Die Gartenlaube (1897)/Heft 44
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Nr. 44. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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(14. Fortsetzung)
In dem langen, oberen Korridor des Gymnasiums ging Heinrich Günther wartend auf und ab. Der Unterricht mußte nun gleich zu Ende sein. Rettenbacher hatte ihm in der großen Pause sagen lassen, er möchte ihn um Zwölf an seiner Klasse abholen. Die Zeit von Elf an hatte er sich im Konferenzzimmer mit Lesen vertrieben. Er versäumte ja nichts, wenn er auch eine Stunde später heimkam. Rettenbacher bat so selten um etwas, daß er ihm den kleinen Gefallen nicht hatte versagen wollen. Offenbar wollte er ihm etwas Besonderes mitteilen.
Noch war alles ruhig in dem großen Gebäude. Aus den Klassenzimmern nur hörte man zuweilen die Stimmen der Lehrer, die Antworten der Schüler. Zu den auf den Hof gehenden Fenstern schien die heiße, grelle Julimittagssonne herein und warf, abwechselnd mit den dunklen Schatten der Pfeiler, blendende Streifen auf den Cementboden und an den Wänden gegenüber hin auf Wolken von Sonnenstäubchen tanzten in der glühenden Helligkeit gelangweilte Fliegen surrten ab und zu, bolzten gegen die Fensterscheiben. – –
Günther begann zu gähnen und sah zum vierten mal nach der Uhr. Sie ging wohl vor?
Nein. Jetzt schmetterte drunten die große Schulglocke los, und nur wenige Augenblicke später sprangen die Klassenthüren auf, wie Klappen an einem Behälter, die dem Druck einer inwendig gegenstauenden Masse berstend nachgeben müssen, und entließen den dichten Schwarm der durcheinander lärmenden, schwatzenden, lachenden befreiten Schüler.
Der Strom ergoß sich die Treppe hinunter, empfing vom obersten Stock her den gemäßigter niederflutenden Nachschub aus Prima und Sekunda, vereinigte sich weiter unten mit dem quirlenden Wellengewimmel der Kleinen und schäumte in breitem Katarakt zum Thore hinaus.
Günther war zur Seite getreten, um den Strudel vorbeizulassen. Ganz am Ende des Korridors, aus der letzten Thür heraus, trat jetzt Rettenbacher an der Seite des Direktors, der offenbar beim Unterricht hospitiert hatte. Langsam, tief im Gespräch, kamen die beiden Männer den Gang herauf. Aus dem Sonnenstreifen, der Arnolds Blondhaar leicht vergoldete, tauchten sie in den Schatten und wieder heraus ins Licht.
Die kräftige, breitschulterige Gestalt des Schulmonarchen mit dem machtvollen, von schwarzer Mähne umwallten Kopf erschien, obwohl sie den schlanken Wuchs des jüngeren Mannes an Höhe nicht erreichte, doch bedeutender und größer als sein Begleiter. Rettenbacher schritt mit der leichtgeneigten Kopfhaltung des ehrerbietig aufmerksamen Zuhörers neben seinem Vorgesetzten her.
Sie hatten jetzt Günther und das Ende des Ganges erreicht und blieben stehen.
„Also, wie gesagt,“ fuhr der Direktor nach kurzer Begrüßung des Wartenden wieder zu Rettenbacher gewandt fort, „Sie haben meine volle Zustimmung. Machen Sie den Plan nur recht schön.
[726] An mir soll es geeigneten Augenblicks nicht fehlen. Sie wissen, daß ich mich gern zu den Neuerern zähle, daß ich mit Vergnügen an rostig gewordenen Stangen rüttle. Ich kann auch nicht glauben, daß Ihre Schrift nicht auch an entscheidender Stelle wirken sollte. Lassen wir ihr nur Zeit. Warten wir’s nur ab. Einstweilen gratuliere ich Ihnen zu dem Erfolg, so weit er schon sichtbar geworden ist!
Mit seinem warmen Blick voll Energie und Güte drückte er dem jungen Mann die Hand.
Am Fuß der Treppe angekommen, die sie dann gemeinsam hinuntergeschritten waren, verabschiedete sich der Direktor von den beiden Herren und trat in sein Privatzimmer.
„Kommen Sie flink,“ sagte Rettenbacher. „Wir müssen uns jetzt ein bißchen dranhalten, daß wir die Bahn noch erreichen.“
„Wieso?“ fragte Günther. „Was haben Sie vor im wilden Grimme? Was soll ich auf Ihrer Bahn? Ich gehe jetzt nach Hause, wie Sie wissen.“
„Das thun Sie nicht, wenn Sie ein bißchen nett sind. Sie kommen mit mir hinaus und essen bei uns. Ich hab’ der Grete gesagt, ich brächte Sie mit, tot oder lebendig.“
„Das ist nicht übel. Warum haben Sie mir denn von dieser großartigen Einladung kein Sterbenswörtchen vorher sagen lassen?“
„Ja, hat es denn der Junge, den ich Ihnen geschickt habe, nicht ausgerichtet? Aber freilich, es war mein Freund Leonhardt, der hat wohl die Hälfte seines Auftrags unterwegs verschwitzt. Na, es thut nichts, kommen Sie nur mit! Oder versäumen Sie etwas, haben Sie sich mit jemand verabredet?“
„Nein, das nicht, und ob ich nun in meinem ollen Restaurant esse oder bei Ihnen, das ist – – , so wollt’ ich's ja nicht sagen. Es ist mir gar nicht einerlei, sondern ich komme gern mit. Also basta! Sie müssen mir aber Wasser zum Händewaschen geben und mir den Schulstaub abbürsten helfen.“
„Soll geschehen.“
Sie waren auf den Hof hinausgetreten. Rettenbacher sah sich suchend um.
„Jetzt bin ich nur gespannt, ob mir der Hans durchgebrannt sein wird. Nein, da steht er. Natürlich schon kochend vor Ungeduld. Hans! Hierher, mein Junge!“ Der Gerufene, der sich die Wartezeit damit vertrieben hatte, eine schadhafte Stelle in der Mosaikpflasterung mit seinem Saebelabsatz zu vergrößern, drehte sich herum und kam schnell auf die beiden Herren zugelaufen.
„Großer, wo steckst du?“ fragte er laut, vorwurfsvoll, mit seiner „Kirchglockenstimme“.
„In meiner Haut, wie du siehst“, antwortete der Bruder gleichmütig. „Aber du scheinst mir aus deiner schon wieder herausgefahren zu sein, was?“
„Wenn ich aber auch hier stehen muß in der Sonne wie ein Pfahl!“
„Ich habe ja nicht verlangt, daß du hier in der Sonne stehen sollst, und auch nicht wie ein Pfahl. Warum hast du nicht unterm Thorbogen gewartet? Aber mach’ nur jetzt, nimm deine Beine in die Hand, wir müssen uns eilen. Herr Günther kommt mit uns hinaus.
„Famos!“ rief der Junge. „Ich werd’ nur vorausrennen und die Dampfbahn festhalten.
Im Nu war er davon, zum Einfahrtsthor hinaus und die Straße hinunter. Günther sah ihm lachend nach.
„Macht mir Spaß, der Bengel. Wie er übrigens wächst, das ist schon fabelhaft. Kein Mensch glaubt, daß er erst elf Jahre alt ist. Wie Sie den noch bis zur Konfirmation in kurzen Hosen behalten wollen, ist mir schleierhaft. Er kommt mir immer vor wie einer aus der alten Germanenzeit, ich könnt’ ihn mir ganz gut denken mit Sandalen von Baumrinde und mit einem Bärenfell um die Lenden.“
„Er würde jedenfalls gegen diese Art von Garderobe nichts einzuwenden haben,“ sagte Arnold lächelnd. „Er hat immer noch viel zu viel an, findet er. Nun ja, so wie zu Hause auf dem Dorf kann ich ihn hier nicht mehr herumrennen lassen, das ist sicher. Es thut mir leid genug, seine schönen, noch unverdorbnen, klassischen, braungebrannten Füße dauernd in Schuhe stecken zu müssen. Aber sein Kopf und was darin steckt, ist auch was wert und die Geschichte hier an der Schule darf’ ich mir doch nicht für ihn entgehen lassen. Seit die Grete da ist, hat er's ja auch wieder besser. Es war doch eine tolle Sache, Vater und Mutter für den kleinen Schlagetot zu spielen. Ist mir manchmal ganz schwül dabei geworden. Ich kann ja allerlei, aber es giebt doch eine ganz erkleckliche Masse Dinge, zu denen man nur ein Frauenzimmer gebrauchen kann. Wenigstens, was die Kinderpflege angeht. Na, Sie haben ja unsere Wirtschaft dazumal gesehen. Ich atmete auf, als mir die Mutter den Vorschlag mit der Grete machte. Wenn's ihr recht wär, mir könnte es schon gefallen!
Sie hatten jetzt den Nollendorfplatz und die Station der Dampfstraßenbahn erreicht und stiegen schnell in den eben nach Friedenau abfahrenden Wagen, der fast leer war. Hans stand natürlich längst droben und versicherte, daß sie es nur ihm verdanken, noch mitgenommen worden zu fein. Er schleuderte nun seinen Ranzen auf die Bank neben Arnold, mit einem begleitenden Bittblitz aus seinen blauen Augen, und schoß hinaus auf die Plattform zu seinem „Freund“, dem Schaffner.
Günther nahm den Hut ab und trocknete sich die feuchte Stirn.
„Puh! Heiß! Wir sind aber auch gerannt! – Ja, was ich übrigens sagen wollte, Magisterchen das mit Ihrem Buch, das ist famos! Ich freu’ mich wie ein Schneesieder, daß Sie solchen Erfolg damit haben.“
„Freuen sich die Schneesieder so besonders?“ fragte Rettenbacher lächelnd.
„Kolossal, sag’ ich Ihnen. Ich habe zwar noch keinen gesehen, aber man weiß es durch Ueberlieferungen seit mehr als hundert Jahren.“
„O, dann freilich! – Also mein ,Buch’. Ein anspruchsvoller Name für das Schriftchen. Ja, es geht ihm gut. Ich bin selber überrascht. Ich hatte gar nicht gedacht, daß sich so viele Leute für dieses Thema genügend interessierten. Zwar, ob es zunächst irgend einen praktischen Erfolg haben wird, steht noch sehr dahin. Solche an Kopf und Herz gesunde Männer wie unser Direktor sind erbärmlich dünn gesät, wie Sie wissen. Und gerade die braucht man, um mit Neuerungen durchzukommen. Aber wenn auch sein Beispiel die übrigen Herren mit Vorwissen – es ist noch sehr die Frage, ob es gelingt, die maßgebenden Behörden so weit aufzustacheln, daß sie die Sache in Erwägung ziehen. Die Kutsche zuckelt ja so gemütlich in alten, ausgefahrenen Geleisen. Ohne Befehl von oben herab kriegen wir das nicht. Der Einzelne, und wenn er auch der Unsere ist, richtet nichts aus. Um ein einziges Beispiel zu wählen: nur wenn es befohlen würde, daß der Gymnasiast bis zum Abiturium den Ranzen zu tragen habe, könnte man es erreichen, diese Mappen los zu werden, die sie unter den Arm nehmen. Diese ungesunde, und obendrein unbequeme Schlepperei! Gerade in den höheren Klassen, wo sie so viel mehr Bücher brauchen, machen sie es sich so unnötig schwer. Der Ranzen müßte nur, wie noch einiges andere meines Ideals, die vorschriftsmäßige Schultracht sein, dann sollten Sie einmal sehen, wie gemütlich Sekundaner und Primaner damit angegangen kämen. Nur, weil es alle thun –“
„Sehr richtig“, pflichtete Günther eifrig bei. „Hammelherde.“
„Ueberrascht bin ich aber von dem Verständnis, dem ich im Publikum begegne. Ich werde Ihnen nachher ein paar hübsche Briefe zeigen, die ich bekommen habe. Mein Verleger hat sie mir geschickt. Einer von der Mutter meines Leonhardt. Sie wissen, dem ich eine Zeit lang Privatstunden geben mußte, weil er das Bein gebrochen hatte. Sie schreibt, ich hätte ja so recht, und sie würde auch gern all meinen Ratschlägen folgen, aber sie könne nicht gegen den Strom anschwimmen. Bis zur Konfirmation habe sie ihren Jungen im Matrosenanzug und bloßem Hals gehen lassen, dann sei es nicht mehr möglich gewesen. Schon vorher sei er in seiner Klasse immer als ‚verrückt’ aufgefallen; dann aber hätte sie seinen Bitten nachgegeben und ihn gekleidet wie die andern auch. Sie sehen, auch die Vernünftigen [727] müssen dem Leithammel folgen, solange der Leithammel nicht von kräftiger Hand auf den richtigen Weg gestaucht wird, rennen sie alle in der Richtung, wie der Wind bläst, und wenn’s ins offene Wasser hineinginge. Nun, solche Dinge machen ihren Weg eben sehr langsam. Ich habe Geduld, bin schon froh, nur überhaupt zu Worte gekommen zu sein.“
„Ja und Magisterchen, – Sie nehmen die Frage nicht übel – es ist Teilnahme, es ist nicht Zudringlichkeit – bringt’s denn was?“
Er machte die Gebärde des Geldzählens. Rettenbacher nickte lächelnd.
