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Die Gartenlaube (1897)/Heft 42

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[693]

Nr. 42.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Einsam.
Roman von O. Verbeck.

(11 .Fortsetzung)

26.

Langsam, auf leises Sohlen, schlich die Zeit immer tiefer in den Winter hinein. Der Februar schien es diesmal noch ernsthafter vorzuhaben als sein größerer, gewichtigerer Bruder, der zum Beginn des neuen Jahres klirrenden Frost als Ablösung der allzulange andauernden Novemberstürme über das triefende, aufgeweichte Land geschickt hatte. Endlich war Schnee gefallen, tagelang, ununterbrochen, bald feingepulvert, bald in großen, weichen Flocken, zuweilen in ruhelos durcheinanderstäubenden, blendenden Wirbeln, meist aber sacht als unabsehbare, unendliche Schar taumelnd niedersinkender weißer Sternchen. Schweigsam, lind und schonungsvoll, nicht rauschend, rieselnd und plätschernd wie der aufdringliche Regen. Zu weichen Polstern gebettet lag er in den Hausecken, in Nischen und windgeschützten Winkeln, breitete sich schimmernd über die Rasenflächen, lag in schweren Massen auf Bäumen und Büschen. Als die Welt endlich weiß genug war, kam die bleichgewordene Wintersonne aus ihrem Wolkenversteck hervor. Mit ihrem kalten, aber strahlenden Lächeln scheuchte sie die grauen Dunstschleier hinweg, weiter und weiter, bis sie den zartblauen Himmel wieder für sich allein hatte. Blendend, leuchtend, wenn auch nicht lebenspendend lag nun ihr funkelnder Glanz auf der glitzernd weißen Herrlichkeit.

Hanna warf noch einen bewundernden Blick auf diese helle Pracht, ehe sie die Hausthür schloß. Sie kam durch den Park aus dem Gärtnerhäuschen zurück wo sie sich nach dem kleinen Jungen des Gärtners umgesehen hatte, der mit einem gebrochnen Knöchel im Bett lag. Schon seit acht Tagen, aber gestern abend erst hatte sie es erfahren. Sie werde nun jeden Tag kommen, hatte sie den Leuten gesagt, um achtzugeben daß nichts versäumt werde. Lehnert solle nur einen Weg für sie freifegen, einen kurzen Richtweg; ihr Kleidersaum war in dem tiefen Schnee heute ganz naß geworden, trotz aller Vorsicht. Das Fritzchen war mit dieser Anordnung sehr einverstanden. Die beiden Apfelsinen auf seiner Bettdecke lachten ihn an, und Mutter hatte gesagt, das gebratene Hühnchen wäre ausgezeichnet – und morgen sollte er ein Bilderbuch bekommen.

Wenn's nur recht lange dauern möchte mit dem eingegipsten Bein!

Hanna entledigte sich des Mantels und der Pelzstiefel, in die sie mit ihren kleinen Hausschuhen geschlüpft war, that die große, kleidartige Küchenschürze an und begab sich hinunter zu Pauline.

Es galt heute einer spanischen Escabescia, einem sehr verschmitzten Gericht von verschiedenem Geflügel das hoffentlich ebenso „interessant“ ausfiel wie die italienische Minestra von vorgestern abend. Die indische Mullagatavny-Suppe, die gleichfalls auf dem heutigen Programm stand, war schon erprobt und gutgeheißen worden.

„Aber der neue Türk’, gnä' Frau – wie heißt er doch? es klingt so nach Levy – der will nicht steif werden!“ klagte Pauline.

„Das Mahallebi,“ sagte Hanna lächelnd. „So? Nicht steif? Das ist aber dumm! Da können wir es ja heute nicht bringen! Lassen Sie doch sehen!“

„Hier, gnä' Frau. So was Verrücktes von einem

Arnold Böcklin.
Nach einer Aufnahme von Dr. G. Hirth in München.

[694] Flammeri ist mir aber auch meiner Lebtag nicht vorgekommen. Der kann ja nicht werden!“

„Das liegt dann jedenfalls an uns, wir machen’s noch nicht ordentlich. In der Türkei ist die Geschichte sehr beliebt. Lassen wir es also einstweilen noch stehen, es wird sich dann schon ausweisen, ob es überhaupt mißraten ist, oder ob es nur länger Zeit braucht, als wir dachten. Und heute, Gott, wissen Sie, wir könnten ja wieder einmal die polnischen Nalesniki hernehmen. Vor vier Wochen hatten wir sie das letzte Mal.“

„Das waren doch diese Art Eierkuchens.“

„Ganz recht. Die sind schnell gemacht. Uebrigens. Hat Borchardt die beiden Sorten Wein geschickt?“

„Jawohl, sie stehen schon drinnen.“

„Der Herr will den einen, den sicilianischen, heute mittag probieren.“

Ein wichtiges Nebenstudium bildete natürlich die Bestimmung der den fremden Gerichten anzupassenden Getränke. Im allgemeinen erhielten die feurigen Weine des Südens den Vorzug vor den Rheinländern und Franzosen, wenn auch hier Irrtümer und Enttäuschungen nicht ausblieben. Ludwig hatte sich neulich stundenlang „gebost“, daß der Samoswein, der an und für sich doch eine feine Sache war, so ganz und gar nicht zu der Zaja, der griechischen Pastete, stimmen wollte. Das eine hatte das andre einfach umgebracht, und ehe er diese Neuheit einer nochmaligen Probe unterwarf, mußte längere Zeit vergehen, um ihn diesen Mißerfolg vergessen zu machen.

„Wenn gnä’ Frau aber die ganze Zeit hier unten bleiben wollen, dann müssen gnä’ Frau durchaus was zu sich nehmen. Einen Schluck Tokayer und einen Mundvoll zu essen. Es sind noch von den Kolombijntjes da – oder wie sie heißen, – von den kleinen holländischen Kuchchen. Oder, wenn die zu süß sind, ich könnt’ ja von dem Herrn seinem Frühstücksgebäck schnell welche auf der Platte warm machen. Gnä' Frau werden sonst flau.“

„Bitt’ schön!“

„Von den amerikanischen Muffins. Ja, geben Sie her, das ist ein guter Gedanke. Uebrigens machen Sie die jetzt vorzüglich. Der Herr war heute früh entzückt.“

„Ja, seit wir die richtige Pfanne dazu haben. Vorher rannten sie mir immer zu sehr auseinander.“

Ludwig hatte jetzt schon fast eine Woche lang keine eigentliche Gelegenheit gehabt, sich über seine Frau zu ärgern. Er wunderte sich. Es fehlte ihm sogar beinahe etwas, es war ihm schon zur Gewohnheit geworden, ihre vielerlei Mängel zu beklagen, seiner Enttäuschung über sie Luft zu machen.

„Du mußt schwer krank sein,“ hatte er ihr gestern gesagt und auf ihr erstauntes Warum „Du bist so viel netter in den letzten Tagen. Vielleicht ist das eine schlimme Vorbedeutung. Vielleicht stirbst du mir bald.“

Dann wäre uns beiden geholfen, lag ihr schon auf der Zunge, zu antworten, aber sie unterdrückte es noch und erwiderte nur mit einem schwachen Lächeln: „Ich merke noch nichts.“

Also mehr verlangte er nicht. Mit dieser Art von zusammenleben war er zufrieden. Daß sie da mit freundlichem Gesicht – beileibe mit keinem andern, wenn sie nicht die Frage gewärtigen wollte. Maulst du schon wieder? – ihm gegenüber saß, sich über Tagesneuigkeiten unterhielt und sich Börsenwitze erzählen ließ – das genügte ihm. Aber gewiß. Was sollte man auch anderes thun. Und warum auch sollte sie nicht sanft und freundlich sein in diesem sorgenlosen Leben, das sie mit Pracht und Herrlichkeit umgab? Warum nicht vergnügt sein, da sie sich kaufen konnte, was sie nur immer wollte, da ihr kein Wunsch, wenn er mit Geld zu befriedigen war, unerfüllt blieb. Kein so arg mühseliges Tagewerk, fürwahr, sich schön zu kleiden, gut zu essen und nichts zu thun zu haben! Schlimm, daß sie das alles nicht genug zu würdigen wußte! Das große Los war wieder einmal an den Unrechten gekommen. Mit etwas mehr Leichtsinn im Blut, mit etwas mehr Sympathie für seine Art zu leben, mit etwas weniger Nachdenken hinter der Stirn, mit etwas weniger Sehnsucht im Herzen nach Licht und Wahrhaftigkeit und Ernst, und ohne das Grab da draußen – wie lustig hätte sie ihr Leben genießen können! Nun schlich sie aus der einen Einöde in die andere. Aus der Einöde des Verlassenseins, in der ihr das unstillbare Heimweh nach der Mutter das Herz zerfraß, in die Einöde der Seelenfremde, die, ohne Wiederhall auch des flehentlichsten Rufes nach Verständnis, ihr allmählich das Hirn einschläfern mußte! Wenn sie nur schon ganz stumpf wäre! Wenn sie nur schon gänzlich eingekapselt wäre in Gleichgültigkeit, so daß ihr nichts mehr wehe thäte! Eines schönen Tages mochte sie ja wohl aufwachen und von keiner unbeantworteten Frage, von keinem Kummer mehr etwas wissen. Das einzig noch erstrebenswerte Ziel! Aber wie lange noch bis dahin!

„Hast du Lust, nach Tische spazieren zu fahren? Ich habe schon bestellt, daß der Schlitten eingespannt wird. Es ist famose Bahn. Gewiß.“

Sie hatte keine Lust, ihr war bange vor der bitterlichen Kälte. Aber das hatte nichts zu sagen, da Ludwig die Ausfahrt wünschte. Erlassen wäre sie ihr doch nicht worden. Es hätte nur ein kleines Scharmützel gegeben über Luftscheu und Verweichlichung, und schließlich einen jener schon unvermeidlich gewordnen Ausfälle gegen die erbärmliche, saft- und kraftlose Erziehung, der all diese vielen Jammerlappigkeiten zu verdanken seien. Ludwig, in der Machtfülle kerniger, fast brutaler, unerschütterlicher Gesundheit, war noch nie auf den Gedanken gekommen, die starke Verschiedenheit ihrer beider Naturen in Rechnung zu ziehen. Er, ein Kerl wie ein Eichbaum, wie er selbst sich voll Behagen nannte, ein Kerl, bestimmt, in Herrlichkeit und Freuden hundert Jahre alt zu werden – er wußte nichts von Witterungsbeschwernissen, ihn erdrückte nicht die glühendste, gnadenloseste Julisonne, ihn focht keine noch so starre Kälte an. Die sehr viel zartere Bildung seiner Frau, der besonders die Winterszeit keine Freuden brachte, forderte nicht seine Schonung, sondern nur seinen Spott über ihre „alberne Pimpelei“ heraus. Dieser Spott blieb gutlaunig und ungefährlich, so lange sie ihn mit Sanftmut hinnahm und sich allen Anordnungen ihres Herrn und Gebieters einwandslos fügte; jeder Versuch aber, eine persönliche Stimmung geltend machen zu wollen, scheiterte an Ludwigs Hartnäckigkeit, die nicht litt, von Weibern regiert zu werden. Schon nach den ersten paar zaghaften Wörtchen der Einwendung spürte er die Bitternis des Widerstandes und kehrte im Nu alle Stacheln nach außen. Sein Wille war nun einmal oberstes Gesetz und hatte zu geschehen – im Guten oder im Bösen.

