sausen und Schnurren, nach allen Enden hin leiten die geräuschlosen Treibriemen die Kraft der Elektricität, verrichten oder erleichtern die sinnreichen Maschinen das Werk der Menschenhand. Da steht z. B. die „Universalmaschine“ für Schlosser, ein eiserner Werktisch, der, einmal an den Strom angeschlossen, bohrt, hämmert, dreht, hobelt, feilt und nur von der Hand gelenkt zu werden braucht. Weiterhin entfalten sich die Wunder der elektrischen Küche mit blitzblanken Nickelgeschirren, deren Inhalt auf dem feuerlosen Herd siedet, Wärmeplatten und Bügeleisen, die ohne sichtbare Ursache Hitze ausströmen; wir erfahren noch von dem Vertreter der Firma, daß es für die Kochgeschirre nicht einmal einer Herdplatte bedarf, sondern daß sie, einmal an den Strom angeschlossen, überall hingestellt werden können und auf jedem Tische kochen.
Hat man diese und unzählige andere erstaunliche Werke der modernen Zauberkunst betrachtet, so steht auch schließlich noch das „Tischchen, deck’ dich!“ zu Gebote in dem großen automatischen Restaurant, dessen geräuschlose Geisterhände die verschiedenartigsten guten Dinge in fester und flüssiger Gestalt gegen Einwurf des bekannten Nickels darbieten.
Und nun hinaus in den weiten, grünen Park, der zwischen manchen Regentagen doch immer wieder wundervoll im Abendsonnenschein leuchtet und blüht! Wo die dichten Laubmassen des Ufers zur Jsar abfallen, ist eine Anstalt aufgethan, die sich des innigsten Beifalls der lieben Jugend erfreut: die Wasserrutschbahn. Von beträchtlicher Höhe saust das Boot blitzgeschwind nieder, kommt näher und näher dem hellgrünen Jsarspiegel, da – platsch! stürzt es mitten hinein, daß Schaumgarben aufsprühen, aber sie treffen die Insassen nicht. Auf zwei hohen Wellenbogen gleitet das Schiffchen seitwärts und ans Ufer, wo stets eine große Menschenmenge das belustigende Schauspiel erwartet.
Im letzten Hintergrund des von den bayrischen Kunstgärtnern prächtig geschmückten Ausstellungsgartens befindet sich dann die große Restaurationshalle mit den behaglichen Sitzplätzen im Grünen, wo es sich abends so vergnüglich ausruht, während eine Musikkapelle spielt und in den Pausen das Jsarrauschen leise herübertönt.
Steigt man schließlich zur Plattform des Turmes hinauf und betrachtet von oben das reiche, herrliche Stadtbild mit seinen Türmen und Kuppeln, die zwischen üppigen Waldufern strömende, von Brücken vielfach überspannte Jsar, den Zug der Landschaftslinien bis zur fernen leuchtenden Alpenkette und versetzt man sich in Gedanken um Tausende von Jahren zurück, wo hier unwegsames Dickicht war und der Mensch außer Kopf und Händen nur etwa ein Steinbeil zum Widerstand gegen die feindliche Natur hatte – dann ermißt man mit einem Gefühl staunender Ehrfurcht die ungeheure Machtentwicklung des menschlichen Geistes und die wunderbare Größe unserer von nüchternen Seelen als nüchtern verschrieenen Zeit. Sie hat vieles wahr gemacht, was die alten Märchen von der Herrschaft des Kundigen über die Elemente dichteten, und die Ausstellung elektrischer Maschinen ist eben der rechte Ort, um sich davon zu überzeugen! R. Artaria.
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Alle Rechte vorbehalten.
Tragödien und Komödien des Aberglaubens.
Es ist eine weitverbreitete Ansicht, daß die Spiritisten das „Geisterklopfen“ entdeckt und in ihm ein Mittel gefunden hätten, sich mit den Seelen Abgeschiedener zu verständigen. Diese Annahme ist durchaus unrichtig. Klopfgeister hat es zu allen Zeiten gegeben; sie sind so alt wie der menschliche Aberglaube. Man kann Beweise dafür aus den steinalten assyrischen Keilschriften beibringen; sie erzählen bereits von Geistern, die in verschiedenen hölzernen Möbeln knackten und pochten, und sie berichten von weisen Männern, die aus diesen Tönen, aus dieser Geistersprache die Zukunft vorauszusagen verstanden.
Derselbe Aberglaube war auch in Europa im Schwange. Das Volk deutete allerlei Geräusche, die sich in Wohnräumen vernehmen lassen, als Kundgebungen von Geistern, und Gelehrte, die sich mit der übersinnlichen Welt beschäftigten, stimmten ihm in früheren Jahrhunderten bei: Paracelsus lehrte, daß es Caballi und Lemures, Polter- und Rumpelgeister, gebe, die durch Hämmern, Klopfen, Schlagen und Stoßen den Menschen allerlei Mitteilungen machten, sie störten und beunruhigten. So sehr war dieser Aberglaube einst verbreitet, daß bei dem Einweihen der neugebauten Häuser der Wunsch ausgesprochen wurde, sie möchten von „Klopfgeistern“ verschont bleiben. Kein Wunder daher, daß die einfachen Laute, wie sie durch Ziehen und Springen des Holzes beim Feuchtigkeitswechsel in der Luft entstehen und sich so oft in Möbeln, Dielen oder im Hausgebälk vernehmen lassen, ahnungsreichen Seelen als Vorboten eines Unglücks nur zu oft trübe Stunden bereitet haben.
Dieser Aberglaube schuf aber auch Klopfgeister. Leute, die zu Taschenspielerkünsten Anlage hatten, fanden sich veranlaßt, ihre Mitmenschen durch gespenstisches Klopfen zu beunruhigen und zu schrecken. Blieben sie dabei unentdeckt, verstanden sie selbst der Polizei, die ihnen nachspürte, Schnippchen auf Schnippchen zu schlagen, dann gewann ihr Thun und Treiben einen übernatürlichen Anschein. Mitunter erregten solche Witzbolde großes Aufsehen, und ihr Klopfen und Pochen wurde zum Gegenstand langwieriger Untersuchungen und geharnischter Streitschriften.
Die Geschichte eines solchen berühmten Klopfgeistes, auch eine Tragikomödie des Aberglaubens, wollen wir im Nachfolgenden erzählen.
Am Abend des 2. Dezembers des Jahres 1767 hatten sich die Mägde des etwa eine Stunde von Braunschweig entfernten Dorfes Dibbesdorf wie gewöhnlich in der Wohnstube des Kotsassen Anton Kettelhut versammelt und saßen, eifrig mit Spinnen beschäftigt, in einem Kreise um die von der Decke herabhängende, trübe brennende Oellampe.
Da ertönte plötzlich aus der einen Ecke des Zimmers ein dumpfes Klopfen wie das eines Hammers. Im Anfang achtete man wenig auf dasselbe. Als es sich aber wiederholte, begab sich der Hausherr vor die Thür, um den Knecht, der, wie er vermutete, aus Schabernack und um die Mägde zu schrecken, das Klopfen verursachte, bei seinem Treiben abzufassen. Allein er fand niemand. Kaum aber war er in die Wohnstube zurückgekehrt, als das Klopfen von neuem begann. Erschreckt sprangen die Spinnerinnen von ihren Sitzen empor und drängten sich ängstlich zusammen. Eine neue Untersuchung, die der Bauer anstellte, fiel ebenso erfolglos aus wie die frühere. Denn, während er auf dem Hofe vergeblich nach der Anwesenheit einer Person forschte, dauerte das Klopfen munter fort, so daß er seine erste Vermutung, daß ein Knecht die Ursache desselben sei, aufgab und auf den Gedanken kam, daß vielleicht eine Ratte unter dem Lehmboden der Stube ihr Wesen treibe. Als man aber am andern Morgen alle Ecken des Zimmers genau untersuchte, ja selbst den Boden der Stube mit einer Hacke aufschlug, fand man weder ein Loch, noch auch eine Spur eines Ganges, in dem eine Ratte sich hätte aufhalten können.
Dennoch ertönte das Klopfen am Abend von neuem. Da verließen die Mägde das ungastliche Haus und begaben sich nach dem nahegelegenen Hofe des Kotsassen Ludwig Kettelhut, um dort ihre Sitzungen abzuhalten. Aber siehe, der Klopfgeist folgte ihnen, und lustig erklang sein Klopfen auch in dem neuen Heim. Vergebens hoffte der Hauswirt, daß der unholde Gast bald einen andern Wirkungskreis aufsuchen werde, er blieb der nun gewählten Stätte treu und offenbarte sich allabendlich, ja selbst zuweilen am Tage.
Natürlich erregte dieser Spuk, den man sich nicht auf natürliche Weise erklären konnte, im Dorfe große Unruhe. Deshalb sah sich der Amtsgeschworene Hennig Fricke zu Dibbesdorf veranlaßt, die Sache seiner vorgesetzten Behörde anzuzeigen.
Am 6. Januar 1768 begab sich der Justizamimann des Gerichtes Campen mit mehreren Begleitern nach Dibbesdorf, um die Sache zu erforschen. Er ließ die Wände des Zimmers einschlagen und den Boden desselben sowie alle Schränke etc. genau untersuchen, ohne auch nur das geringste Verdächtige zu finden. Auch ließ er den Hausherrn, die Hausfrau und alles Gesinde einen feierlichen Eid schwören, daß sie von dem Urheber des Pochens nichts wüßten, worauf er mit seinen Begleitern unverrichteter Sache abzog.
Indessen trug sich bald nach dieser erfolglosen gerichtlichen Untersuchung ein Ereignis zu, das wohl geeignet war, dem bis dahin noch wenig beachteten Klopfgeiste eine außerordentliche Bedeutung zu verschaffen.
Eines Tages besuchte ein Bauer aus Waggum, ein naher Verwandter des Kettelhut, denselben, um sich von der Wahrheit des Gerüchtes zu überzeugen.
Da der Klopfgeist gerade von seiner anstrengenden Arbeit ruhte, rief er: „Klopfgeist, bist du da?“ worauf sofort ein lustiges Klopfen ertönte.
Und als er weiter fragte: „Wie heiße ich?“ antwortete derselbe durch Klopfen in dem Augenblicke, als der Bauer nach Aufzählung verschiedener Namen den richtigen nannte.
Das bewog einen andern der anwesenden Bauern zu fragen, wieviel Knöpfe er an seiner ganzen Kleidung habe.
Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, als es 36 mal klopfte, was, wie sich beim Nachzählen herausstellte, vollkommen richtig war.
Die Kunde von der Allwissenheit des Klopfgeistes zu Dibbesdorf verbreitete sich nun schnell in der näheren und weiteren Umgegend.
Täglich wanderten zahlreiche Neugierige zu Fuß, zu Roß und Wagen nach dem so schnell berühmt gewordenen Dorfe, so daß häufig genug das Haus die Menge der Fremden nicht zu fassen imstande war, und daß sogar die Landmiliz aufgeboten werden mußte, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Zahllos waren die Fragen, die man dem Klopfgeiste vorlegte. Oft schwieg er dazu, oft aber gab er auch wunderbar zutreffende Antworten. Fragte man nach der Seitenzahl eines Buches, die man gerade aufgeschlagen hatte, so klopfte es so viele Male, als die Zahl betrug, erkundigte man sich nach der Farbe des Haares oder der Kleidung der Anwesenden, so gab der Geist beim Aufzählen der Farben sie richtig an, wollte man wissen, aus welcher Stadt dieser oder jener Fremde gebürtig war, so schlug er dann zu, wenn der Name des betreffenden Ortes genannt wurde, mochte man auch noch so viele Namen vorher aufgezählt haben. Der Geist gab die Zahl der Zwiebäcke an, die der Bäcker am Morgen gebacken, und das Alter der ihn fragenden Personen nach Jahren, Tagen und Stunden.
Bei dieser Thätigkeit des Klopfgeistes war äußerlich nicht das Geringste wahrzunehmen: kein Staub wirbelte von dem Lehmboden auf, keine Bewegung war zu sehen und nichts zu hören außer dem gleichmäßigen Klopfen.
Was war natürlicher, als daß sich unter der großen Menge des Volkes allmählich der Glaube verbreitete, daß das wunderbare Klopfen von einem bösen Geiste herrühre, der unter dem Boden des Zimmers hause. In dieser Ueberzeugung begab sich eines Tages der „Opfermann“ eines benachbarten Dorfes nach Dibbesdorf, um den unsaubern Geist auszutreiben. Allein dieser [628] widerstand trotzig allen Beschwörungsformeln; denn, als der Teufelsbanner am Schlusse seiner langen Rede ausrief: „Ich beschwöre dich, unsauberer Geist, wer du auch seiest, fahre aus von diesem Orte und begieb dich zur Ruhe“, ertönte zum Jubel der Anwesenden aus der Ecke des Zimmers das lustigste Klopfen, worauf der Beschwörer beschämt von dannen eilte.
Die Kunde von dem merkwürdigen Ereignis war natürlich auch an den Hof des damals regierenden Herzogs Karl I von Braunschweig gedrungen. In Begleitung seines Bruders Ferdinand, des berühmten Siegers von Krefeld und Minden, ritt der Herzog nach Dibbesdorf, um sich selbst von der Wahrheit des Gerüchtes zu überzeugen. Schon vor der Ankunft der Fürsten verkündete der Klopfgeist auf die Fragen des vor seinem Herrn eingetroffenen Leibhusaren, welche Fürsten ihn aufsuchen, und auf was für Pferden sie zu ihm kommen würden; und ebenso beantwortete er verschiedene Fragen, welche die Herzöge ihm vorlegten, wodurch sein Ruhm noch bedeutend zunahm.
Auf Befehl des Herzogs wurde nun eine neue Untersuchung angestellt, da die erste völlig ergebnislos gewesen war. Es wurde eine Kommission ernannt, der ein Jurist und ein Physiker angehörten. Nach längerer Beratung kam dieselbe zu der sonderbaren Annahme, daß das Klopfen wohl von einer unterirdischen Quelle herrühren möge. Und in der That zeigte sich, als man mit einem Bohrer etwa acht Fuß tief in den Boden eingedrungen war, ein mächtiger Wasserstrahl, der in kurzer Zeit das ganze Zimmer überschwemmte. Allein, als sich das Wasser verlaufen hatte, ertönte das Klopfen von neuem.
Da nun auch diese Annahme sich als falsch herausgestellt hatte, gewann die Ansicht immermehr die Oberhand, daß der ganzen Sache ein arger Betrug oder grober Mutwille zu Grunde liege. Der Verdacht lenkte sich alsbald auf einen Knecht, von dem man glaubte, daß er, um einer der Mägde den Aufenthalt in der Spinnstube zu verleiden und dieselbe aus dem Kreise ihrer Genossinnen zu verbannen, den ganzen Spuk veranlasse. Es wurde deshalb allen Dibbesdorfer Hauswirten befohlen, zu einer bestimmten Stunde alle Knechte und Mägde in den Stuben unter strenger Aufsicht zu halten.
Indessen auch diese Maßregel erwies sich als eitel. Denn als die Kommission zu der verabredeten Stunde sich in dem Kettelhutschen Hause einfand, erklang das Klopfen in derselben Weise wie früher.
Nun richtete sich der Verdacht gegen die Kettelhutschen Eheleute selbst. Zwar ließ sich kaum ein triftiger Grund denken, der dieselben hätte bewegen können, solche Thorheit zu begehen. Denn der Bauer lebte nicht nur in guten Vermögensverhältnissen, sondern er war auch ein in der Gemeinde angesehener und beliebter Mann. Dazu kam, daß er niemals eine Entschädigung, die ihm oft genug von den zahlreichen, zum Teil vornehmen Besuchern angeboten wurde, annahm; vielmehr hatte er nur den größten Schaden von der Sache, da die Ruhe in seinem Hause völlig gestört und er vielfach an der Ausübung seines Gewerbes gehindert wurde. Allein dies beachtete die Kommission nicht, sondern, in ihrem Vorurteile befangen, suchte sie nach Beweisen seiner Schuld. Deshalb forderte sie ein kaum den Kinderschuhen entwachsenes Dienstmädchen, das in dem Kettelhutschen Hause diente, vor und erlangte von demselben durch Drohungen und Versprechungen das Geständnis, daß die Hausfrau die Urheberin des Klopfens sei, das sie durch Treten auf dem Spinnrade bewirke. Und obgleich das Mädchen dieses Geständnis alsbald widerrief und auch die ganze Dorfgemeinde ihre Ueberzeugung von der Schuldlosigkeit der Eheleute öffentlich aussprach, so wurden dieselben dennoch sofort ins Verhör genommen und trotz der Beteurung ihrer Unschuld ins Gefängnis abgeführt mit der Erklärung, daß sie so lange in demselben verbleiben würden, bis sie den Zusammenhang der Sache aufgeklärt hätten.
Da aber der Klopfgeist auch in der Abwesenheit des Hausherrn und der Hausfrau sein Wesen lustig weiter trieb, so mußte man dieselben endlich, nachdem sie beinahe drei Monate im Gefängnis gesessen hatten, wieder frei lassen. Die Kommission berichtete an den Herzog, daß sie zwar alle nur möglichen Wege der Untersuchung eingeschlagen, aber nichts entdeckt hätte, was Licht in dieser Sache gebe, deren Aufklärung der Zukunft vorbehalten sei.
Die Hoffnung, welche die Kommission am Schlusse ihres Berichtes ausgesprochen, ging aber nicht in Erfüllung. Freilich verließ der Klopfgeist, nachdem er vom 2. Dezember 1767 bis zum März 1768, also über drei Monate, in Dibbesdorf geweilt hatte, sein altes Heim, um sich bald darauf in den benachbarten Dörfern Essehof und Lehre von neuem zu zeigen, aber eine Aufklärung der geheimnisvollen Angelegenheit ist niemals erfolgt. Die Bauern, in deren Häusern er jetzt hauste, waren, durch die trüben Erfahrungen, die der Kotsaß Ludwig Kettelhut gemacht hatte, gewitzigt, klug genug, die Sache zu verschweigen, und die Behörde ließ, nachdem das thätigste Mitglied der Kommission inzwischen gestorben war, die Angelegenheit auf sich beruhen.
Indessen mag noch der Umstand erwähnt werden, daß der Knecht, auf den die Kommission schon einmal ihren Verdacht gelenkt hatte, gleichzeitig mit dem Klopfgeist Dibbesdorf verließ und in Essehof und kurze Zeit darauf in Lehre in Dienst trat, ein Umstand, der bei einer späteren Untersuchung, die aber, wie schon erwähnt, nicht angestellt wurde, wohl geeignet gewesen wäre, Licht in das Dunkel zu bringen. O. Hohnstein.