„Es bringt. Auch das – denken Sie nur! Hätten Sie mir dergleichen zugetraut? Einen ganz netten Batzen werde ich schließlich einnehmen. Und nicht genug damit, die Leute von der Druckerschwärze fangen an, mich als litterarische Persönlichkeit in Betracht zu ziehen. Ich habe – halten Sie sich fest, fallen Sie nicht von der Bank – von zwei großen Zeitschriften Anfragen bekommen, wegen Veröffentlichung von Aufsätzen, die in das Schulfach schlagen. Wie finden Sie das?“
„Ich sage nur ein Wort: Schneesieder!“
Und mit einem vergnügten Hieb in die Luft: „Magisterchen, alter Kronensohn, Sie werden noch ein Kapitalist, sollen Sie mal sehen!“
„Wenigstens hat es den Anschein, als ob mein krankes Portemonnaie noch einmal bessere Tage sehen sollte. – Zeit wär’s.“
„Wahrhaftig, Sie armes Luderchen, Sie famoses. Wollte Gott, die Sache hätte schon ein paar Jahre früher angefangen! Und mit echt Güntherischer Geschicklichkeit sagte er nach einer kurzen Pause: „Morgen ist Hannichens Hochzeitstag.“
„Ich weiß,“ antwortete Rettenbacher nach einem flüchtigen Zucken seines still und ernst gewordenen Gesichts.
„Schon der vierte,“ fuhr Günther fort. „Oder vielmehr der fünfte. Das viertemal, daß sich’s jährt. Gott, wie die Zeit vergeht. Und wie man sich auseinanderlebt. Wer uns das vorausgesagt hätte, daß uns das Hannichen so fremd werden würde, daß wir nicht mehr wüßten: ist sie gerade in Berlin, oder nicht. Oder haben Sie sie kürzlich gesehen? Nein. – Sie wissen ja, daß ich sie nie sehe. „Zufällig meint’ ich. Könnte ja mal vorkommen. Ich seh’ sie ja auch nicht. Hab’s aufgegeben. Man wird ja nie angenommen. An die zwölfmal hab’ ich’s versucht – immer derselbe Bescheid: unwohl, ausgefahren, verreist. Ich kam mir schließlich ganz affenhaft vor bei diesen dämlichen Antworten. Ob sie denn denken, man merkt das nicht? Daß Hanna was dafür kann, halt’ ich für ausgeschlossen. Sie wird einfach drunter durch sein. Im Vertrauen: ich glaube, der Mann ist ein Vieh.“
Rettenbacher sah ihn finster fragend an.
„– – Da wir nun doch einmal davon reden,“ sprach Günther nach einem verlegenen Räuspern weiter. „Ich habe das Thema sonst immer vermieden, aus – na aus – einerlei. Ein Vieh, nach allem, was ich so höre. Ganz Genaues weiß ich zwar nicht, ich verkehre ja nicht in seinen Kreisen aber es sickert doch so einiges durch. Er soll sie mit seiner blödsinnigen Eifersucht rein zu Schanden machen. Hannichen, dieses treue ehrenfeste Ding! Dazu ein Tyrann, ein grober, ungeschliffener. Vor andern Leuten schnauzt er sie gelegentlich an wie ein Dienstmädchen, hör’ ich. Sein Geschäft hat er aufgegeben, lebt nur von seinen Renten. Kunststück, von solchen Renten lebt’ ich auch! Aber ein Mann ohne Beruf, ohne Thätigkeit – können Sie sich so was denken? Mit – na, wie alt kann er sein – höchstens fünf-, sechsundvierzig. Ein Skandal! Große Reisen sollen sie machen. Für drei, vier Monate, einmal waren sie glaub’ ich, ein halbes Jahr lang unterwegs. Die kleine Imhoff, aus unserem Chor, wissen Sie die sieht sie manchmal, aber auch nicht oft. Von der höre ich doch zuweilen ein Wort über das arme Ding. Vor kurzem fragte ich sie auch, aber da wußte sie schon längere Zeit nichts Neues mehr, nur, daß es mit Hannas Gesundheit nicht großartig stünde und daß sie zu einer Nordlandsreise abgefahren wären. Das ist ja jetzt modern. Ich trug ihr Grüße auf, damit sie doch sieht, daß man noch an sie denkt. Den Pastor besucht sie zuweilen, wenn mir recht ist, aber nur in sehr langen Pausen.
Erdmann geht nicht hin; er wird, glaub’ ich, ebenfalls abgefertigt wie ich. Scheint niemand von der früheren Zeit her zu dulden, der gnädige Herr, wenigstens, was uns Mannsleute angeht. Ich fürchte, ich fürchte, dem armen kleinen Ding kommt sein Reichtum teuer zu stehen.“
„Das fürchte ich auch,“ sagte Rettenbacher, düster vor sich niederblickend.
„Ich hab’ mir schon manchmal gedacht,“ fuhr Günther nach einer Pause nachdenklichen Sinnens fort, „warum ist die unglückliche Frau, die Mutter, nicht ein halbes Jahr früher gestorben, wenn sie doch nicht zu retten war? Dann wäre manches anders gekommen, bin ich überzeugt.“
Rettenbacher schwieg. Er sah starr geradeaus und drückte die Lippen fest zusammen.
„Fregestraße!“ rief der Schaffner.
Sie stiegen aus. Hans rannte davon, um als der erste oben zu sein und den Gast anzumelden.
„Warum haben Sie mich denn übrigens ausgerechnet gerade heute mitgeschleift?“ fragte Günther, während sie die Treppe zu Rettenbachers Wohnung hinaufgingen.
Arnold schüttelte lächelnd den Kopf.
„Dieser Leonhardt muß seine Botschaft ja meisterlich ausgerichtet haben. Also, die Grete hat Geburtstag und den wollte ich gern ein bißchen feierlich begehen. Es ist der erste hier bei mir und weil ich fürchtete, sie möchte mir am Ende weinerlich werden, habe ich Sie als – –“
„Hanswurst“ engagiert, vollendete Günther, da Rettenbacher nach dem Wort suchte.
„Wenn Sie wollen, ja, lieber Freund. Ich bin leider nicht sonderlich geschickt in der Kunst, einen Menschen aufzuheitern. Die Musikanten aber sollen das von alters her verstanden haben. Und daß sie Sie gern sieht, weiß ich.“
„Schön, Magisterchen, ich stimme also meine Leier. Uebrigens find’ ich, daß sich Frau Zöllner in diesem Jahr schon ganz nett mit Ihnen eingelebt hat. Weinerlich kommt sie mir eigentlich nicht vor.“
„Nu nein. Aber wie die Frauen schon sind – an bestimmten Tagen, da faßt sie die Wehmut härter an, und dem wollte ich vorbeugen.“
Er schloß jetzt seine Flurthür auf.
Grete kam ihnen entgegen, ihr dickes Bübchen an der Hand, Sie errötete über das ganze frische, runde Gesicht, als sie den Gast begrüßte. „Das ist aber schön von Ihnen, Herr Günther, daß Sie uns die Ehre geben.“
Sie wandte sich dann gleich zu ihrem Bruder. „Noldichen, du guter Kerl, ich dank’ dir auch für das schöne Kleid. Ich war doch so überrascht. Und zu Günther, während sie ins Wohnzimmer traten: „Er hat mir’s nämlich eingewickelt, mit ’ne riesig großen Adresse darauf, in seiner Stube auf den Tisch gelegt. Da fand ich’s denn beim Aufräumen, wie er schon längst über alle Berge war. So ist er. Macht sich ganz dumm davon und sagt kein Wort. Na warte, du!“
Sie nahm ihn beim Kopf und küßte ihn herzlich.
„Also, hat es deinen Beifall,“ sagte Rettenbacher. „Das ist mir lieb. Denn umtauschen läßt es sich nicht, wie etwa eine Kaffeekanne. Ich kaufte es in der Potsdamerstraße und sagte dem Jüngling, es wäre für eine Frau von praktischen Grundsätzen, und es müßte sich waschen lassen, ohne etwa dabei zusammenzuschnurren. Da pries er mir die schwarzweiß gestreifte Sache so leidenschaftlich an, daß ich nicht den Mut hatte, zu sagen, ich fände sie etwas zebrahaft. Er hat also recht gehabt. Hoffentlich ist es genug?“
„Ja natürlich. Sehen Sie an, Herr Günther, was ich für’n nobeln Bruder habe. So, da geht er ab, das kann er nicht vertragen. Du!“ rief sie dem Flüchtling nach, „wir essen aber gleich! – Und diesen Spitzenkragen“ fuhr sie eifrig fort, „den hat mir unsere Meta geschenkt. Ganz früh, ehe sie abfuhr. Zu Mittag kann sie ja leider nie da sein. Der weite Weg heraus, wissen Sie. Ist er nicht fein, der Kragen? Die Zuthaten hat sie umsonst von ihrer Prinzipalin bekommen, lauter Restchen, aber gemacht hat sie ihn ganz allein. Sagen Sie bloß, ob er nicht wundervoll ist.“
[728] „Famos,“ sagte Günther, „fürstlich. Und die mächtige Siegellackstange da, die sieht doch ganz nach Hansel aus.“
„Ist auch von ihm. Hat er sich pfennigweise zusammengespart. Ein anständiger Bengel.“ Sie packte ihn, der strahlend daneben stand, zärtlich bei seinem Kraushaar. „Kriegt auch das größte Stück vom Kalbsbraten. Und die Mutter hat wieder Strümpfe gestrickt, für mich und den Kleinen. Und alle Kinder zu Hause haben so schöne Briefe geschrieben. Das ist doch ein anderer Geburtstag als vor’m Jahr.“
„Aber beste Frau Zöllner, darüber brauchen Sie doch nicht zu weinen!“
„Nee, ich weine ja auch nicht,“ sagte sie lächelnd, sich mit dem Handrücken über die Augen fahrend. „Ich freu’ mich bloß. Sehen Sie, wenn der Arnold nicht wär’ – – Hans, mein guter Junge, geh’, guck’ nach dem Fränzchen, er könnt’ mir in der Schlafstube die Wasserkanne herunterreißen; wenn der Arnold nicht wär’, dann säß' ich noch heute daheim und grämte mir die Augen aus dem Kopf. Es war doch ’ne schwere Zeit für mich, vergang’nen Sommer, wissen Sie! Alleine auf meinem Hof bleiben, wie mein guter Mann tot war, das konnt’ ich nicht; so mußt’ ich ihn verkaufen. Wenn man aber schon so seine eigne Häuslichkeit gehabt hat und soll dann wieder im alten Rest unterkriechen, das ist immer schlimm, auch bei den besten Eltern. Da war denn der Bruder wieder der Kluge, der Rat wußte. Nun hab’ ich doch wieder ’ne Häuslichkeit, wo ich schaffen kann und wo ich was vor mich bringe. Und ihm kann ich das Leben auch behaglicher machen, als er’s früher gehabt hat.“
„Und er thut immer, als wenn Sie ganz allein ihm und dem Hans zu Gefallen, hierhergekommen wären.“
„Na ja, das sieht ihm ähnlich, dem Heimtücker! Er will ja auch nie, daß ich außer der Miete nur einen Groschen von meinem eignen Geld in die Wirtschaft stecke. Was ich übrig behalte, soll ich nach der Sparkasse tragen für böse Zeiten, und weil doch mein Kleinerchen auch immer größer wird. Sprünge kann er ja noch nicht gerade machen, sagt er, aber es steht doch immer besser jetzt und wenn ich ihm seinen Haushalt nur sparsam führe, mehr verlangt er nicht von mir, sagt er. Aber, du lieber Gott, was versteht ein Mannsbild von solchen Sachen! Kann er mir in jede Tüte und in jeden Topf reingucken? Kann er mir’s nachweisen, wenn ich gelegentlich ein Pfündchen Zucker mitbringe und gelegentlich ein Pfündchen Mehl und es ihm nicht aufschreibe? Wenn er ein nobler Kerl ist – ich will mich auch nicht lumpen lassen! Und wie ich neulich grade dazukam, daß die Meta frischen Thee in die Büchse schüttete, da haben wir uns bloß angesehen und haben leise gelacht. Eigentlich wollt’ ich mit ihr schimpfen. Sie von ihren paar Groschen. Aber recht hat sie doch. Jeder wie er’s kann. Bloß merken darf er das nie. Daß Sie uns nicht verraten, Herr Günther! – Jemine; ich weiß überhaupt gar nicht, wie ich dazu komme, Ihnen das alles zu erzählen!“
Sie war über und über glühend rot geworden.