Also lieber im Guten. Lieber mit guter Miene eine Stunde in dem schneidenden kalten Ostwind spazierenfahren, seine gnädige Laune zur Seite, als „trotz alledem“ und die ganze Zeit über von seinen scharfen Worten geritzt und gestochen werden! Er fand es herrlich, sich einmal tüchtig durchfrieren zu lassen, und konnte nicht oft genug betonen, wie gesund ihr das sei, wenn er auch sah, daß der Frost ihr Thränen in die Augen trieb. Holte sie sich bei solcher Gelegenheit eine Erkältung, so war natürlich nicht die harmlose Ausfahrt daran schuld, sondern eine ihrer persönlichen Dummheiten, die dann dem armen Mann in die Schuhe geschoben werden sollten.

August hatte seine Herrin erst sorgsam mit einem warmen Plaid bis über die Kniee umhüllt, ehe er die große Pelzdecke über sie und den Herrn ausbreitete. Ludwig griff ungeduldig zu. „So machen Sie doch vorwärts! Geben Sie her das Dings! Wie lange soll denn die Wühlerei noch dauernd! Nach dem Nordpol fahren wir heute noch nicht.“

August verzog keine Miene seines ehrerbietig gleichgültigen Gesichts, sondern ordnete nur ruhig, ohne sich mehr zu beeilen, mit einigen Rucken die von Ludwig schief gezogene Decke.

„Vorwärts jetzt!“

Der Schlitten schoß zur Einfahrt hinaus. Die beiden Rappen waren anfangs noch etwas nervös durch den ungewohnten Schellenbehang, aber Emil hatte sie gut in der Faust, und schon nach wenigen Minuten trabten sie im eitlen Bewußtsein ihrer heute besonders geschmückten Schönheit dahin, als gälte es, der ganzen übrigen Pferdewelt zu beweisen, daß ihnen keiner über sei.

Wirklich durfte es sowohl Gespann wie Schlitten getrost mit sämtlichen Nebenbuhlern aufnehmen, die im Tiergarten ihre Wege kreuzten. Ludwig musterte mit Kennermiene alles, was vorbeifuhr. Sehr zahlreich war die Gegnerschaft übrigens heute nicht. Der Wind pfiff erbarmungslos und scheuchte auch die meisten Spaziergänger ins warme Haus. Hier und da grüßten Bekannte. Bekannte von Ludwig, die Hanna noch fremd waren.

[695] „Nächste Woche machen wir Besuche,“ sagte er jetzt ganz unvermittelt.

Hanna sah ihn unruhig an. „Schon? Darf ich nicht diesen Winter noch –.“

„Nein,“ unterbrach er sie. „Ein halbes Jahr ist genug. Ich habe dieses Klosterleben nun satt!“

„Aber ich passe wirklich noch nicht in Gesellschaft, Ludwig. Was soll ich unter fremden Leuten?“

„Nett sein, liebenswürdig sein, dich unterhalten! Das wird dir doch nicht zu schwer fallen? Du bist ja direkt gebildet. Bist ja nicht so ein Stoffel wie ich. Und ich mach’s doch.“

Was willst du mit diesem komischen „direkt?“ hatte sie fragen wollen, sie ließ es aber sein – aus Vorsicht. „Wer nennt dich einen Stoffel?“ fragte sie statt dessen.

„Du natürlich! Nicht wörtlich. Dazu bist du ja zu klug. Auch zu wohlerzogen. Aber bildlich. Mit Leidensmienen und unterdrückten Seufzern.“

„Was du für eine Phantasie hast,“ unterbrach ihn Hanna. Sie sah ihn ängstlich von der Seite an. Nur keine Scene wieder! Diese ruhigen Tage der letzten Woche hatten ihr so gut gethan, hatten ihre gequälten Nerven ausruhen lassen. Nur keine neuen Bitterkeiten. Ihn nicht reizen. „Nicht von weitem sind mir solche Gedanken gekommen,“ setzte sie darum noch sanft hinzu.

Er lachte einmal kurz auf und nach einer Pause, die ihr endlos dünkte, weil sie nichts zu sagen wußte, sprach er weiter: „Du mußt mich doch für äußerst dämlich halten, daß du meinst, ich merkte nicht, wie du dich mir stets überlegen fühlst. Und daß du meinst, das wurmte mich nicht!“

„Aber bester Ludwig –“

„Halt den Mund, rede dich nicht heraus, damit beleidigst du mich nur von neuem. Bilde dir übrigens nicht ein, ich vergäße je die kleinste Kränkung, die mir angethan worden ist. Ich vergesse nichts, und wenn es zwanzig Jahre alt werden sollte. Wie eingesalzen liegt das hier drinnen.“ – Er klopfte mit der Faust auf seine Brust. – „Eingesalzen. Also wohlerhalten. Jeder Blick. Jedes Wort.“

„Wie kann man nur so sein,“ sagte Hanna traurig. „Wie willst du denn da verzeihen?“

„Will ich denn? Ich denke nicht dran. Ich vergesse nichts und ich verzeihe auch nichts.“

„Das ist so schrecklich! Du verzeihst nichts?“

„Nein, ich vergebe manchmal. Lächle nicht so barmherzig, als wenn du sagen wolltest Das ist ja dasselbe. Es ist nicht dasselbe. Für mich nicht. Ich vergebe’ aus gesellschaftlichen Rücksichten. Aus Klugheit. Ich lasse es gut sein. Ich rede nicht mehr drüber. Aber damit hab’ ich nichts vergessen und also auch nichts verziehen. Ich warte nur meine Zeit ab. Sie kommt auch.“

Hanna schwieg ein Weilchen. Sie schüttelte dann den Kopf. „Wie kann man nur so sein,“ sagte sie leise vor sich hin. Und noch leise, beklommen „Wie mag es da zwischen uns beiden aussehen?“

„Bunt,“ sagte er finster lächelnd. „Nicht sehr behaglich. Anders, als ich mir’s gedacht habe, als ich mich mit dir verlobte.“

„Ich habe dich arg enttäuscht, nicht? Ich bin ganz anders, als du gedacht hast?“ Sie sah ihn traurig fragend an.

„Ob du mich enttäuscht hast!“ gab er zurück. „Gehörig. Enttäuscht ist übrigens gut.“ Er schwieg einen Augenblick. „Ja, was ich sagen wollte: Manchmal, wenn ich nicht gerade verliebt war, hab’ ich dich schon zu allen Teufeln gewünscht.“

Hanna mußte jetzt doch lächeln. „Aufrichtig bist du wenigstens.“

„Bin ich immer gewesen. Ich habe nie mit dir Verstecken gespielt. Hättest dir beizeiten an mir ein Muster nehmen sollen mein Kind. Dann wäre mir allerhand erspart geblieben.“

„Wie meinst du das? Was wirfst du mir vor?“

Er antwortete nicht gleich. Erst nach einem langen Blick in ihre Augen, den sie aushielt der ihr aber weh that, wie ein Schnitt warf er so hin, indem er sich wieder zurücklehnte: „Laß nur. Das ist Pökelfleisch.“

„Wie?“ fragte sie sehr erstaunt.

„Das liegt noch eingesalzen, tief unten im Faß. Hält sich. Wird schon eines Tages herausgeholt werden, wenn’s die richtige Zeit ist.“

Hanna sprach jetzt nicht mehr. Sie zitterte aber am ganzen Leib. Böser Mensch, dachte sie empört. Sie wäre gern von ihm weggerückt. Daß sie die Wärme seiner körperlichen Nähe fühlte, überlief sie in diesem Augenblick mit verstärktem Widerwillen. Sie rührte sich aber nicht; sie wagte es nicht. Er wäre imstande gewesen, unbekümmert um den Kutscher in heftige Schmähungen auszubrechen. Es war schon so nicht sicher, daß Emil nicht Bruchstücke der Unterhaltung aufgefangen habe.

Schon wieder also hatte das harmlos begonnene Gespräch eine streithafte Wendung genommen! Als wenn Frieden zwischen ihnen beiden unmöglich wäre! Sollte das immer so weiter gehen? Nie mehr sich sänftigen? Die Ruhe dieser letzten Tage deuchten sie jetzt wie die Stille vor dem Sturm. Sollte es nun noch schlimmer werden als vorher? Es schien fast so.

Das Gefühl der Qual und der Ohnmacht gegenüber dieser Qual stieg ihr bis zum Hals, würgte sie, benahm ihr fast den Atem. Saß sie nicht da neben ihm wie eine Sünderin? Was hatte sie ihm gethan? Aus was für einem erbärmlichen Seidenfädchen hatte er ihr da wieder einen Strick gedreht? Und sie sollte warten, bis es ihm belieben würde, sie zu richten? Sie fühlte, sie ertrug das nicht. Sie mußte ihn zum Sprechen bringen. Aber nicht hier im Schlitten.

Aus ihrem dumpfen Brüten aufschauend, sah sie, daß sie eben den Tiergarten verlassen hatten und durch die Hitzigstraße gegen den Kanal hin abbogen. Unter den Bäumen am Wasser war der Weg glatt gefegt.

„Wenn wir für ein Weilchen aussteigen,“ sagte sie bittend zu ihrem Mann, der nach seinem letzten großen Wort gleichmütig schweigend geraucht hatte. „Ich möchte mich gern etwas bewegen. Ich bin ganz steif.“

„Meinethalben.“

Sie gingen nun nebeneinander her, Emil mit seinem ungeduldig tänzelnden Gespann folgte in einiger Entfernung.

„Gieb den Arm,“ sagte Ludwig nach wenigen Schritten. „Was ist das für ein dummes Gependel?“

Sie hätte gern beide Hände im Muff behalten, aber sie gehorchte sofort.

„Ludwig,“ begann sie alsdann gepreßt, „ich bitte dich, sag’ mir, was du gegen mich auf dem Herzen hast. Sprich dich aus, diese Halbheit ertrag’ ich nicht.“

Er betrachtete sie mit einem kalten Lächeln. „Was verstehst du unter Halbheit?“

„Daß ich weiß, du wirfst mir etwas vor, aber nicht was es ist.“

„Weißt du’s wirklich nicht?“ fragte er, noch mit demselben Gesicht.

„Würd’ ich dich sonst fragen?“

„Na, es könnte ja auch sein, um Zeit zu gewinnen, um dir die Antwort zurechtzulegen. Besinne dich nur noch ein Weilchen, es wird dir schon einfallen.“

„Du siehst, Ludwig, wie mir zu Mute ist,“ sagte sie gepeinigt. „Sei großmütig, mach’ ein Ende!“

„Spottschlecht ist dir zu Mute, ja das sehe ich,“ bestätigte er nickend. „Dein Gewissen rührt sich. Angst hast du.“

„Angst nur vor diesem Unklaren. Ist das ein Wunder? So erbarm’ dich doch und sprich! Was hab’ ich dir gethan?“

Sie spürte jetzt in seinem Arm, daß es ihm plötzlich einen Ruck gab, und sah ihn ängstlich an. Ein unsinniges, böses Lächeln verzerrte sein geradeaus schauendes Gesicht.

„Na denn, meinetwegen,“ murmelte er. „Es lebe der Zufall! Ein Wink vom Schicksal offenbar. Er neigte sich dann zu ihr mit einem Ausdruck, vor dem sie erschrak.