Alpirsbach.
Am 28. und 29. August d. J. feierte das Städtchen Alpirsbach im württembergischen Schwarzwald ein seltenes Fest: den achthundertjährigen Bestand seiner Klosterkirche, eines der ehrwürdigsten Denkmäler deutscher Baukunst. Wohl haben wir gewaltigere Dome, aber sie reichen nicht in dieses graue Alter hinauf; und von den Bauten, die der Alpirsbacher Kirche an Jahrhunderten gleichkommen, sind wenige so unberührt in der Gestalt, die ihre Erbauer ihnen gaben, auf unsere Tage gekommen.
Der Reisende, der von Stuttgart über Freudenstadt in den Schwarzwald fährt, wird zwei Stationen nach diesem Orte vom Anblick des stillen Waldthals überrascht, aus dem die uralte Abtei aufragt, als ob der Strom der Zeit vergessen hätte, sie mitzureißen in den allgemeinen Verfall des Menschenwerkes. Das Kloster freilich mit seinen Zellen und Kreuzgängen ist zerfallen, aber die Kirche stand an ihrem achthundertsten Jubeltage so fest und unversehrt auf ihrem Grunde wie am Tage ihrer ersten Weihe, die nach guter Beglaubigung am 28. August 1098 von dem Bischof Bernhard von Konstanz vollzogen wurde, nachdem am 16. Januar 1095 Kloster und Kirche von drei gemeinsamen Stiftern, darunter einem Zoller, durch feierlichen Akt gestiftet worden waren.
Nicht ganz vier Jahre also hat der Bau gedauert; das läßt für jene Zeit auf eine große Blüte der Baukunst schließen. Man kennt die Urheber derselben: es sind die Benediktinermönche des Klosters Hirsau, die damals unter ihrem großen Abt Wilhelm in Schwaben und ganz Süddeutschland eine Bauthätigkeit eröffneten, wie sie großartiger bis auf unsere Tage nicht wiedergekehrt ist. Zwischen 1070 und 1080 waren in Hirsau selbst die Aureliuskirche und die gewaltige Peter- und Paulskirche errichtet worden; in dasselbe Menschenalter fallen die Bauten zu Zwiefalteu, Lorch, Comburg, Weingarten, Ellwangen etc., lauter große Säulenbasiliken, die aber heute teils verschwunden, teils bis zur Unkenntlichkeit umgebaut sind. Auch die größte derselben, die obenerwähnte Hirsauer Peter- und Paulskirche, deren Dimensionen hernach in diesem ganzen Baugebiet nur vom Ulmer Münster übertroffen wurden, ist fast spurlos vom Erdboden verschwunden; Melac hat sie 1692 in Schutt und Trümmer gelegt. Aber in der Alpirsbacher Kirche ist uns, wie die Kunstforschung
[629][630] dargethan hat, ein getreues, wenn auch kleineres Abbild erhalten und das ist es, was die Abtei von Alpirsbach kunstgeschichtlich so wichtig erscheinen läßt.
Abt Wilhelm starb 1091; er ist also nicht selbst der Baumeister von Alpirsbach, aber daß es ein Werk seiner Schule ist, darf als zweifellos gelten. Wie bei allen diesen Basiliken ist die Grundform die eines Kreuzes; zumeist erheben sich an der Ostseite (Chorseite) zwei hohe Türme; in Alpirsbach ist deren nur einer ausgeführt worden; er ist fünf Stockwerke hoch und beherrscht mit seinen schlanken und doch massigen Formen das Thal. An der Westseite hat die Kirche eine breite, zweistöckige Vorhalle, an welche die drei Langschiffe sich anschließen. Das Mittelschiff ruht auf gewaltigen Säulen aus einem Stein mit einfachen, mächtigen Würfelknäufen; über den verbindenden Bogen erhebt sich das Hochschiff mit hohen, schmalen Fenstern, welche das Innere mit einem feierlichen Licht durchfluten. Der dreifache Chor schließt je mit einem Halbrund, deren mittleres wieder in drei Nischen geteilt ist. Die Seitenschiffe sind gerade halb so hoch, gerade halb so breit als das Mittelschiff; die ganze Länge der Kirche ist gleich ihrer doppelten Breite. Diese schlichten, einfachen Verhältnisse sind charakteristisch für diese Bauart; ihre strenge Gesetzmäßigkeit schließt edlen Wohlklang der Formen ein. Am ursprünglichen, reinen Stil der Kirche ist im Laufe der Jahrhunderte wenig verändert worden; die zweite Blütezeit kirchlicher Baukunst in Schwaben, die von Maulbronn ausging, brachte eine Sakristei im sogenannten Uebergangsstil; zu Ende des 15. Jahrhunderts erhielt der Chor gotische Fenster. Die letztverflossenen Jahrzehnte haben dem Bau eine Restauration des Innern im Sinne einer möglichst treuen Wiederherstellung der ursprünglichen Formen gebracht.
Die Kirche ist auch reich an einzelnen Altertümern, Grabmälern, Inschriften, Chorstühlen: der teilweise erhaltene Hochaltar zeigt noch interessante Bildwerke und Malereien.
In der Vorhalle hat man fossile Ueberreste eines in der Gegend aufgefundenen Mammuts aufgehängt; die Volkssage hat daraus bezeichnenderweise das Gerippe eines Riesenochsens gemacht, der die gewaltigen Steinsäulen der Kirche auf den Bauplatz gezogen habe. Vom Kloster sind noch Teile der Kreuzgänge mit schönen Fenstern und Gewölben vorhanden, auch einige Mönchszellen sind noch erhalten; ein Teil des ehemaligen Konventsaales wurde neuerdings zu einem katholischen Betsaal wiederhergestellt; die meisten Reste der Klosterbauten sind aber jetzt in Privatbesitz und dienen zu Ställen, Remisen und dergleichen.
Das merkwürdigste Denkmal der Kirche ist ein Relief über dem Portal der Vorhalle, das aus der Zeit der Gründung stammt: Christus in der Mandorla (mandelförmiger, den ganzen Körper umgebender Heiligenschein), die von zwei schwebenden Engeln getragen wird; unten zu beiden Seiten knieen ein Stifter und eine Stifterin in Ordenstracht, die man für den Grafen Albert von Zollern und seine Gemahlin hält. – Daß ein Zollerngraf dieses Namens zusammen mit einem Grafen von Sulz und einem Herrn von Hausach das Kloster samt der Kirche gestiftet hat, ist, wie schon erwähnt, urkundlich beglaubigt; man nimmt an, die drei Herren seien Schwäger gewesen und haben Töchter eines Grafen von Calw zu Frauen gehabt; eine Erbschaft von dieser Seite habe sie zu dieser Stiftung verpflichtet. Uebrigens hat die Gründung von Kirchen und Klöstern durch weltliche Herren und Kriegsleute in jener religiös erregten Zeit der Kreuzzüge, in welcher man die Wiederkunft Christi erwartete, nichts Ungewöhnliches. Es ist auch bezeugt, daß jener Graf von Zollern bald nach der Eröffnung des Klosters selbst in dasselbe eintrat und demselben weitere Güter schenkte. Unter den Grabmälern, die noch vorhanden sind, ist eines mit dem Zollernwappen, aber ohne Inschrift; man kann annehmen, es sei das Grabmal des Stifters. – Seit preußische und schwäbische Geschichtsforscher sich mit dem Zusammenhang des Geschlechts der alten schwäbischen Zollerngrafen mit den Nürnberger Burggrafen und dem von ihnen abstammenden preußischen Herrscherhaus beschäftigen, ist natürlich auch auf Alpirsbach als eine der ältesten Stiftungen des Zollernschen Namens ein verstärktes Interesse gelenkt worden. König Friedrich Wilhelm IV hat einen Fonds zur Erhaltung der Klosterkirche gestiftet und im Jahre 1852 von Sigmaringen aus mit seinem Bruder, dem nachmaligen Kaiser Wilhelm I, Alpirsbach besucht. Unvergessen ist auch der Besuch, den der deutsche Kronprinz und nachmalige Kaiser Friedrich im Jahre 1885 Alpirsbach abgestattet hat. Sein Führer, der württembergische Landeskonservator [631] konservator Eduard Paulus, hat darüber in der „Gartenlaube“ berichtet, die schon damals (vergl. Jahrgang 1888, S. 257) die berühmte Benediktinerabtei ihren Lesern im Bilde vorführte. Dort finden die Leser außer einer naturgetreuen äußeren Ansicht auch Einzelheiten aus dem Innern der Kirche, sowie das berühmte Relief über dem Hauptportal abgebildet.
Ueber die Geschichte Alpirsbachs können wir uns kurz fassen; es ist nicht viel davon zu sagen. Das Kloster erfreute sich in seinen Anfangszeiten augenscheinlich eines rasch steigenden Wohlstandes, den es sich auch lange erhielt; aber durch bedeutende geistige Leistungen hat es sich selbst in dieser seiner ersten Blüte nicht hervorgethan, wie dies sonst gerade bei den Benediktinerklöstern der Fall war. Das wird erklärlich, wenn man liest, daß „im Kloster nicht gar ein mönchisch Wesen und Leben gewesen; bloß der Abt, der Prior und etliche Kapläne seien Priester gewesen; das Kloster sei häufig von lebensmüden Adelichen bezogen worden, die haben sich neben dem Gottesdienst mit Baitzen, Jagen und allerlei Waidwerk geübt“. Die Geschichte des Klosters ist demgemäß in den ersten Jahrhunderten ausschließlich beschrieben mit allerlei Streitigkeiten um die Schutzvogtschaft, die von den Grafen von Zollern an die Herzöge von Teck und von diesen an das Haus Württemberg übergeht, bei dem sie schließlich verbleibt. Die Kriege bringen gewaltsame Geldsteuern, Brandschatzungen etc. Auch die Zeit der Reformation giebt kein erfreuliches Bild; zwar ist einer der schwäbischen Reformatoren, Ambrosius Blarer oder Blaurer, aus dem Alpirsbacher Kloster hervorgegangen und hat bei der Ueberführung Alpirsbachs zum Protestantismus eine Rolle gespielt, aber das Ueberlieferte über diese Vorgänge ist nicht erhebend. Das Elend des Dreißigjährigen Krieges traf Alpirsbach so hart als irgend eine andere Stätte der Kultur und Wohlhabenheit in Süddeutschland. Nachdem in der letzten Hälfte des 16. Jahrhunderts das Kloster eine Erziehungsanstalt für protestantische Theologen gewesen, kam es im 17. vorübergehend in die Hände der Jesuiten und dann wieder in die der Benediktiner. Vom westfälischen Frieden ab bis zu Anfang unseres Jahrhunderts gab es protestantische „Aebte“ oder „Prälaten“ von Alpirsbach, aber selbstverständlich ohne Mönche; die Abtstelle war fortan eine Sinekure für ältere württembergische Geistliche; auch der berühmte protestantische Prälat Bengel war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Abt von Alpirsbach, aber, wie es scheint, ohne dort gewohnt zu haben. Zu Anfang dieses Jahrhunderts war das um das Kloster entstandene Städtchen noch Sitz verschiedener Bezirksämter, die es aber der Reihe nach abgeben mußte; dagegen hat sich das freundliche Städtchen neuerdings zu einem beliebten Aufenthalt für Sommerfrischler aufgeschwungen und hat auch eine rege Industrie.
Und nun einiges über das Fest vom 28. und 29. August. Der erste Tag war der kirchlichen Feier gewidmet, der zweite war ein Volksfest. Das Städtchen hatte sich schön geschmückt und auch der Kirche wurde ein modernes Festgewand angelegt. Der Turm bekam seine Fahnen und ins Innere hatte man, ohne das machtvolle Bild altehrwürdiger Baukunst zu stören, den grünen Schmuck und den herrlichen Duft der Schwarzwald-Tannenwälder hereingebracht. Vor- und nachmittags fanden Festgottesdienste statt, in welchen der Ortsgeistliche, der Dekan, der Prälat als Vertreter der Kirchenregierung und des Königs und andere geistliche Redner zu der Festversammlung sprachen. Für Festmahl und Bankett hatte man ein großes luftiges Zelt gebaut.
Am zweiten Tag, am Montag, strömte von allen Seiten, mit den Zügen, in Fuhrwerken und zu Fuß viel festfreudiges Volk zusammen. Da sah man die schönen oder originellen Trachten der näheren und ferneren Schwarzwaldthäler, vor allem die von der Kinzig und aus der Baar: bunte und schwarze Trachten, himmelblaue Röcke, grasgrüne und schillernde Schürzen, silberne und goldene Hauben und Schapeln, helle Strohhüte mit den großen roten Wollrosen, und wieder die schwarze elsässische Schleife und den, Wangen und Ohren und den ganzen Rücken mit breiten schwarzen Seidenbändern bedeckenden Kopfputz der württembergischen Schwarzwälderinnen; die Männer teils im langen dunklen Rock mit rotem oder weißem Futter, silbernen Münzen und Knöpfen am Rock wie am roten „Brusttuch“, die jüngeren in kurzen Joppen und ebenfalls farbigem Kamisol, kurzen Hosen aus Leder oder Sammet, Schnallenschuhen oder Wasserstiefeln. (Siehe die Abbildungen auf S. 631 und 632.) Freilich, mehr und mehr dringt, trotz der Bemühungen, die man gerade im Schwarzwald auf Erhaltung der Trachten richtet, die bequemere und billigere moderne Kleidung auch hier beim Landvolk durch.
Der Hauptanziehungspunkt, der all die Scharen anlockte, war das „Festspiel“, vom Ortsgeistlichen Pfarrer Dessecker gedichtet und eingeübt. Die Scene war der Klosterhof selbst mit dem Blick auf die Klosterreste, auf Vorhalle und Giebelwand der [632] Kirche und die sogenannte Burg, das einstige Wohnhaus des Vogtes. (Vgl. die Abbildung „Eingang zur Klosterkirche“ S. 630.) Das Spiel bestand aus drei Bildern. Im ersten wurde die Gründung des Klosters im Jahre 1095 vorgeführt. Man sah da die drei Stifter, den Grafen Albert von Zollern mit dem Grafen Alwig von Sulz und dem Edelfreien Rotman von Hausen (Hausach an der Kinzig), den Bischof Gebhard von Konstanz, den Abt Udo (Hatto) von St. Blasien mit anderen Aebten und Bernhard von Fluorn, den „freien Mann“, der nach der Rechtssitte der Zeit den Vermittler bei der Stiftung zu spielen hat. Hoch zu Roß reiten diese Herren an; das bäuerliche Element ist vertreten durch den „Hofbauern“ und seine Familie, die als Hörige des Grafen von Zollern gedacht sind. Der Vollzug der Stiftung geht genau in den Formen vor sich, die aus den alten Urkunden und Rechtsbüchern zu entnehmen sind. Das zweite Bild versetzt in die Zeit des Herzogs Ulrich von Württemberg. Im Kloster herrscht Uneinigkeit; die einen sind für die Reformation und die Württembergischen, die anderen für den alten Glauben und für Oesterreich. Der obenerwähnte Blarer tritt als Reformator auf.
Balthasar von Gültlingen kommt als Vollstrecker des herzoglichen Willens mit Waffengewalt und brandschatzt das Kloster. (Es ist dies eine historische Episode, die auch durch ein Gemälde von Prof. Häberlin in der Staatsgalerie in Stuttgart zur Darstellung gelangt ist.) Die Mönche ziehen ab mit einem letzten Sanktus – eine wirkungsvolle Scene. – Das dritte Bild zeigt die Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs und schließt mit einer Dankfeier für den westfälischen Friedensschluß. – Alles war schlicht und kraftvoll gegeben, die Spielenden, lauter Leute von Alpirsbach, waren mit Lust und Begeisterung bei der Sache. Nachdem alles zur höchsten Befriedigung der Zuschauermenge beendet war, formierte sich das ganze Festspiel unter Böllersalven zu einem Festzug. Der Umzug durch die mit Tannengrün, Laubgewinden und zahlreichen Fahnen geschmückten Gassen der Ortschaft (vgl. die Darstellung unseres Zeichners auf S. 629) bot reizende Bilder. Auf dem Platz für das „Volksfest“ löste sich der Zug auf und hier mischte sich alles angesichts des herrlichen Ausblicks auf Kirche und Kloster, Berg und Wald zu einem fröhlichen Durcheinander: die historischen Gestalten des Festspiels, die bunten Volkstrachten und die modernen Städter.
Es war ein kleines bescheidenes Fest, aber gerade weil es über seine natürlichen Verhältnisse nicht hinaus wollte, war es so wohlgelungen und volkstümlich.
Alle Rechte vorbehalten.
Der Blinde von Dausenau.
(Schluß.)
Fräulein Rikchen stand plötzlich auf.
„Da hinten kommen Leute,“ sagte sie. „Ich darf mich hier nicht mit Ihnen sehen lassen, es wird gleich geschwätzt. Wir wollen rasch in den Seitenweg einbiegen, es fängt ohnedies wieder an zu regnen.“
Sie spannte ihr Schirmchen auf und lief mir voran. Als wir wieder nebeneinander hingingen, sagte sie:
„Das war ein schlimmer Abend damals. Als ich geklingelt hatte, kam der Papa selbst und öffnete mir. Sie hatten kein Mädchen. Nur eine alte Frau kam jeden Morgen für die gröbere Arbeit; die holte ihnen auch das Essen. Alles übrige besorgte das Lischen selbst.
„Ich erschrak, als ich den Herrn Sekretär ansah. Er war nicht in seinem ordentlichen grauen Hausrock, sondern in Hemdsärmeln, die Haare, die er sonst immer sehr sorgfältig bürstete, standen ihm wirr um den Kopf, die Augen funkelten ihm wie einer wilden Katze. Auch sagte er nicht wie sonst ganz höflich: Guten Abend, Fräulein Rikchen, sondern knurrte mich fast feindselig an. ,Wie geht’s?‘ fragte ich. ,Ist dem Lischen was zugestoßen?‘ Er antwortete aber nicht, sondern ging mir voran in die Wohnstube. Es brannte noch kein Licht, war aber noch hell genug, daß man sich in die Augen sehen konnte. ,Wo ist Lischen?‘ fragt’ ich. Er blieb immer noch stumm, wies nur mit dem Kopf nach der Thür ihrer Kammer und dann mit der Hand nach dem Tisch, auf dem ein Brief lag. Ich sah, wie er am ganzen Leibe zitterte. ,Soll ich den Brief lesen?‘ fragte ich. Da nickte er nur und lachte ganz ingrimmig und stellte sich, die Hände auf dem Rücken, an den kalten Ofen.