„Lassen Sie’s gut sein, Frau Zöllner,“ beruhigte sie der Musiker, vergnügt lachend. „Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.“
„Na, dann werd’ ich nur jetzt die Suppe anrichten. Grete war an den schon längst fertig gedeckten Tisch getreten und rückte noch einmal an Tellern und Bestecken herum. „Sie könnten am Ende den Bruder holen.“
„Kann ich. Ich mache mich auch gleich noch ein bißchen schön bei ihm. Sehen Sie mal; mit den Händen habe ich Ihnen gratuliert.“
Rettenbachers Zimmer war bis auf die kleinsten Einzelheiten das wohlbekannte aus der Linkstraße, nur daß Hansens Bett noch darin hatte Platz finden müssen.
Vom Schreibtisch her winkte Arnold dem eintretenden Günther mit einem eben geöffneten Brief. Sein ernstes Gesicht war ganz von Freude erhellt. Es hatte auch wieder Farbe, die ihm während des letzten Gespräches auf der Dampfbahn abhanden gekommen war.
„Hier! Lesen Sie!“ rief er, dem Gast das Blatt hinreichend.
Günther las laut. „Herrn Oberlehrer Doktor Arnold Rettenbacher, Friedenau, Berlin.
Sehr verehrter Herr Doktor!
Gestatten Sie mir die angenehme Mitteilung, daß eine zweite Auflage Ihrer ,Gesundheitspflege in der Schule’ notwendig geworden ist. Ich erlaube mir, Ihnen herzlich zu diesem Erfolg zu gratulieren. Etwaige Zusätze oder Striche wollen Sie gefälligst in beifolgendem Exemplar vornehmen und mir dieses dann baldmöglichst zusenden.
„Hurra!“ schrie Günther seelenvergnügt. „So muß es kommen! Magisterchen, Sie sind ein Satansbraten! Gratuliere, gratuliere! Gott bewahre, freu’ ich mich! Weiß es denn die Grete – ich meine, weiß es denn Frau Zöllner schon?“
„Nein, wie sollte sie? Ich habe den Brief eben erst beim Heimkommen vorgefunden.“
„Nun, dann kommen Sie aber schleunigst! Ich sollt’ Sie ohnehin zu Tisch rufen – –“
Gerade während des Nachtischs brachte der Postbote noch einen Brief mit dem Poststempel Weißenfels.
„Vom Vater?“ sagte Rettenbacher erstaunt. „Der tausendblättrige Geburtstagsbrief ist doch schon heute früh gekommen. Was kann denn das nur noch sein? Hoffentlich nichts Schlimmes.“ Aber nach dem ersten raschen Durchfliegen rief er fröhlich: „Nein, sogar etwas sehr Gutes! Unser Lieschen ist Braut! Hört zu, schreit nicht so durcheinander, laßt mich vorlesen!“
Lieber Sohn!
Eine erfreuliche Nachricht soll man nicht aufschieben und so ergreife ich die Feder – –
„Ergreife ich die Feder – das steht doch in jedem Brief vom Vater,“ rief Hans übermütig dazwischen.
„Halt deinen frechen Schnabel, du Naseweis,“ verwies ihn der große Bruder streng. „Lern’ erst selber ordentlich Briefe schreiben. Also – “
„die Feder, obwohl erst heute vormittag der große Geburtstagsbrief an Deine Schwester abgegangen ist. Aber dazumalen war eben die Neuigkeit noch nicht passiert. So erfahret denn, daß vor einer Stunde unser gutes Lieschen Verlobung gefeiert hat mit dem jungen Pastor Winkelmann. Grete wird ihn ja noch kennen von der Zeit her, wo er Hilfsprediger gewesen ist bei unserm alten Herrn Pfarrer. Nun hat er schon selber seine Herde in Zella St.Blasii und ist wohl zu hoffen, daß es eine hübsche, einträgliche Stelle sein wird. So hat uns der liebe Gott wieder einer Sorge um die Zukunft enthoben. Zu Weihnachten soll schon die Hochzeit gefeiert werden, wir haben nichts dawider, denn warum sollen sie noch lange warten, wenn doch das Nestlein schon bereitet ist.
Es herrschet eitel Freude im ganzen Hause und Deine Mutter geht herum und weiß nicht, ob sie weint oder lacht, aber die Augen sind ihr noch kaum trocken geworden. Die Regine ist gar stolz, daß sie diesmal schon Brautjungfer wird sein können, und der Franz will sich mit Gewalt erkundigen, ob er nicht wird dürfen Trauzeuge sein, wo er doch diesen Herbst schon eingesegnet wird.
Ich muß schließen lieber Sohn, denn es liegt mir noch ob, an Euren Bruder Ernst zu schreiben damit er auch recht bald die freudige Nachricht erhalte.
Die Liese läßt der Grete einen Extragruß bestellen und sie soll nicht weinen – –
– – Sie thut’s aber doch,“ sagte Rettenbacher mit einem lächenden, freundlich vorwurfsvollen Blick auf die junge Frau, die ihr Gesicht in die aufgestützten Hände gelegt hatte und sacht in sich hineinschluchzte.
„Ich meine schon, sie macht’s wie die Mutter,“ sagte Hans verständnisvoll.
Je fester der Blick sich rückwärts kehrt ins Leben der Völker, desto verschwommener und unklarer wird alles. Personen und Begebenheiten verschwinden immer mehr im Nebel der Sagen wie einsame Inseln im weiten Meer ragen nur wenige Gestalten schärfer erkennbar aus dem grauen Chaos hervor und schließlich fällt kein Licht der Geschichtswissenschaft mehr in das Dunkel der Vorzeit. Die Historie schließt, die Prähistorie beginnt.
Für Deutschland liegt die Periode der Vorgeschichte nicht allzuweit hinter uns. Während am Euphrat oder am Nil mächtige Kulturreiche herrschten, ja selbst noch zur Zeit hellenischer Blüte und römischer Größe, von welcher wir aufs genaueste unterrichtet sind, war Deutschland ein geschichtsloses
Land. Keine Aufzeichnungen melden uns aus diesen Zeiten vom Leben und Thun der Bewohner unseres Vaterlandes, kein Geschichtsschreiber hat die Thaten früherer Heerführer, die Verschiebungen der Völkerstämme der Nachwelt aufbewahrt.
Aber auf anderem Wege vermögen wir dennoch uns ein Bild zu machen von der Kulturhöhe der vorgeschichtlichen Bewohner Deutschlands – ein Bild, welches in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Schärfe gewonnen hat, und das Material, auf welchem wir fußen, ist das denkbar beste, es sind Ueberreste aus jener Zeit selbst, die mit beredten Worten zu uns sprechen im treuen Schoß hat die Erde uns diese Zeugen einer längst vergangenen Zeit bewahrt.
Was dem Höhlenbewohner im täglichen Leben verloren ging, um dann im schützenden Grunde der Höhle durch Jahrtausende bewahrt zu bleiben, was beim Brand der Pfahlbaudörfer in den Schlamm am Grund des Sees versank, was pietätvoller Sinn den Verstorbenen mit ins Grab gab, die Waffen des Mannes, den Schmuck der Frau, das Spielzeug des Kindes: die Wißbegierde unserer Zeit zieht es ans Tageslicht und vor unserem geistigen Auge entsteht ein längstvergangenes Geschlecht; wir kennen seine Hantierung und Lebensweise, seine Kleidung und seine Waffen, ja selbst über seine Handelsbeziehungen giebt uns der eine oder andere Fund Aufschluß.
Freilich, nur der Kundige vermag zu erkennen, welch hohe Bedeutung ein Knochenstück, ein
Thonscherben, ein Bronzekrug oder eine Eisenperle vielleicht besitzt, und mit Schmerz fragt sich der Forscher, wie oft ein wertvoller Fund der Wissenschaft verloren gehen mag. Achtlos wird beiseite geworfen, was die Pflugschar des Landmanns oder die Picke des Eisenbahnarbeiters zu Tage fördert, und nur zu oft öffnet müßige Neugierde ein sogenanntes ’Hünengrab’ und von den Funden wird nur die glänzende Bronze genommen, das andere verschleudert.
Um in weitere Kreise, besonders der Bewohner des flachen Landes, welche am ehesten Gelegenheit zu prähistorischen Funden haben, Interesse und Verständnis für diese meist so unscheinbaren Dinge zu tragen, sind mehrfach schon sehr praktische Wandtafeln publiziert worden, die im Bilde die wichtigsten Funde vor Augen führen. Nachdem vor Jahren von dem bekannten Major v. Tröltsch eine prächtige Fundkarte für württembergische Altertümer herausgegeben worden ist, liegt eine weitere ähnliche Karte für die Provinz Hannover im Verlag von Theodor Schulze’s Buchhandlung in Hannover vor.
An der Hand charakteristischer, kolorierter Abbildungen werden wir durch die ganze Kulturentwicklung der Bewohner Deutschlands hindurchgeführt, von der grauesten Vorzeit bis in die neugeschichtliche Periode. Kleinere Abbildungen zeigen uns ferner die charakteristischen Begräbnisformen der Vorzeit (vergl. unsere Abbildungen), die uns in ihren Beigaben die wichtigsten Anhaltspunkte für prähistorische Forschung liefern; da sehen wir ein altes Steingrab, dann die Beisetzung des Leichnams in Flachgräbern, ein einzelnes Hügelgrab, in dessen Mittelpunkt die Urne mit den Brandresten des Abgeschiedenen steht, Denkmäler pietätvoller Beerdigung, die durch ihre oft ganz enorme Größe heute noch die abergläubische Phantasie der Umwohner wach halten, leider aber auch stets die Habsucht der Menschen erregte, und endlich ist auf der Tafel ein Urnenfriedhof dargestellt, wohl der Bestattungsplatz der gewöhnlichen Bevölkerung, der nicht ein eigenes Denkmal in Form eines künstlichen Hügels geschichtet wurde.
Steine, Knochen und das Horn der Geweihe erlegter Jagdtiere bildeten das erste Material für Geräte und Waffen der prähistorischen Menschen. Mit scharfem Schlag wurden vom Feuerstein, Kiesel und ähnlichen Gesteinsarten Späne abgesplittert; sie dienten als primitive Messer und Schaber zur Verarbeitung der Felle, auch Pfeil- und Lanzenspitzen wurden aus Feuerstein geschlagen, und durch kleine Unterbrechungen in der unteren Kante des Messers entstand die Säge. Das war die Zeit des gehauenen Steines, die ältere Steinzeit, die paläolithische Zeit; mit ihr tritt überall der Mensch in die erste Kulturperiode ein. In Deutschland streifte damals unter anderem verschwundenem Getier noch das Ren umher und seine Geweihe bildeten für den Steinzeitmenschen willkommenes Material; mit Mühe und Geduld wurden lange Pfriemen und spitze Nadeln aus dem Geweih herausgeschnitten.
Aehnlich wurde das Geweih des Hirsches in den Gegenden verarbeitet, wo statt des Rens dieser stolze Waldbewohner gejagt wurde. Daß auch auf dieser niedrigen Kulturstufe der Mensch bereits Sinn hatte für Schmuck, beweisen die durchbohrten Tierzähne, z. B. vom Höhlenbären, Hund, Fuchs usw. welche sicher als Halsband getragen wurden, wie wir dies noch heute bei den Eingeborenen der Südsee sehen.
Viele, viele Generationen mögen mit dem roh behauenen Stein sich beholfen haben, bis allmählich die Kenntnis Boden gewann, den Stein zu schleifen und zu glätten. Axt, Hammer und Beil wurden die Typen für Waffen und Werkzeuge dieser Periode. Manche Funde zeigen uns, wie der Mensch es verstand, den Stein geschickt in die Krone eines mächtigen Hirschgeweihes zu fassen, und solch ein Stück, welches noch heute unsere Freude erregt, war sicher der Stolz seines Besitzers. In der neuen Technik wurde zum Teil neues Material verwendet, welches sich nach seinen physikalischen Eigenschaften besonders eignete, und die Menschen besaßen augenscheinlich große Kenntnis in der Auswahl der Gesteinsart. Vielleicht herrschten schon zu dieser Zeit weithin Handelsbeziehungen, und bekannt ist die lange erörterte Streitfrage, woher die prähistorischen Bewohner des mittleren Europas das Material zu den prächtigen Nephritwerkzeugen nahmen, die man z. B. in einigen größere Seen der Alpen gefunden, ob sie es auf Handelswegen von China, der Heimat dieses schönen Steines, erhalten, etwa selbst von da mitgebracht, ober ob sie, was die heute herrschende Ansicht ist, in der Nähe ihrer Wohnorte etwa doch das Gestein selbst gefunden. Auf unseren [731] Abbildungen sehen wir, daß manche dieser schöngeglätteten Steinbeile auch ein Loch zum Einfügen eines Stieles hatten. Neben Stein-, Knochen- und Horngeräten zählen zu den Funden aus jener weit zurückliegenden Zeit auch Thongeräte. Wir finden bereits Urnen, mannigfach verziert mit eingestochenen oder eingedrückten Ornamenten, in der untenstehenden Abbildung sehen wir einen Thongegenstand, der wahrscheinlich als Netzbeschwerer zu deuten ist, wissen wir doch, daß zu der Zeit der neolithischen Periode (in dem jüngeren Steinzeitalter) die europäischen Bewohner vielfach auf Pfahlbauten wohnten und wohl erfahren waren im Stricken von Netzen. Während in der paläolithischen Zeit wohl jeder sich seine bescheidenen Geräte und Waffen selbst verfertigte, mag es in der neolithischen Zeit schon zu einer Arbeitsteilung gekommen sein und die hübschen geglätteten Steinwaffen mögen von bestimmten Künstlern hergestellt worden sein, wofür die gelegentlichen häufigen Funde an einem und demselben Orte sprechen.