„Sieh, wer da kommt,“ sagte er noch gedämpfter, und ohne den Blick von ihr zu lassen.

Fast hätte sie aufgeschrieen.

Rettenbacher war nur noch etwa zehn Schritte von ihnen entfernt. Mit leicht geneigtem Kopf gegen den scharfen Wind angehend, kam er daher, ohne die beiden zu bemerken.

Hanna fühlte, wie der Schreck sie rüttelte. So unvorbereitet, und gerade in diesem Augenblick traf sie die Ueberraschung [696] dieser Begegnung mit erschütternder Gewalt und zugleich mit der überzeugungsvollen Kraft einer unmittelbar drohenden Gefahr.

Ludwig, der mit seinem durch die Eifersucht verschärften Spürblicke ihr armes, fassungsloses Gesicht bewacht hatte, brach in ein mißtönendes Gelächter aus. Dadurch aufgeschreckt, hob Rettenbacher den Kopf. Es fuhr bei diesem unerwarteten Anblick auch über seine sonst stets so gutbewachten Züge ein leises Beben. Aber es verflog sogleich wieder, und schon hatte er mit ernster Höflichkeit den Hut gezogen und war grüßend, ohne den Schritt anzuhalten, an ihnen vorbeigegangen.

„Es lebe der Zufall,“ wiederholte Ludwig, der in offenbar absichtlicher Ungezogenheit kaum die Hutkrempe berührt hatte, mit einem neuen, kurzen Auflachen „Schöner hätte sich’s ja gar nicht treffen können. Das nennt man abgekürztes Verfahren. Konfrontation. Ueberrumpelung des Delinquenten. Famos! Mein Liebchen, was willst du noch mehr?“

Er war furchtbar erregt und so bleich, wie sein dunkles Gesicht nur werden konnte. Hanna schauerte zusammen vor dem wilden Blick, mit dem er sie anfunkelte.

„Was willst du von mir?“ fragte sie heiser, über und über zitternd.

„Lügnerin! Hab’ ich dich erwischt?“

„Was willst du von mir?“ wiederholte sie mit einem Rest von Stimme, der Mund war ihr trocken wie Papier.

„So laß doch die verdammte Komödie!“ fuhr er sie an. „Du siehst ja wohl, daß du dich verraten hast. Oder etwa nicht? Wie gerufen kam dein langer Laban eben des Weges daher. Den muß der Teufel geschickt haben. Ich wollt’ nur, du hättest im Augenblick dein eigenes Gesicht sehen können. Es war so eine Art beglaubigter Unterschrift zu dem in der Kirche bei unserer famosen Trauung. Zuckst du? Ja, zuck’ nur! Winde dich nur. Um ein halb Stündchen zu spät ist mir leider damals der Seifensieder aufgegangen.“

„Was – glaubst du von mir?“ Halb bewußtlos ging sie langsam an seiner Seite dahin.

„Was ich von dir glaube? Daß du mit dem Lehrersmann einig warst – vor meiner Zeit. Und daß dir der reiche Freier dann zwar überraschend, aber doch sehr gelegen kam. Und daß du dir deinen süßen Herzensfreund einstweilen warmgestellt hast. Und daß du geglaubt hast, dein Mann wäre ein Esel. Und daß du dich dabei eklig geschnitten hast –“

„Nein,“ sagte sie außer sich, jetzt ganz laut. „Das ist nicht wahr!“

„Was ist nicht wahr? Daß du ihn geliebt hast?“

Hanna schwieg, von einem neuen, heftigen Zittern ergriffen. Was hätte sie jetzt um den Mut zu einer Lüge gegeben.

„Du antwortest mir ja nicht,“ fuhr er höhnend fort. „Wird dir das Schwindeln plötzlich so schwer? Ich wiederhole dir, mein Kind, halte mich nur nicht für gar zu dämlich! Wenn ich auch nicht so gebildet bin wie du, Augen hab’ ich darum doch im Kopf. Etwas spät sind sie mir ja aufgegangen. Dafür aber gründlich! Mir machst du jetzt nichts mehr vor, verlaß dich drauf. Das eine Zugeständnis schließt übrigens alle andern ein –“

„Das ist nicht wahr,“ wiederholte sie leidenschaftlich; in der Erregung rüttelte sie an seinem Arm. „Du darfst das nicht glauben. Du bist schlecht, wenn du das glaubst. Ich habe nicht – es ist nichts geschehen – du bist schlecht, wenn du das von mir glaubst – –“

„Na weißt du, mein Haseken,“ unterbrach er sie scheinbar gemütlich, aber mit einem bösen Funkeln seiner erhitzten Augen, „den Unterschied, wer von uns beiden der schlechtere ist – den möcht’ ich Klavier spielen können. Ueber dein Schatzemännchen war ich mir bald im klaren. Wenn du dich auch die längste Zeit besser beherrscht hast – daß er in dich verschossen war, das konnte jedes Kind sehen.“

„Ich nicht!“ warf sie heftig dazwischen. „Ich habe es nicht gewußt!“

„Gotts Donner! Und das Gesicht, mit dem du ihm in der Kirche nachgesehen hast, als ihr Abschied nahmt?“

Hanna antwortete nicht. In einem Gefühl des Vergehens starrte sie vor sich hin.

„He?“ fragte er scharf, „wie war es damit?“

„Da sah ich es – zuerst,“ erwiderte sie tonlos. „Und da war es zu spät.“

„Ach du arme Seele! Und du verlangst, daß ich das glaube? Ein solcher Ochse bin ich nicht, kann ich dir schriftlich geben. Bei mir hast du verspielt, ein für allemal, das merke dir. Wer einmal lügt – du weißt doch? Konntest du mich belügen, als du meine Braut wurdest, so warst du auch zu allem anderen im Stande. Daß ich dir infolgedessen gehörig auf den Dienst passe, ist wohl kein Wunder. Oder ja?“

Hanna ließ mutlos den Kopf sinken. An dieser Mauer mußte sie sich ja die Stirne blutig stoßen. Sich noch weiter verteidigen? Ihr ekelte davor. Und ihm in dieser Verfassung sagen es war für die Mutter, daß ich’s that – wie wäre das möglich gewesen! Die arme Mutter, der er ja schon nachspottete, die ja im Grabe keine Ruhe vor seiner Mißgunst hatte!

Eine Weile blieb es nun still zwischen ihnen.

Ludwig hatte seine zerkaute, zerbissene Cigarre weggeworfen. Von Zeit zu Zeit schoß er einen schrägen Seitenblick auf seine Frau hinunter, die schleppenden Schrittes, mit todmüdem, erloschenem Gesicht neben ihm herging.

Endlich erhob sie die Augen wieder zu ihm, traurige, vorwurfsvolle Augen. „Also mit solchen abscheulichen Gedanken konntest du all diese Zeit, all diese Monate über neben mir hergehen?

„Ein Vergnügen war es nicht, kann ich dir sagen. Oder dachtest du?“

„Warum in aller Welt klagst du mich denn erst heute an?“

„Rechenschaft bin ich dir ja wohl nicht schuldig, wie? Sei froh, wenn ich nett gegen dich bin, da du es so wenig verdienst. Ohne diesen famosen Zufall hätt’ ich vielleicht auch heute noch nicht gesprochen.“

„Das hättest du fertig gebracht? Noch wer weiß wie lange?“

„Gewiß hätt’ ich das. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. So was muß man können.“

„Meinst du? Mir scheint das mörderisch. Und jetzt? Nachdem du dich ausgesprochen hast? Wie denkst du dir die nächste Zukunft? Da du ja doch bei deinem abscheulichen Glauben von mir beharrst?“

„Das hängt ganz von deinem Betragen ab. Benimmst du dich anständig, ärgerst mich nicht, so wirst du dich auch über mich nicht zu beklagen haben.“

Sie starrte ihn an. „Du glaubst, wir könnten zusammenbleiben? Nach diesem? Nach dem, was du mir heute gesagt hast?“

„Scheint doch so,“ antwortete er mit einem rauhen Lachen. „Auf Abbruch hab’ ich nicht geheiratet.“

„Und du glaubst, ich bliebe? Du glaubst, nach der Schmach, die du mir angethan hast, ich lebte weiter mit dir?“

Er streifte sie mit einem düster glühenden Blick. „Wirst du wohl müssen. Ich habe dich, und ich halte dich. Nie geb’ ich dich wieder her!“

Hanna schüttelte außer sich den Kopf. „Das kannst du nicht thun! Das darfst du nicht! Mit einer Frau, der man so mißtraut, bleibt man nicht zusammen. Und ich ertrage dieses Leben nicht!“

„Beruhige dich. Und ertrage es nur. Ich muß es ja auch ertragen. Denkst du, es macht mir Vergnügen? Uebrigens bist du einstweilen noch gut genug dabei weggekommen. Den hochdramatischen Gedanken an Scheidung steck’ nur gleich auf. Das giebt’s nicht. Nie! Darauf kannst du Gift nehmen. Und schmeiß' nicht immer gleich mit großen Worten um dich. Was hat mein sogenannter Glaube an dich mit meiner Liebe zu schaffen? Nicht die Bohne. Man kann sogar wahnsinnig lieben, ohne einen Schatten von Vertrauen.“

Sie hatten jetzt beinahe die Potsdamer Brücke erreicht. Ludwig winkte den Schlitten heran. Mechanisch, halb betäubt, gehorchte Hanna seiner Aufforderung, einzusteigen.

Zehn Minuten später waren sie zu Hause.

(Fortsetzung folgt.)
[697]

Villa am Meere.
Nach dem Gemälde von A. Böcklin.

[698]
Arnold Böcklin.
Zum siebzigsten Geburtstag des Meisters.

Etwas unterhalb Fiesole bei Florenz, am Abhang des Berges liegt ganz im Grün versteckt eine schöne Villa mit Marmorterrassen, schattigem Park und prachtvoller Oleanderallee, die noch in später Jahreszeit ihre flammenden Blüten trägt; dichte Olivengärten ziehen sich von hier bis ins Thal hinab, und unten glänzt wie ein kunstreiches Schmuckstück in schön gewölbter Schale die Arnostadt mit ihren Kuppeln und Palästen.

Auf diesem entzückenden Fleck Erde, der seit kurzem sein Eigentum ist, feiert Arnold Böcklin am 16. Oktober dieses Jahres unter Kindern und Enkeln seinen siebzigsten Geburtstag.

Wo Arnold Böcklins Name ausgesprochen wird, da fallen die engen Wände der Wirklichkeit ein, alles Triviale schwindet, und auf geht eine Welt der Phantasie in jugendlichster Glorie:

„Aller Sonnenschein und alle Bäume,
Alles Meergestad und alle Träume.“

Landschaften von leuchtenderen Farben, durchsichtigere Wasser und tieferer Stimmung als alles im Leben Gesehene, bevölkert von den Gestalten der griechischen Fabelwelt. Wer kennt sie nicht, seine Centauren, seine Faune und Tritonen, seine Quellnymphen, Meerweiber, Sirenen und Drachen, ebenso tiefsinnig wie lebensfrisch, in denen reinster Schönheitssinn und ausgelassener Humor sich paaren?