„Nun nahm ich den Brief – was drin stand, ahnte mir schon; daß er von ihm war, konnte ich schon riechen, denn er hatte immer parfümiertes Papier zu seinen Liebesbriefen. Dieser aber war keiner, sondern das Gegenteil. Er schrieb ihr, in seiner schönen Handschrift, die wie gestochen aussah – nun, ich weiß die Worte nicht mehr genau. Der Sinn aber war, es sei ihm ein fürchterlicher Schmerz, aber als Ehrenmann fühle er sich verpflichtet, ihr mitzuteilen, daß er ihr den Verlobungsring zurückschicken müsse. Die Stelle in d:r Hoftheaterkapelle, auf die er gerechnet habe, sei ihm von einem anderen weggeschnappt worden. Seine Aussichten auf die Gründung eines eigenen Herdes seien dadurch auf unbestimmte Zeit zunichte geworden. Als Ehrenmann – das war das dritte Wort – könne er ein geliebtes Mädchen nicht an sein ungewisses Schicksal binden. Sie möge überzeugt sein, das Herz blute ihm, während er dies schreibe, und so schöne hochtrabende Redensarten noch eine halbe Seite lang, und zum Schluß ein Gedicht, das er aus einem Buche abgeschrieben haben mußte, worin von Seelenfreundschaft, ewiger Treue trotz der zeitlichen Trennung und so blümeranten verlogenen Sachen mehr die Rede war.
„Ich war ganz starr, nachdem ich zu Ende gelesen hatte. ,Das arme, arme Lischen!‘ mehr konnte ich nicht vorbringen. ,Die arme Närrin!‘ kam es vom Ofen zurück. ,Hab’ ich’s nicht gleich gedacht? Hat sie auf mich hören wollen? Nun hat sie’s! Aber er – der Schuft, der meineidige Bube –‘ und damit ging er auf den Tisch zu, auf den ich den Brief hatte fallen lassen, nahm ihn und zerriß ihn in hundert Stücke.
,Hat es sie sehr hart angegriffen?‘ fragte ich.
„Er schien es gar nicht zu hören. Er wütete immer vor sich hin, und dabei erfuhr ich, daß vor einigen Tagen der Bräutigam dagewesen war, und das Lischen, mit ganz heiterem Gesicht, hatte ihm erzählt, die Tante Appele sei gestorben, hätte aber ihr ganzes Geld samt Haus und Weingärten der Apolloniuskapelle vermacht – sie wußte nicht einmal, wo die liegt – und ihrer einzigen leiblichen Nichte nur eine alte Korallenschnur und ein Dutzend oft geflickter Hemden. Aber sie habe keinen Kummer darüber. Sie wisse ja, ihr Schorsch denke über reich und arm ganz wie sie selbst und sie würden trotzdem glücklich miteinander sein und den Himmel auf Erden haben.
,Der elende Schuft!‘ knirschte der alte Mann. ,Ich wußte wohl, daß er sich auf die Erbschaft von der bigotten Närrin gespitzt hatte, denn sonst – ein armes Mädchen zu freien, das fällt heut’ keinem dieser windigen Burschen ein, wie ich’s damals
[633][634] mit meiner Seligen gethan habe. Und es wunderte mich auch, daß der niederträchtige Spekulante nicht gleich seine Karten aufdeckte, sondern mit verdrehten Augen beteuerte, er gönne der Tante Appele die ewige Seligkeit, wenn sie sie mit diesem Vermächtnis an die Kirche hätte erkaufen können. Am Ende ist er doch nicht so schlecht, dacht’ ich, wie ich geglaubt habe. Aber er hatte sich nur besser in der Gewalt und nahm sich drei Tage Zeit, den schönen Brief zusammenzuheucheln. Werden Sie aber glauben, Fräulein Rikchen, daß dem dummen Ding auch jetzt noch die Augen nicht aufgegangen sind? ,Sei froh, daß du ihn los bist!‘ sagt’ ich. Aber da wurde sie ganz wild. Ob ich nicht einsähe, daß er als ein Ehrenmann nicht anders hätte handeln können? Und dann, nachdem wir lange hin und her gestritten, ist sie in einen Weinkrampf verfallen, und wie ich sie in die Arme nehmen und ihr gute Worte geben wollte denn sie jammerte mich so bitter, daß ich selbst an zu flennen fing – da hat sie mich zurückgestoßen wie ihren schlimmsten Feind und ist in ihre Kammer gestürzt und hat sich drinnen eingeriegelt.
Ich wußte mir nicht anders zu helfen, als daß ich Sie zu uns bitten ließ. Sie müssen ihr den Kopf zurechtsetzen, auf Sie Wird sie vielleicht hören.‘
„Du meine Güte! Wie sollte ich hoffen, sie zur Vernunft zu bringen, wenn sie nach so einem Brief noch an den ‚Ehrenmann‘ glauben konnte.
„Indessen klopfte der Papa an ihre Kammer. Es rührte sich drinnen aber nichts. ,Fräulein Rikchen ist da!‘ rief er. ‚Laß sie doch herein. Ich gehe noch aus, ich werde euch nicht stören.‘
„Wirklich fuhr er in seinen Rock und schlich sich aus dem Zimmer, kam aber noch einmal zurück, weil er in der Verwirrung mit bloßem Kopf hatte hinausgehen wollen. ,Wenn ich den Kerl treffe!‘ knurrte er vor sich hin. ,Wo ist denn mein Stock? der soll ihn Mores lehren!‘
„Ich hörte ihn die Thür draußen zuschlagen, dann erst klopfte ich bei Lischen an. Sie besann sich eine Weile, bis sie den Riegel zurückschob. Dann fand ich sie in ihren Kleidern auf dem Bett ausgestreckt, das Gesicht aber nach der Wand gekehrt. Ich setzte mich auf den Stuhl neben dem Bett und nahm ihre Hand, die eiskalt war.
„So saß ich wohl eine halbe Stunde und sprach in sie hinein und gab ihr die besten Worte. Sie antwortete aber mit keiner Silbe, nur die Hand ließ sie mir, die zuckte jedesmal, wenn ich von ihrem Schorsch etwas Ehrenrühriges sagte. Darüber wurde es ganz dunkel. Und dann setzte sie sich auf einmal auf, strich sich die Haare aus der Stirn und sagte: ,Du meinst es gut, Rikchen, aber ihr alle versteht mich nicht, und wie es in ihm aussieht, wißt ihr auch nicht. Wenn ich mit dir gut Freund bleiben soll, so rede mir nie mehr von ihm und sag auch dem Papa, er würde mich aus dem Hause treiben, wenn er noch ein einziges böses Wort gegen meinen Georg sagte. So, und nun laß mich allein, ich habe viel zu denken, was kein Mensch verstehen kann. Gute Nacht!‘
„Ich beugte mich über sie, sie zu küssen, aber sie wehrte mich heftig ab. ‚Meine Lippen gehören mir nicht mehr,‘ sagte sie, ,an die darf niemand rühren!‘ – So ging ich mit schwerem Herzen von ihr.
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„Es ist dann aber noch viel schlimmer gekommen, als ich fürchtete.
Wie ich am nächsten Abend wieder nach ihr sehen wollte, fand ich nur den Papa, in einem so bejammernswürdigen Zustande, daß es einen Stein erbarmen mußte. In der Nacht war ein hitziges Fieber bei ihr ausgebrochen, sie hatte laut aus dem Traum geschwätzt, immer die Verse hergesagt, die in dem Brief gestanden hatten, und noch viele andere. Denn das war von klein auf ihre Passion gewesen, schöne Gedichte, mit so recht feierlichen und unverständlichen Worten, und die ihr am besten gefielen, schrieb sie sich in ein Büchlein ab. Dazwischen habe sie gelacht und gesungen, und wie am Morgen der Doktor kam, habe er gesagt, sie hat eine Gehirnentzündung und muß gleich ins Krankenhaus, denn hier hat sie nicht die richtige Pflege.
„Sie können denken, wie mich der arme einsame alte Mann dauerte, der nun zu all seiner Angst und Sorge nicht einmal seine richtige Abwartung hatte. Ich selbst lebe bei einer Verwandten. Da schlug ich dem Papa vor, bis das Lischen aus dem Krankenhaus entlassen würde, wollte ich zu ihm ziehn, daß er nicht so allein sei. Er wollte aber nichts davon hören. Ihm sei am wohlsten allein, und Pflege brauche er nicht, so lange sein Kind zwischen Tod und Leben schwebe.
„Nun, das dauerte lange genug, volle fünf Wochen. Als sie dann endlich so weit war, daß sie wieder nach Hause durfte, war sie kaum zu kennen. Ihre schönen Haare, die ihr bis in die Kniekehlen reichten, hatte man ihr abgeschnitten, sie war wie ihr eigener Schatten geworden, man sah fast die Zähne durch die Oberlippe schimmern. Auch sonst war sie wie ausgetauscht, ganz heiter, nur wie ein Mädchen von zwölf, dreizehn Jahren, immer mit einer Spielerei beschäftigt. Der Arzt versicherte zwar, das sei nur noch eine Schwäche; mit der Zeit werde sie ihre fünf Sinne richtig wieder beisammen haben, wie’s denn auch gekommen ist. Damals aber glaubten wir nicht anders, als daß ihr Verstand für immer gestört sei. Und Sie hätten den Papa sehen sollen, mit welch verzweifelten Blicken er sein Herzblatt anstierte, bis ihm die Augen übergingen. Sie selbst merkte das nicht. Ihre Stelle in dem Achatgeschäft hatte sie freilich verloren, ging auch nie aus, außer wenn ich bei dunkler Zeit sie einmal mit Gewalt ins Freie schleppte.
„Ob ihr Ungetreuer sich noch um sie bekümmerte und am Ende doch sein infames Betragen sich zu Herzen nahm, weiß ich nicht. Im Pavillon saß er nach wie vor mit seinen gesunden Backen und dummen Veilchenaugen an seinem gewohnten Platz. Einmal begegnete ich ihm auf der Straße und spuckte vor ihm aus. Er sah aber über mich weg und that, als kennte er mich gar nicht.
„Und so wäre vielleicht mit der Zeit alles ins alte Geleis gekommen, das Lischen hätte sich wieder zurecht gefunden, und da die Verlobung heimlich gewesen war, wußten auch nur sehr wenige um die traurige Geschichte.
„Da kam plötzlich etwas ganz Unerwartetes dazwischen.
„Es ging schon gegen den Herbst; die meisten Kurgäste waren abgereist. Da sagt mir eines Morgens am Brunnen eine Kollegin: ,Weißt du schon, Rikchen, daß man gestern abend den Vater des Lischens, den alten Sekretär, halbtot in einer Droschke nach Hause gebracht hat? Es scheint, ein Schlag hat ihn gerührt. Man weiß aber nichts Näheres.‘
„Ich natürlich, sobald ich frei war, zum Lischen hin. Den Papa konnt’ ich nicht sehn, der lag in seiner Kammer, und der Doktor war bei ihm. Er lebte noch. Obwohl Lischen mehr von der Geschichte wußte, als sie mir sagen wollte, ein Schlaganfall war’s nicht gewesen. Ueber einem Stuhl im Wohnzimmer und auf dem Tisch ausgebreitet lagen seine Kleider, die waren noch ganz feucht und dazu schmutzig von Erde und Sand. Wie das gekommen, erfuhr ich nicht. Lischen saß wie versteinert auf dem Stuhl neben der Thür und horchte nur immer in die Kammer hinein, und wie dann der Doktor herauskam, schnellte sie in die Höhe und begleitete ihn hinaus. Da sprachen sie lange zusammen, und wie sie wieder hereinkam, sagte sie: ,Er wird am Leben bleiben und sogar bald wieder aufstehen können, aber ein Wunder müsse geschehen, sagt der Doktor, wenn er die Augen wieder gebrauchen könne. Nun, da werde ich eben für ihn arbeiten müssen. Ich habe auch schon zu lange die Hände in den Schoß gelegt.‘
„Sie hatte nämlich, nachdem sie ihre Stelle als Ladnerin verloren, nicht daran gedacht, wo anders unterzukommen. Auch das Spitzenklöppeln hatte sie aufgegeben seit ihrer Krankheit und war immer wie halbwach herumgegangen. Ganz aufgewacht schien sie mir auch jetzt noch nicht. Wie hätte sie sonst von dem Unglück ihres Papas reden können, ohne eine Thräne zu weinen.
„Das alles gab mir zu denken. Aber wie gesagt, von ihr brachte ich nichts weiter heraus. Erst ein paar Tage später erfuhr ich, wie’s damit zugegangen war, nicht von ihr, sondern von einem Kollegen des Schorsch, der von der ganzen Kapelle [635] es noch am meisten mit ihm hielt; denn die anderen mochten ihn nicht.
„Stellen Sie sich vor: an dem Tage, wo das Unglück passierte, waren die beiden Musikanten nach dem Nachmittagskonzert spazieren gegangen, bis Dausenau, und hatten dort in einer Wirtschaft eine Flasche miteinander getrunken. Wie sie nun wieder nach der Stadt zurückgehen und denken an nichts Arges, kommt ihnen auf einmal der Sekretär entgegen. Sie ziehen die Hüte und wollen an ihm vorbei, er bleibt aber stehen und ersucht den schönen Schorsch, seinen verflossenen Schwiegersohn, ganz höflich um eine Unterredung von fünf Minuten. Das konnte der nicht abschlagen, obwohl er sich nichts Gutes von dem knurrigen alten Herrn, den er so schwer gekränkt hatte, versah. Ich geh’ einstweilen langsam voraus, hatte der andere Musikus gesagt; er blies in der Kapelle die Klarinette. Das thut er dann auch und hört noch hinter sich, wie Lischens Vater mit ganz ruhiger Stimme in den Geiger hineinredet und der ihm eben so ruhig antwortet. Auf einmal aber – er war noch keine fünfzig Schritt von den beiden entfernt – hört er den alten Herrn schreien: ,Du Schuft! du Hund! du meineidiger Lump!‘ und kehrt sich um und sieht, wie der Alte den andern an der Brust gepackt hat und ihn schüttelt wie einen Bund Flicken. ‚Mach Reu und Leid,‘ schreit der Alte. ,Du sollst ersticken an deiner Niedertracht, elender Schurke!‘ – und packt ihn immer fester und ringt mit ihm, der so viel größer und jünger war – beiden fallen die Hüte vom Kopf – der Schorsch will sich losreißen, der andere aber hält ihn wie mit eisernen Klammern, und eben da der Klarinettist hinzuspringen und seinem Freunde helfen will, sieht er, wie die beiden, die sich fest ineinander verbissen hatten, über den Rand des Weges den Abhang hinabgleiten, auf dem schlüpfrigen Grasboden ausrutschen und nun ohne Aufhalten zum Fluß hinunterrollen.
„Der Freund ihnen nach und kommt gerade recht, den Geiger an der Schulter zu packen und zu verhindern, daß der Alte ihn mit sich ins Wasser reißt. Wie er aber auch den greifen will, macht sein Kamerad sich eben selbst von ihm los und giebt ihm noch einen Stoß, daß er vollends vom Ufer in den Fluß stürzt. Bloß ein paar Augenblicke sei er unterm Wasser verschwunden, dann wieder aufgetaucht, und jetzt hätten sich die beiden Männer ganz entsetzt bemüht, ihn ans Land zu bringen, er habe sich aber wie ein Besessener gewehrt und immer wieder seinen Feind in den Fluß reißen wollen, niemand hätte so viel Kraft bei dem alten Schreiber gesucht. Endlich sei es wie eine Ohnmacht über ihn gekommen, da habe er die Arme wie gelähmt sinken lassen, die beiden andern konnten ihn vollends aufs Ufer hinaufziehen, und als dann gerade eine leere Kutsche oben auf der Chaussee daher rollte, die von Bad Nassau zurückkehrte, haben sie den bewußtlosen alten Mann in seinen triefenden Kleidern hineingehoben, Schorsch ist zu Fuß nach Ems gegangen, der andere hat den Geretteten in seiner Wohnung abgeliefert.
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„Der Klarinettist war eben gekommen, sich nach dem Zustand des Papas zu erkundigen. Im Auftrag seines Freundes, der sich nicht mehr in Lischens Haus getraute. Mich kannte er als ihre nächste Freundin, also hatte er kein Bedenken, mir den richtigen Hergang zu erzählen. Auch der Tochter hatte er ihn nicht verschwiegen. Und nun erklärte ich mir auch, wie sie so kalt und ungerührt das Unglück des Vaters hinnehmen konnte. Sie war böse auf ihn, weil er den Mann, den sie immer noch liebte, zu morden versucht hatte. Sie hatte nur seinen Freund beschworen, die Sache nicht vor Gericht zu bringen. Der Alte war ja auch gestraft genug; er mußte im Hinunterrollen mit dem Hinterkopf auf einen Stein aufgestoßen sein, das hatte den Sehnerven verletzt, so war für die Augen, die ohnehin schon halbverdunkelt gewesen waren, keine Rettung mehr.
„Herr Georg denke nicht daran, seinen Angreifer zu verklagen, hatte der Freund erwidert. Ihm selbst würde es sehr fatal sein, wenn die Geschichte an die große Glocke käme. Und so nahm er auch mir das Ehrenwort ab, keiner Menschenseele in Ems davon zu reden, bis sich alles verblutet hätte. Sie sind der erste, dem ich’s erzählt habe. Aber Sie reisen ja auch wieder ab.