Eine neue Aera der Kulturgeschichte begann mit der Einführung und Kenntnis der Metalle. In einigen Gegenden Europas scheint zuerst das reine Kupfer verwendet worden zu sein, aber jedenfalls handelt es sich hierbei um eine kurze und vielleicht gar nicht allgemein verbreitete Periode. Rasch folgte die Bronzezeit. Der prähistorische Mensch hatte nicht nur gelernt, die metallhaltigen Erze zu verhütten, sondern er machte auch die Entdeckung, durch Legierung von Kupfer und Zinn, welche beiden Metalle oft weither auf Handelswegen bezogen werden mußten,
die schöne goldglänzende Bronze zu erzeugen. Sie bildete nun das Material zur Herstellung von Waffen, Gerätschaften und Schmucksachen und bald entwickelte sich eine hohe Technik. Die zahlreichen Funde, die wir aus der Bronzezeit besitzen, deren Höhepunkt für Europa etwa in die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. fällt, darunter auch Gußformen, in welchen die Bronzesachen. gegossen wurden, zeigen, daß die Herstellung der mannigfaltigen Gegenstände in den Händen professioneller Handwerker, ja wir dürfen sagen Künstler, ruhte. In den einzelnen Ländern machte sich bereits ein verschiedener Geschmack in der Ausführung geltend, so daß wir z. B. mit Recht von einem schwäbischen Stil der Bronzezeit reden können. Auf der Fundtafel. welche uns die Veranlagung zu dieser Skizze gab, ist eine Reihe charakteristischer Bronzegegenstände abgebildet, schöne Schwerter und Dolche, Messer und Sichel, eigentümliche Streckäxte, sogenannte Kelte, und verschiedene Schmucksachen in deren geschmackvoller Darstellung die Bronzezeit hervorragte. Da finden sich Arm- und Beinringe, oder lange, ebenfalls als Armschmuck getragene Spiralen, beide Sorten sehr an ähnlichen Schmuck bei den heutigen Eingeborenen Afrikas erinnernd, ferner schön verzierte Schildbuckel, künstlerisch ausgeführte Nadeln, und vor allem begegnen wir in allen nur denklichen Formen und Ausführungen einer Fülle von sogenannten Fibeln oder Gewandnadeln, den Vorläufern unserer heutigen Sicherheitsnadeln, welche jedoch von ihren Vorbildern aus der Bronzezeit an künstlerischem Geschmack und Eleganz der Form himmelweit übertroffen werden.
Als Hauptfundort aus der Bronzezeit ist das große Gräberfeld bei Hallstadt im Salzkammergut bekannt geworden, so daß man von einer Hallstadter Periode in der Kulturentwicklung der Menschheit spricht. Reichtum und Prunkliebe charakterisierten diese Bevölkerung, deren Erzeugnisse wir noch heute nach Jahrtausenden bewundern. Hoch war auch die Töpferei in Herstellung prächtig ornamentierter Urnen entwickelt. Als Schmuck fand der weither durch Handelsbeziehungen erhaltene Bernstein, aber auch Gold Verwendung, allmählich gesellt sich als weiteres Schmuckmetall – das Eisen hinzu. Nicht als Material zur Herstellung von Gebrauchsgegenständen, sondern als kostbare Verzierung findet es zuerst Verwendung. Aber sowie es einmal bekannt geworden ist, werden bald seine trefflichen Eigenschaften immer mehr gewürdigt, und nachdem man die Verarbeitung desselben erlernt hatte, wurde die Bronze immer mehr verdrängt. Die Menschheit tritt aus der Bronzezeit in die Eisenzeit. Auch diese Periode trägt nach einem an charakteristischen Erzeugnissen besonders reichen Fundort, der Pfahlbaustation von La Tène bei Marin am Neuchatellersee, einen besonderen Namen: La Tène-Zeit. Hier wurden prächtige Eisenschwerter gefunden, bis 95 cm lang und mit zweischneidiger bis nahe zur Spitze gleich breiter Klinge, die Scheide bestand aus zwei Blättern von Eisenblech; außerdem grub man Pfeile, Messer, Scheren, Kessel, Nadeln und allerlei andere praktisch gearbeitete Gebrauchsgegenstände aus; der Schmuck trat zurück in dieser Zeit, vielen Funden ist eine gewisse Nüchternheit eigen, wozu freilich beigetragen haben mag, daß beim Eisen technische Schwierigkeiten der Entfaltung des Formenreichtums, wie wir sie aus der Bronzezeit kennen, hindernd entgegentraten. Die La Tène-Zeit ist etwa von 500 v. Chr. bis 100 n. Chr. zu setzen. Bereits fällt für einen Teil Germaniens ein schwaches Licht geschichtlicher Forschung in das bisherige Dunkel. Die germanischen Stämme trafen im Grenzkrieg zusammen mit den Kohorten Roms, und bald herrschte der römische Adler über weite Gebiete. In Kastellen und Wällen, in Städtegründungen und Anlage von Heerstraßen, aber auch in Hunderten von kleineren Gegenständen, Figürchen, Glassachen und anderen zum täglichen Leben und zum Schmuck des Daseins gehörigen Dingen, die heute der Spaten des Altertumsforschers ausgräbt, haben die Römer Zeugen ihrer Anwesenheit auf deutschem Boden hinterlassen.
Allein das mächtige Römerreich zerfiel, über ganz Europa wälzten sich die erregten Fluten der Völkerwanderung hin und noch einmal sind wir für diese Zeit der Gärung fast ausschließlich auf die Funde, die der Boden uns liefert, angewiesen. Die Logik des Spatens tritt noch einmal an die Stelle der geschriebenen Geschichte. Im ganzen zeigen uns all diese Funde eine reiche Kultur und hohe Technik. Tauschierungen mit Silber und Bronze, reiche Verwendung von farbigem Glasfluß, aber auch von Gold und Edelsteinen, besonders an den großen Scheibenfibeln, die oft verschwenderisch reich besetzt und künstlerisch ausgeführt sind, ferner eine besondere Formenfülle der oft kostbar gravierten und gold- und steingeschmückten Waffen, die in dieser kampfesfrühen Zeit sicher den größten Stolz ihres Besitzers bildeten, sind die besonderen Merkmale der Gräberfunde aus der Völkerwanderungszeit in Deutschland. Allmählich klären sich die Zustände und von dem bunten namenlosen Gewirr heben sich einige Personen ab, zuerst noch schemenhaft und besser bekannt durch ihre Verherrlichung in Sage und Dichtung als durch die exakte Forschung, bis voll und scharf das mächtige Geschlecht der Karolinger uns vor Augen tritt und für unsere Heimat die Vorgeschichte endgültig abgelöst wird von der Geschichte.Gestorben am 4. November 1847.
(Mit dem Porträt S. 725.)
Ein halbes Jahrhundert ist dahingerauscht, seit Felix Mendelssohn-Bartholdy am 4. November 1847 in Leipzig seine Augen geschlossen zum ewigen Schlummer; von den nächsten Freunden, die Tag und Nacht sein Leidenslager umstanden und beklommen die Katastrophe erwarteten, lebt allerdings keiner mehr. Aber noch wandeln unter uns Zeitgenossen, die von der überwältigenden Schwere des Schmerzes, wie er bei der Kunde vom Hinscheiden des allverehrten Meisters ganz Pleißathen belastet, anschaulich zu berichten wissen. Und nicht bloß die Stadt, die ihm seit 1835 den blütenreichsten Aufschwung ihres musikalischen Kunstlebens für immer zu danken hat und einen großen Teil seiner bedeutendsten Werke entstehen sah, trauerte bei seinem Scheiden; an vielen Orten, im In- und Auslande, wohin nur jemals seine Muse den Weg gefunden, beklagte man in würdigen Gedächtnisfeiern seinen frühzeitigen Tod. In tiefergreifenden Tönen sang kein Geringerer als Emanuel Geibel dem heimgegangenen Freund, zu dem ihn die „Lorelei“ in nähere Beziehung gebracht, die Totenklage, und wer hätte ihm nicht beigestimmt in dem Zuruf:
„Fast noch in Jugendtagen.
In deines Schaffens reichstem Sommerflor
standst du, der Zukunft Weisen schon im Ohr,
Da wurdest du vom jähen Blitz erschlagen …
Du fielst, ein Baum, der Frucht und Blume wies,
Der Großes gab und Großes uns verhieß.“
Nur ein kurzer Lebenslauf war Felix Mendelssohn-Bartholdy beschieden, aber das Schicksal hat ihm keine Dornen auf den Weg gestreut. Er brauchte nicht wie so viele große Talente mit der bitteren Lebensnot zu ringen, und ein glückliches Los war ihm auch darin bereitet, daß in seinem Elternhause Kunst und Wissenschaft eifrig gepflegt wurden. Als Enkel des Philosophen Moses Mendelssohn und Sohn des Bankiers Abraham Mendelssohn erblickte er am 3. Februar 1809 in Hamburg das Licht der Welt. Seine Mutter war eine Schwester des Legationsrates Salomon Bartholdy. Im Jahre 1811 siedelten seine Eltern nach Berlin über, und hier im Kreise kunstsinniger Freunde zeitigte die musikalische Begabung des Knaben frühzeitig vielversprechende Blüten. Im Klavierspiel war Ludwig Berger sein Lehrmeister und in der Komposition erhielt er von Kelter Unterricht.
Auf seinen Kunstreisen, die er im Jahre 1829 begann, besuchte Mendelssohn auch London und Paris, dann übernahm er 1833 das Amt des städtischen Musikdirektors in Düsseldorf. Zwei Jahre später folgte er dem Rufe nach Leipzig, wo er die Gewandhauskonzerte dirigierte. Hier gründete er sein eigenes Heim, indem er Cäcilie Jeanrenard, die Tochter eines reformierten Predigers in Frankfurt a. M., heiratete. Sein Ruf war bereits so groß, daß der König von Preußen ihn wiederholt nach Berlin berief, aber die Thätigkeit in der Hauptstadt Preußens sagte Mendelssohn nicht zu, und er kehrte nach Leipzig zurück, wo er an der Gründung des Konservatoriums der Musik den regsten Anteil nahm. Als er im Herbst des Jahres 1847 von einer Schweizerreise heimkehrte, traf ihn ein Nervenschlag, dessen Folgen er am 4. November in seiner Wohnung (Königsstraße 23) erlag.
Wie alle hervorragenden Meister hatte auch Mendelssohn seine glühenden Verehrer und seine Gegner. Die Zeit hat inzwischen das Urteil über seine Werke geläutert.
Wohl haben sich im Laufe der letzten fünfzig Jahre auch auf dem Gebiete der Tonkunst tiefgreifende Wandlungen vollzogen. Es lag nun in der Natur der Dinge, wenn sich gegen die Abgötterei, die von gewisser Seite aus mit der Muse Mendelssohns getrieben wurde, mit der Zeit eine Gegnerschaft erhob, die in Theorie wie Praxis den Schwerpunkt der Kunst und ihre letzten Ziele anderswo suchte und zu finden hoffte als auf den Pfaden des Vielbewunderten und Vielbeneideten. Aber auch sie, wenn sie nicht den Vorwurf der Ungerechtigkeit sich zuziehen wollte, mußte zugestehen, daß seit Mozart die Tonkunst keinen zweiten Musiker hervorgebracht, der sich in der Formbeherrschung und in der harmonischen Durchbildung Mendelssohn vergleichen ließe. Mag ihm die Kühnheit eines Genius, der neue Bahnen bricht, versagt geblieben sein, so ist die Anmut und das sonnige Element seines Schaffens im engsten Anschluß an große Vorbilder der Vergangenheit erquickend und anheimelnd genug.
Was immer auch, bald mit Recht, bald mit Unrecht, gegen seine Oratorien „Paulus“, „Elias“, viele seiner Psalmen vorgebracht worden ist, sie sind doch die bevorzugten Lieblinge weitester Konzertkreise geblieben, und keinem der Späteren und Neuesten ist es gelungen, ihre Volkstümlichkeit zu beeinträchtigen. Und in welcher Blütenpracht stehen noch immer jene Orchesterwerke, auf welche der Geist jugendfroher Romantik sein breites Siegel gedrückt, wie in den Ouverturen zum „Sommernachtstraum“, „Schöne Melusinen“, „Meeresstille und glückliche Fahrt“ etc.! So wichtige Errungenschaften die modernste Orchestrationstechnik auch aufzuweisen hat, so hob sie doch alle die Schöpfungen nicht aus dem Sattel, die wie viele Mendelssohn’sche Meisterwerke mit verhältnismäßig einfachem Apparat das entzückendste Kolorit erzielten, einen Klangreiz auswiesen, der bis zur Stunde noch nicht das Mindeste an Unmittelbarkeit eingebüßt hat.