Ungleich jenen vergänglichen Größen, denen unehrerbietige Jugend den Kranz noch vom lebenden Haupte reißt, steht Böcklin heute auf dem Gipfel seines Ruhms. Ihm kann die Mode nichts nehmen, wie sie ihm nichts gegeben hat; den Platz, den er einnimmt, hat er ohne sie, ja, unter ihrer Gegenwirkung erlangt. Sein Leben lang befolgte er Schillers hohen Spruch: „Gieb deiner Zeit was sie bedarf, nicht was sie fordert!“ – er gab ihr die Aepfel der ewigen Jugend, als sie nach Kartoffeln schrie, gab ihr den goldenen Traum, das verlorene Ideal, statt der verlangten dürren Wirklichkeit. Denn die Besten können nur das Beste geben, das heißt sich selber, und sollten sie dabei zu Grunde gehen. – Darum hat ihn das Leben auch nicht gehätschelt, Reichtümer hat er keine gesammelt, mit Titeln und Orden wurde er nicht überschüttet, und noch vor wenigen Jahren besaß er nicht einen Fußbreit eigenen Bodens. Langsam reifte sein Ruhm, die ersten großen Werke, auf denen die Unvergänglichkeit seines Namens ruht, sind in den 60er Jahren geschaffen, und erst jetzt, an der Wende des Jahrhunderts, kann man sagen, daß Böcklins Bedeutung allgemein erkannt ist, und daß auch im Ausland, wenn von deutscher Kunst die Rede ist, sein Name als einer der ersten genannt wird. Dafür dürfen sich seine Verehrer mit Befriedigung sagen, daß von dem Kranze, der das Haupt des Siebzigjährigen umgiebt, die Nachwelt kein Blättchen wird auszureißen haben.

Doch davon sei nur im Vorübergehen gesprochen, ihn selber berühren ja äußere Ehren nicht, er kümmert sich nicht um seinen Ruhm, nur um sein Werk.

Böcklin ist von Geburt ein Schweizer. In Basel, wo Holbein lebte und schuf, hat er das Licht erblickt. Und da gerade in diesem Jahr, in dem Böcklin sein siebzigstes erreicht, der Geburtstag Holbeins zum vierhundertstenmal wiederkehrt, hat die Stadt Basel beschlossen, ihre beiden großen Maler gemeinsam durch eine Holbein- und Böcklin-Ausstellung zu ehren.

Diese Zusammenstellung eines Längstverstorbenen mit einem noch Lebenden ist nicht so seltsam, wie es manchem vielleicht dünken mag, denn in der Kunst, über welcher die Sonne der Ewigkeit scheint, giebt es keine Zeitabstände, die großen Künstler stehen alle nebeneinander. Auch an verwandten Zügen zwischen den beiden Basler Malern fehlt es nicht. Sie haben den derben, oft barocken Humor gemein, der aber bei Böcklin durch die Sonne des Südens geläutert ist; sie teilen miteinander die Lust der Farbe und die Fülle der Phantasie, mit der der eine den Totentanz, der andere den Reigen des Lebens in unerschöpflichen Variationen darstellt.

Böcklins Vater war Besitzer einer Seidenfabrik, und nach seinem Wunsch sollte der Sohn in das Geschäft eintreten. Aber der Beruf, zu dem die Natur ihn bestimmt hatte, äußerte sich schon in dem Sechzehnjährigen mit unwiderstehlicher Gewalt.

Mit drei im Hause vorgefundenen Farben malte er ganz aus eigener Hand ein Landschaftsbild, zu dem eine Fußwanderung ihm den Stoß geliefert hatte und in dem schon ganz der Böcklinsche Geist, die Intensität der inneren Anschauung, die Freude an Farbenkontrasten und das tiefe seelische Erfassen liegt.

Nun setzte er es durch, Maler zu werden. In Genf bei Calame begann er seine Studien als Landschafter, die er später unter Schirmer in Düsseldorf fortsetzte. In Antwerpen und Brüssel übte er sich fleißig im Aktzeichnen und wanderte von dort nach Paris, wo er mitten in die Schrecken der Junirevolution hineingeriet und sogar selbst einmal wider Willen von einem Rebellenhaufen nach den königlichen Gemächern mit fortgerissen wurde. Und nach Niederwerfung des Aufstandes hatte er von seinem Mansardenfenster die schauerliche Aussicht auf einen Hof, in dem die Gefangenen einer um den anderen an einer Mauer aufgestellt und erschossen wurden. Die Erinnerung an diese Greuelscenen soll ihm sein Leben lang nachgegangen sein, in seiner Kunst aber hat sie keine Spuren hinterlassen, das Schreckliche, das Grausame war niemals Gegenstand seiner Darstellung.

Im Jahre 1850 fand er endlich die wahre Heimat seines Genius – den Süden, Italien. In der römischen Campagna, an der Küste des Mittelmeeres erkannte er sich selber, dort gingen ihm die Wunder der südlichen Landschaft und die seines eigenen Innern auf. Denn das Starre, Ungeheure, Chaotische in der Natur seiner Heimat ist seinem Schönheitssinne nicht gemäß, Gletscher und Schneeberge stoßen ihn ab. Dagegen ist der künstlerische Instinkt, der in der Natur des Südens, in ihren unendlichen Farbenabstufungen, ihren formvollen, wie von ordnender Künstlerhand gezogenen Linien waltet, seiner eigenen Natur verwandt.

Besonders das Meer, das mittelländische, mit seinem wechselnden Farbenspiel und der entzückenden Schönheit seiner Ufer hat es ihm angethan. Er malt es in jedem Zustand: spiegelglatt und lächelnd, im leisen Wellenschlag, in wild empörter Brandung und in der Unheimlichkeit unendlicher mittägiger Stille.

So schöne Figurenbilder er gemalt hat – man denke an das reizende Idyll Daphnis und Amaryllis (Klage des Hirten) in der Schackgalerie – die Landschaft ist ihm doch das erste und höchste. Im Suchen nach dem tiefsten Verständnis landschaftlicher Erscheinung sind ihm erst die Fabelwesen entstanden, an die der Laie zunächst denkt, wenn von Böcklinscher Kunst die Rede ist. Durch menschliche Gestalten würde eine solche Landschaft herabgedrückt, in zweiten Rang gestellt werden. Böcklin im Gegenteil will sie erheben, ihr eine Sprache geben, und so malt er seine Tritonen hinein, denen grünes Moos auf Brust und Rücken wächst, seine im Wasser quatschenden Meerweiber, die eins sind mit dem Schaum der Brandung, seine flötenden Bocksfüßler, die man im Bilde erst suchen muß, weil sie als ein Stück gesteigerter Natur sich nicht allzu stark von Baum und Schilf abheben. Es sind ins Elementare zurückgebildete Menschenleiber, Personifikationen des Naturlebens; nicht in kalter Allegorie, sondern als lebendiges Märchen, wie sie es den Griechen waren. Zu Verkörperungen der Meeresbrandung, der Entstehung des Wassers, des geheimnisvollen Waldschweigens hat sein Dichtergeist die Mittel in der Farbe gefunden.

Unverkennbar hat der italienische Sommer mächtig auf Böcklins Phantasie eingewirkt, aus dem Traumhaften, Elementaren, das die Seele inmitten eines glühenden übermächtigen Naturwebens ergreift, erklärt sich das Eigenste seiner Kunst. Denn der italienische Sommer erzeugt diese Traumgestalten noch heute wie vor zweitausend Jahren, als der „honigleckende“ Theokrit ihnen Leben gab, und jeder kann jetzt an einem heißen Sommernachmittag so zwischen Traum und Wachen am Strande des tiefblauen Mittelmeeres Böcklins Centauren gallopieren und das lustige Wasservolk sich balgen sehen. Es gehörten nur Böcklins Augen dazu, diese ganze sinnenstarke Welt wieder zu entdecken, nachdem sie zur Schablone erstarrt und mißbraucht war.

[699] In Rom, das so großen Einfluß auf des Künstlers Entwicklung hatte, war es ihm auch bestimmt, die Gefährtin seines Lebens zu finden. In einer jungen Römerin von klassischer Schönheit, die ihm eines Tages auf der Straße begegnete, erschien ihm das Gesicht der Gesichter, das für seine Kunst auf alle Zeit maßgebend geworden ist. Ihre herrlichen Züge sind auf den meisten seiner Bilder wiederzuerkennen, ja, man kann wohl sagen, daß er nie einen anderen Frauentypus gemalt hat.

Aber das Muß eines großen Künstlers, der eine innere Welt zu verwirklichen hat, verträgt sich schlecht mit dem Muß eines Hausvaters. Da er bei der Heirat nur sein Herz befragt hatte, blieben die Sorgen nicht aus. So wenig er dem Zeitgeschmack in irgend einem Punkte entgegenkommt, versteht er es und will es verstehen, seine Palette gewerbsmäßig auszubeuten. Um nur keine langen Verhandlungen zu haben, gab er Bilder zu den niedrigsten Preisen weg, die später in den Händen der Kunsthändler und Wiederverkäufer ein Vermögen bedeuteten. Doch weder die Lebensnot, die sich an ihn hängte, noch häusliches Leid – von den vierzehn Kindern, die seiner Ehe entsprossen, leben nur noch sechs – vermochten seine freudige Schaffenskraft zu dämpfen. Was auch den Menschen Böcklin Schweres traf, der Künstler Böcklin trug sein Haupt hoch über aller Erdennot in den immer blauen Lüften. Nicht als ob er nur Heiteres dargestellt hätte, sein Pinsel hat die ganze Skala der Seelenstimmungen durchlaufen, von der sonnigsten Lebensfreude in der „Muse des Anakreon“ bis zur tiefen Melancholie, wie sie aus der „Toteninsel“ und aus der herrlichen „Villa am Meer“ mit den sturmgepeitschten Cypressen und der einsamen Trauernden spricht. Aber unberührt von äußerem Druck und Zwang ist alles, was er malt.

Böcklins Leben ist ein ungemein unstetes gewesen. Wie alle, die lange in Italien gelebt haben, zieht es ihn unaufhörlich zwischen dem Süden und dem Norden hin und her. So sehr er des italienischen Himmels bedarf, der Ernst, die Ordnung und Tüchtigkeit des deutschen Lebens sind auf die Dauer schwer zu entbehren. – In München und Basel hat er wiederholt und abwechslungsweise gelebt – München mit seiner alten Pinakothek, an der er sich niemals satt sieht, bewahrt bis auf diesen Tag eine große Anziehung für ihn – auch lehrte er einmal zwei Jahre, von 1860 bis 1862, an der Kunstschule in Weimar, doch immer kehrte er nach kurzem Aufenthalte wieder über die Alpen zurück.

1869 malte er in Basel die Fresken in der dortigen Kunsthalle und meißelte daselbst auch die barock-humoristischen Sandsteinmasken, die in zahlreichen Abbildungen bekannt geworden sind. 1875 ließ er sich auf zehn Jahre in Florenz nieder, wohl die längste Zeit, die er je dauernd an einem Orte ausgehalten hat, und dort hatte die Schreiberin dieser Zeilen das Glück, in dem bescheidenen Atelier am Lungo Mugnone manches unvergeßliche Bild unter den Händen des Meisters auf der Staffelei zu sehen.