„Dann ist alles so weitergegangen, wie zu erwarten war. Seine Stelle beim Gericht hat der alte Mann natürlich verloren, da wirklich der letzte Schimmer seiner Sehkraft erloschen war. Von der kleinen Pension konnten zwei Menschen nicht gut leben. Das Lischen sah sich aber sofort nach einem Platz als Verkäuferin um, und da sie so hübsch anzusehen ist mit ihrer sanften Leidensmiene, fand sie auch bald ein Engagement und hoffte, der Papa werde inzwischen, bis sie wieder nach Hause kam, ruhig in seinem Lehnstuhl sitzen bleiben. Da aber kannte sie ihn schlecht. Er hatte noch sein altes hitziges Blut, das durch das Bad im Fluß nicht abgekühlt war. Er bestand darauf, seinem Kinde nicht zur Last zu fallen, sondern im Gegenteil, noch für sie weiterzusorgen, und wenn’s nicht durch Arbeiten geschehen könne, durch Betteln. Eine Schraube war jedenfalls bei dem Sturz in seinem Kopfe losgegangen. Er, der sonst so viel auf seine Ehre hielt, und jetzt den Hut hinhalten nach Almosen! Das Lischen warf sich auf die Kniee vor ihm und beschwor ihn, ihr die Schande nicht anzuthun. Alles umsonst. Er müsse eine anständige Mitgift für sie zusammenbringen, das sei er als Vater ihr schuldig, denn ein armes Mädchen, so schön und brav sie sei, bleibe sitzen, davon habe man Exempel. Und hartnäckig und eigensinnig wie er immer gewesen war, ließ er sich auch nicht ausreden, was er sich vorgenommen hatte. In Dausenau bei einer kleinen Schustersfamilie mußte ihm eine Kammer gemietet werden, die bezog er und nahm nichts mit als ein bißchen Wäsche und den verdorbenen Anzug, in welchem das Unglück geschehen war. Und gleich am Tage nach seinem Einzug stellte er sich an den Weg hin, genau so, wie Sie ihn auch gesehen haben, und sprach seitdem kaum noch das nötigste mit seinen Wirtsleuten oder ein paar Worte mehr mit seiner Tochter, wenn die ihn besuchte.
„Sie können sich vorstellen, wie der zu Mute war. In der Stadt schüttelten die Leute auch die Köpfe, und jeder wußte was anderes zu erzählen, wie der Herr Sekretär so heruntergekommen war. Wenn man das Lischen fragte, sagte sie nur, ihr armer Papa habe einen schweren Fall gethan und dabei das Augenlicht und den Verstand verloren. Sie hoffte noch immer, er werde dies jammervolle Leben satt bekommen. Daß sie ihm an Geld alles schickte, was sie sich selber abdarben konnte, versteht sich. Er nahm es auch in Empfang, that es aber regelmäßig in einen Kasten, zu dem er den Schlüssel bei sich führte, und sagte: ‚Mit der Zeit kommt doch was zusammen.‘ Er meinte, für ihre Aussteuer. Was er für die Miete und sein bißchen Essen brauchte, brachte ihm der Bettel ein.
„Uebrigens glaub’ ich steif und fest, daß er gar nicht unglücklich ist. Wenn man ihn so beobachtet, ohne daß er’s merkt, lacht er manchmal ganz vergnügt vor sich hin, mit einer Art schadenfroher Miene. Ich bin überzeugt, er glaubt, den Menschen, der seine Tochter unglücklich gemacht hat, in den Fluß gestürzt zu haben, so daß er darin ertrunken ist. Der Gedanke, sich an seinem Todfeind gerächt zu haben, füllt sein verwirrtes Gehirn so aus, wie andere das Bewußtsein einer guten That. Wenn er noch zu hören bekäme, Lischen habe einen braven Mann geheiratet, würde er mit keinem Könige tauschen.
„Daran ist nun leider kein Gedanke. Mehr als einer hat sich schon gemeldet, sie weist aber alle so deutlich und kurzangebunden ab, daß sie nicht zum zweitenmal anfragen. Sie selbst haben ja bemerkt, daß sie an ihrer unseligen ersten Liebe noch immer hängt. Manchmal freilich dämmert es auch in ihr auf, daß er doch vielleicht ein erbärmlicher Wicht sein möchte. Dann singt sie das Lied, das Sie damals gehört haben:Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue –
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Wir hatten jetzt die Waldrestauration erreicht. Fräulein Rikchen stand still und sagte: „Bitte, lieber Herr, begleiten Sie mich nicht weiter. Sie wissen schon warum. Ich danke Ihnen, [636] daß Sie sich für meine arme Freundin interessieren und mich so lange angehört haben. Wenn man so traurige Dinge weiß und sie immer geheimhalten muß, ist es eine wahre Wohlthat, sich einmal aussprechen zu können, wo man sicher ist, es wird kein Mißbrauch damit getrieben. Und nun Adieu! Ich werde mit der Drahtseilbahn hinunterfahren. Sie gehen wohl noch ein bißchen spazieren.“
Sie reichte mir die Hand und sputete sich, nach dem Stationshause zu kommen, von wo her schon das Zeichen zur Abfahrt ertönte. Ich selbst ging langsam die weitgeschwungenen Serpentinen des Malbergs hinab, an die seltsame Geschichte denkend, die ich mir eben hatte erzählen lassen.
Daß sie eine Fortsetzung haben könne, hielt ich für sehr unwahrscheinlich. Auch verging der Rest meiner Kurzeit, ohne daß ich mit den Personen, die darin eine Rolle gespielt, noch irgend weiter bekannt geworden wäre. Im nächsten Jahre aber – denn bekanntlich ist die Repetition nicht nur die mater studiorum, sondern auch die Bedingung des Heilerfolges jeder Badekur – wieder um dieselbe frühe Frühlingszeit fand ich mich zum zweitenmal an der Stätte meiner freiwilligen Verbannung ein, und als ich am ersten Abend wieder auf meinem Balkon sitzend und eine einsame Cigarre rauchend die Klänge der Kurkapelle zu mir herüberwehen hörte – es war richtig wieder das Potpourri aus „Fatinitza“! – dachte ich daran, ob ich morgen früh wohl auch wieder den gefährlichen Herzenbrecher seine Bratsche streichen und ein schlankes blasses Mädchen zu ihm hinaufschmachten sehen würde.
In dieser Erwartung fand ich mich getäuscht. Der Choral wurde angestimmt ohne Mitwirkung des schönen Schorsch, und den Platz auf der Bank, wo Lischen gesessen, hatte eine dicke, rotwangige, mit vielen Ringen geschmückte Jüdin eingenommen, die in allem das Widerspiel des verlassenen Emser Mägdleins war.
Auch nach Fräulein Rikchen spähte ich unter der Schar der Brunnennymphen vergebens, und da der Blinde von Dausenau sich in seinem stumpfsinnigen Schweigen verstockte, war auch keine Aussicht, von ihm über seine blasse Tochter etwas Näheres zu erfahren.
Ich wollte aber doch einen Versuch machen, ob ich ihm vielleicht die Zunge lösen könne, wenn ich ihn geradezu nach dem Befinden von Fräulein Lischen befragte. Die Ueberraschung, jemand vor sich zu haben, der in das Familiengeheimnis eingeweiht sei, konnte ihm immerhin eine Antwort ablocken.
So schlug ich am ersten sonnenlosen Tage den Weg lahnaufwärts ein. Als ich zu der Stelle kam, wo die Straße ein Knie macht und nun in gerader Richtung nach dem kleinen Flecken hinläuft, sah ich nicht weit von mir eine kleine runde Frauengestalt eilfertig dahinstapfen, deren Bewegungen, mehr noch der schwarze Strohhut mit dem Strauß roter Mohnblumen mich sofort an meine gute Bekannte vom vorigen Jahre erinnerte.
Ich hatte sie trotz ihres Geschwindschritts bald eingeholt.
„Guten Abend, Fräulein Rikchen!“ rief ich, noch einige Schritte hinter ihr. Augenblicklich wandte sie sich um und kehrte mir ihr rundes, munteres Gesicht zu, jetzt vom schnellen Gehen und der Ueberraschung, sich angerufen zu hören, ein wenig gerötet.
„Jesus Maria!“ sagte sie, mir die Hand hinstreckend, „Sie sind es! Nein so was! Eben hab’ ich an Sie gedacht und was Sie wohl sagen würden, wenn Sie wüßten –“
„Das trifft sich ja vortrefflich,“ erwiderte ich, „denn auch ich wollte eben versuchen, ob ich Ihre Spuren nicht wieder entdecken möchte, und deshalb sogar mit dem blinden Papa ein kleines Verhör anstellen. Beim Brunnen hab’ ich mich vergebens nach Ihnen umgesehen, Fräulein Rikchen.“
„Nix Fräulein mehr,“ lachte sie; „das lauwarme Wasser habe ich inzwischen mit kühlem Wein vertauscht. Sie müssen nämlich wissen, vergangene Michaelis habe ich geheiratet, einen Weinhändlerssohn von hier, der Vater hat ihm das Geschäft übergeben, unser Häuschen steht – (sie nannte mir Straße und Hausnummer). Wir leben sehr glücklich miteinander, und daß er früher in das Lischen verliebt war, bis sie ihm einen Korb gegeben hat, nehm’ ich ihm gar nicht übel. Im Gegenteil, wir können nun beide von ihr sprechen. Gerad’ an dem Tag, wo ich Ihnen vorm Jahr zuerst begegnet bin, in dem Wirtsgarten vor Dausenau, hat sie ihm das letzte Wort gesagt und ihm jede Hoffnung abgeschnitten. Mich dauerte der hübsche brave Mensch, wie er so betrübt abzog, aber jetzt bin ich doch froh, daß es so gekommen ist, ich wäre jetzt nicht seine Frau, und für sie hätte er doch nicht so gut gepaßt, er wäre ihr nicht ,poetisch‘ genug gewesen.“
„Wie geht es denn Ihrer armen Freundin?“ fragte ich, indem wir nun nebeneinander unseren Weg fortsetzten.
Sie blieb plötzlich wieder stehen und sah mich erstaunt an.
„Aber wissen Sie denn gar nicht –?“ rief sie mit einem Seufzer. „Freilich, wie sollten Sie’s erfahren haben! Es stand wohl in unserer Zeitung, die kommt aber nicht so weit herum. Ach, das arme Lischen! Vielleicht wäre doch alles anders gekommen, wenn sie damals meinen Fritz genommen hätte. Aber nein, es war ihr ja an der Wiege gesungen, daß sie nicht glücklich werden sollte. Gerade die Besten gehen oft leer aus, und die Wege der Vorsehung sind dunkel. Ich werde immer ganz wirr in meinen Gedanken, wenn ich mir einen Vers drüber machen will, warum es nicht nach der Gerechtigkeit auf Erden zugeht, und Fritz schilt mich dann und sagt, über so was nachzugrübeln, mache vor der Zeit alt, das müsse man unserm Herrgott überlassen. Lischen war besser als ich, die nahm alles, was ihr bestimmt war, ohne Murren hin, und wenn sie zehnmal betrogen worden wäre, ihren Leibspruch hätte sie nicht aufgegeben, nämlich den Vers:Die Treue ist doch kein leerer Wahn,
Der Mensch kann sie üben im Leben –
„Ihre Freundin ist tot? Erzählen Sie mir, bitte, Frau Rikchen – Sie wissen, wie großen Anteil ich an Ihrer armen Freundin genommen habe.“
„Ich hätte es Ihnen gern geschrieben, lieber Herr, ich wußte ja Ihren Namen nicht und Ihre Adresse. Und Sie waren schon abgereist, als es sich zutrug, kaum vierzehn Tage, nachdem ich Ihnen zum letztenmal Ihr Glas Kesselbrunnen gefüllt hatte. Da geh’ ich eines Nachmittags – es war gerade Feiertag und das Geschäft, in dem Lischen verkaufte, geschlossen – sie hatte mich abgeholt, wir wollten einen kleinen Spaziergang machen – also gehen wir untergefaßt durch die Anlagen und freuen uns an den schönen Blumen, und ich mach’ allerlei Spaß, daß sie wirklich einmal lacht – auf einmal fühl’ ich, daß es ihr durch den Arm zuckt, und sie drückt sich an mich, um sich vorm Umfallen zu schützen, und flüstert mir zu: ,Fort! Nur dort hinein!‘ und will mich nach links in eine dunkle Allee ziehen. ,Was hast du, Schatz?‘ frag’ ich ganz erstaunt. Mit dem aber seh’ ich selbst, was sie hatte: den Weg daher, gerade auf uns zu, kommt er, ganz in Wichs mit einer hellen Krawatte und den blanken Cylinder ein bißchen verwogen auf die eine Seite gedrückt. Und am Arm führt er eine gleichfalls aufgedonnerte Dame mit einem Gesicht wie seins, schön rot und weiß und dieselben kalten, hochmütigen Augen. Es war zu spät, ihnen auszuweichen, auch hätt’ ich mich geschämt, davonzulaufen wie zwei arme Sünderinnen, als wäre das böse Gewissen auf unserer Seite. ,Sei tapfer, Schatz!‘ raun’ ich dem Lischen zu und ziehe sie möglichst unbefangen vorwärts an dem Paar vorüber. Er sieht nach der andern Seite und wird ganz blaß im Gesicht, sie aber schaut nach dem Lischen ganz frech und höhnisch und sagt dann ihrem Bräutigam etwas, was ich nicht verstand. Denn ihr Bräutigam war’s, erst seit kurzer Zeit, aber die ganze Stadt wußt’ es, bis auf meine arme Freundin. Ich hatte immer auf eine gute Gelegenheit gewartet, es ihr mitzuteilen; nun war sie so damit überrumpelt worden.
„Als wir wieder allein waren, führte ich sie zu einer Bank, und da sprach ich lange mit ihr, und sie sagte kein Wort; ich wunderte mich, daß sie es nach dem ersten Schrecken so ruhig hinnahm. Die Braut nämlich war eine Witwe so in der Mitte der dreißiger, eine vom Lande, die einen reichen alten Mann geheiratet und nach ein paar Jahren glücklich zu Tode gequält hatte. Seitdem hatte sie für sich gelebt, in Niederlahnstein, ihr Ruf war nicht der beste, das kümmerte sie aber nicht, da sie Geld genug hatte und sich für sehr reizend hielt.
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„Wie der schöne Schorsch mit ihr bekannt geworden war, weiß ich nicht. Genug, sie vernarrte sich in ihn, und es wurde bald richtig zwischen den beiden. Auch sollte rasch geheiratet werden. ,Du siehst nun endlich,‘ sagte ich zu meiner Frenndin, ,was für ein Mensch dein Ungetreuer ist; hängt sich an so eine, bloß des lieben Geldes wegen. Denn sie ist älter als er und muß sich schon pudern und schminken, um noch zu gefallen, und was man von ihrem Lebenswandel sagt, müßte einen rechtschaffenen Mann von ihr abschrecken. Na, es ist nichts an ihm verloren. Du aber – dein armes getreues Herzchen wird hoffentlich nun endlich zur Ruhe kommen.‘
‚Ja,‘ sagte sie, und nickte ganz nachdenklich vor sich hin, ,das hoff’ ich auch. Ich will nun aber nach Hause, die Lust zum Spazierengehen ist mir verflogen. Ich muß zur Ruhe kommen, ich habe einen Schmerz im Kopf und am Herzen, der wird immer ärger, wenn ich mich nicht ganz still halte.‘
„Also standen wir auf, und ich begleitete sie nach ihrer Wohnung und redete ihr immer eifrig zu, daß sie sich’s nicht zu Herzen nehmen, sondern jetzt ein neues Leben anfangen sollte. ,Du hast recht,‘ sagte sie, ,mit dem alten Leben bin ich fertig, das war traurig genug. Aber wenn ich hier bleibe – nein, da kann ich nicht zur Ruhe kommen. Ich hab’ schon früher gedacht, ich sollt’ verreisen. Wenn’s nicht um den armen Papa gewesen wäre, hätt’ ich’s schon gethan, weit weit weg. Aber wer soll nach ihm sehen, wenn ich nicht mehr da bin?‘
„Das alles ganz verständig und ohne die geringste Aufregung, aus der ich Verdacht hätte schöpfen können.
„Ich sagte ihr, ich fände ihren Entschluß sehr gescheit, am liebsten würde ich sie begleiten, ich müßt’ aber die Saison erst abwarten. Indessen wollt’ ich statt ihrer mich um den blinden Vater bekümmern, daß ihm nichts geschehen sollte, auch wenn sie fern wäre.
„Da drückte sie mir die Hand und sagte, sie danke mir, ich sei die einzige getreue Seele, die sie auf der Welt habe, Gott werde mir’s einmal lohnen.
„Unter solchen Reden kamen wir in ihre Wohnung, eine einzelne Stube im dritten Stock eines Hinterhauses, die ihr eine gute Frau vermietet hatte. Ich fragte sie, ob ich gehen und sie allein lassen sollte. Sie bestand aber darauf, ich müßte bleiben und Thee mit ihr trinken, es sei ihr so unheimlich in dem schwülen Käfig, obwohl sie das Fenster aufgemacht hatte, so daß die Abendluft hereinwehte. Ich mußte mich auf das Sofa setzen – sie hatte noch ihre alten Möbel, so viel sie in dem einen Zimmer hatte stellen können – dann machte sie mir Thee, trank auch selbst eine halbe Tasse, setzte sich aber nicht zu mir, sondern ging beständig hin und her, wie eine ruhelose arme Seele im Fegefeuer. Denn daß sie Qualen litt, konnt’ ich deutlich sehen, trotz ihres stillen Gesichts und der weisen Sprüche, die sie von Zeit zu Zeit von sich gab, fast lauter Verse, die sie einmal gelesen hatte. Manches klang ganz unsinnig, fast wie wenn jemand aus dem Fieber spricht, ich ließ sie aber reden, denn ich merkte, daß es ihr das Herz erleichterte, und es war auch lieblich anzuhören, wie sie’s mit ihrer leisen Stimme so vor sich hin sagte, halb wie gesungen.
Darüber wurde es immer dunkler, sie zündete aber kein Licht an, vielmehr stellte sie sich ans Fenster und sagte: ,Sieh nur, wie hell es da oben ist, die Sterne kommen heraus, da ist alles so heiter und reinlich, und wenn ich in den Hof hinuntersehe, ist’s wie in einem dunklen, schmutzigen Brunnen, daß einem eine Gänshaut über den Rücken läuft. Aber gleichviel, ich darf mich nicht beklagen,Ich habe genossen das irdische Glück,
Ich habe gelebt und geliebet!
„Armes Herz! dacht’ ich bei mir selbst, was hast du denn vom irdischen Glück genossen? – Ich mußte aber fort und fragte nur noch, ob ich nicht später wiederkommen und die Nacht bei ihr zubringen sollte. Das wollte sie durchaus nicht erlauben, umarmte mich und sagte, das mit dem Abreisen wolle sie sich noch überlegen, ich erführe jedenfalls, was sie beschlossen habe. Als ich dann schon aus der Thür war, rief sie mich noch einmal zurück und gab mir hastig die Photographie von ihrem Ungetreuen, die immer auf ihrer Kommode gestanden hatte. ,Du kannst sie verbrennen,‘ sagte sie, ,er gehört jetzt einer anderen, [638] und ich habe kein Recht mehr an ihn. Und da sind auch die beiden Ringe‘ – sie hatte sie noch immer getragen, wie eine Witwe – ,die verkaufe und gieb das Geld den Armen. Und nun – Gute Nacht, und vergiß nicht, was du mir wegen dem Papa versprochen hast.‘
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„So ging ich von ihr. Sie werden mich für sehr dumm halten, daß mir gar nichts Unheimliches ahnte. Aber wenn Sie sie gehört hätten – sie sprach so ruhig, als sie mir die Sachen gab, wie wenn nun wirklich alles aus und zu Ende wäre.