Nach wie vor sind Mendelssohns „gemischte Chöre unübertroffene Meisterwerke der betreffenden Litteraturgattung. Wer hätte nicht beim „Abschied vom Wald“ („O Thäler weit'“ dem „Ruhethal“, der „Nachtigall“, „Morgengebet“ (O wunderbares, tiefes Schweigen), „Tage der Wonne“, und vielen andern die beglückendsten Eindrücke empfangen, und wer hätte ihnen, die sich in ihrer erfinderischen Frische bei musterhafter, von sprühendem Leben erfüllter Stimmführung für immer unserem inneren Menschen eingeprägt, jemals die Treue brechen mögen. In der That bildet gerade die Bethätigung auf diesem Kunstgebiete, das vor ihm nur dürftig bestellt gewesen, eine der festesten, unantastbaren Säulen von Mendelssohns Ruhm. Und was er zur Veredelung des Männergesanges gethan mit den Chören zu „Antigone“, „Oedipus auf Kolonos“, in einer Anzahl noch heute hochgeschätzter Quartette („Wer hat dich, du schöner Wald“, „Komitat“, „Ständchen“ etc.), muß ihm stets als hohes Verdienst angerechnet werden, denn die Gefahr der Versandung, völliger Verseichtung lag für diese Kunstgattung nur allzu nahe.
Welches Entzücken bereitete er einst der klavierspielenden Welt, den Freunden einer sinnigen Hausmusik mit den „Liedern ohne Worte“! Die Begeisterung für sie hat sich zwar erheblich abgekühlt, aber immerhin bereiten sie, wenn man eine glückliche Auswahl unter dem in mehreren Heften vorliegenden, sehr ungleichwertigen Material zu treffen weiß, freundlichen Genuß für Ohr und Herz. Mit Recht kehren die form- und gehaltedlen „Variations sérieuses“ neuerdings häufiger im Konzertsaal ein, wo Mendelssohns G-moll Klavierkonzert Jahrzehnte hindurch bis zum Ueberdruß oft zu hören gewesen. Mit der edlen Sinnigkeit seiner einstimmigen Lieder („Auf Flügeln des Gesanges“, „Es ist bestimmt in Gottes Rat“, „Leise zieht durch mein Gemüt“) erwarb er sich dauernde Sympathien im Palast wie in der Hütte.
Wie leicht und lustig fixiert er Eindrücke aus dem italienischen Volks- und Naturleben in seiner A-dur-Symphonie! Und wie aufmerksam hat er dem Musikgeist Schottlands gelauscht und seine Eigenart festgehalten in der A-moll-Symphonie, der „Schottischen“, die der Königin Viktoria von England, einer seiner ältesten und treuesten Verehrerinnen, gewidmet ist.
Nicht dankbar genug können Violinvirtuosen ihm sein für das E-moll- Violinkonzert, das, vom zwölfjährigen Wunderknaben Jos. Joachim einst in die Oeffentlichkeit eingeführt, seit fast fünfzig Jahren sich auf dem Repertoire aller Künstler des In- und Auslandes erhält und immer willkommen ist, mag nun ein Sarasate oder ein Isaye, ein Petschnikoff oder ein Serato, ein Thompson oder Burmester mit ihm sich beschäftigen, so fesselt es trotz der verschiedensten Auffassungen und Behandlungsweisen immer von neuem durch den Reichtum und die Grazie seiner meisterhaft ausgestalteten musikalischen Ideen.
Fürwahr, die Summe seines künstlerischen Erdenwallens ist ergebnisreich und nachwirkend! Und wie recht behält der Dichter, der ihm nachgerufen
„Du hast gelebt
An Jahren jung, an Werken wie ein Greis,
Als Knabe Meister, hast das Lorbeerreis
In ungebleichte Laken du verwebt.“
Das Edle, Harmonische seines Fühlens und Sinnens, die Fülle seines regsamen, auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft heimischen Geistes, die Liebenswürdigkeit im Verkehr mit jedem, der es als Kunstgenosse ernst nahm wie er in allen Fragen der Musik stellen ihn auch spätere Geschlechter noch als eine auserlesene Erscheinung hin. Der Sendung, die er zu erfüllen hatte, widmete er sich mit allen seinen Kräften, und so hat er in der kurzen Lebensspanne von 38 Jahren eine kaum übersehbare Fülle von herrlichen Werken geschaffen, die sicherlich auch vor dem Richterspruch einer späteren Zeit mit Ehren bestehen werden.
Roman von Adolf Wilbrandt.
(4. Fortsetzung.)
Gertrud, der die innere Bangigkeit nun doch den Atem beklemmte und das Herz nur noch unvernünftig und unordentlich schlagen ließ, trat ans Klavier, um etwas zu thun und schlug einige Tasten an; sie schlug aber wie ein Kind, es ward keine Melodie daraus. Es überlief sie dann, als sie des Vaters Schritt hinter sich hörte, an ihrem Hals seinen Atem fühlte. Er murmelte etwas, das sie nicht verstand, offenbar war er sehr aufgeregt … „Gertrud!“ sagte er dann laut. Sie fuhr zusammen.
Zu ihrer Ueberraschung, nach einer bangen Pause, sprach er aber mit sanfter, freundlicher Stimme weiter: „Ich war also
[733]sehr im Irrtum, meine arme Gertrud. Es war also nicht aus. Im Gegenteil, der zweite Band des Romans beginnt: die Geheimnisse. Die liebende und trotzende Tochter hat Geheimnisse vor dem harten Vater –
„Vater!“ rief das Mädchen.
„Heimliche Briefe, ich weiß. Weiß alles. – Das ist immer so. Ist ja auch ganz natürlich! Der Vater ist grausam, unverständig, er will nicht begreifen, daß die Tochter recht hat, er entführt sie tyrannisch in ein wunderschönes Land, wo die Orangen und die Palmen wachsen, – wo ihr alles zuruft: ‚Kind, das Leben ist schön, und die Welt ist groß, häng‘dich nicht an den einen Wunsch und den einen Menschen! Mach dein Herz und die Augen auf, laß die Welt hinein, eines Tages wird dann die Stunde kommen, wo du ganz verwundert hinschaust: dieser eine kleine Mensch war mir einst die Welt? – O – nein, das Kind weiß es besser. Es drückt das trotzige junge Herz so klein zusammen, daß nur der eine kleine Mensch darin Platz hat. Und es schreibt heimliche kleine Briefe – ‘
„Vater!“ rief das gequälte Mädchen wieder. „Sag nur ruhig ,Vater’ auf den Namen hör ich. Darum nehm’ ich es auch nicht so schwer mit den Heimlichkeiten, wie es andre thäten. Das Kind ist krank, sag’ ich mir. Laß ihm Zeit. Laß ihm sein Fieber. Laß es nur genesen! – – Da haben wir ihn also wieder, deinen Arthur. Siehst du ihn denn wirklich noch mit denselben Augen? noch als Ideal? Wenn du ihn sprechen hörst – und was er spricht – ist er dir noch immer der Inbegriff alles Herrlichen, über alle Menschen? Und sagst du dir immer noch: wie auch die andern, die mich lieben, über ihn denken, ich will mit ihm leben und sterben?“
Gertruds schlanker Körper wand sich, der Vater stand noch immer hinter ihrem Rücken.
„Ach,“ seufzte sie, „wie quälst du mich. – Bitte, laß mich gehn!“ – Sie drehte sich nach der Thür, die zu ihrem Zimmer führte.
„Bitte sehr,“ entgegnete er jetzt mit ganz andrer Stimme. „Wie Sie wünschen, Fräulein Rutenberg.“
[734] „Vater!“ rief sie, wandte sich plötzlich zu ihm und warf sich ihm an die Brust. „Ach, Vater, Vater! Ich lieb dich ja so sehr! Bist so lieb, so gut! – Ach, wie schäm’ ich mich, daß ich vor dir, vor dir diese Heimlichkeit – –“
Er küßte sie auf den Kopf.
„Und du küßt mich noch,“ schluchzte sie. – „Ach, wie bin ich unglücklich. – Ach, vergieb, vergieb!“
„Arme, gute Gertrud,“ sagte Rutenberg, der sie liebevoll fest im Arm hielt, sie lag still wie ein Hühnchen, das sich an die Henne drückt. „Könnt’st du fühlen, wie hart es für so ’nen Vater ist, daß er seinem jungen Kind den Angebeteten nie so vor die Seele hinstellen kann, wie sein Aug’ ihn sieht daß er nicht auf eine, eine Stunde ihr sein Gefühl, seine Einsicht leihen kann, – Trudel, das ist hart! – Bist doch sonst so klug, und so wohlgeraten. Wirst diesem Arthur eines Tages weit, weit über den Kopf wachsen –“
Sie schüttelte ihren Kopf.
„Doch, Trudel, doch! – Und was für eine innige, tiefe, große Liebe das ist, da in deinem Herzen, das ahnt er ja nicht, das versteht er nicht! – Ja, starr’ mich nur an, als wär’ ich wohl nicht recht gescheit. Der hat dich gern, Trudel, wie du deine Puppe gern hattest. Sein Herz ist gegen deins, was eine gute warme Suppe gegen den glühenden Vesuv da ist; und es wird einmal eine kalte, stille Suppe werden – glaub’ mir, Kind, ich kenn’ ihn. Wenn er erst hat, was er wollte, dich hübsche kleine Person, und dein Geld dazu …“
Gertrud zog sich aus des Vaters Arm. Ihr jetzt totenblasses Gesicht starrte ihm immer fassungsloser in die Augen.
„Was sagst du da?“ stammelte sie. „Und mein Geld dazu?“
„Ja, denkst du denn, junge Männer wie der werben um so ’ne Erbtochter um des Herzens willen? Laß uns heut’ arm werden, Kind: morgen ist er fort! – Du zitterst ja. Was ist dir? Glaubst du, ich verleumd’ ihn? Glaubst du, es ist nicht so? Stell’ ihn mal auf die Probe, und du wirst’s erleben!“
Gertrud zuckte zusammen. Sie wollte etwas erwidern. die Lippen öffneten sich, es kam aber kein Wort heraus. Es ging nur ein langer, scheuer, qualvoller Blick aus ihren hellen Augen zum Vater hinüber, ihr schien vor ihm oder vor irgend etwas zu grauen. Sie schüttelte sich. Auf einmal wandte sie sich ab, doch nicht rasch, eher wie eine mechanische Figur, die sich langsam dreht, und ging stumm in ihr Zimmer hinter ihr schloß sich die Thür.
Rutenberg sah ihr etwas verlegen nach. Er blickte auf ihre Thür wie auf einen Vorhang, hinter dem gespielt werden soll – man weiß noch nicht, was? – Fort! dachte er ohne einen Laut! – Hab’ ich das nun klug gemacht oder unklug? – So tappen wir durch diese siebzehnjährigen Labyrinthe … Ach du lieber Gott!
Vom Korridor kam Schilcher zurück, mit seinem unergründlich stillen Gesicht. „Na?“ sagte Rutenberg beklommen. „Bist du wieder da?“
„Wollte nur unserm Hirsch auf den Wechsel passen“, gab Schilcher zur Antwort, eine Hand mit der andern reibend. „Hab’ mich in den kleinen Garten neben dem Speisesaal begeben und durch die Glasthür hineingesehn. Ein Stückchen Brot hat der Herr gegessen kam sicher pumpsatt hier an! – Aber mit dem Marinajo, mit unserm Pasquale, hat er verhandelt, der noch unten war. Die Thür war halb offen, so viel hab’ ich von der Unterhaltung verstanden, daß das Süßholz heut’ abend zu Wasser nach seinem Vico zurück will. Fragte aber zweimal, das Herrchen, mit einem Nachdruck und einer Unruhe wie ’ne junge Damen ob das Meer auch still wär'? Er scheint also eine unbändige Furcht vor dem Wasser zu haben –“
„Das ist ja komisch!“ warf Rutenberg ein.
„Na ja, komisch ist es. Aber sag’ mir nur eins: warum will er dann doch auf diesem Wasser zurück, statt auf dem festen Land? Ich finde das auffallend, Rutenberg….“
„Mag sein! Ja, ja!“ – Rutenberg sprach das gleichgültig hin, als dächt’ er an anderes.
„Mein Pasquale versicherte auf Tod und Leben, das Meer sei ungefähr wie ein Spiegel oder wie seine flache Hand. – Da kommt der kühne Seefahrer!“
Schilcher hatte recht. Der leichte Geschwindschritt kam den Korridor entlang, Arthur trat wieder ein. Er schüttelte die braunen Löckchen auf seiner niedrigen Stirn und tändelte mit den Lippen, wie wenn er sich nach einem wiederherstellenden Mahl recht behaglich fühlte.