1886 glaubte er sich dann eine bleibende Heimstätte in Zürich gegründet zu haben, wo damals noch die sinkende Lebenssonne seines Freundes und Landsmannes Gottfried Keller die etwas nüchterne Atmosphäre verklärte. Er hatte sich dort ein Atelier nach eigenen Bedürfnissen gebaut, das ganz geschaffen schien, ihn auf die Dauer festzuhalten. Aber schon nach wenigen Jahren war er wie ein Fisch auf dem Sande. Ein körperliches Leiden gesellte sich hinzu, quälender Kopfschmerz, der zwar nicht seine Phantasie und Schaffenslust, wohl aber die Kraft der Ausführung lähmte. Da wurde das Heimweh nach Italien unwiderstehlich, im Glauben, daß seine Tage gezählt seien, brach er plötzlich auf und fuhr im Hochsommer über den Gotthard, er wollte sein geliebtes Meer, den Sommer des Südens noch einmal wiedersehen. Und im Meer beim Baden an der ligurischen Küste, in dem kleinen Badeort Forte dei Marmi fand er unerwartete, fast wunderbare Heilung. Seitdem hält ihn Italien mit Banden, die unzerreißlich wurden durch den Erwerb des schönen Besitztums bei Florenz.

Die Werke aufzuzählen, die während dieses unruhigen Lebens in ununterbrochener Folge aus seinem Pinsel quollen, würde wohl ihm selber schwer werden. Mitunter hat ein Thema so tiefen Eindruck auf seine Phantasie gemacht, daß er es mehreremal variieren mußte. So existiert z. B. die berühmte „Toteninsel“ in drei verschiedenen Auffassungen, auch die „Villa am Meer“ ist ein solcher Lieblingsgedanke, den er wiederholt dargestellt hat; am häufigsten aber haben die spielenden Meerweiber an der flutumtosten Felsenklippe seinen Pinsel beschäftigt.

Daß Böcklin ganz ohne Modell arbeitet, ist bekannt, ebenso, daß er nie mit der Palette ins Freie gegangen ist, sondern von seinen Wanderungen nur Erinnerungsbilder mit nach Hause bringt, die von der schaffenden Phantasie vollkommen umgestaltet und neugeboren werden. Keines seiner Bilder ist nach der Natur, keines ohne die tiefste aus der Natur geschöpfte Inspiration und das innigste Versenken in ihr heimlichstes Wesen geschaffen. Der kleinste Fleck Erde regt seine Traumwelt an, im Freien kann er stundenlang in intensiver Betrachtung irgend einer Einzelheit stehen, und er pflegt zu äußern, wer nicht am Kleinen in der Natur sich freue, z. B. am Leben des Mooses, der sehe überhaupt nicht. Daher die unerreichbare liebevolle Intimität, die nicht am wenigsten zu dem eigentümlich seelischen Eindruck seiner Bilder beiträgt.

Unter den berühmten Künstlern ist Arnold Böcklin gewiß einer der einfachsten und liebenswürdigsten. Ein Fremder, der seinen Namen nicht gehört hätte, würde nur an seinem mächtigen, ausdrucksvollen Kopf, nie an seinem Auftreten erkennen, daß er einen Mann von seltener Bedeutung vor sich hat. Natürlich ist er kein Allerweltsgesellschafter, er geht zwar gerne unter Menschen, doch nur um sich in Gesellschaft doppelt abgeschlossen und für sich zu fühlen.

Gegen verständnisloses Gerede ist er empfindlich wie gegen alles Disharmonische, so sehr, daß er sogar an einem Werk die Freude verlieren kann, wenn ein Unberufener es durch ungeschickte Bemerkungen „beschrieen“ hat. Schmeichler und laute Menschen wehrt er ab, jedoch nicht mit den Keulenschlägen, die seinen Freund Gottfried Keller so gefürchtet machten, sondern nur durch ein ruhiges Abgleitenlassen. Er spricht wenig und etwas langsam, wobei er stets den Nagel auf den Kopf trifft. Im Erzählen ist er besonders glücklich, seine Anekdoten, in die er gern Gespräche in Schweizer Mundart einflicht, sind von unwiderstehlichem Humor. An Disputen beteiligt er sich nie – schon als junger Mann hat ihn Paul Heyse geschildert, wie er bei den Wortgefechten der andern still am Feuer sitzt und Kastanien brät – er drückt auch nicht auf die Unterhaltung, sondern läßt jede Persönlichkeit bestehen, daher seine Gegenwart immer etwas Ruhiges und Wohlthuendes hat.

Im Jahre 1890 sah ich in seinem Zürcher Atelier ein Bild auf der Staffelei, fast mehr ein Gedicht als ein Bild, zu dem der Meister einen Kommentar zu geben für nötig fand. Es war ein altes Pärchen, das in einer Laube aufrecht sitzend schlummert. Das Bild sah so deutsch und heimelig aus, die beiden Alten hätten können Philemon und Baucis aus Goethes Faust vorstellen, nur daß etwas Müdes und Trübes auf den Gesichtern lag. Und der Meister erzählte mir folgendes: „Den beiden Alten ist es ihr Leben lang sauer geworden, sie haben geschafft und gedarbt, und ihr einziger Wunsch war, einmal ein eigenes Fleckchen Erde zu besitzen. Jetzt haben sie ihr Ziel erreicht, das Gärtchen mit der Laube gehört ihnen, aber sie sind müde und alt. Die Blumen duften und glänzen auf dem Rasen, aber ihr Gesicht und ihr Geruch sind stumpf, sie können nichts mehr als mit gefalteten Händen auf dem Bänkchen sitzen und über all dem Zauber einnicken.

Dieses Bild fiel mir wieder ein, als ich kürzlich durch die Oleanderallee der Villa Böcklin schritt, und ich pries im Herzen das Geschick des greisen Meisters, der in seiner kämpfereichen Laufbahn sich wohl oft einen eigenen Fleck Erde als Lebensziel geträumt haben mag. Und jetzt ist er sein geworden, so schön wie seine Künstlerphantasie ihn nur wünschen konnte. Er aber ist nicht müde wie sein altes Pärchen, das kaum noch im Halbtraum sein Glück genießt, seine Sinne sind ungeschwächt, sein Geist ist frisch und die Muse ist mit ihm, die ihn noch mit neuen Werken segnet. Denn die Natur giebt ihren Lieblingen nicht nur mit vollen Händen, wenn sie sie ins Leben schickt, sie stellt sie auch darin über ihre Alltagsgeschöpfe, daß sie ihnen den Genuß ihrer Gaben gerne über das gewöhnliche Maß hinaus erhalten mag.
Isolde Kurz.
[700]
Der Pfannenflicker.
Charakterskizze aus Tirol. Von Karl Wolf-Meran.

Vor dem Eggerhofe ist heute großes Kinderfest. Der Pfannenflicker ist da! Die Kinder drunten in der Stadt, mitten im Getriebe der Welt, die Kinder in den Dörfern, wo es allerwegs Abwechslung giebt, ahnen nicht, was für ein Ereignis es ist, wenn auf einem einsamen Berghofe ein Handwerker ankommt, ein Hausierer, ein Händler, oder sonst wer aus der großen, weiten Welt.

Und ein solcher großer Tag war just heute auf dem Eggerhof. Der alte Pfannenflicker hatte seine Kraxe abgeladen, sein Werkzeug auf der breiten Bank auf dem Solder ausgebreitet und dann fest in den Boden seinen Stock geschlagen, der war sein Amboß. Nun wickelte er aus seinem Taschentuche die mit Messing eingefaßte Brille, wischte mit dem Daumen und Zeigefinger die Gläser rein und nun konnte die Arbeit losgehen.

Erfreut über seine Ankunft, sagte die Eggerbäuerin „I mai, ’s Pfannenflickerle ist da! Ja grüaß Gott wünsch’ i und pfüat Gott sag’ i erst in fünf, sechs Tag, denn eher laß i di nit fort. Schon ganz g’wiß nit! Bleibst mir nou drei Woch’n aus, meiner Seel und Gott, i hätt’ nit g’wußt, mit was koch’n, so schaut mein G’schirr aus.

Da huschte ein Schmunzeln über das hagere, alte, faltige Gesicht des Pfannenflickers. „A schau, da hätt’ i’s a mal gar recht troff’n mit der Flickerei. Ist mir recht, Eggerin, gar aus recht. Fast nimmer koch’n können? Wär’ fein schad, Bäurin, denn in deinen Pfannen geht’s gar schmalzig her, nit so trockn wie drunt bei der Kundlerin, oder so mager wie bei der Saltenhoferin, oder so g’sparig wie bei der Zwickin.

Geschmeichelt wischte sich die Bäurin ihre mehligen Hände an der blauen Schürze ab, denn sie war gerade beim Knödlteig anmachen gewesen. „Sollst heut’ Strauben bekummen Pfannenflickerle, goldiggelbe und Zucker drauf g’sät.“

„Nit sou gach, Bäurin,“ jubelte der alte Pfiffikus, „nit sou gach, sonstern mein’ i, i war verstorben und wach’ jetz g’rad’ im Himmelreich auf!“

Die Bäuerin zog sich lachend in die Küche zurück, um alle schadhaften Pfannen und Töpfe zusammenzusuchen und vor allen Dingen den Kaffee zu rösten, welchen der Bauer gestern aus der Stadt gebracht hatte.

Der Pfannenflicker, der mitten unter den sechs Kindern des Hofes hockte, schnupperte mit seiner Nase in die Luft, als er den Geruch der Bohnen verspürte, und dann wendete er sich an den ältesten der Buben. „Hansele,“ sagte er, „jetzt sperr’ deine Ohrwaschel auf, i will dir a Botschaft auftragen, für die Mutter: ’s Pfannenflickerle, sagst, hätt g’sagt, sagst, es thät ihm schon gäraus nit taugen, wenn er ein Schüssele Milch bekäm, wie es halt gebräuchlich, wenn er in der Fruh auf einen Hof käm', sagst, das seien preußische Farben, ’s rußige Pfannenflickerle und die weiße Milch, sagst, s’ Pfannenflickerle sei anno sechsundsechzig, sagst, beim Militär Soldat g’west, sagst, und kann die zwei Farben nit leiden. Die Preuß'n hätten damals G’wehr gehabt, hintertückische, weil sie hinten ummer g’laden worden seien. Und da seien wir mit unsere vordertückischen auf alle Weis’ zu kurz kummen, sagst. Seit der Zeit seien dem Pfannenflickerle die weiß-schwarzen Farben garaus zuwider, sagst, und die Bäuerin, wenn sie einen Kaffee brächt, sagst, nachher kämen die österreichischen Farben zammen, ’s schwarze, rußige Pfannenflickerle und der goldig gelbe Kaffee, sagst.

Dieser Vortrag hatte auch richtig Erfolg. Nach gar nicht langer Zeit brachte die Bäuerin eine Schüssel Kaffee, die sich der Pfannenflicker prächtig schmecken ließ.

Dann aber machte er sich mit großem Eifer über das Küchengeschirr her. Da und dort nietete er auf ein Pfannenloch ein rundes Eisenblättlein, umstrickte einen gesprungenen Topf mit einem Drahtnetz, flickte die Gewichtskette der alten Uhr in der Stube zusammen dem „heiligen Geist über dem Eßtisch“ heftete er den halb abgebrochenen rechten Flügel mit Draht fest und der Wollkarlatsche (Instrument zum Flockigmachen der Wolle) setzte er die ausgegangenen Zähne alle frisch ein. Mit Staunen verfolgten die Kinder die Geschäftigkeit des alten Pfannenflickers, und wenn eines oder das andere zu einer Handleistung herangezogen wurde, so wußte es vor Stolz fast nicht mehr wo ein und wo aus. Und als er nun gar einen Fensterflügel in der Stube aushob, eine Glasscheibe flach auf den Tisch hinlegte und daraus ein Stück zurechtschnitt für die eingeschlagene Stelle, stieg er im Ansehen der Kinder ganz gewaltig. Die gebrochene Scheibe hatte dem Hansele damals für einige Zeit das Sitzen verleidet, solche Folgen zog das Hinausstoßen derselben nach sich. Und der Pfannenflicker machte drei-, viermal „Ritsch, ritsch,“ dann einigemal „Krix-krax“ und eine neue Scheibe lag fertig da.