„Ach Gott, es war ja auch zu Ende! Am anderen Morgen, als die Magd des Hausherrn in den Hof kam, fand sie das arme Ding auf dem Pflaster liegen mit zerschmettertem Kopf.
„Sehen Sie, lieber Herr, das war die Reise gewesen, von der sie gesprochen hatte, und nun war sie schon an dem Ziel angekommen, wo sie Ruhe zu finden hoffte.
„Es hat aber kein Mensch geahnt, daß sie es mit Absicht so gemacht hatte. Sie war immer sehr fromm gewesen und hatte mir mehr als einmal gesagt, kein Gedanke sei ihr so schrecklich, wie in ungeweihter Erde zu ruhen und kein kirchliches Begräbnis zu erhalten. Daß sie eine große Sünde that, indem sie sich selbst das arme, trübselige Lebenslicht ausblies, darüber brachte sie ihr verzweifelter Gram hinweg. Und sie hat es ganz listig angefangen, auch die anderen zu täuschen. Die Frau, bei der sie wohnte, erzählte, sie sei noch spät zu ihr gekommen, sich ihre krampfstillenden Tropfen auszubitten, es sei ihr so beklommen und schwindlig. Da habe sie sich wahrscheinlich, als sie nicht einschlafen konnte, ans offene Fenster gestellt, um Luft zu schöpfen, und habe das Gleichgewicht verloren und sei hinuntergestürzt.
„Daß es ein bißchen anders dabei zugegangen, reimte sich außer mir wohl noch ein anderer zusammen, der aber hütete sich, auch nur ihren Namen in den Mund zu nehmen.
„So wurde sie denn kirchlich begraben, und es war eine sehr schöne Leich’, und halb Ems folgte ihrem Sarge, bloß einer fehlte, den es am nächsten angegangen hätte, der blinde Papa. Ich war gleich auf die Polizei gelaufen und hatte die Herren himmelhoch gebeten, dem alten Manne das Herzweh zu ersparen, das ihn unfehlbar umbringen mußte. Sie wollten erst nicht, da es ungesetzlich war. Ich stellte ihnen aber vor, es sei noch ungesetzlicher, einem armen Blinden den letzten Faden zu durchschneiden, mit dem er noch am Leben hing, und dann sagt’ ich, er sei ja überhaupt nicht zurechnungsfähig und so ein halber Trottel könne nicht wie ein gesunder Mensch behandelt werden.
„Das schlug endlich durch. Bis an diesen Tag weiß der Alte nicht, daß seine Tochter längst unter dem Rasen liegt.
„Am Sonntag nach ihrem Begräbnis bin ich zu ihm hinausgegangen. Ich hatt’ mir ein Geschichtchen ausgedacht, das ich ihm erzählen wollte, damit er nicht stutzig würde, wenn sie nicht mehr kam. Es ist mir sauer genug geworden, es ohne zu schluchzen vorzubringen. Eine Dame aus Frankfurt a. M., die in dem Laden was eingekauft, habe so großes Gefallen an ihr gefunden, daß sie sie mit nach Hause nehmen wollte, um ihre Kinder zu erziehen. Es sei eine reiche Familie, und sie kriege einen sehr guten Lohn, und deshalb habe der Prinzipal auch eingewilligt, sie auf dem Fleck zu entlassen, um ihrem Glück nicht im Wege zu stehen. Denn sie habe schon am nächsten Morgen mit der neuen Herrschaft abreisen müssen und daher nicht mehr von dem Papa Abschied nehmen können, schicke ihm nur noch einen herzlichen Gruß und werde bald an ihn schreiben.
„Der Alte schien sehr vergnügt, daß es seiner Tochter so gut ginge, und hatte auch keinen Verdacht bei der plötzlichen Abreise. Nach vierzehn Tagen kam ich dann wieder zu ihm und las ihm einen Brief vor, den ich selbst verfaßt hatte, worin das Leben in dem Frankfurter Hause und die Familie selbst, Eltern und Kinder, genau beschrieben waren. Auch darüber war er sehr froh und trug mir wieder Grüße an das Lischen auf. Sogar Geld konnte ich ihm noch von Zeit zu Zeit schicken, angeblich von ihrem ersparten Lohn. Es kam aber von dem Erlös ihrer Möbel und Siebensachen und wird noch eine Weile reichen.
„Seit ich nun verheiratet bin, komme ich nur noch unter der Woche hinaus, am Sonntag machen wir einen Ausflug oder Spaziergang, darauf hält mein Fritz. Manchmal vergehen drei Wochen, bis ich die Zeit finde, aber der Alte denkt sich nichts dabei, als daß seine Tochter eben nicht früher geschrieben habe. So will ich auch jetzt einmal wieder nach ihm sehen, und Sie können ihn beobachten, wie gläubig und zufrieden er meine unschuldige Flunkerei hinnimmt.
„Sehen Sie ihn da stehen, immer an demselben Fleck, an seinen Meilenstein gelehnt? Er hat jetzt einen besseren Rock, der alte fiel in Fetzen. Ich habe ihm gesagt, das Lischen bestehe darauf, daß er sich anständiger kleide, und alles, was von ihr kommt, ist ihm heilig.“
Wir waren jetzt nahe zu dem Blinden herangekommen. Er hatte sich seit vorigem Jahr wenig verändert, das Haar war nur noch grauer, die Furchen unter den Augen und am Munde etwas schärfer geworden.
„Guten Abend, Herr Sekretär!“ sagte meine Begleiterin. „Wie ist’s Ihnen ergangen seit dem letzten Mal? Immer noch das böse Reißen in den Beinen? Sie sollten doch den Doktor befragen und vor allem einmal eine Woche zu Hause bleiben im warmen Bett.“
Der alte Mann zog die Brauen finster zusammen und schüttelte den Kopf. Noch auf einige andere freundliche Reden gab er nur mit ärgerlichem Knurren Antwort, sein Gesicht erheiterte sich erst, als Frau Rikchen ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche zog und ihm daraus vorlas, was angeblich sein Kind geschrieben hatte: es gehe ihr immer gleich gut, sie lasse den Papa grüßen und hoffe, ihn auch einmal besuchen zu können. Jetzt lasse ihre Herrschaft sie noch nicht fort, die Kinder hingen so an ihr.
Der Alte lachte mit einem seltsamen Ausdruck vor sich hin, wie wenn er sagen wollte: Kein Wunder! An meinem Lischen hängen alle guten Menschen! – dann streckte er die Hand nach dem Papier aus, befühlte es von allen Seiten und drückte es endlich an den Mund.
Die junge Frau wischte sich die Augen und nickte mir zu. „Da ist ein Herr mit mir gekommen,“ sagte sie, „der hat Ihre Tochter in Frankfurt kennengelernt, Herr Sekretär, und sie hat ihm noch mündliche Grüße an Sie aufgetragen. Nicht wahr, Herr?“
Sie machte mir Zeichen, daß ich nicht stumm bleiben solle. „Ja, Herr Sekretär,“ sagte ich etwas beklommen, „ich kann alles bestätigen. Ihre Tochter ist wohl aufgehoben, da, wo sie ist, es kann ihr nichts Böses geschehen, und gewiß denkt sie an ihren lieben alten Vater und würde ihn gern besuchen, wenn man sie fortließe. Sie können ihretwegen ganz ruhig sein.“
Der Alte grinste wieder, bewegte mühsam den breiten Mund mit der hängenden Unterlippe und sagte mit einer rauhen, ganz eingerosteten Stimme: „Danke! danke schön!“ Dann verfiel er wieder in sein stumpfes Brüten.
Wir nahmen Abschied von ihm, und wie wir eine Strecke weit von ihm entfernt waren, sagte die junge Frau: „Wird uns unser Herrgott die Lüge nicht verzeihen, die den armen Alten nun wieder auf vierzehn Tage glücklich macht? Glücklicher gewiß als den schlechten Menschen, der ihn um sein Kind gebracht hat, die harten Thaler seiner Frau. Sie müssen wissen, das Ehepaar hat sich in Ems niederlassen wollen, aber niemand ging mit ihnen um, man verachtete ihn zu sehr, da doch nach und nach seine Schurkerei gegen das Lischen unter die Leute kam. Dann verzogen sie noch vor Schluß der Saison nach Wiesbaden; auch dahin folgte ihnen der schlechte Leumund, und um Weihnachten hört’ ich, sie seien übers Meer gezogen, nach Amerika. Aber seiner Strafe konnte er doch nicht entfliehen, die zog mit ihm, in Gestalt seines Weibes, das ihn quält mit ihrem Geiz und ihm aus Eifersucht die Hölle auf Erden schafft. O, das Lischen hatte einen prophetischen Geist! Entsinnen Sie sich noch ihres Liedes, worin es immer hieß:
Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue,
Wenn ich lange, lang’ schon nicht mehr bin!
Das ist nun früher, als sie dachte, in Erfüllung gegangen!“
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Alle Rechte vorbehalten.
Der Nordsee-Hummer.
Wer einmal in der glücklichen Lage gewesen ist, zur Sommerszeit auf einem der eleganten Hamburger Salondampfer die kurze aber herrliche Seereise nach Helgoland zu machen, wird während seines Aufenthaltes auf dem kleinen roten Felseneiland wohl schwerlich die Gelegenheit haben vorüber gehen lassen, die größte Delikatesse, welche die Insel bietet, einen frisch gekochten Hummer, einer gründlichen gastronomischen Prüfung zu unterziehen. – Der Binnenländer dürfte vielleicht erst bei dieser Gelegenheit erfahren haben, daß an unsern Küsten und in den deutschen Meeren der Hummer nicht weiter vorkommt, und der Meeresgrund in der Umgebung Helgolands sowie einiger kleinen Stellen nördlich davon bis zur jütischen Küste die einzige Stätte ist, wo dieser äußerst schmackhafte Kruster in größerer Anzahl gefangen wird. So bekannt und auf jeder Tafel beliebt nun auch der im Alter höchst mürrische und einsiedlerisch veranlagte Geselle ist, so hat man doch bis vor nicht langer Zeit von seiner Naturgeschichte, seiner Lebensweise und Fortpflanzung herzlich wenig gewußt. Als nach der Einverleibung Helgolands in das Deutsche Reich auf der Insel von Preußen im Jahre 1892 eine Biologische Station gegründet wurde, gingen darum deutsche Naturforscher eifrig ans Werk, in jenes dunkle Gebiet Licht zu bringen. Ihre Untersuchungen sind bereits von schönen Erfolgen gekrönt worden, die zum Teil in den „Mitteilungen des deutschen Seefischereivereins“ veröffentlicht wurden. Aber auch von anderer Seite, von Norwegen, England, namentlich von den Küsten Nordamerikas, wo der Hummer noch am zahlreichsten vorkommt, sind in den letzten Jahren mancherlei Beiträge zur näheren Kenntnis des Hummers eingelaufen, in jüngster Zeit hauptsächlich von Dr. Francis H. Herrick vom Adalbert College in Cleveland, Ohio, dessen Beobachtungen in den meisten Punkten auch mit denen über unsern europäischen Hummer übereinstimmen. – Es dürfte wohl einen größern Leserkreis interessieren, einen kurzen Ueberblick über diese neuesten Forschungen zu erhalten und auch etwas über den Fang und die Aufbewahrung des versandfähigen Hummers zu erfahren.
Zunächst mag, entgegen der bisherigen Ansicht der Fischer, hervorgehoben werden, daß der Hummer ein Standtier ist und größere Wanderungen, wie solche bei vielen Fischarten üblich sind, nicht unternimmt. Nur die Larven schwimmen frei umher; das ausgebildete Tier bewegt sich langsam auf dem Meeresgrunde; sollten es wirklich einige Stöße der Hinterleibsfüße oder des Hinterkörpers auf kurze Zeit emporheben, so sinkt es doch sehr bald wieder auf den Boden zurück. Bisweilen findet wohl eine Art Schwärmen einer größeren Anzahl Tiere statt, das aber durch Temperaturverhältnisse oder durch Suche nach Nahrung, falls die bisherigen Weideplätze erschöpft sind, bedingt ist und mit eigentlicher Wanderung nichts zu thun hat. Der Hummer liebt in der wärmeren Jahreszeit flachgründigen, einige Faden tiefen, felsigen Boden, wie ihn die nähere Umgebung von Helgoland in reichem Maße bietet. Er hält sich tagüber meist zwischen Steinen und Meerespflanzen verborgen und geht zur Nachtzeit auf Nahrungssuche nach andern kleinen Krustern und Muscheltieren, die er mit den starken, hornartigen, braunen Zähnen, mit denen sein Magen besetzt ist, zermalmt. Mit Vorliebe frißt er auch tote, angefaulte Fische. Alle unverdaulichen Nahrungsbestandteile werden durch die Mundöffnung wieder entleert. Zum Beginn der Winterszeit sucht er wohl tieferes, wärmeres Wasser auf mit schlickigem, weichem Boden, in den er sich mit Hilfe seiner großen Scheren und seiner Schwanzflosse rückwärts hineinbewegt und mehr oder weniger tief eingräbt, um in eine Art Winterschlaf zu verfallen, während dessen er keine Nahrung aufnimmt. Dieser Zustand der Erstarrung tritt bei dem Hummer auch in der Gefangenschaft ein.
Die Ablage der schwärzlich gefärbten, kaviarähnlichen Eier erfolgt hauptsächlich in den Sommermonaten (bei Helgoland von Mitte Juli bis Mitte September), und zwar derartig, daß sie mit einer klebrigen Substanz an den Hinterfüßen des Weibchens befestigt werden. Sie sind also bis zum Ausschlüpfen der Larven fortwährend von frischem Wasser umspült. Die Zahl der abgelegten Eier ist nach der Größe und dem Alter des Weibchens verschieden; sie beträgt nach Ehrenbaum für einen einpfündigen Helgoländer Hummer 8000 bis 10000, für einen zweipfündigen 15 000 bis 18 000 und steigert sich bei einem vierpfündigen auf 30 000 bis 36 000. Diese verhältnismäßig große Anzahl verliert aber sehr an Bedeutung, wenn man bedenkt, daß die Eierablage nicht jährlich, sondern wahrscheinlich nur alle 4 Jahre erfolgt und die später ausschlüpfenden Larven vielen Gefahren ausgesetzt sind, so daß nach Herrick von 10000 Larven kaum 2 groß werden dürften. Die Inkubationsdauer, d. h. die Zeit, während der die Eier vom Weibchen getragen werden, bis zum Ausschlüpfen der Larven, beträgt in der Regel 11 Monate. Eine merkwürdige Erscheinung sind die sogenannten schwarzen Hummern. Während der Gefangenschaft, wo die Tiere in größerer Anzahl in schwimmenden Kästen gehalten werden, kommt es nämlich selten zu einer Eiablage; die bereits gebildeten Dottermassen werden von dem Körper wieder aufgesogen und färben das Blut eine Zeit lang grünlichschwarz. Solche Hummern sind nach dem Kochen sehr unansehnlich und darum meist unverkäuflich, wenn auch von Feinschmeckern behauptet wird, daß dieselben gerade durch das Zurücktreten der Dottermassen ins Blut sehr wohlschmeckend seien.
Die kleinen Larven haben nach dem Verlassen des Eies eine dem ausgebildeten Tier sehr unähnliche Gestalt (vgl. die untenstehende Abbildung) und Lebensweise. Sie schwimmen frei an der Wasseroberfläche umher und sind den mannigfaltigsten Nachstellungen ausgesetzt. Gleich nach dem Ausschlüpfen machen sie eine Häutung durch, ein Vorgang, der sich bis zu einem Alter von 6 bis 8 Wochen fünf- bis sechsmal wiederholt. Dann hat der junge 13 bis 16 mm lange Hummer die Gestalt der alten erhalten und schwimmt nicht mehr frei umher, sondern sucht den Meeresboden auf. Der Häutungsprozeß wiederholt sich im ersten Jahre noch viele Male, läßt dann aber mit zunehmendem Alter nach; ganz alte Hummern, die ein Alter von 20 bis 30 Jahren erreichen und bis 1/2 m lang werden können, häuten sich wahrscheinlich überhaupt nicht mehr, ihre Schalen sind mit Seepocken, Seerosen, Röhrenwürmern und Algen dicht bewachsen.
Regelmäßig tritt die Häutung nach erfolgter Eiablage ein. Die alte Schale wird durch Aufsaugen der organischen Substanz von seiten des Körpers hart und brüchig und als Ganzes abgeworfen; nur die Verbindungsstelle des Kopfbruststückes mit dem Schwanze reißt ein, um dem ausschlüpfenden Tiere den Weg zu bahnen. Selbst die Gliedmaßen, die großen Scheren und die Beine zwängen sich infolge Zurückziehens des Blutes und vermöge ihrer Elasticität durch die engen Stellen der alten Schale hindurch.Kurze Zeit vor der Häutung werden die auf der Unterseite des Kopfbruststückes zusammenstoßenden Ränder des Panzers weich. Der Helgoländer weiß [640] dies und sondert solche in den schwimmenden Hummerkästen in Gefangenschaft gehaltenen Tiere schleunigst von den andern. Andernfalls würde der arme frisch gehäutete und noch weiche Geselle einfach von seinen eigenen raubgierigen Genossen aufgefressen werden. Verschmäht doch der gehäutete Hummer nicht, selbst Teile seines eigenen abgeworfenen Panzers zu verzehren. Die neue, anfangs noch recht weiche und empfindliche Schale erhärtet nur sehr langsam, und es vergehen nach Herrick 6 bis 8, ja 10 bis 12 Wochen, bis der Hummer wieder verkaufsfähig geworden ist.
Während der Zeit des Erhärtens vollzieht sich auch das Längenwachstum des Hummers. Es ist immer nur verhältnismäßig gering, doch in der Jugend größer als im Alter; ein Tier von 25 cm Länge hat sich etwa 25 mal gehäutet. Beispielsweise betrug die Länge eines Hummers vor der Häutung 19,1 cm, nach derselben 22,3 cm, also Zunahme 3,2 cm, während ein 37,5 cm langer Hummer nach der Häutung nur 1,5 cm gewachsen war. Das Wachstum scheint mit dem Aelterwerden sich mehr auf stärkere Ausbildung der Scheren zu beschränken.
Eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit des Hummers mag noch erwähnt sein: die Fähigkeit, einzelne Glieder, mögen sie nun durch Selbstverstümmelung, im Kampfe mit eigenen Genossen oder auf andere Weise verloren sein, in kurzer Zeit durch neue zu ersetzen. Im Aquarium der Biologischen Anstalt auf Helgoland wurde ein Tier von etwa 22 cm Länge beobachtet, welches seine linke Schere verloren hatte. Es bildete sich nun zunächst an der Bruchstelle ein fleischförmiger Ansatz, der, ohne zu erhärten, deutlich die Umrisse einer Schere erkennen ließ und bis zur halben Länge der alten Schere heranwuchs. Dann trat die Häutung ein und aus der zarten Umhüllung kam eine neue Schere zum Vorschein, die bald erhärtete und in Form und Größe schließlich der andern Schere gleichkam. Auch Herrick hat an ganz jungen Tieren diesen Vorgang häufig beobachtet.
Für die Bewohner Helgolands bildet der Hummerfang das bedeutendste und einträglichste Fischereigewerbe. Die einst so stolze und ansehnliche Schaluppenflotte, welche 20 bis 30 Meilen weit in See ging, um Schellfisch und Kabeljau zu angeln, ist bis auf etwa 10 Fahrzeuge geschwunden, da seit der stärkeren Befischung der Nordsee der Ertrag nur gering ist und die Helgoländer ihr Geld von Badegästen und Touristen auf weit bequemere und reichlichere Art einzunehmen verstehen. Der Verdienst durch Hummerfischerei ist dafür desto lohnender, werden doch jährlich etwa 60- bis 70000 Stück im Werte von 50- bis 60000 Mark gefangen und versandt. – Alljährlich zur Frühjahrszeit, wenn die bösen Winterstürme vorüber sind und der Hummer sein Winterlager verläßt, beginnt der Fang, nachdem bereits vorher die Geräte und Boote nachgesehen und ausgebessert sind.
Der Hauptfangapparat besteht aus dem etwa 60 cm hohen Hummerkorb (helgoländisch „Tiner“), dessen Form am besten mit einem Bienenkorbe verglichen werden kann. Seine Gestalt erhält er durch Holzspangen und Reifen, die in Abständen miteinander verflochten sind und mit Netzwerk oder Drahtgaze überzogen werden. Der Boden ist mit flachen Steinen beschwert, und seitlich befindet sich ein trichterförmiger, reusenartiger Eingang, welcher wohl das Hineinkriechen des Hummers gestattet, aber sein Entkommen verhindert und den Zugang zu dem im Innern des Korbes angebrachten Köder (junge Dorsche u. a.) bildet.
Ein anderes, jedoch weniger gebräuchliches Fanggerät ist die „Glippe“. Sie besteht aus einem etwa 50 cm im Durchmesser haltenden Eisenreifen, an welchem ein sackartiges Netz hängt. Eine durch drei kurze Taue (Sprenken) mit dem Eisenreifen verbundene Leine dient dazu, die Glippe zu versenken. Der Köder sitzt in der Mitte des Reifens an einem ausgespannten Draht und kommt, wenn die Glippe den Meeresboden erreicht, in die Mitte des Netzes zu liegen. Vermutet nun der Fischer einen Hummer am Köder, so zieht er die Leine mit einem Ruck an, wodurch das Tier in das Netz fällt und dann möglichst schnell heraufgeholt wird.
Die besten Hummerfangplätze liegen an den Rändern der sogenannten „Helgoländer Rinne“ in einer Tiefe von etwa [641] 18 Faden. Diese Rinne erstreckt sich in ungefähr 3 Seemeilen Entfernung im Halbkreis um die Insel und verläuft von ONO nach NW. – Um die Fangplätze zu erreichen, benutzen die Fischer kleine offene, d. h. ohne Verdeck gebaute Boote von etwa 4 m Länge; sie zeigen die altertümliche Helgoländer Form, sie sind bauchig, vorn und hinten rund, ohne Kiel, dafür zuweilen mit Seitenschwertern versehen und führen nur ein Rahesegel. Die Bemannung besteht aus 2 Mann; jedes Boot setzt 50 bis 60 Hummerkörbe aus (vgl. die Abbildung S. 640). Diese werden an langen, mit Korkstücken versehenen Leinen (Simm) auf den Meeresgrund gelassen. Das obere Ende der Leine schwimmt dann auf der Oberfläche des Wassers und trägt zum leichteren Auffinden ein Fähnchen oder eine grell angestrichene kleine Tonne (Boje). Die Körbe werden täglich revidiert, etwaige gefangene Hummern herausgenommen und frischer Köder hineingethan. Die Witterung muß schon recht schlecht sein, um die Fischer zum Unterlassen dieser Thätigkeit zu bewegen. Sie vertrauen ihren kleinen seetüchtigen Booten mit einer Kühnheit, die jeden Binnenländer in Erstaunen setzen muß. Oft verschwindet bei stark bewegter See das Boot in den Wellenthälern vollständig den Blicken, aber stets arbeitet es sich wieder empor und gehorcht der geschickten Hand seines Führers. Den gefangenen Hummern werden möglichst schon auf der Heimfahrt die großen Scheren mit Bindfaden zugebunden, um ihnen etwaige Angriffe gegen ihre Mitgefangenen unmöglich zu machen; denn die Muskelkraft in den Schenkeln der Scheren ist außerordentlich und befähigt die Tiere, die Gliedmaßen ihrer Stammesgenossen glatt vom Rumpfe zu trennen.
Bis zum Versand bleiben die Hummern auf der Helgoländer Reede in großen schwimmenden und mit einer Kette am Grunde verankerten Kasten, die durchlöchert sind und dem strömenden Seewasser freien Durchtritt lassen (vgl. die Abbildung S. 640). Auf diese Weise können die Tiere lange lebend erhalten werden, Während stehendes, wenn auch noch so frisches Wasser sehr bald ihren Tod herbeiführt. Zum Versand werden sie zwischen Seetang in Weidenkörben verpackt und kommen stets lebend und frisch, selbst nach längerer Zeit, an ihrem Bestimmungsort an.
Die Hummerfischerei ist für Helgoland überaus wichtig; nachdem die kleine Insel in deutschen Besitz übergegangen ist, wurde es demnach auch Aufgabe der Regierung, darüber zu wachen, daß der mehr und mehr sich steigernde Fang im richtigen Verhältnis zur Vermehrung des Hummers steht. Wenn nun auch eine direkte Gefahr der Ueberfischung bis jetzt noch nicht vorhanden ist, so haben die bisherigen Untersuchungen doch erwiesen, daß gewisse Vorbeugungsmaßregeln geboten sind. Außer einer polizeilich verordneten Schonzeit von Mitte Juli bis Mitte September, die in Hinsicht auf ihre anderweitige Beschäftigung während der Hauptbadesaison thatsächlich schon früher von den Helgoländern innegehalten wurde, sind in jüngster Zeit Vorschriften über das gesetzliche Minimalmaß, unter dem kein Hummer verkauft werden darf, hinzugetreten. Es beträgt 20 cm und entspricht nicht ganz der Größe (24 cm), in der unser Hummer zum erstenmal geschlechtsreif wird. Andere, schärfere Vorbeugungsmittel, deren nächstes der Verkauf eiertragender Weibchen während der Frühjahrs- und Sommerszeit wäre, sind vor der Hand nicht nötig, würden aber gegebenen Falls in Kraft treten müssen, um den so schmackhaften und beliebten Kruster in unserer Nordsee dauernd zu erhalten.
Von der Kirgisen-Karawane. (Mit Abbildungen.) Die Steppen Asiens an dem Kaspischen Meere und der russisch-chinesischen Grenze sind die Heimat des Nomadenvolkes der Kirgisen; nur ein kleiner Teil desselben haust auf europäischem Boden in den weiten Steppen des Gouvernements Astrachan. Dort bilden diese Nomaden die sogenannte Innere oder Bukujewsche Horde, deren Stärke etwa 150000 Köpfe beträgt. Aus mehreren Angehörigen dieser Kirgisen und einigen Tataren hat man eine Karawane zusammengestellt, die gegenwärtig in größeren deutschen Städten sich sehen läßt und durch ihre Schaustellungen dem Publikum einen lehrreichen und interessanten Einblick in die Sitten und Gewohnheiten des Hirtenvolkes in dem fernen Osten gewährt. Auf diesen Schaustellungen hat unser Zeichner, Carl Henckel, die hier wiedergegebenen Skizzen gesammelt, die uns die Kirgisen in ihrer originellen Tracht und ihrem eigenartigen Treiben vorführen.
Die Kirgisen sprechen einen der reinsten türkischen Dialekte, aber ihrem Körperbau nach gehören sie zumeist der mongolischen Rasse an. Von den Türken haben sie auch den Islam übernommen, aber sie kennen die Lehren des Propheten nur oberflächlich und stecken noch zu gutem Teil in dem alten heidnischen Aberglauben. Sie sind ein Hirtenvolk und die Viehzucht bildet ihren Haupterwerb, darum wandern sie mit ihren Herden in der Steppe. Früher hausten sie im Sommer wie im Winter nur in Kibitken oder Filzzelten, die leicht abgebrochen und an anderem Orte ebenso leicht wieder aufgerichtet werden können. Unter russischer Oberhoheit sind sie seßhafter geworden und bauen jetzt für den Winter Erdhütten aus Ziegeln, die sie an der Luft getrocknet haben. Kommt aber die wärmere Jahreszeit, so verlassen sie diese festen Wohnsitze und ziehen samt ihren Herden und den Kibitken in die offene Steppe hinaus. Ihre Viehwirtschaft ist ziemlich mannigfaltig. Sie halten Pferde einer besonderen Rasse, die nicht groß von Wuchs sind, aber durch ihre Ausdauer sich auszeichnen; sie verfügen über große Rinderherden und besitzen Kamele von brauner und weißer Farbe mit einem und zwei Höckern. Man findet bei ihnen Ziegen verschiedener Farbe, und zahlreich sind in der Kirgisensteppe die fettschwänzigen Schafe vertreten, die ziemlich groß werden und sich reichlich vermehren. Mit den Erzeugnissen dieser Viehzucht betreiben die Kirgisen einen schwunghaften Handel. Leder, Haare, feine Wolle wandern von der Steppe durch Vermittelung der Zwischenhändler nach civilisierteren Gebieten, um dort von der Industrie verarbeitet zu werden.
Das Hirtenvolk nährt sich auch zum größten Teil von seinen Herden. Die fettschwänzigen Schafe werden als Leckerbissen verspeist, Roßfleisch wird nicht verachtet und aus jungen Füllen werden Würste bereitet, die in der Steppe als Delikatesse gelten. Die Stuten- und Kamelmilch wird zu dem berauschenden Kumys verarbeitet, aber auch saure Milch aus hölzernen Schüsseln in großen Mengen verzehrt. Während des Sommers, wo das Fleisch in der großen Hitze ungemein rasch verdirbt, müssen die Hirten allerdings bei Ackerbauern Anleihen machen und von diesen Mehl beziehen, das sie zu allerlei Kuchen verbacken.
Nomaden sind in der Regel ausgezeichnete Reiter, und auch die Kirgisen sind mit ihren kleinen Pferden wie verwachsen. Mann und Weib ist in der Steppe beritten und das Weib reitet nach Männerart. Zwei unserer Abbildungen führen uns kirgisische Reiter vor. Wir lernen an ihnen gleich die Männertracht kennen, wie sie in der wärmeren Jahreszeit getragen wird. Das weite Kalikohemd wird in der Taille durch eine Schnur zusammengehalten; weit sind die ledernen Beinkleider, den Kopf deckt ein weicher Tuchhut und die Füße stecken in weichen schwarzen Lederstiefeln. Der mongolische Sattel, auf dem der Reiter sitzt, ist mit einem Kissen versehen. So sitzt der Mann in der That hoch zu Roß, seine Füße hängen nicht bis an den Rand des Pferdeleibs herab, sondern stehen noch ein Stück darüber in den schweren Eisenbügeln, mit denen der Reiter das Roß antreibt. Ein Kantschu (Reitpeitsche) hilft weiter nach.
Auf dem ersten unserer Bilder ist ein Kirgise dargestellt, wie er ein Pferd mit einem Stangenlasso einfängt. Dieses Gerät besteht aus einer langen Schlinge, die an einer Stange befestigt ist. Die Schlinge wirft der Fänger um den Hals des Tieres und dreht dann blitzschnell die Stange, so daß der Strick sich schraubenförmig um das Holz und den Hals des Gefangenen zusammenschnürt.
Das Stangenlasso benutzen die Kirgisen auch auf der Jagd, um Wild einzufangen. Als Bewohner der Steppe sind sie überhaupt große Freunde der Jagd, aber sie stellen dem Wilde nicht mit Pulver und Blei nach, sondern jagen nach altem Brauch. Bei ihnen stehen noch die Falkenbeizen in hoher Blüte. Der Kirgise versteht verschiedene Raubvögel zum Tierfang abzurichten. Falken, Habichte und selbst den Königsadler macht er sich gefügig. Falken und Habichte stoßen auf kleineres Wild, der Königsadler sogar auf Wölfe und Füchse. Reitet der Kirgise mit seinen Vögeln zur Beize in die Steppe hinaus, so wird er von [642] Hunden begleitet. Haben die Jagdvögel ihr Wild erreicht, so hacken sie mit den Schnäbeln auf dasselbe los und halten es fest, bis die Hunde herangekommen sind. Unsere Abbildung zeigt einen Jäger zu Roß, der einen Falken auf seiner mit Fuchspelzhandschuhen geschützten Faust führt und von russischen Wolfshunden begleitet wird.
An solchen Vergnügen beteiligen sich die Kirgisenfrauen nicht, sie sind mit der „Hauswirtschaft“ beschäftigt; sie sorgen für das bewegliche Zelt der Nomaden, für Küche und Kleidung und sind in Handarbeiten gewandt. Sie verstehen feine Gewebe, Shawls und Teppiche anzufertigen, die je nach ihrer Größe mit hohen Preisen, selbst mit 500 bis 600 Mark, bezahlt werden. Die linksstehende Abbildung führt uns eine Kirgisenfrau in ihrem Sommeranzug vor. Ueber einem Zitz- oder Kalikohemd und weiten Beinkleidern trägt sie ein langes, mit breiten Aermeln versehenes Kapot ohne Taille; ihr Kopf ist mit einem mächtigen Turban umwunden.
Außerdem zeigt uns unser Zeichner noch einen tanzenden Kirgisen. Schon auf den ersten Blick erkennen wir, daß dieser Tanz nicht der Belustigung dient, sondern mit abergläubischen Vorstellungen zusammenhängt. Der Tänzer versucht wohl, böse Geister zu bannen, und hat sich selbst ein teuflisches Ansehen verliehen. Er hat weiße Holzstäbchen zwischen dem unteren Augenlid und der Braue und zwischen der inneren Unterlippe und den Nasenlöchern eingeklemint und dadurch sein Antlitz verzerrt. Sein Thun und Gebaren flößt gewiß den Naturkindern Schrecken ein, die civilisierten Zuschauer lächeln darüber und empfinden bei diesem Anblick den gewaltigen Fortschritt, der die Völker Europas im Laufe der Jahrhunderte zu der heutigen Stufe emporgeführt hat.
Der Straßenkampf in Frankfurt a. M. vor fünfzig Jahren. (Zu dem Bilde S. 613.) Vier Monate waren vergangen seit der feierlichen Eröffnung der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, da wurden die Straßen Frankfurts zum Schauplatz blutiger Kämpfe, in denen die Unversöhnlichkeit der in der Paulskirche wie in ganz Deutschland waltenden Gegensätze grell und furchtbar zu Tage trat. Die Entwicklung der Dinge in Schleswig-Holstein gab den Anlaß dazu. Trotz der Erfolge, welche die deutschen Truppen in den Elbherzogtümern errungen hatten, schloß Preußen unter dem Drängen der Großmächte am 26. August den Waffenstillstand von Malmö. Derselbe war ohne Zustimmung der Reichsregentschaft zustande gekommen, gewährte den Dänen Vorteile und vernichtete die Hoffnungen der Schleswig-Holsteiner. Ungeheuer war die Aufregung, welche sich darob der weitern Kreise der Nation bemächtigte, in denen noch der Geist der Märzbewegung mit seinen patriotischen Idealen lebendig war. Die Entrüstung der Patrioten fand in der Paulskirche den rückhaltlosesten Ausdruck durch Dahlmanns schmerzbewegte Erklärung, daß der Malmöer Vertrag die Ehre Deutschlands preisgebe; noch am 5. September beschloß die Nationalversammlung, daß die Ausführung des Vertrags sistiert werden müsse. Eine Krisis im Reichsministerium, das sich, gleich dem Erzherzog-Reichsverweser, zu keinem ernstlichen Einspruch hatte aufschwingen können, war die Folge. Fürst Karl von Leiningen trat zurück und überließ seinem Kollegen Schmerling die Leitung. Dahlmann sollte ein neues Ministerium bilden, doch vermochte er dies in der Verwirrung der Lage nicht. Schmerling behielt das Steuer, und seiner Klugheit gelang es in den folgenden Tagen, auf die Anhänger der preußischen Erbkaiseridee derart einzuwirken, daß am 16. September die erneute Abstimmung über den Waffenstillstand eine kleine Majorität ergab, welche denselben bestätigte.