„Man ist doch ein anderer Mensch,“ sagte er heiter, „wenn man gegessen hat. Da bin ich denn also wieder, mit Ihrer gütigen Erlaubnis.“
„Bitte! Sehr wohl!“ erwiderte Rutenberg verbindlich, ‚Lügenlügner!' dachte er. Der schöne Bariton Arthurs war offenbar durch Gertruds Thür gedrungen, nach wenigen Augenblicken öffnete das Kind und schob sich langsam herein. Sie grüßte den Jüngling noch förmlicher und befangener als vorhin; nach einer Weile flog dann aber ein schräger Blick auf ihn, der offenbar an ihm herumforschte. Die Männer begannen sich zu unterhalten, sie hörte zu, hörte wohl auch nichts. Sie ging zur Thür, die auf den großen Balkon führte, und schien durch das Fenster nach den Lichterzeilen von Neapel hinüberzusehn. Plötzlich wandte sie sich und schaute auf Arthur zurück.
Wie sie blickt! dachte Rutenberg. Sie denkt an ihm herum, meine Rede hat doch gewirkt. Wenn ich jetzt das Kind mit ihm sprechen ließe! – Er gab Schilcher, der alles verstand, einen Wink und sagte dann so gemütlich, wie er’s über die Lippen brachte: „Nun müssen Sie uns aber entschuldigen, Herr von Wyttenbach, wir haben da nebenan im Rauchzimmer eine Schachpartie stehen lassen, Herr Oberappellationsrat Schilcher erzürnt sich mit mir, wenn wir die nicht ausspielen. Es dauert nicht mehr lange, ich krieg’ ihn; Sie nehmen so lange mit dem Kind vorlieb!“
„O, ich bitte sehr!“ erwiderte Arthur, der seine freudige Ueberraschung im ersten Augenblick nicht unterdrücken konnte, dann faßte er sich aber geschwind. „Wenn ich irgendwie störe, so geh’ ich …“
„Sie stören ja nicht,“ sagte Rutenberg schlicht. Der thürenreiche Salon hatte noch eine, kleiner als die andern, auf der „Fumoir“ gemalt stand, sie führte in ein Zimmerchen, das Schilcher den Käfig nannte. Dort spielten sie täglich eine oder zwei Partien Schach, wenn auch Schach „kein Whist“ war. Die beiden Männer gingen in das Fumoir hinein, der kleine voran, Arthur sah mit inwendig lachendem Entzücken, daß die Thür sich dann schloß. Er sah nur noch Gertrud und sich … Gertrud stand noch bei der Balkonthür. Er ging auf seinen leichten Füßen zu ihr.
„Meine teure Gertrud!“ sagte er, die Stimme so viel dämpfend, als gut war. „Hier in Sorrent, ich mit dir allein!“
Er ergriff ihre niederhängende Hand, die bewegte sich aber, als wollte sie sich ihm entziehen. Mit leiser, doch sichtbarer Scheu, die er nur auf ihren flatternden Blick nach dem Rauchzimmer bezog, hauchte sie so hin:
„Bitte, lassen Sie jetzt meine Hand. – Sagen Sie jetzt nicht du. – – Ja, ja! Welches Glück!“
Arthur lächelte, mit sich zufrieden „Es war ein kluger, feiner Einfall von mir, nicht wahr, daß ich mein Hauptquartier nicht hier, sondern in Vico aufschlug! Von da erreich’ ich Sie leicht, und es ist doch weniger auffällig. Hab’ ich das gut gemacht?“
Sie nickte, sah ihn aber immer ernsthaft an. Er betrachtete sie auch, und auch heimlich forschend, er hätte ihr gern vom Gesicht gelesen, ob sie jetzt in der Stimmung sei, auf seinen kühnen Plan romantisch, schwärmerisch einzugehn … Ich versuch’s! dachte er. Mehr als Nein sagen kann sie nicht! – „Hm!“ seufzte er dann, indem seine rosigen Lippen sich recht rührend spitzten. „Heute nacht muß ich nun freilich wieder in meine Einsamkeit, in meine Verbannung zurück! – Ich fahr’ in einer Barke heim, meine holde Gertrud, mit zwei Ruderern. In der stillen Nacht. Auch das Meer ist still. Später kommt der Mond. – Er hielt sich geschickt zwischen Scherz und Ernst, während er langsamer fortfuhr: „Wollen Sie mit, meine süße Gertrud? Dann – sagen Sie – dann hätten wir all dieser Not bald ein Ende gemacht! Dann [735] brächt’ ich Sie morgen zu meiner Tante in Neapel, eine liebe vortreffliche Frau und die nähm’ uns auf, das bezweifl’ ich nicht, und wenn die Alten hier das erführen, dann müßten sie wohl nachgeben … Wie?“
„Ach,“ sagte Gertrud unschuldig, „Sie sollten jetzt nicht so scherzen, Arthur, mir ist nicht danach zu Mut!“
Schnell lenkte der geschmeidige Arthur ein: „Wenn Sie diesen – Scherz nicht mögen, nun dann laß ich das. Dann – dann weg damit! – Es war nur so ein Einfall ein Kind der Not, süße Gertrud. Da ich mich doch damit beschäftigen muß, wie ich Ihrem tragischen Geschick ein Ende mache – denn auf mir ruht nun doch diese Pflicht!“
„Ach ja“, seufzte sie, „es ist schwer. – Sie betrachtete ihn wieder mit ’so einem langen Blick, der ihm nun doch unbequem zu werden anfing. Nach einem starken Atemzug brachte sie die überraschende, unlogische Frage heraus; „Werden Sie mich nie verlassen, Arthur?“
„Ich?“ – Er sah sie sehr beleidigt an. – „Diese Frage! Gertrud!“
„Würden Sie mich auch nie verlassen, wenn ich – – wenn ich arm wäre? wenn ich nichts mehr hätte?“
„Gertrud,“ sagte er mit vorwurfsvollem Lächeln, „ich sehe, Sie wollen mich erzürnen. Was hat das Geld mit unsrer Liebe zu thun –?“
„Ach, das sag’ ich auch!“ seufzte sie. “Wenn ich nun aber – – wenn ich nun wirklich arm geworden wäre. Ganz, ganz arm. – Nach einem letzten Zögern überwand sie sich; „Ich bin es, Arthur. Nein, lächeln Sie nicht. Es ist wirklich so. Es ist – – ganz plötzlich ist es gekommen. Alles, alles, alles hat mein Vater verloren. Seit gestern wissen wir es!“
„Gertrud! Alle Teu- –“
Der sehr erschrockene Arthur hielt noch im letzten Augenblick an.
„Hm!“ machte er dann langsam, um etwas Zeit zu gewinnen, und that, was er konnte, um im Gesicht einen edlen Ausdruck zu behalten. „Sie – – Sie erzählen mir da ja etwas Schreckliches; etwas Entsetzliches. Alles, sagen Sie?“
Das arme Kind sah ihn ängstlich an „Sie finden es also sehr entsetzlich, Arthur…. Werden Sie mich nun verlassen, weil wir nichts mehr haben?“
„Ich? Wie können Sie denken … Aber wie können Sie das denken, Gertrud! Ich werd’ Ihnen ewig, ewig treu sein natürlich. Werd’ Sie nie verlassen das ist selbstverständlich … Alles? Ist das wahr?“
Sie nickte.
„Alles? Wirklich alles?“
„Ich sagte es Ihnen ja!“
„Sie sagen es aber so merkwürdig ruhig. Mein Gott, das ist ja ein Schicksal, um sich alle Haare – –“
Er brach wieder ab, nahm sich wieder gewaltig zusammen, da ihn ihr Gesicht erschreckte auch stieg in seinem schwindelnden Gehirn eine Hoffnung auf. „Nur um Ihretwillen, natürlich!“ verbesserte er sich. „Um Ihretwillen ist es traurig, Gertrud … Wir haben da zum Glück Ihren zweiten Vater, den Oberappellationsrat Schilcher, der sehr wohlhabend ist, und der für Sie sorgen wird, von dem Sie einst erben werden, wie man mir gesagt hat –“
„Der? fiel sie ihm rasch ins Wort „Der hat auch –!“
„Alles verloren?“
„Ja!“
Sie zögerte vor dem „Ja“ einen Augenblick, Lügen war nicht ihre Stärke. Unschuldig verlegen stand sie dann da und wandte ihr Köpfchen, ihre Schultern seitwärts, um es zu verbergen.
Ah! ging es erleichternd durch Arthur, der dies alles erfaßte; er lächelte, da ihre Augen wegschauten. Das erfindet sie! fuhr ihm durch den Kopf. Oder Papachen hat’s ihr eingegeben oder der alte Nußknacker. Ach, du kleines dummes Mädchen, das mußt du nicht glauben, daß Arthur van Wyttenbach so leicht anzuschmieren ist! – Er fand jetzt all seine edlen, vornehmen Züge wieder und sagte mit seinem weichsten Bariton. „Meine teure Gertrud! Wie traurig ist das alles. Sie und Ihr Vater und Herr Schilcher – drei so edle Menschen! – Zum Glück bin ich da. Ich. Jetzt fühl’ ich erst, daß die Vorsehung mich neben Sie gestellt hat!“
Sie blickte ihm mit noch zagender Freude in die kleinen, aber so schön aufleuchtenden Augen. „Arthur – Sie werden mich nicht –“
„Verlassen? – Sagen Sie nie mehr so ein abscheuliches Wort! Nein, auch nicht im Scherz; es kränkt mich zu tief! ….“
Ich bin nicht reich, meine geliebte Gertrud – leider nicht – – das heißt, ich sage leider nur um Ihretwillen. Aber ich werde arbeiten! wirken! schaffen! ich für alle vier! Alle meine Gaben, meine Fähigkeiten werde ich entfalten, daß man staunen soll, o, die Welt weiß noch nicht was hier in mir steckt! Ich werde Wunder thun, Gertrud – denn die Liebe thut Wunder – die Liebe, die allmächtige. Und Sie Kleinmütige, Verzagte, Ungläubige – ja ja, mein süßes Kind war etwas ungläubig und verzagt – Sie sollen eines Tages sagen: dieses Unglück damals war mein schönstes Glück, denn es hat mir erst gezeigt, was mein Arthur ist, was ich an ihm habe!“
„Arthur!“ seufzte das Mädchen vor Rührung und Glück; ihre feucht schimmernden Augen lächelten ihn an. „O, wie lieb’ ich Sie! Wie sind Sie edel und gut. – O und wie schlecht war ich, daß ich zweifeln konnte. Verzeihen Sie mir das, Arthur! Nie mehr! Nie mehr!“
Arthur, der mit einem verzeihenden Blick auf sie niedersah, fühlte ich im Zug hätte gerne noch eine Weile in diesem erhabenen Sinn auf sie eingesprochen; zu seinem Bedauern, öffnete sich aber die kleine Rauchzimmerthür und Rutenberg erschien. „Die Partie ist aus,“ sagte er. „Aber anders, als ich mir einbildete. Ich bin arm geworden.“
„Mein ganz ergebenstes Beileid, Herr Rutenberg,“ entgegnete Arthur gemütlich lächelnd. Plötzlich fiel ihm ein, daß er ja mit diesem „verarmten“ Mann Mitleid haben mußte. Er wurde ernst, sehr weich, schüttelte wie verstohlen den Kopf, warf dann aber einen strahlenden, heimlichen Blick auf seine Gertrud und lächelte ihr ermutigend zu.
Gleich darauf staunte Rutenberg – das Kind trat vor ihn hin, mit einer seltsam triumphierenden Miene und Gebärden sie sah ihm wie anklagend in die Augen. „Ach, bitte!“ sagte sie dann. Ihr langer, magerer Arm hängte sich in seinen, so zog sie ihn durch den Salon und zu ihrem Zimmer. Er fühlte sich förmlich hineingeschoben die Thür fiel ins Schloß. Als sie ihn losließ und ein wenig zurücktrat, sah er, daß ihr so siegreich strahlendes Gesicht sich verfinstert hatte, die feinen, seidigen Brauen drängten sich zusammen. „Vater!“ sagte sie leise, aber wie in tiefer Empörung.
„Na, was giebt’s?“ fragte er.
„Vater! O, wie schäm ich mich, daß ich dir geglaubt hab'! – Nein, nicht geglaubt, nein, das nicht; aber doch gezweifelt. Pfui ich an ihm gezweifelt. – O, und was für böse, schlechte Sachen du von ihm gesagt hast und er ist so edel! so großherzig! so gut!“
„Ich versteh’ dich nicht. Was meinst du –“
„Ich bin dir gefolgt!“ rief sie laut; er sah dann aber auf die Thür und sprach wieder leise. „Ich hab’ ihm das angethan, hab’ ihn auf die Probe gestellt, wie du sagtest. Hab’ ihm vorgelogen – o, wie schäm’ ich mich – daß wir verarmt wären, daß wir nichts mehr hätten. Wir nicht – auch Onkel Schilcher nicht … O, wie hab’ ich dann vor ihm dagestanden. Nun weiß ich erst, was für ein großes Herz – – Du kennst ihn nicht! Ihr alle, alle ihr kennt ihn nicht! Für dich, für Onkel Schilcher, für uns alle wollte er leben, schaffen, statt mich zu verlassen. – Und mein Vater verleumdet ihn! vor seinem Kind!“
Sie legte sich bei diesen Worten die Hand aufs Herz die schlanke, noch unreife Knospe stand so tragisch, so rührend pathetisch da, daß Rutenberg unter andern Umständen wohl gelächelt hätte.