Mittag aß der Pfannenflicker allein auf der Bank vor dem Hause.

„Pfannenruß und Tischzeug taugt nit zammen,“ sagte er. „Auf z’ Nacht aber schwänz[1] i mi sauber und zelm Diandlen gebt’s acht, daß enkere Herzlen nit springen wie a Hafele. Dieselbe kann i nit zamme flicke mit Draht.“

Den Leuten auf dem Eggerhofe war es auch ganz recht, daß der Pfannenflicker sein Mittagsmahl allein verzehrte. Der Bauer sah es nicht gerne, wenn da viel herumgeredet wurde. Frisch gegessen und dann wieder munter bei der Arbeit, so wollte er es gehalten haben. Am Abend jedoch, nach dem Rosenkranze, da war ein Heimgart mit dem närrischen Pfannenflicker sehr angenehm. Und so kam es auch.

Die Leute knieten auf der Bank an den Fenstern und die Weiber in der dunklen Stube, die Ellbogen auf einen Stuhl aufgestützt, und beteten abwechselnd den Rosenkranz, da zupfte das kleine Lenerl die Mutter an der Schürze: „Du gelt, heut’ därf i aufbleiben und dem Pfannenflickerl auflos’n?“[2]

„G’wundrig bin i, was der Pfannenflicker heut’ auftischt,“ flüsterte ’s Michele dem Sepp zu und das Rosele drüben in der Ecke drückte die gefalteten Hände an die bebenden Lippen. Sie war schon ein Jahr als „Jungdirn“ auf dem Eggerhofe und da war es ihr sonst sehr angenehm. Unten im Dorfe spöttelten sie das Findelkind immer aus und ihr junges, fünfzehnjähriges Herzchen war schon voller Bitternis, so daß für die Freude fast kein Platz mehr war. Als der Pfannenflicker das letzte Mal auf dem Hofe war, sagte er zu ihr: Rosele, wenn i z’nächst kumm, haben die fünfzehner Jahrlen ausg’schlag’n bei dir. Dieweil hat die Sonnen die Blümerln alle aufg’weckt und da bring i dir nachher an Gruß von deiner Mutter. O wie oft hatte sie sich gesehnt, von ihrer Mutter, von ihren Eltern zu hören! Aber das von allen Seiten verhöhnte und verspottete Findelkind hatte nie eine Frage gewagt.

Und heute war er gekommen, ihr einziger Freund. Nach dem Rosenkranz saßen die Leute noch alle in der kleinen getäfelten Stube. Der Knecht nagelte seine schweren Bergschuhe frisch auf, denn morgen mußte er ins Wildheuen, und die zwei Dirnen richteten unter vielem Kichern und Gelächter ihre weißen, weiten Leinenhosen zurecht, denn auch sie mußte hinaus in die Wände und Schrofen, um zu helfen. Da taugt der Weiberkittel nicht. Die Mutter strickte und der Bauer schmauchte sein Pfeifchen. In dichtem Schwarm umstanden die Kinder den Pfannenflicker.

„Heut,“ plauderte dieser, „will i grad’ a mal von meiner fürnehmen Hantierung red’n. In der Stadt drunt ist a Schriftgelehrten, der steckt sein Nas’n Tag und Nacht in die Bücher und tüftelt aus, was die Leut alles gleichschauen auf der Welt. So a Tüftler bin i a. I tüftl die Sach aber aus die Pfannen und nit aus die Bücher. A Pfann’ und a Mensch ist allbeid ein Lebenslauf. Kaum steckst dein Nas’n in die Welt brauchst schon a Pfannen. Winzig kloan, g’ed’ für a drei, vier Löff’l Kindsmuas. Und mit ’n Kind wachst a d’ Pfannen. Da der Michele drent, gelt Muater der braucht schon a woltenes Pfandl? Und so steigt’s und wachst’s ’s Pfandl und der Mensch. Gach ists schon kein Pfandl mehr, glei a Pfannen, und der Mensch a Bua oder a Diandl a mudl saubers.

[701]

An Ihren Sohn.
Nach einem Gemälde von Gerh. Janssen.




Jetztern kummt der Stillstand. Verliabte Leut brauchen kein große Pfannen, die Lieb zehrt und nährt.

Aber nachher! Hui nachher! Jetzt her mit einer Pfannen, weit und breit, und tief! Erst eß'n zwei, nachher drei, nachher vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn.

„Oha, oha! aufhärst!“ schrieen und lachten die Leute alle durcheinander.

Der Pfannenflicker ließ sich jedoch nicht aus der Fassung bringen. Langsam drehte er sich auf seinem Schemel herum, gegen den Bauer.

„Wie lang’ bist verheiratet?“

„Mei,“ antwortete der Bauer, strich sich mit der rechten Hand die Haare glatt in die Stirne und schaute hinauf zum Oberboden, als wäre dort die Jahrzahl seiner Verehelichung aufgeschrieben. „Jetz wart lei. Wenn ist die sell große Trück’n gwest? Im selben Jahr, wo dem Brentacher die große Kuh hin gword’n ist. Teufl, daß mir’s Jahr nit einfallt.

„O geh, du Schiacher,“ lachte die Bäuerin hinein, „sechs a halb Jahr sein mir halt beinand.“

„Alsdann, was übertreib’ i denn,“ eiferte der Pfannenflicker. „Sechs junge Egger und Eggerinnen stehn da in der Stuben. Kannst no a Weil’ zähl’n, Bäurin. – Jetzt wo bin i stehn blieben? Ja richtig! – Da sitz’n a großmächtiger Haufn Kinder um den Tisch und da verlangt’s a mächtige Pfannen.

Dös hebt si so a zehn – fufzehn Jahrlen, nachher beginnt wieder der Abbau. Die Kinder gehn fort in die Welt außi, die Mutter nimmt schon a schmälere Pfannen, und gar nit wissen thust, wo die Zeit hin ist – sitz’n die zwei Leutlen im Ausgeding hinter an kloan Pfandl. Und auf z’ letzt pappelet die Alte ihr Ahndl g’rad’ so mit an Milchmüasl auf wia zu Anfang. A Pfandl mit fünf – sechs Löffel langt g’rad’ g’nuag.

Schweigend saßen die Leute eine Zeit lang da und dachten über den Vergleich des alten Männleins nach, die Pfannen und das menschliche Leben. „Jetzt geh’ i fensterln, mit Verlab, schmunzelte der Alte. „O beleib, zu dir nit, Anna,“ drohte er zu den Mägden hinüber, „und zur Burgl a nit und a nit zum Barbele. I spitz auf a ganz junge. Ja ja, ich bin a Hoagler[3], i der Pfannenflicker!“

Die Leute ließen den Spaßvogel gewähren, denn die Bäuerin hatte ihnen schon früher einen Wink gegeben, der Pfannenflicker bringe dem Rosele eine wichtige Nachricht. Das stille, traurige Kind hatten alle Leute auf dem Eggerhofe gern und von Herzen wünschte jedes, die Nachricht möge eine gute sein. Der Pfannenflicker trat in die finstre, rußige Küche, nahm ein Scheit und zündete sich sein Pfeifchen an.

Auf der Herdecke saß das Rosele und erwartete hochklopfenden Herzens die Anrede des alten Freundes.

„Rosele, da herinnen in der Kuchl kann i nit redn, wie mir’s ums Herz iß. I muß den freien Himm’l über mein Kopf haben, wenn mir die Wort aus ’m Herz aufsteig’n soll’n.“

Draußen auf der Wiesenecke stand eine alte kleine Kapelle mit dem Bilde der schmerzhaften Mutter Gottes. Dahin schritten die beiden Leute. Der alte Mann setzte sich auf einen Stein und Rosele kauerte ihm zu Füßen auf den Boden. Unten in der Ebene funkelten hier und dort dicht gesät Lichter, das war die kleine Stadt und ihre Nachbardörfer. Dunkel stiegen die Berge gegen den Nachthimmel in die Höhe, und vereinzelt sah man [702] dort das Licht einsamer Gehöfte. Deutlich konnte man das Rauschen der Etsch vernehmen, welche aus der engen Töllschlucht vom Vintschgauthale hinaus in das von Gott so reich gesegnete Burggrafenamt tobt.

„Jetzt und schau, Roserl, zu Jakobi thust fünfzehn werd’n, und jenen Leuten, denen, wie’s auf der Welt kummen, als Taufangebind Spott und Verachtung, wenn a ungerechterweis', ins Fatschenband gesteckt werd’n, denen schenkt der liebe Herrgott allwegs mehr Gescheutheit als andern Leutnen.

Und z’wegn dem bring i dir heut schon an Gruß von deiner Mutter.“

„Von meiner Mutter, an Gruß von der Mutter?“

„Fünfzehn Jahr sein’s her, daß man di g’fund’n hat vor der Thür beim Schwellenmüller, und der hat das arme Findlkind der G’mein übergeben und in der Lotterhütt[4] bist aufzog’n word’n, alt und jung, arm und reich hat g’meint, a Gott g’fälligs Werk thät’s sein, wenn ma ’s Findlkind verachtet, plagt und schindet!“

„Du bist der oanzige Mensch g’west,“ schluchzte das Rosele, „der mit mir gut g’west ist, der mi tröstet hat, der dem Kind was bracht und g’schenkt hat. Du bist der oanzige g’west, der mi in Schutz g’nummen hat, wenn mi de Leut da drunten auf alle Weg und Steg verfolgt haben!“ Vom Zorn übermannt sprang das Mädchen auf und schüttelte die geballten Fäuste gegen das Thal.

„Nit a sou, Rosele! Schau, geh nit a sou,“ sagte beschwichtigend der Alte und zog das erregte Mädchen an seiner Seite nieder.

„Schau, de Leut da drunt, rein nit besser verstehn thuan sie’s! Es werd ihnen ’s Evangeli: ‚Wer frei von Schuld ist, der heb’ den erst’n Stein auf,‘ viel zu wenig oft prediget. ’s ist halt a so viel a unbequems Evangeli, so viel a unbequems.

Und weil halt die fünfzehn ummer sein, so hab’ i mir denkt, schau, hab i mir denkt, jetztern bringst dem Rosele den erst’n Gruaß von der Mutter. Gelt, möchst halt gern wiss’n, wo ’s bleibt? Haben thut’s freili lei a kloanwinzigs Hütterl, a hölzenes, und in dem Gart’n, wo’s schlaft, da hab’ i zwei Nagelestöck pflanzt. An rot’n und an weiß'n.

Vorsichtig wickelte der Pfannenflicker eine rote und weiße Nelke aus einem Stück Papier.