Drei Tage hatte die Redeschlacht gedauert, welche dieser Abstimmung vorausging. Die Paulskirche war während dieser langwierigen Sitzungen stets von heißerregten Volksmassen umgeben; auf den Galerien drängten sich die Zuhörer, welche jedes Wort gegen den Vertrag mit leidenschaftlichem Beifall begleiteten. R. Blum, Giskra, Vogt, L. Simon weckten durch die energische Sprache, die sie führten, hochaufwogenden Jubel. Welche Enttäuschung dann, als das Resultat der Abstimmung bekannt wurde! „Wir sind verraten!“ hallte es von den Galerien, „Verrat!“ dröhnte es durch die Straßen. Noch am Abend des 16. kam es zu tumultuarischen Auftritten, besonders vor den Versammlungsstätten der verschiedenen Klubs des Parlamentes. Am Tage darauf, einem Sonntag, fand auf der Pfingstweide die große Volksversammlung statt, in welcher Robert Blum, Ludwig Simon und andere Abgeordnete der Linken vergeblich die bedrohlich anschwellende Volksleidenschaft zu beschwichtigen suchten. Eine Adresse ward angenommen, in welcher die 258 Abgeordneten, die für Annahme des Waffenstillstands gestimmt hatten, für „Verräter des Volks, der deutschen Freiheit und Ehre“ erklärt wurden. Ein Ausschuß ward mit der Ueberreichnng dieser Adresse in der Paulskirche, gleich am nächsten Tage, beauftragt. Die Erbitterung der Volksmassen nahm unter dem Einfluß gewissenloser Demagogen einen immer bedrohlicheren Charakter an; angesichts dessen requirierte der Senat der Stadt Frankfurt zum Schutze der Bevölkerung einige Bataillone Preußen und Oesterreicher aus der nahen Bundesfestung Mainz. Als dann am nächsten Tage die Ueberbringer der Adresse vor der Paulskirche eintrafen, fanden sie dieselbe militärisch besetzt. Es erfolgte ein Zusammenstoß zwischen dem Militär und den Volksmassen; übertriebene Gerüchte davon verbreiteten sich in der Stadt und entflammten zu blinder Wut; ohne daß ein Aufstand organisiert war, kam es gleichzeitig in verschiedenen Straßen zum Bau von Barrikaden und zum Kampf um dieselben. Inzwischen hatte der Senat dem Reichsministerium erklärt, daß er es diesem überlassen müsse, für den Schutz der Nationalversammlung zu sorgen, und Schmerling hatte daraufhin noch mehr Truppen herangezogen, auch Artillerie, welche gegen Abend eintraf. Dieser gelang es leicht, auch jene Barrikaden zu zerstören, welche in den Stunden vorher den Angriffen der Infanterie getrotzt hatten.
Bei der Leidenschaft, welche damals das gesamte politische Leben in Deutschland beherrschte, konnten Versuche nicht ausbleiben, die eine und die andere Partei für das am 18. September in den Straßen Frankfurts vergossene Blut verantwortlich zu machen. Im besonderen wurde gegen die Führer der „Linken“ die Anklage erhoben, daß sie die eigentlichen Urheber des Volksaufstands gewesen seien. Ein solcher Zusammenhang ist niemals nachgewiesen worden. Wohl aber ist es Thatsache, daß gerade die Führer der Linken sich nach Ausbruch des Straßenkampfes die größte Mühe gegeben haben, seine Fortsetzung zu verhindern. Durch persönliche Vorstellungen beim Reichsverweser erwirkten sie einen Waffenstillstand, den sie benutzen wollten, die Arbeiter, Turner und Blusenmänner auf den Barrikaden von der Nutzlosigkeit des Blutvergießens zu überzeugen. Mitten durch den Kugelregen begaben sich Trütschler, Blum, Vogt, Rösler von Oels u. a. unter die Kämpfenden, an ihren Stöcken weiße Tücher emporhaltend, die sie als Parlamentärflaggen schwenkten. Doch ihre Bemühungen waren in den meisten Fällen vergeblich. Unser Bild zeigt den Abgeordneten Rösler von Oels auf der Barrikade am Allerheiligenthor bei diesem Friedenswerke.
Am Loppiosee. (Zu dem Bilde S. 617.) Südlich von Rovereto zweigt bei der Station Mori eine Seitenbahn ab, die den Reisenden in raschem Fluge nach Riva und dem prächtigen Gardasee bringt. Sie führt durch eine malerische Landschaft, das einsame und düstere Loppiothal. Gleich nach dem Verlassen des gleichnamigen Hauptortes dieses Thales gelangt man an das Ufer des kleinen Loppiosees, der, von kahlen Felsen eingeschlossen, das Ansehen eines Hochalpensees hat.
Südlich von ihm winden sich Bahn und Straße zum Scheidekamm zwischen dem Loppio- und Sarcathal empor und mit einem Mal öffnet sich dort der Blick auf das herrliche Becken des Gardasees. Auf der Paßhöhe ragt ein malerischer Felsblock empor, den eine alte Kapelle krönt. Hier atmen Roß und Reiter erleichtert auf, denn nun ist die strenge Steigung im Rücken und leicht geht es auf der guten Straße vorwärts. Von dieser Höhe bietet sich aber auch ein prächtiger Ausblick auf den dunkelgrünen Loppiosee mit den Lessinischen Alpen im Hintergrunde, den das stimmungsvolle Bild Diemers naturgetreu wiedergiebt. *
Reineke auf der Fasanenjagd. (Zu dem Bilde S. 637.) Wo immer man Gelegenheit hat, das Thun und Treiben Reinekes, des roten Strauchdiebes, beobachten zu können – immer ist er der interessante Gauner, der durch seine vielseitigen Jägerkünste den Beschauer aufs beste zu unterhalten weiß. Gewöhnlich allerdings muß man sich begnügen, ihm zuzusehen, wie er Mäuse fängt, wie er auf dem Acker, der Wiese hin und her trabt, dann gegen den Wind mit vorgestrecktem Fange langsam vorwärts schleicht, einen Augenblick „vorsteht“ und mit weitem Sprunge, vor Jagdlust mit der Lunte schlagend, die Maus mit den Pfoten an die Erde drückt. Aber hin und wieder kann man ihn auch statt auf Mäuse, deren Fang seine Niederjagd bildet, auf „Hochwild“ jagen sehen. Er stellt Hasen und jungen Rehen nach; Entenbraten ist für ihn ein großer Leckerbissen, und um seinetwillen scheut er selbst im Herbst und Winter ein kaltes Bad nicht. Ein solcher für alle kulinarischen Genüsse das größte Verständnis
[643] zeigender jugendlicher Sünder ist auch der auf unserem Bilde dargestellte Reinhard, der auf dem gemähten Roggenacker die Fasanen äsen sieht. Allein so sehnsüchtig er auch hinüberäugt zu der begehrenswerten Beute, so wird ihm der Fang diesmal nicht gelingen: enttäuscht wird er den Abstreichenden nachsehen. K. B.
Die Lambertusfeier in Münster. (Mit Abbildung.) Alljährlich, wenn im September die Welschnüsse ihre Hülle sprengen, findet in der Stadt Münster die Lambertusfeier statt. Früher im Anschluß an den Beginn der Abendarbeit bei Licht eine allgemeine Volksbelustigung unter Teilnahme aller Bevölkerungsklassen, hat sie sich in den Kreis der Kleinen und Kleinsten hinübergerettet, die in Gärten und Höfen den alten Brauch noch lebendig erhalten. Der Mittelpunkt der Feier, oder besser des Spiels, ist eine reifrockartig aufgebaute mit allerlei Flitterkram, mit Goldpapier, Fähnchen, Blumen, Tannenzweigen und dergl., verzierte etwa mannshohe Pyramide, die am Abend mit Lichtern, Kerzen oder Lampions geschmückt wird. Bei beginnender Dämmerung werden die Lichter angezündet: um die Pyramide bildet die Kinderschar, der sich öfters auch Erwachsene zugesellen, einen Ring; in der Mitte nimmt „der Buer“, eine verkleidete Gestalt, Platz, und nun beginnt ein Reihentanz mit Gesang. Den Anfang macht stets, nach einer bestimmten Melodie gesungen, das folgende Lied:
„O Buer, wat kost dien Heu? (wiederholt.)
O Buer, wat kost dien Kirmesheu,
Juchheiaa vivat Kirmesheu;
O Bner, wat kost dien Heu?“
Hierauf antwortet der Buer in derselben Weise:
„Mien Heu, dat kost ’ne Kron’!“
Dann fällt wieder der Chor ein:
„O Buer, dat is to tüer!“
Im Verlaufe des Spieles gesellen sich dem Bauer aus dem großen Kreise noch eine Frau, ein Kind, ein Knecht und eine Magd zu, bis das Spiel zu Ende geht. Dasselbe wird mehrere Abende wiederholt.
Ein ähnlicher Brauch besteht in Borken i. W., wo unter fast denselben Formen alljährlich eine Maifeier veranstaltet wird. Auch die Lieder sind dieselben. Beide Gebräuche dürften bis in die heidnische Zeit zurückreichen.
Der junge Seemann. (Zu dem Bilde S. 621.) Klas Dierks hatte „die Welt und sieben Dörfer“ kennengelernt, und nun in seinen alten Tagen that er noch Dienste als Lotse. Und zwar als Lotsenältester. Unbegrenzt war das Ansehen des Alten bei seinen Standesgenossen, und ohne seinen Rat und seine Einwilligung geschah gewiß nichts von Bedeutung. Blitzblank sah es aus im Hause des alten Oberlotsen. Es war kein Herrenhaus, aber so wie es sein sollte und für ihn paßte, ohne Flitter und Verputz und Verblendung; alles echt und stark, wie es für einen alten Seemann sich schickt, der sein Schäfchen mit Ehren ins Trockene gebracht hat. Der große Eichenschrank im Wohn- und Herdzimmer glänzte nur so in dunklem Braun, wie er jeden Samstag fein säuberlich gewachst und mit Wolle abgerieben wurde. Der Herd und die Herdwand waren sauber mit bunten, blanken kacheln ausgelegt, und auf dem Herd selbst und auf dem Bort über ihm gleißte und funkelte das Geschirr aus Kupfer, Zinn und Messing, wenn die helle Sonne so recht in das trauliche Stübchen von der See her hineinschien, die draußen vor dem Häuschen am Strande rauschte und brandete. Bunte Matten aus Stabgeflecht schützten die Fliesen des Fußbodens, und der alte Klas achtete sehr darauf, wenn er von draußen kam, die Seestiefel abzuwischen und zu säubern, ehe er eintrat. Neben der Thür stand in ihrem schwereichenen Gehäuse die alte Uhr mit den blanken Gewichten und dem metallglänzenden Zifferblatt, und daneben hing der Kalender mit manchem frommen Spruch und Bild. Denn Klas Dierks war ein alter gottesfürchtiger Herr. Und so saß er oft, wenn er seine ruhigen Tage hatte, auf dem alten strohgeflochtenen Stuhle, wie sie von je Sitte gewesen waren in seinem Haus – das Neue liebte er nicht –, sah nachdenklich zu, wie der Perpendikel langsam hin und her schwang mit lautem Tick-tack. und dachte au die Zeit, die hinter ihm lag, und wie er übers Meer gefahren war in jungen Jahren, und dachte wohl auch an die letzte, lange Reise, die noch vor ihm lag. Neben seinem Stuhl saß, nachdenklich wie sein Herr, der gute weiße Spitz und hatte die Schnauze auf sein Knie gelegt und blinzelte ihn an.
Und durch den Kopf des alten Mannes geht mancherlei. Frohes und Trauriges. Auch daran hatte es nicht gefehlt und nicht an den Sorgen. Das Schwerste war aber doch gewesen, als sie damals ihm die Kunde gebracht, daß sein Sohn Volker in Bahia am gelben Fieber gestorben. Da galt’s stark sein und die Schwiegertochter trösten und aufrecht halten und für die Enkelkinder sorgen, den Pieter und die Antje. Und er hatte es rechtschaffen gethan und gut hatten sie’s alle drei bei ihm gehabt: aber auch auf Zucht und Ordnung hatte er gehalten, wie sich’s gehört. – Sein Wille galt.
Und nun war der Pieter eingesegnet worden. „Junge, was willst du werden?“ hatte Klas ihn um Weihnachten gefragt. Da hatte der Schlingel gelacht und geantwortet: „Na, was anders als Seemann?“ Und der Alte hatte dazu genickt und die Mutter, die Wiebke, war hinausgegangen und hatte heimlich geweint. Aber sie wußte es: gegen den Alten und ihren Jungen zusammen kam sie nicht auf. Sie mußte sich drein geben.
So war der Tag der Abreise gekommen, früh im April. Die Bark „Marie Sandow“ lag seeklar draußen auf der Reede, und geschieden mußte sein, wie weh es der Mutter auch ums Herz war. Pieter war weniger gerührt. Er freute sich eigentlich über die Maßen auf die große weite Welt mit dem vielen Salzwasser auf ihr, und die Thränen wollten gar nicht kommen. Aber als die Mutter ihn zum letztenmal umarmte und ihm sagte: „Min leev oll Jung, nu vergeet ok nich, dat du ut ’n Christenhuus büst un wohr di vör all de Slüngels uu Verführers, un komm mi ok mit ’n gude Gewissen un blanke Ogen torügg!“ da hatte er sie groß angesehen und nur gesagt: „Darup verlaat di man, Mudder!“ – Dann hatte er Antje flüchtig die Hand gegeben: „Lütt Deern, holl di munter: ick bring di ok ’n lüttje Negerpopp mit!“, hatte seinen Kleidersack aufgeladen und war hinter dem Großvater hergetrottet, der still und bedächtig den Weg zum Strande, wo das Boot lag, hinunterging.
Den Jungen wollt’ er an Bord bringen und dann draußen kreuzen, ob’s was zu thun gebe. Vom Fenster winkte die Mutter mit ihrem Tuch; aber Pieter sah es nicht vor dem großen Sack, den er auf der Schulter trug: und in der Thür stand Spitz und bellte.
Von der See her wehte kräftige Brise, und die Brandung lief donnernd und rauschend auf den Strand – – Leb’ wohl!“ Heims.
Einquartierung. (Zu dem Bilde S. 633.) Endlich erschallt das langersehnte Signal: „Das Ganze Halt!“ und verkündet, daß für heute die Waffen ruhen und die Stürme des „Kriegs im Frieden“ schweigen sollen. Da die Mittagsstunde schon herangerückt ist und die Sonne auch im Spätsommer noch recht heiß brennt, wenn es zur Abwechslung nicht etwa regnet, so freut sich alles, daß wieder ein Manövertag vorüber, und rückt vergnügt in die Quartiere ab. Der Feuereifer, der in der Frühe die Mannen beseelte, ist verraucht; setzt kommt der Mensch im Krieger zum Wort, und das einzige, was die nach allen Richtungen hin sich verteilenden Truppen gegenwärtig interessiert, ist die Frage, wie das heutige Quartier ausfallen wird. Zwar behauptet eine alte Soldatenregel, auch das schlechteste Quartier sei selbst dem schönsten Biwak vorzuziehen, allein die „Alten“ wissen es aus Erfahrung und die Neulinge lernen es sehr bald erkennen, ein wie großer Unterschied zwischen den verschiedenen Quartieren bezüglich der Verpflegung, Bequemlichkeit und Unterhaltung besteht. Im großen und ganzen werden die Manövergäste ja überall freundlich empfangen, und meist thun die Quartiergeber sogar viel mehr als ihre bloße Schuldigkeit, um die von den Strapazen der Uebung Ermatteten wieder zu erfrischen. Oft haben der Hausherr oder die älteren Söhne selbst gedient und fühlen sich durch das fürs ganze Leben vorhaltende Gefühl der Kameradschaft gedrungen, den jungen Kriegern nach Kräften eine gastliche Aufnahme zu bereiten. Die Mutter hat vielleicht auch einen Sohn, der gerade dient, und hofft im stillen, daß ihm das Gute vergolten werden möge, was sie seinen Kameraden erzeigt. Nur sehr selten kommt es vor, daß der Soldat auf Quartierwirte trifft, deren Miene und Gehaben ihn erkennen läßt, daß er als unwillkommener Gast erscheint. Bei alledem aber ist es doch ein besonderer Glücksfall, wenn die mit ihrem Quartierbillet anlangenden Marssöhne eine gleich auf den ersten Blick so einladende und anheimelnde Unterkunft finden, wie das bei den beiden Infanteristen auf H. Modersohns hübschem Bilde der Fall ist. Welche Aufnahme ihnen in diesem behaglichen Heim bevorsteht, das läßt das fröhliche Lächeln der beiden schmucken Mädchen,
[644] die offenbar schon mit den Zurüstungen für den Empfang der Einquartierung beschäftigt sind, genugsam erkennen, und die Gesichter der über die Schwelle tretenden Vaterlandsverteidiger zeigen deutlich genug, wie freudig sie dieser Anblick berührt. Sicherlich wird ihnen dieses Quartier in guter Erinnerung bleiben; beide werden wohl noch oft daran zurückdenken, wenn sie den „bunten Rock“ längst wieder ausgezogen haben. Fr. R.
An Friedrich Vischers Sterbestätte. (Mit Abbildung.) Durch eine Fülle landschaftlicher Reize ist Gmunden an dem Ufer des Traunsees ausgezeichnet. Tausende und aber Tausende strömen hier alljährlich herbei, um inmitten der grünen Berge Leib und Seele zu erquicken. Außer seinen herrlichen Wäldern und Felsen, seinem tiefgrünen See und seinen Heilanstalten hat aber Gmunden noch Stätten aufzuweisen, an denen niemand teilnahmlos vorüber geht, dem die deutsche Kunst wert und teuer ist. Auf dem Friedhof der Stadt ruhen die sterblichen Ueberreste Friedrich Theodor Vischers und in der Vorstadt Traundorf steht das Haus, in welchem der große Meister der Aesthetik, der Wissenschaft des Schönen, sein thatenreiches und verdienstvolles Leben beschloß.
Wundervolle Herbsttage waren es im Jahre 1887. Da hatte Vischer auf einer Reise nach Venedig Gmunden aufgesucht, in dem seine Verwandten sich gerade aufhielten. Er wohnte in der Vorstadt Traundorf, im Hause Wiesauer im Weyer. Am 30. Juni hatte er noch in Stuttgart seinen achtzigsten Geburtstag gefeiert. Nicht nur seine schwäbischen Freunde und Verehrer hatten sich an jenem Tage um ihn geschart, das gesamte kunstsinnige Deutschland nahm Anteil an dem Freudenfeste des Meisters. Er durfte mit inniger Genugthuung auf sein Leben zurückblicken. Die Saat, die er als Professor der Aesthetik und der deutschen Litteratur an den Universitäten von Tübingen und Zürich und zuletzt am Polytechnikum in Stuttgart ausgestreut, hatte glänzende Früchte getragen und eine Schar hervorragender Männer erkannte in ihm dankbar ihren Meister.
Durch seine Werke und zahlreichen Schriften, namentlich durch seine „Aesthetik“, das geistreiche satirische Buch „Faust, der Tragödie dritter Teil“, durch seine gedankenvollen und formenschönen Gedichte und seinen eigenartigen, von edler Gesinnung durchwehten Roman „Auch Einer“, hatte er sich ein unvergängliches Denkmal errichtet. Er war einer jener schöpferischen Geister, die schaffen und wirken bis zum letzten Atemzug; daß er in seiner Arbeit fortlebe, dafür ist in jüngster Zeit noch besonders durch die von seinem Sohne, Professor Robert Vischer in Göttingen, veranstaltete Ausgabe seiner akademischen Vorlesungen gesorgt. Ein Band, der grundlegende über „Das Schöne und die Kunst“, ist (bei Cotta in Stuttgart) bereits erschienen; andere werden folgen. – Als Achtzigjähriger war Vischer auf sein Lebensende vorbereitet; eines seiner letzten Gedichte, das den Titel „Bald“ trägt, schloß er mit den Versen:
„Gethan ist manches, was ich sollte.