Er fuhr nun aber doch auf, wie von einem scharfen Pfeil getroffen. „Ich verleumde ihn!“
„Ja, Vater! Du!“ Sie hob den Arm gegen ihn, sie
[736][737] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [738] mußte vor Aufregung heftig schlucken, eh’ sie weitersprechen konnte. „Nie hast du mir so weh gethan, wie in dieser Stunde! Nie, nie werd’ ich mehr glauben was du von ihm sagst. Nie, nie, nie werd’ ich an ihm zweifeln – oder ihn verlassen … Ihre Stimme bebte. „Das wollte ich dir nur noch sagen, Vater!“
„Das wolltest du mir noch sagen,“ wiederholte Rutenberg, dessen Empörung nun auch unaufhaltsam wuchs. „Ich danke dir …“
Plötzlich aufbrausend trat er einen Schritt auf sie zu: „Jetzt hab’ ich genug! – Dieses Kind, dieses Geschöpf spricht so zu seinem Vater – weil es offenbar in seiner siebzehnjährigen Dummheit – – Schilcher auch verarmt! Gott im hohen Himmel, was für ein Unsinn das ist! – Und weil dieser junge Herr dafür doch zu klug war – und den Hochherzigen spielte – und das Mädel blind und vernarrt und toll ist – darum wirft es mir jetzt trotzig wie ein Kind sein ,Nie, nie, nie’ ins Gesicht! – Nie, nie, nie!’ Wart’, ich will dir dann auch so ein Nie zurückgeben – dreimal, so wie deins! Diesen Menschen da, dem du dich an den Hals wirfst, weil du noch ein Kind bist, den du hierher bestellt hast, weil du ein schlechtes Kind bist, den du mir abtrotzen willst, weil du von Sinnen bist, – den wirst du nie bekommen merk’ dir’s: nie, nie, nie! – Ich reis’ mit dir ab. Bis ans Ende der Welt geh’ ich mit dir, wenn’s sein muß, morgen – heute noch. Nie sollst du ihn wiedersehn, den da mit seinem großen Herzen’ … Das ist mein ,Nie, nie, nie!’“
Er stürzte aus der Thür. nicht aus der zum Salon sondern aus der andern, die auf den Balkon der Südseite führte. Gertrud, die Hand auf der Brust – da drinnen stand ihr alles eine Weile still – horchte halb mechanisch auf seine Schritte. Sie hasteten den Balkon entlang, dann auf die Terrasse über dem Fahrweg. Ja, auf die Terrasse, unter der vorhin Arthur das italienische Lied gesungen und dadurch seine Ankunft gemeldet hatte …
Trotzig, und erschüttert, und dann wieder trotzig wiederholte sie zwischen ihren kleinen Zähnen: „Nie, nie, nie!“
An der Salonthüre hustete es. So hatte Arthur zuweilen gehustet, wenn er ihr insgeheim etwas sagen wollte … Sie zweifelte aber noch. sie konnte sich täuschen, sie war so verstört, verwirrt. Nicht lange, so kam ein zweites Husten, diesmal erkannte sie’s doch gewiß. Sie ging hin und öffnete. Im Salon stand Arthur, allein. Er hielt den Kopf vorgeneigt, als hätte er auch gehorcht. In seinem Gesicht war etwas Banges, Aengstliches, das ihr nicht gefiel. Ach, er bangt ja nur um mich! dachte sie dann geschwind, und trat in den Salon auf ihn zu.
„Ich bin allein,“ sagte Arthur mit halber Stimme. „Schilcher sprach von Schachspiel, ist dann aber in sein Zimmer gegangen. wird bald wiederkommen … Meine süße Gertrud, was ist denn geschehn? Ihr Papa so laut, so zornig. Und Sie so blaß –“
„Er will uns trennen“, fiel sie ihm ins Wort. „auf ewig, weiter nichts. Ich soll fort von hier …“
Herzschlag und Atem vergingen ihr schon wieder; sie legte sich beide Hände auf die Brust. „Ich will nicht,“ sagte sie aber, die Zähne zusammendrückend, sobald sie wieder sprechen konnte. „Ich bin nicht mehr sein Kind; ich bin nicht mehr sein Kind … Wenn Sie mich jetzt verlassen, Arthur, kann ich nicht mehr leben!“
Ah, dachte Arthur, als er sie so verzweifelt und so wild entschlossen das Kinn vorstrecken, die zarten Nüstern aufblähen sah, jetzt oder nie! – „Hören Sie!“ sagte er rasch. „Arme, süße Gertrud. Aus dem Scherz wird Ernst! – Ich Sie verlassen – gewiß nicht. Aber – wenn auch Sie nicht von mir lassen wollen –“
Sie schüttelte heftig den Kopf.
„Meine Barke wartet. Ich kann jeden Augenblick abfahren. Gehn Sie mit! nach Vico!
Im ersten Augenblick doch erschrocken, starrte sie ihn an. „Fürchten Sie sich, Gertrud?“
Nun schüttelte sie trotzig den Kopf.
„Sind wir erst in Vico – das heißt, da bleiben wir ja nur bis morgen, fahren dann nach Neapel, zu meiner Tante – sind wir erst bei der – aber doch „kompromittiert“, wie die kalte Welt das nennt – dann kann Ihr Vater nicht mehr Nein sagen, Gertrud dann ist es aus mit seinem ,Nie, nie, nie‚‘! – Starren Sie nur nicht so. Warum denn? Das haben schon viele so gemacht und zu ihrem Glück. Wenn die Väter so sind … Eh jemand kommt – sagen Sie ein Wort!“
„Ich will ja, murmelte sie, ohne sich zu regen. „Ich muß.“
„Ja, ja, ja, Sie müssen. Haben Sie nur Mut! – Ich bedenke alles. Ich geh’ voraus, geh’ ans Meer hinunter, fahre scheinbar ab, in der nächsten Bucht, ganz nah‚‘, da wart’ ich, natürlich so versteckt, daß uns von hier oben niemand sehen kann. Sie gehen unterdessen in Ihr Zimmer, halten sich bereit! Ist dann alles still – hier im Hotel alle Lichter aus – dann geb’ ich ein Zeichen eine Pfeife hab’ ich in der Tasche, hier. Und Sie gehn leise hinunter … Hören Sie alles? Merken Sie sich alles?“
„Ja,“ hauchte Gertrud tonlos.
„Eh’ ich fortgehe, wissen Sie, bestech’ ich den Faschino, den Hausknecht, daß er eine Thür nach dem Garten für Sie offen läßt. – dem hab’ ich schon vorhin auf den Zahn gefühlt, das ist ein kecker, flotter, habgieriger Bursche. O, das mach’ ich alles, Gertrud. Sagen Sie nur, daß Sie Mut haben, daß Sie sicher kommen! „Ach! seufzte sie und verzog ihr klägliches unschuldiges Gesicht. „Wenn es ein Wahnsinn ist, was ich da thun will, Arthur, so reden Sie mir ab, denn ich – ich – ich weiß nicht, was ich thue. O mein Gott –“
„Ich red’ Ihnen zu, denn Sie müssen es thun! – Und Sie werden es thun?“
Sie nickte.
„Also, wenn ich mit der Pfeife das Zeichen gebe – Still! Man kommt!“
Er sah, daß die Thür zum Korridor sich bewegte, trat schnell von dem Mädchen hinweg an den runden Tisch und griff zu einer Zeitung. Gertrud trat an die Glasthür, ihr aufgeregtes Gesicht zu verbergen. Schilcher kam herein. Er betrachtete beide, erst ihn, dann sie, aus den Augenwinkeln; nicht weit von der Thür blieb er stehn. Es war eine schwüle Stille, Gertrud flog das Herz.
„Herr Oberappellationsrat, mit der Schachpartie wird es nun doch nichts mehr, sagte Arthur endlich, indem er die Zeitung wieder hinlegte, als hätte er darin gesehn was er wollte. „Ich hab’ mir’s überlegt und ich muß nun doch fort. Anderthalb Stunden etwa brauchen wir bis Vico. Also, gute“
„Nacht!“ ergänzte Schilcher trocken „Kommen Sie gut nach Hause. Glückliche Meerfahrt!“
„Auf Wiedersehn!“ sagte Arthur zu Gertrud mit höflicher Verneigung. ermahnte sie noch durch einen hastigen, verständnisvollen Blick über die Schulter, und ging.
„Auf Wiedersehn,“ wiederholte das Mädchen fast unhörbar, als der junge Mann schon hinaus war. Sie begann sich dann auch zu bewegen, schien aber noch nicht recht zu wissen, was sie wollte.
Das war ja ein sonderbarer Blick, dachte Schilcher den die beiden noch wechselten. – Wie das Kind verstört ist.
Gertrud bewegte sich weiter gegen ihre Thür.
„Ich geh’ in mein Zimmer,“ murmelte sie dann, vom Boden zu ihm aufblickend. Schilcher lächelte. „Habe nichts dagegen!“
„Gute – –“
Sie brachte weiter nichts heraus, machte nur eine kleine Handgebärde. Gleich daraus war sie fort.
„Nacht!“ ergänzte Schilcher bei sich. „Das hat sie vergessen.“ – – „Die macht noch nicht Nacht, die hat noch was vor! – Sie fuhren ja ganz gewaltig auseinander, als ich kam. Holla, holla, was heißt das?“
[739]
Der Sturm der Garde auf Le Bourget. (zu dem Bilde S. 736 und 737.) Wohl in keinem anderen Punkt in der Umgebung von Paris ist im Kriege von 1870/71 so oft und so hartnäckig gerungen worden wie um das 11 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt, im Osten von St. Denis gelegene Dorf Le Bourget. Ströme Blutes wurden um jenen Besitz vergossen, und an den Namen dieses Ortes knüpfen sich einige der schönsten aber auch verlustreichsten Ehrentage der preußischen Garde. Da das im Cernierungsbezirk gelegene Dorf stark dem Feuer der französischen Forts ausgesetzt war, so hatte man nur eine Kompagnie vom Augustaregiment daringelassen, die in der Morgenfrühe des 28. Oktober von starker Uebermacht angegriffen und hinausgedrängt wurde. Eine Beschießung durch Artillerie am nächsten Tage blieb fruchtlos; der Kronprinz von Sachsen wollte den Ort jedoch unter allen Umständen wiedergenommen haben. Generalleutenant v. Budritzky, Kommandeur der 2. Garde-Infanteriedivision, wurde damit beauftragt. Am 30. Oktober morgens 8 Uhr begann dieser von 9 Bataillonen ausgeführte berühmte Sturm. Artilleriefeuer leitete ihn ein, dann rückten die drei Sturmkolonnen von Le Blanc Mesnil, von Pont Jblon und von Dugny aus gegen das gemeinsame Ziel vor. Das Dorf bestand aus ansehnlichen, massiv und gut gebauten Häusern, deren Gärten und Gehöfte mit starken hohen Steinmauern umfriedigt waren. Die Eingänge waren stark verbarrikadiert. Heftiges Artillerie- wie Chassepotfeuer empfing die Kolonnen, von denen gar mancher Tapfere sein Leben lassen mußte, bevor er noch einen Feind erblickte. Die Barrikaden und alle Mauern waren besetzt, aus jeder Schießscharte, aus jedem Fenster richteten sich unablässig feuernde Flintenläufe auf die Kolonnen. Es war ein großartiges Schauspiel, wie trotzdem Preußens Garde, ohne einen Schutz zu thun, mit fliegenden Fahnen und unter den Klängen der Wacht am Rhein vorrückte. Bis auf hundert Schritt ging’s heran, ohne der Lücken zu achten, die in die Reihen gerissen wurden, dann schwieg die Musik, und nun wurde im Schnellschritt bis an die Dorfumfassung herangestürmt. Aber die Mauern waren zu hoch, als daß in diesem vernichtenden Feuer hätte jemand hinüberklettern können. Die Pioniere mußten mit ihren Aexten erst Breschen hineinschlagen, durch die man sich dann hindurchzwängte. Diesen Zeitpunkt aus dem heißen Kampfe des 30. Oktober veranschaulicht in überaus packender, naturwahrer Weise C. Röchlings Schlachtenbild, das unser Holzschnitt auf S. 736 und 737 wiedergiebt. Nicht minder hartnäckig war auch das Ringen um die Barrikaden, aber überall mußten schließlich die Franzosen weichen. Vier Stunden währte der Kampf, fast jedes Gehöft mußte einzeln gestürmt werden, dann aber war der Ort genommen, den die Garde von nun an festhielt. Nicht minder heldenhaft in der Verteidigung wie beim Angriff zeigte sie sich bei dem großen Ausfalle der Franzosen am 21. Dezember; ein letzter Angriff auf Le Bourget mußte dann noch in der Nacht zum 16. Januar zurückgewiesen werden. F. R.