„Schau, Roserl, ’s rote Nagele bedeutet die Lieb, mit der dein Mutter vom Himmel niederschaut auf di, du armes Hascherl. Glei, wie d’ auf d’ Welt kummen bist, ist dein Muater abg’reist im Himmel, um ihrm Kind zelm a Platzl herz’richt’n, weil ’s ja g’wußt hat, daß ma ihm daherunt kaans gunnt ’s weiße Nagerl soll dir sag’n bewahr’ dein Herzl in Unschuld, nachher kann dir koan Mensch auf der Welt Uebles anthuan. – Jetztern wär’s halt a um der Zeit, von deim Vater zu red’n.

Schau, Rosele, a Kind soll allewegs lei guats von seine Eltern denk’n, sei’s g’rad, wie’s imm’r mag. Und dös thuast halt a von dein Vater.“

Laut aufweinend barg das Mädchen das Gesicht in den Händen. „So steh’ i ganz alleinig und verlass’n auf die Welt da!“

„Verlass’n? Bist denn verlass’n? Schau auf zum Sternenhimm’l, wie dös funkelt und zwinkert! Dös sein purlauter Engelsäuglein und der liebe Herrgott im Himmel, der verläßt koan Mensch’n in Jammer und Not. Und nachher, wer wär’ denn i? Wie a Kind hab’ i mi g’freut auf den heutg’n Tag, wo i miar fürg’nommen hab’, dir der Mutter Gruß zu bringen.

I mei“ fuhr er fort und zog sanft die Hände vom Gesichte des Mädchens, „i mei, weißt, bist von an gar großen Stamm. I bin ja dein Ahndl.“[5] Da schlang das Roserl die Arme um den Hals des Alten und legte ihr Köpfchen an seine Brust.

Sanft zog der Pfannenflicker sein Enkelkind an sich und sang mit wiederkehrender Lustigkeit leise vor sich hin.

Sou a Pfannenflicker,
Ist halt nia a dicker,
Dürr und mager sein’s,
de ruaßig’n Leut’,
Haben guate Herz’n,
Können allwegs scherzn,
Sein die Leut’ jetzt dumm recht, oder g’scheut.
Der Kinig Salomon –
I bin nit irrig dron –
Ist a Pfannenflicker g’west bei Nacht –
Sunst hätt der arme Tropf
Mitsamt sein gscheut’n Kopf
A um dös Kinderurtl zammenbracht.[6]

  1. wasch.
  2. zuhören.
  3. Heikler.
  4. Lotter = Bettler: Armenhaus.
  5. Großvater.
  6. Altes tiroler Pfannenflickerlied.

Das Kind.
Roman von Adolf Wilbrandt.

(2. Fortsetzung.)

7.

Die Thür zum Salon ging auf, Brink, in höchster Gala, trat ein. „Herr Rutenberg, die ersten Gäste kommen,“ sagte er mit seiner umwölkten Stimme. „Herr Domänenrat Lugau und Fräulein Nichte –“

„Schön!“ rief Rutenberg laut. „Vortrefflich! Ich komme! Sie sehen da Spielkarten, Brink. Die sind hingefallen. Heben Sie sie auf!“

Brink schaute etwas verwundert hin, dann bückte er sich und begann sie aufzusammeln. Unterdessen trat Rutenberg zu Gertrud, von der er sich bei diesem Anfall von Verzweiflung entfernt hatte, beugte sich über das rosengeschmückte Köpfchen und flüsterte: „Der schöne, herrliche Abend fängt nun also an. Da heißt es also, sich zusammennehmen …“

„O hab’ keine Sorge um mich!“ flüsterte sie zu ihm hinauf, indem sie sich mit einer Hand über die Augen fuhr, auch zitterte ihre arme Stimme ein wenig. „O, ich werd’ mich zusammennehmen – mit dem Tod im Herzen!“

„Kommen wir zu früh?“ fragte Lugau, der eben in die offene Salonthür trat, wie eine schwarze Kugel mit einem großen weißen Dreieck auf der Brust. „Kein Hausherr zu sehn – und auch keine Haustochter, nur die Tante –“

„Ein kleines Mißgeschick!“ warf Rutenberg entschuldigend hin und deutete auf die Karten, die Brink noch sammelte. „Wir kommen, Freundchen, wir kommen!“

„Auch meine kleine Nichte ist schon da,“ sagte Lugau harmlos. „hab’ sie hergebracht. Wie ’ne Pagode saß das Ding im Wagen, um ihre Toilette zu schonen. Nur einmal – ich sag Ihnen, das war komisch – da wollte sie mir in ihrer Freude danken, daß ich sie auf den Ball führte, und daß ich mein Landgut verkauft und mich mit ihr in die Stadt zurückgezogen hätte, und daß sie infolgedessen so viel tanzen könnte, und wollte mich dafür umarmen, das Ding. Aber da fiel ihr wieder ein, daß sie ihr Ballkleid und alles schonen wollte, und sie erstarrte wieder, wie Lots Weib. Und nur das Köpfchen bewegte sich, so saß sie da.“

Der kleine Lugau setzte sich auf den nächsten Stuhl und spielte seine Nichte.

„Ha, ha, ha!“ lachte Rutenberg, der sonst ein so ansteckend herzfröhliches Lachen hatte, mit unnatürlicher Heftigkeit auf. „Sehr gut, sehr gut! – Eilen wir zu Ihrer Nichte!“ – Er raunte geschwind noch einmal in Gertruds Ohr; sie war aufgestanden. „Ueber Nacht, hoff’ ich, kommt Vernunft!“

Den Trotzkopf ein wenig wendend, antwortete sie leise: „Wie du es meinst, nie, nie, nie!“

Er hörte, wie sie ein tiefes Schluchzen erstickte. ‚Der Ball fängt gut an!‘ dachte er. Ihm selber tanzte es vor den Augen. „Kommen Sie,“ sagte er und nahm Lugaus Arm. „es soll ein recht fideler, feiner Abend werden. Uebrigens, die Polonaise müssen Sie mitmachen, da hilft Ihnen kein Gott! – Ein fideler Abend! Hab’ mich lange darauf gefreut –“

„Ich weiß, ich weiß,“ fiel Lugau ein; sie traten schon in den Salon. „Glücklicher Vater –!“

„Ja, ja!“ stieß Rutenberg hervor und lachte. „Glücklicher Vater! – Schweb’ voran, mein Kind, schweb’ voran …“

[703] Gertrud folgte seinem Wunsch, mit noch immer versteinertem, nach einem Lächeln ringendem Gesicht. Jetzt sah sie aber die ersten Gäste, im strahlend hellen großen Saal. Mit dem Tod im Herzen! dachte sie noch einmal, dann fühlte sie, sie hatte gesiegt, sie konnte wieder lächeln. Und von ihm lass’ ich nie! war ihr letzter persönlicher Gedanke. Von nun an war sie nur noch eine junge Dame aus der guten Gesellschaft, die einen Ball giebt, ihren ersten Ball. Sie stürzte sich ins Leben hinein.

Die Säle füllten sich rasch, Gäste über Gäste kamen. Auch Schilcher, in Frack und weißer Krawatte, stieg seine Treppe hinunter; er pfiff sich ein Liedchen. Er hatte eigentlich einen stillen, grimmigen Haß auf diese geschniegelten und gebügelten Tanzfeste, aber heute freute er sich mit aller Gewalt, weil seine Trudel sich freute. Ihm war nun wie wenn er aus einem Traum erwachte, als er bei Rutenbergs ins Vorzimmer kam und dort Doktor Wild stehen sah, der eben seinen Ueberzieher abgelegt hatte und vor den Spiegel trat, um an seiner kleinen schwarzen Halsbinde zu rücken. Schwarze Krawatte? fragte er sich. Wild in schwarzer Krawatte? – Gut, daß ich das noch gesehen habe. Man kommt also heute schwarz!

Der kleine, so oft zerstreute Herr trat geschwind zurück. Wild hatte ihn doch noch, im Spiegel, gesehen. „Schilcher!“ rief er. Schilcher hörte nicht mehr, wollte nicht mehr hören. Auf seinen noch immer sehr rüstigen Wanderbeinen stieg er die Treppe wieder hinauf.

Das hätt’ ich auch wissen können! dachte Wild, der Schilchers weiße Krawatte gesehen hatte. Wenn auch Rutenberg gestern sagte: „Es wird ein gemütlicher Familienabend“, ’s ist doch ein wirklicher richtiger Ball. Na, mir kann nichts geschehn! Immer vorbereitet! Er sah sich allein, die Gäste waren alle schon drinnen. Behaglich wie immer, sich Zeit lassend, nahm er die schwarze Binde ab, zog die weiße Binde, die er, schön in Seidenpapier gewickelt, stets in der Rocktasche hatte, aus ihrem Nest hervor und legte sie mit aller Sorgfalt um. Niemand störte ihn. Er stand noch, sein Werk im Spiegel betrachtend, als der hurtigere Schilcher aus seinem Oberstock zurückkam. Wild wandte sich und sah den Oberappellationsrat sehr verwundert an, dessen weiße Binde war schwarz geworden.

Schilcher machte ein ebenso verdutztes Gesicht. „Was haben Sie da?“ fragte er. „Was ist das? – Wild, Ihre Krawatte war ja doch eben schwarz?“

„Ja was haben denn Sie gemacht?“ fragte Wild dagegen. „Sie waren weiß und sind schwarz geworden?“

„Aha!“ sagte Schilcher dem ein Licht aufging. „Weil Sie mich – – weil ich – –“

„Nun ja!“

„Darum haben Sie – –“

„Und Sie auch!“ gab Wild zurück. Sie brachen beide in Lachen aus. Wild hell, Schilcher tief.

Rutenberg, der als Hausherr alle Gesichter begrüßt, alle Hände gedrückt hatte – Spießrutenlaufen! war sein Gefühl – hörte dieses lustige, wohlbekannte Lachen aus dem kleinen Vorsaal, durch die jetzt offene Thür, und kam heraus. „Was habt ihr?“ fragte er, mit seinem krampfhaft heitern Gesicht. „Worüber lacht ihr?“

Wild trat auf ihn zu: „Das ist die Geschichte von einer schwarzen und einer weißen Krawatte …“ Er lachte wieder.

„Wie können Sie mich so konfus machen!“ rief nun Schilcher aus. „Ich war ja in Ordnung! Heute ist ja Ball!“

Er ging wieder aus der Thür, ins Treppenhaus, und man hörte ihn auf seinen Stufen.

„Schwarze und weiße Krawatte,“ sagte Rutenberg zu Wild „… ich verstehe kein Wort.“

„Das verdeutsch’ ich dir später,“ entgegnete der Doktor dem die humoristischen Augen glänzten, „jetzt muß ich in die Festsäle, Rutenbergs schöne Tochter anschauen und die andern Schönen.“ Im sicheren Hochgefühl der vorschriftsmäßigen Krawatte … Dieser Schilcher!

Noch einmal auflachend ging er in den Vorsaal und weiter. Rutenberg sah ihm nach, zum erstenmal im Leben mit einer Art von Neid; wie diese Leute lachen können! dachte er. Die haben keine Töchter! – Ihm war, als hätte er in seinen Sälen und Zimmern tausend Menschen gesehen, und mit allen tausend gesprochen. Und so ums Herz herum lag ihm das Gefühl: wär’ es erst vier Uhr morgens und ich läg’ im Bett!