Nicht spurlos lass’ ich meine Bahn;
Doch manches, was ich sollt’ und wollte,
Wie manches ist noch ungethan.
Wohl sinkt sie immer noch zu frühe
Herab, die wohlbekannte Nacht,
Doch wer mit aller Sorg’ und Mühe
Hat je sein Tagewerk vollbracht!
Schau um dich! Sieh die hellen Blicke,
Der Wangen jugendfrisches Blut,
Und sage dir: in jede Lücke
Ergießt sich junge Lebensflut.
Es ist gesorgt, brauchst nicht zu sorgen;
Mach’ Platz, die Menschheit stirbt nicht aus,
Sie feiert ewig neue Morgen,
Du steige fest ins dunkle Haus.“
Und doch hat den Weisen der Tod überrascht. Auf einer Ferienreise, fern von der schwäbischen Heimat, raffte er ihn dahin. Am 14. September 1887 starb er in Gmunden in den Armen seines Sohnes.
Seine Freunde und Verehrer haben vor einiger Zeit an dem Hause, in dem er seinen Geist aufgegeben, eine Gedenktafel angebracht, die wir im Bilde vorführen. Das wohlgelungene Reliefmedaillon ist nach dem Entwurfe Donndorfs des Jüngeren gearbeitet. Dasselbe ist durch einen Lorbeer- und Eichenzweig mit der Tafel, die das Sterbedatum trägt, verbunden und das Ganze von Paul Stotz in Stuttgart, der selbst ein Schüler Vischers war, in echter Bronze ausgeführt. *
Wirkungen vom Wind fortgewehter Sandmassen. Schon manchem werden beim Wandern durch Sandgegenden die eigenartig kantig zugeschliffenen Steine aufgefallen sein, deren Ursprung lange Zeit in Dunkel gehüllt war, bis man endlich erkannte, daß diese glatten Schliffflächen durch den Sand entstehen, der, vom Winde mit großer Gewalt aufgeweht, den Stein trifft und so, freilich erst in Jahrhunderten, diese Arbeit verrichtet. In der sandigen Heide oder an der Seeküste kann der aufmerksame Wanderer leicht beobachten, daß auf der Windseite die Fenster der Häuser gänzlich erblinden und auch durch kein noch so eifriges Putzen wieder blank werden. Die Leute sagen: der Sand hat sie blind gemacht; und sie haben recht.
Alle diese Wirkungen werden aber, wie gesagt, erst im Verlauf langer Zeiträume erzielt. Schneller verfährt die Technik, welche sie zu verwerten verstanden hat. Denn das Sandstrahlgebläse, mit dem wir Glas und Metall ätzen und schleifen, ist nichts als eine Nachahmung des in der Natur beobachteten Vorgangs.
Daß aber unter Umständen auch das natürliche Sandgebläse außerordentlich schnelle und eingreifende Wirkungen hervorrufen kann, schildert Professor Walther aus Jena nach seinen auf einer Reise in Transkaspien gemachten Beobachtungen. Eine neue Lokomotive der transkaspischen Eisenbahn geriet, so erzählt er, als sie auf ihrem Wege ein Wanderdünengebiet von etwa 200 km Länge durchquerte, in einen Sandsturm. Als man am Ziel angekommen war, zeigte es sich, daß der fegende Sand auf der einen Seite der Lokomotive den Lackanstrich völlig vernichtet, ja sogar den Eisenmantel angegriffen hatte, während auf der andern Seite die Maschine noch vollkommen neu aussah.
Am meisten aber leidet auf dieser Strecke der Telegraphendraht unter dem Sandsturm, und obwohl man ihn für dies Gebiet fast 1/2 cm stark nimmt, so ist er doch schon nach wenigen Jahren so dünn geschliffen, daß er ausgewechselt werden muß. –t.
–– Vierzehnter Jahrgang. –- Preis in elegantem Ganzleinenband 1 Mark.
Der „Gartenlaube-Kalender“ für das Jahr 1899 enthält u. a. die neueste Erzählung von W. Heimburg: „Karl Lorensen“ mit Illustrationen von Fr. Bergen, ansprechende und humorvolle Erzählungen von Hans Arnold und Gertrud Franke-Schievelbrin, unterhaltende und belehrende Beiträge von Dr. Fr. Dornblüth, L. Holle u. a., ferner zahlreiche Illustrationen von hervorragenden Künstlern, Humoristisches in Wort und Bild und viele praktische und wertvolle Kalender-Notizen und Tabellen zum Nachschlagen bei Fragen des täglichen Lebens.
Bestellungen auf den Gartenlaube-Malender für das Jahr 1899 nimmt die Buchhandlung entgegen, welche die „Gartenlaube“ liefert. Post-Abonnenten können den Kalender durch die Buchhandlungen beziehen oder gegen Einsendung von 1 Mark und 20 Pfennig (für Porto) in Briefmarken direkt franko von der unterzeichneten Verlagshandlung. – Die Jahrgänge 1887–1897 des „Gartenlaube-Kalenders“ haben wir bis auf weiteres im Preis herabgesetzt und zwar liefern wir dieselben, solange die Vorräte reichen, in rote Leinwand gebunden zum Preise von je 50 Pfennig. Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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Gedenkblatt. Eine außerordentlich hübsche holländische Sitte verdient auch bei uns in Aufnahme zu kommen. In den dortigen Künstlergesellschaften ist es üblich, die Namen der Teilnehmer an einem besonders festlichen Abend auf einem Gedenkblatt zu vereinigen, welches vorher mit künstlerischem Schmuck ausgestattet worden ist. Jeder schreibt seinen Namen selbst ein, das Blatt wird eingerahmt und bildet fernerhin eine Zierde des Festraumes.
In Familien, die keine Chronik führen und doch gern ein dauerndes Erinnerungszeichen an einen Festtag bewahren möchten, würde ein solches Blatt, etwa von einer Freundin des Hauses vorbereitet, gewiß willkommen sein.
Unsere Abbildung zeigt ein Blatt mit Dekoration von Orchideen („Frauenschuh“) mit braunvioletten Deckblättern über dem gelblichen Sack; der Grund wird leicht getönt, der Raum für die Namen bleibt weiß. Datum und Bedeutung des Tages wird vorher mit farbiger Zierschnft oben eingetragen.
Verwendung von Wollresten. 1. Kaffeewärmer. Von Urgroßmutterzeiten her sind in manchen Häusern die Kaffeemützen noch in Ehren geblieben, und ich habe auch gefunden, daß sie, besonders im Freien, auf Balkon und Veranda und wo ein großer Kreis sich oft sehr nach und nach um den Kaffeetisch versammelt, mit Recht ihren Platz behaupten.
Ein solch würdiges Inventarstück stellte ich mir aus Wollresten, jeglicher Farbe und Stärke, her; ich flocht aus denselben möglichst breite und bunte Flechten etwa 25 cm lang (je nach der Höhe der betreffenden Kaffeekanne), wobei ich oben und unten die Fäden je 5 cm lang glatt hängen ließ. Diese Flechten nähte ich mit gelber Seide, bis zur erforderlichen Weite des Wärmers, mit weiten Hexenstichen aneinander, so daß das Ganze den Eindruck eines bunten, sehr originellen Gewebes machte. Man stattet diese Glocke mit einer Seidenwattierung aus, umbindet den oberen Rand mit einem seidenen Bändchen unterhalb der glatten Fäden, welche so eine nach oben stehende Quaste, am unteren Rande aber eine Franse bilden.
2. Täschchen für Stricknadeln. Aus farbigem Flanell, in beliebiger Farbe, schneidet man ein Stück von 35 cm Länge und 22 cm Breite und läßt es vom Sattler ringsum in Zäckchen ausschlagen (gehäkelte Zäckchen ringsum machen sich aber auch gut). – Nun strickt man ein ebenso großes Stück von verschiedenfarbigen Wollresten, in Patentstrickerei (einmal umschlagen, die beiden folgenden Maschen zusammenstricken bei der ersten Tour; später immer einmal umschlagen, eine Masche abstecken, die beiden folgenden zusammenstricken). Von jeder Farbe macht man einen Streifen, quer, von etwa 31/2 cm Breite.
Dieses gestrickte Stück setzt man unter den Stoffteil, heftet die farbigen Streifen der Länge nach nieder und schlägt das Ganze an einem Ende zu einem Täschchen um; jeder Streifen dient zur Aufnahme eines Ganges Stricknadeln; man wickelt das Ganze auf, versieht es mit einem Band zum Schließen und putzt es mit Pompons aus. A. v. Z.
Die Innenpolsterung von allerhand Kästen für Handschuhe, Taschentücher, Bilder, Schmucksachen etc. wird zwar vielfach empfohlen, doch selten zugleich in einer praktischen Weise gelehrt, und manche Dame, die ihre etwa mit Brandmalerei verzierte Truhe nun auch innen recht hübsch polstern möchte, weiß die Sache nicht anzugreifen. Das ganze Geheimnis einer schönen Polsterung besteht darin, daß man dieselbe nicht auf den Wänden und dem Boden selbst anbringt, sondern auf Kartontafeln, mit denen dann einfach der Kasten oder die Truhe ausgelegt wird. Man schneide sich also zunächst für den Boden, die vier Seitenwände und eventuell auch den Jnnenraum des Deckels je ein Stück feste Pappe zu, welche nicht zu stramm einpassen darf. Nunmehr polstert man jede einzelne Pappe durch Auslegen von Watte und Ueberziehen mit Atlas oder dergleichen. Letzterer wird auf der Rückseite festgespannt oder auch wohl aufgeleimt, da diese Seite ja später unsichtbar ist. Ein paar Leimstriche genügen vollkommen, doch darf man sie nicht den Rändern zu nahe anbringen. Damit die Polsterung möglichst glatt und flach werde, muß man natürlich die Watte recht gleichmäßig dick verteilen. Noch schöner als diese flachen Polsterungen sehen gepuffte Polster aus, welche durch Aufnähen kleiner, in regelrechten Zwischenräumen verteilter Atlasknöpfchen ausgeführt werden, nachdem man die betreffende Stelle mit einem starken Faden von der Rückseite der Pappe aus niedergeholt hat. Die gepolsterten Kartons werden schließlich auf die Innenflächen der Truhe etc. mit Leim festgeklebt, zuerst der Boden, dann die Seitenwände. Bei richtiger Maßberechnung müssen alle Teile gut zu einander passen und somit die Polsterung, die ganz schnell von statten geht, tadellos erscheinen lassen.
Bademäntelchen für Kinder aus weißem Frottierstoff. Ein quadratisches Stück des sehr breiten Stoffes ist durch Einreihen der einen Ecke zu einem netten kleinen Bademantel mit Kapuze leicht umzugestalten. Die obere Ecke wird ein wenig abgerundet oder eingenäht, damit sie den Kopf gut umschließt, die entgegengesetzte Ecke als unterer Rand ebenfalls abgerundet, eine aufgenähte Schnur dient zum Schließen um den Hals. Ein farbiges Bändchen oder etwas leichte Stickerei in dickem, türckischroten Garn bringt man als Verzierung um das Ganze an.
Praktischer Bügelapparat für Bänder, Spitzen etc. Dieser kleine, nebenstehend abgebildete, sehr wohlfeile Apparat ist für alle die Fälle zu brauchen, wo man schnell etwas Kleineres bügeln möchte, aber nicht gleich ein Eisen zur Hand hat. Er läßt sich an jedem Theekessel anbringen, und zwar am Ausguß, welchen man mit ein paar Stoffstreifen umwickelt, damit der Apparat fest sitzt. Man läßt das Wasser darinnen nur bis zur Ausgußröhre reichen, erzeugt Dampf und zieht die zerdrückten Bänder, Stoffe, Nähte etc. über der dampfenden Fläche des Apparats langsam hin und her. Spitzen werden vorher einen Augenblick über den Dampf gehalten. Diese Art Bügeln vermeidet den Glanz und giebt den Sachen ein sehr hübsches neues Aussehen. Zu beziehen aus der Fabrik von A. Helm in Frankfurt a. M., Theaterplatz 8.
Gefüllter Melonenkürbis. Wer in einem eigenen Garten die harten kleinen Melonen- oder Spargelkürbisse baut oder sie leicht kaufen kann, sollte aus ihnen das folgende sehr wohlschmeckende Gericht bereiten, welches bei freundschaftlichem Mittagsessen ein hübsches apartes Zwischengericht bildet. Man nimmt mehrere Kürbisse (nach ihrer italienischen Abstammung in der Küchensprache „Zucchetti“ genannt), kocht die ganzen Früchte 20 Minuten in Salzwasser, schält sie darauf und schneidet sie durch, worauf man sie aushöhlt. Zuvor hat man aus gleichen Teilen Kalb- und Schweinefleisch, halb so viel Speck, einigen gewiegten in Butter gedünsteten Schalotten, 10 Champignons, 150 g Semmelpanade, 4 Eiern, 2 Löffel geriebenem Parmesankäse, Salz, Pfeffer und 1 Glas leichtem Weißwein eine gute Farce bereitet, welche man durch ein Sieb streicht.
Mit ihr werden die ausgehöhlten Kürbishälften gefüllt und mit der offenen Seite nach oben in eine passende Kasserolle in Butter gelegt. Man dünstet sie hierin 10 Minuten, giebt nun 4 Löffel Tomatenbrei, eine Messerspitze Liebigs Fleischextrakt, wenig Wasser und Citronensaft daran und dämpft die Kürbisse langsam weich. Man richtet sie auf heißer Schüssel an, bestreut sie erst mit gerösteten Semmelkrumen und danach mit gröblich gewiegter Pökelzunge, legt um jeden Kürbis einen schmalen Kranz recht schaumig gerührten Kartoffelbreis und giebt den entfetteten Saft, der mit etwas Maismehl sämig gekocht wird, nebenher. Le.
Suppe von Käseresten und Fleischabfällen. Trotz ihrer Billigkeit und ihrer Bereitung aus Resten ist diese Käsesuppe von so vortrefflichem Geschmack, daß sie auch bei kleinen Gesellschaftsessen dargeboten werden kamn. Aus den Fleischabfällen (rohen natürlich) kocht man mit Suppengrün, Salz und dem nötigen Wasser eine leichte Brühe. Indes kocht man 65 g Reis nach dem Abbrühen mit Wasser und etwas Butter so weich, daß man ihn durchstreichen kann, zerrührt dann 3 Löffel trockene Käsereste (Edamer- oder Schweizer Käse) in 3O g Butter, giebt 3 Löffel Mehl und den durchgestrichenen Reis daran, so daß man eine dicke Masse erhält, und verrührt sie mit der durchgeseihten Fleischbrühe zu sämiger Suppe. Man giebt 10 g Liebigs Fleischextrakt, eine Prise Pfeffer und Muskatnuß an die Suppe und zieht sie, wenn man sie noch verfeinern will, mit 2 Eigelb ab, die man mit 2 Löffeln Rahm verquirlt hat. Nach Gefallen kann man ein Schüsselchen Käsekrusten dazu geben. L. H.
Fußbodenteppiche zu reinigen. Aeltere Teppiche, die schmutzig und fleckig, somit unschön geworden sind. kann man sehr gut selbst reinigen und damit wieder brauchbar machen. Dazu erforderlich ist nur eine nicht zu harte Bürste und eine Abkochung von Quillayarinde – 1/5 Pfund auf 2 bis 21/2 l Wasser. Man taucht die Bürste wiederholt in die lauwarme Lösung ein und bürstet ein Stück des Teppichs, immer nach einer Richtung streichend, gut durch und spült dann den Schaum etwas ab. So weiter arbeitend, fährt man fort, bis der ganze Teppich durchgebürstet ist. Dann wird er noch einmal rasch mit klarem Wasser übergossen und mit der Bürste überstrichen, so daß aller Schaum entfernt ist. Hierauf hängt man den Teppich am besten über zwei Stangen zum Trocknen auf. Durch dies Verfahren kommen oft ganz verblichen scheinende Farben wieder hervor, und der Teppich sieht so gut wie neu aus. Auf diese Weise lassen sich alle Fußteppiche, Smyrna- und persische abgerechnet, reinigen.
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Die Felder nebenstehenden Rechtecks sind mit je einem Buchstaben derart auszufüllen, daß die sieben senkrechten Reihen bekannte Wörter nennen, und zwar: 1. einen spartanischen Feldherrn, 2. eine Pflanze, 3. eine Stadt in Pommern, 4. eine Stadt in Italien, 5. einen Feldherrn Alexanders des Großen, 6. einen Seevogel, 7. einen Volksstamm.
Sind alle Wörter richtig gefunden, so nennt die zweite und fünfte Querreihe den Vor- und Zunamen eines berühmten Malers, die mittelste (vierte) senkrechte Reihe jedoch den Namen, unter dem der große Künstler eigentlich bekannt ist und der zugleich seinen Geburtsort angiebt.
Oscar Leede.
Rätsel.
Mit e ist’s Name eines Sagenhelden;
Von i hörst du nur Narrenstreiche melden. E. S.
Scherzrätsel.
Des „Fechters von Ravenna“ Schluß
Verknüpft mit einem deutschen Fluß
Sich als ein anmutsvoller Geist
Des feuchten Elements erweist.
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 19.
Falke, Alk.
Die Auflösung der Skataufgabe erscheint auf dem Umschlag des nächsten Halbhefts.
Auflösung des Bilderrätsels „Mysteriöse Anschrift“ auf dem Umschlag von Halbheft 19.
Wie die Abbildung zeigt, werden gewisse Buchstaben vom Schatten der Figur getroffen. Diese sind zuerst zeilenweise abzulesen; dann erst die im Licht befindlichen Buchstaben. Man erhält dann den Spruch:
1) Wie die Alten sungen,
2) so zwitschern die Jungen.
Auflösung des Wechselrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 19. Basilika, Basilikum.
Marathon.
I. Marder, II. Arkona, III. Rangun, IV. Ancona, V. Tabago, VI. Hoheit, VII. Ottawa, VIII. Narowa.
Auflösung des Homonyms auf dem Umschlag von Halbheft 19. leer, Leer.
[ Verlags- und Produkt-Werbung, hier nicht dargestellt. ]