Siemens und Halske. Am 12. Oktober feierte die weltberühmte Firma Siemens und Halske ihr fünfzigjähriges Jubiläum. Nicht nur die Tausende von Arbeitern, die das Haus beschäftigt, vereinten sich mit ihren Leitern zu einer erhebenden und fröhlichen Feier; auch das deutsche Volk nahm im Geiste teil an diesem Gedenktage der Arbeit, denn das Jubiläum der Firma Siemens und Halske war ungleich ein Jubiläum der so mächtig aufgeblühten Elektrotechnik. Unvergeßlich sind die Verdienste, die sich Werner Siemens, der Gründer des heutigen Welthauses, um diesen so wichtigen Industriezweig im Laufe eines an Forschen und Arbeit reichen Lebens erworben.
Im Jahrgang 1892, S. 868[WS 1], der „Gartenlaube“ haben wir unsern Lesern ein Lebens- und Charakterbild dieses berühmten Erfinders geboten, heute möchten wir nur kurz an die Hauptleistungen des von ihm gegründeten Unternehmens erinnern. Vor einundfünfzig Jahren gelang es Werner Siemens, der damals ein preußischer Artillerieleutenant war, einen neuen Zeigertelegraphen mit Selbstunterbrechung zu erfinden, der alle bis dahin vorhandenen telegraphischen Apparate bei weitem übertraf. Siemens verband sich nun mit dem jungen begabten Mechaniker J. G. Halske und gründete am 12. Oktober 1847 eine kleine Telegraphenwerkstätte, aus der in rascher Entwicklung das weltberühmte Haus Siemens und Halske hervorgehen sollte. Während Halske den technischen Betrieb mit größter Umsicht leitete und verwaltete, gab Siemens stets neue und befruchtende Anregungen. Schon im Jahre 1846 hatte er in der Guttapercha das vorzüglichste Isoliermittel für unterirdische und unterseeische Telegraphenleitungen entdeckt. Dank diesen Errungenschaften konnte die junge Firma in der Anlage der Telegraphenlinien „zu Lande und zu Wasser“ eine führende Stellung einnehmen. Sie war es auch, welche die erste größere Telegraphenlinie Europas von Berlin nach Frankfurt a. M. baute und später das weite russische Reich mit einem Telegraphennetz überzog. Bahnbrechend ging sie zugleich vor auf dem Gebiete der Tiefseekabellegungen.
Werner Siemens war es aber vorbehalten, noch Größeres zu leisten – eine neue Aera der Elektrotechnik zu eröffnen; denn im Jahre 1866 entdeckte er das dymamo-elektrische Prinzip und baute die erste Dynamomaschine. Von nun an sollte die Elektricität auf allen Gebieten der Arbeit als Gehilfin des Menschen auftreten, zur Licht- und Wärmeerzeugung und zu allerlei Arbeiten verwendet werden. Die Firma Siemens und Halske war es auch, welche die erste elektrische Straßenbahn in Lichterfelde bei Berlin im Jahre 1881 dem Verkehr übergab.
Der treue Mitarbeiter Siemens J. G. Halske, trat bereits im Jahre 1868 von dem Geschäfte zurück, er starb im Jahre 1890. Werner Siemens führte inzwischen mit seinen Brüdern das Unternehmen weiter fort. Im Laufe der Jahre war es zu einem Welthause geworden, das in Berlin Tausende von Arbeitern beschäftigte und in Petersburg, London, Wien und Chicago Zweigniederlassungen errichtete.
Die Verdienste Werner Siemens’ wurden überall gewürdigt und es fehlte ihm nicht an äußeren Auszeichnungen. Schon im Jahre 1860 hatte ihn die Berliner Universität zum Doctor philosophiae honoris causa ernannt, und Kaiser Friedrich verlieh ihm bei seiner Thronbesteigung den erblichen Adel. Am 6. Dezember 1892 schied der große Elektrotechniker aus seinem arbeitsreichen Leben.
Das von ihm gegründete Welthaus wird von den Erben weiter in seinem Geiste geleitet. Eins seiner schönsten Merkmale ist das gute Einvernehmen, das sich zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestand. Dasselbe gelangte bei dem Jubelfest der Firma in glänzender Weise zum Ausdruck. Die Besitzer des Hauses haben der Pensionskasse für die Witwen und Waisen ihrer Angestellten eine neue Zuwendung in der Höhe von einer Million Mark gemacht.
In dem großartigen Berlin-Charlottenburger Werke der Firma Siemens und Halske werden heute an 6000 Arbeiter beschäftigt das Wiener Haus zählt 1900, das Petersburger 1000 Arbeiter, während in dem Kupferbergwerk im Kaukasus 600 Mann wirken. Die Zahl der Beamten beträgt über 2000.*
Erster Unterricht (Zu dem Bilde S. 733.) Die beiden kleinen Mädchen sind alles, was der jungen Witwe an Lebensfreude geblieben ist, sie nimmt es deshalb schwer mit ihrer Erziehungspflicht und will ihnen lieber den ersten Unterricht selbst erteilen, als sie zu Fremden hinausschicken. Noch können sich aber die kleinen Fräulein nicht recht an die neue Ernsthaftigkeit in der ehemals so lustigen Kinderstube gewöhnen. Daß jetzt am Spieltische gearbeitet und gelernt werden soll, und die Puppen nur zusehen dürfen, ist doch äußerst unerfreulich! Klein Ada zieht trübselig und langsam ihre Wollfäden durch den Stramin, aber der größeren Hedwig geht bereits eine Ahnung von der Schwere des Daseins auf unter dem vorwurfsvoll prüfenden Blick der Mutter. Sie weiß alles nicht, was sie wissen sollte, kann sich die dummen langweiligen Worte nicht merken, bleibt auf jede Frage die Antwort schuldig. Der klugen jungen Frau aber steigt über alles dieses der erste Zweifel auf, ob ihr lebhaftes Töchterchen denn auch wirklich geistig so begabt sei, wie sie es bisher ohne weiteres voraussetzte? … Daß der Grund des Mißerfolges auch wo anders liegen könne, fällt ihr nicht ein, sie wird ihn vielleicht erkennen, wenn das bei ihr allein nicht vorwärts kommende Kind, einer Schule übergeben, gern lernt und gute Fortschritte macht. Denn Erziehen und Lehren ist zweierlei, das hat schon manche Mutter erfahren. Sie thut genug, wenn sie das erstere Amt mustergültig verwaltet! Bn.
Die Kunstnovize. (Zu dem Bilde S. 729.) F. y Gonzalez, einer der fruchtbarsten unter den modernen spanischen Malern, dürfte manchem unserer Leser bereits bekannt sein. Seine Gemälde zeichnen sich durch meisterhafte Ausführung und lebenswahre Darstellung aus. Gern wählt er als Vorwürfe Scenen aus seiner Heimat, auch auf dem Bilde „Die Kunstnovize“ führt er uns in sein engeres Vaterland Andalusien und zwar nach Sevilla. Das kleine Volkslied, das man dort oft in den Straßen hört:
„Die Schleppe am Kleide,
Die Blume im Haar,
Allein auf dem Herde,
Kein Essen wird gar,“
Waldbrände in Kanada. Von der Meerenge von Belle-Isle bis Alaska erstreckt sich im Norden Amerikas ein Waldgebiet von etwa 6000 km Länge und 1000 km Breite. In ihm wüten noch Waldbrände
[740] von einer Gewalt und Ausdehnung, wie sie in Europa kaum mehr zu schauen sind. Die „Naturwissenschaftliche Wochenschrift" hat vor kurzem über die verheerenden Wirkungen dieser Brände einige interessante Mitteilungen veröffentlicht. Erstaunlich ist die Schnelligkeit, mit der sich die Feuersbrunst fortpflanzt, sie gleicht zumeist der Geschwindigkeit des Pferdes im Galopp. Ein kürzlich beobachtetes Feuer hatte sich in 10 Stunden auf 240 km ausgebreitet. Die Macht der Glut wird dadurch verstärkt, daß Nadelbäume den Hauptbestandteil dieser Waldungen bilden und durch ihren Harzgehalt außerordentlich leicht brennen, so erreicht die Feuersäule eines Waldbrandes oft die Höhe von etwa 60 m! Blitzschläge bilden die häufigste Ursache der Brände, und Flüsse und Seen setzen ihnen eine Grenze. Auf den kahlen niedergebrannten Strecken zeigen sich im nächsten Frühjahr einige Pflanzen, deren Samen in der schützenden Erdhülle vom Feuer verschont wurden. Vor allem sind es Himbeersträucher. Nach 15 bis 20 Jahren ist der Boden schon dicht bedeckt mit Pappeln, Weiden und Buchen und unter ihren Zweigen entwickelt sich eine wahre Baumschule von Nadelbäumen. Nach 50 Jahren haben die Koniferen die Laubbäume überholt und nach 100 Jahren steht der Nadelwald fast rein da. *
Hopfenmarkt zu Nürnberg. (Mit Abbildung.) Zu den Hauptsehenswürdigkeiten der Reichsstadt Nürnberg gehörte einst sein Zeughaus. Aus dem ehemaligen Zwinger der vorletzten Ummauerung der Stadt, ragen dessen langgestreckte mächtige Gebäude, von deren grauem Mauerwerk sich die hohen Dächer mit ihren leuchtend roten Ziegeln gar freundlich abheben. Das Zeughaus, im Beginn des 16. Jahrhunderts erbaut, barg außerordentlich reiche Schätze an Waffen. Sie waren der Stolz der Stadt, deren Macht und Unabhängigkeit nicht zu geringem Teile auf ihrer Kriegstüchtigkeit begründet waren. Mit Genugthuung wurde Kaisern und Königen und anderen hohen Herren der großartige Reichtum an Waffen, darunter manche durch hohes Alter wie durch kostbare Arbeit sich auszeichnende Stücke, gezeigt. Als es aber mit dem Reichtum und der Macht der Stadt abwärts ging, glaubten die kunstreichen Rotgießer ein Recht zu haben, alte Geschütze aus dem Zeughause zum Einschmelzen zu beziehen. Hinter ihnen blieben natürlich die Ersten verarbeitenden Handwerker mit ihren Ansprüchen nicht zurück. Aber noch außerordentlicher waren die Vorräte, als zu Ende des 18. Jahrhunderts ein österreichischer Offizier das Zeughaus in höchst gründlicher Weise leerte, um die Waffen vor den Franzosen zu retten, belud er mit ihnen Tausende von Wagen, welche sie nach Oesterreich verbrachten. Für die Stadt waren sie durch diese „Rettung“ verloren, trotz aller Reklamationen hat Nürnberg niemals wieder etwas davon zurückerhalten. Und in diesen altehrwürdigen Räumen, in welchen einst die Waffen klirrten hat nun ein nicht unbeträchtlicher Teil des Hopfenhandels Nürnbergs, vor allem derjenige, der äußerlich sichtbar ist, Platz gefunden. Das Gebäude ist an Kommissionäre vermietet, deren Nürnberg 40 zählt. Dieselben vermitteln den Verkauf der würzigen Dolden von den Hopfenproduzenten an die Kundschaftshändler, welche die Bierbrauer mit Hopfen versorgen und die Exporteure, die nach dem Ausland damit handeln. Nur eine Anzahl dieser Kommissionäre hat in den Gebäuden Platz gefunden, die zu klein sind, um alle die Vorräte aufzunehmen. Ein großer Teil der Waren lagert draußen vor dem Hause auf dem Platze, den zu Beginn des Jahrhunderts noch der offene Stadtgraben einnahm. Die übrigen Kommissionäre haben ihre Lager in dem anstoßenden Frauengäßchen, der Breite-und Brunnengasse, der Karolinenstraße usw. Zur Zeit der Saison, die mit dem 1. September beginnt, entwickelt sich hier, ungefähr bis gegen Weihnachten ein gar gewaltiges Leben und Treiben; aus allen Produktionsländern Deutschlands treffen die Erträgnisse der Ernte ein, denn Nürnberg ist nicht nur die erste Hopfenhandelsstadt Deutschlands, sondern des Kontinentes. Nicht weniger als 336 Hopfenhändler zählt das Adreßbuch Nürnbergs auf! In der Saison 1896/1897 verkauften die 40 Nürnberger Kommissionäre 75 000 Ballen Hopfen. Mit der Eisenbahn kamen in dieser Zeit an 200 885 Centner Hopfen, abgegangen sind 196 700 Centner. Die Landzufuhren aus der näheren Umgebung Nürnbergs, aus Hersbruck, aus dem Aischgrund usw., sind hierin nicht inbegriffen. Sie beziffern sich ebenfalls auf Tausende von Säcken, lassen sich aber nur schwer genau feststellen. Hochbeladene Wagen, die neue Zufuhren bringen oder die verkaufte Ware abfahren, bahnen sich mühevoll einen Weg durch die Straßen, welche die hier aufgestapelten Säcke bilden und die von einer eifrig prüfenden und feilschenden Menge belebt sind. Und von Nürnberg aus wird dann das würzige Kraut in alle Welt versendet, um zur Verbereitung zu dienen und Tausenden und Millionen Erquickung und Genuß zu bringen. H. B.
[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht transkribiert.]
[ Verlagswerbung für „Bock's Buch vom gesunden und kranken Menschen.“ (16. Auflage.)]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: S. 878