Wo bleibt Schilcher? durchfuhr ihn dann wieder. Wo bleibt dieser Schilcher? – Sein Unglück, deuchte ihm, war erst halb, solange er es nicht mit Schilcher geteilt hatte. Die Unruhe in ihm ward zu groß, er ging aus seiner Wohnungsthür hinaus und stieg die halbe Treppe hinan. „Schilcher! Schilcher!“ rief er, da er endlich ein paar Stiefel oben knarren hörte.

„Komme schon, komme schon!“ rief der etwas holzige Baß zurück. Schilcher kam herunter. „So,“ sagte er heiter und deutete auf seine weiße Krawatte, die er wieder angelegt hatte, „so, jetzt kann ich tanzen! – Was ist dir? Was treibst du dich hier draußen herum? – Du stöhnst?“

„Es ist aus, Schilcher“ seufzte Rutenberg.

„Na na na! – Was ist aus?“

„Ich war zu glücklich, Schilcher“, sagte Rutenberg und ergriff ihn am Arm. „Nennt mich nicht mehr glücklich! Ich bin ein geschlagener Mann. Ich bin vernichtet, Schilcher –“

„Oha! Was ist denn geschehn?“

„Gertrud – – das glaubst du nicht!“

„Nun? Was ist mit ihr?“

„Meine – unsere Gertrud –“

Brink erschien unten an der Treppe, auf der sie noch standen. Sein sorgenvolles Gesicht schaute hinauf: „Fräulein Gertrud läßt fragen, Herr Rutenberg, ob man noch nicht anfangen soll, zu tanzen.“

„Tanzen!“ rief Rutenberg. „Natürlich! Gewiß! Gewiß soll man tanzen! Musik, Ball – nur vorwärts!“

Brink ging in die Wohnung zurück. „Du bist ja wieder in einer deiner schönsten Aufregungen,“ sagte Schilcher mit seiner regungslosen Kaltblütigkeit, denn sobald er den andern überschäumen sah, ward er selber noch ruhiger. „Was giebts also? Unsere Gertrud –“

„Unser ,Kamerad‘! unser Mitmensch! Meine kluge, feine, romantische, schwärmerische Tochter – Schilcher, es ist zu viel!“ – Er packte wieder seinen Arm und drückte ihn.

„Es wär aber doch besser,“ raunte Schilcher der still hielt wie eine Puppe, „du sprächst dich aus, als daß ich gar nicht erfahre, was los ist. Also was hat Gertrud –“

Unten an der Treppe ward es wieder lebendig; diesmal kam der schlanke, hochbeinige Arthur van Wyttenbach aus der Rutenbergschen Wohnung heraus, mit seinem leichten Geschwindschritt. Er lächelte etwas aufgeregt, aber höchst verbindlich „Entschuldigen Sie Herr Rutenberg! Ich komme im allerhöchsten Auftrag!“

Schilcher fühlte an seinem Arm, wie Rutenberg zuckte, er hörte ihn auch ein paar Silben murmeln, die er nicht verstand. „Sie wünschen, Herr van Wyttenbach?“ fragte dann aber der Hausherr mit äußerster Höflichkeit.

„Ich komme im Auftrag der Damen, sie wollen selbstverständlich die Polonaise nicht anfangen, so lange nicht der Hausherr – der ewig junge – –“

Rutenberg stieß wieder einen unverständlichen Laut aus. „Die Polonaise!“ rief er dann. „Natürlich … Was mach’ ich denn, ich vergesse die Polonaise, die ich anführen soll. Na, das ist denn doch – – Ich komme! Ich komme!“

„Die Damen werden glücklich sein!“ rief Wyttenbach hinauf.

Rutenberg stieg eine Stufe hinunter, dann wandte er sich zu Schilcher zurück. „Diesen deinen Hansquast da,“ flüsterte er, „den liebt unsre Gertrud. Verstehst du. Und wenn sie ihn nicht heiraten soll, will sie nicht mehr leben … Ich komme!“ wiederholte er, überlaut, mit einer wilden Heiterkeit, die gar keinen Sinn hatte. „Auf zur Polonaise! –“ Mit ein paar Sprüngen war er unten und stürmte mit dem graziös lächelnden Wyttenbach in sein Vorzimmer hinein.

8.

Die Musik hatte längst begonnen, durch die noch offen gebliebene Wohnungsthür konnte man sie hören. Schilcher stand immer noch auf derselben Treppenstufe. Er rührte sich nicht. Im Anfang war er wie betäubt, dann lehnte er sich dagegen auf, wie gewöhnlich. Endlich glaubte er kein Wort mehr, oder stellte sich doch, als glaube er keins. So ein Unsinn, brummte er vor sich hin. Rutenberg phantasiert. – Das phantasiert Rutenberg. So was giebt’s ja nicht …

[704]

Einzug der siegreichen Truppen in die Festung von Ofen (1686).
Nach dem Gemälde von G. Benczur.

Allmählich zog er aber doch sein Taschentuch hervor, und obwohl es auf der Treppe durchaus nicht heiß war – im Gegenteil, ihn begann zu frieren – rieb er sich die Stirn mit dem Tuch, und die beiden Schläfen. Er horchte auf die Musik und dachte: Vorhin ging dieses Mädel beständig „auf das offene Himmelsthor“. Gott in deinem Reich! Wenn dieser Bengel ihr Himmelspartner wäre …

Auch über ihn kam nun doch eine böse Unruhe; er ging die Stufen hinunter, trat in Rotenbergs Wohnung ein und machte die Thür hinter sich zu. Heute hatte er einmal gedacht, er, der nie getanzt hatte, es ist Trudels Ball, ich werde vielleicht grotesk und mache die Polonaise mit! Das war ihm nun gründlich vergangen, er wäre am liebsten gleich wieder in sein Nest gekrochen, als „einsamer Spatz“. Er drückte sich am Ballsaal vorbei, flüchtete in das Bücherzimmer, das man für heute zum Spielzimmer gemacht hatte. Hier war er wenigstens allein, alles „promenierte“ in der Polonaise, und der Zug war hier schon durchmarschiert und kam nicht wieder. Sich in eine Ecke setzend, die grimmigen Brauen heruntergezogen, die schmalen Lippen ineinandergepreßt, saß er mit seinem holzigsten Gesicht unbeweglich da, bis die Musik ein Ende gemacht und wenigstens dieser Unsinn – einer von vielen auf der Welt! dachte er – aufgehört hatte.

Lugau und Wild, die Whistbrüder, kamen miteinander herein; sie wunderten sich nicht, den dritten Mann schon vorzufinden, und zwar in seiner gewohnten Ecke. „Mit dem Gänsemarsch wären wir fertig!“ sagte Doktor Wild zufrieden. „Jetzt wär’ also die Zeit gekommen, einen kleinen Robber zu machen, Schilcher, treten Sie an!“

[705] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


Schilcher antwortete nichts; er mochte noch nicht sprechen.

„Gesehn haben wir alles,“ sagte Lugau und rieb sich die weichen, gepolstertes Hände. „Die hübschen Toiletten und die hübschen Gesichter und die mageren Schultern. Jetzt belohnen wir uns durch ein stilles Whist!“

Er setzte sich an den nächsten Spieltisch. Wild trat auch hinzu. „Schilcher!“ rief er.

„Ja, ja,“ antwortete der, wie aus dem Schlaf geschreckt. „Nein, nein, wollt’ ich sagen. – Ich war ja noch gar nicht im Saal; hab’ noch keinen Menschen gesehn – nicht einmal –“

Nicht einmal die Gertrud, wollte er sagen; die blieb ihm aber plötzlich in der Kehle stecken.

„Das können Sie später,“ bemerkte Wild, „erst ’nen Robber, Schilcher. Kommen Sie her!“

Lugau breitete schon die Karten über den Tisch; dabei schaute er sie verwundert an. „Wer hat denn die Karten schon aus dem Umschlag genommen?“ – „Thut nichts, jungfräulich sind sie. – Ziehn Sie aus, meine Herren; wer den Strohmann hat.“

Aus Schilcher fuhr jetzt die Unruhe heraus, die er so lange in sich hinabgedrückt hatte, „hm!“ brummte er seufzend vor sich hin. Fast hätte er „unsre Trudel!“ gesagt.

„Was brummen Sie?“ fragte Wild.

„Nur so zum Vergnügen,“ gab Schilcher zur Antwort, der sich schnell wieder an die Leine nahm. Er stand auf, trat an den Tisch und zog wie die andern seine Karte aus. Nein, dachte er, in dieses Affentheater, wo verliebte Leute herumspringen gehe ich jetzt nicht …

[706] Die niedrigste Karte hatte Lugau gezogen…. „Lugau hat den Strohmann!“ sagte Wild und nahm neben ihm Platz. Schilcher begab sich auf die andre Seite. Während er sich in seiner geräuschlosen Weise setzte, nahm Lugau die Karten und fing an zu geben. „Uebrigens,“ fuhr Wilds helle, heitere Stimme fort, „ich muß sagen, Gertrud Rutenberg und der junge Wyttenbach sind das hübscheste Paar im Saal … Was haben Sie?“ fragte er, da Schilcher plötzlich aufstand.

„Ich?“ murmelte Schilcher. „Mir war, als läge da was Spitzes auf meinem Stuhl. – Nein, da liegt nichts.“

„Nein, da liegt nichts,“ bestätigte Lugau, der sich vorgebeugt und einen scharfen Landmannsblick hingeworfen hatte. Schilcher setzte sich, wie beruhigt, wieder hin. Lugau gab weiter. „Als ich noch Gutsbesitzer war,“ begann er dabei zu plauschen „spendierte ich auch einmal so ’nen Ball, nach Weihnachten einer andern kleinen Nichte zu Ehren, die sich verplempert hatte –“

Dem heute so komisch unruhigen Schilcher gab’s schon wieder einen Ruck. „Verlobt, mein’ ich,“ verbesserte sich Lugau. „Denselben Tag hatten wir fünfzehn Grad unter Null und einen ganz barbarischen Ostwind dazu. Da kam so einer von den jungen Herren, dem waren – ungelogen – dem waren beinahe die Hände abgefroren. So rot waren sie –“

Er streckte unwillkürlich seine Hände aus. Als er sie dann sah, zog er sie allerdings wieder zurück. „Ach was!“ sagte er, über sich selber lächelnd. „Knallblaurot waren sie, will ich sagen.“

„Spielen Sie ihn uns nur vor,“ rief Wild, „mit den roten Händen!“

Schilcher nickte, indem er wie die andern seine Karten aufnahm. „Ja, und machen Sie uns die fünfzehn Grad unter Null vor –“

„Ich glaube, das kann er!“ rief Wild. „Ein Thermometer kann er gewiß ganz vorzüglich spielen!“

„Meine Herren Spottvögel,“ entgegnete der Domänenrat, „ich kann auch Whist spielen, und das gar nicht übel, Ihrem respektiven Portemonnaie ist das ja bekannt … Er deckte die Karten des Strohmanns auf. Dann, nach einem kurzen Feldherrnblick auf sie, klopfte er mit einer der Anlegmünzen auf den Tisch, zum Ausspielen auffordernd. Bitte, meine Herren, wenn’s gefällig ist!“

„Also, zum Werke, das wir ernst bereiten,“ sagte Wild und spielte aus. „Ohne weiteres Trumpf!“

„Mir auch recht,“ erwiderte Lugau und spielte für den Strohmann aus.

Die Musik begann wieder, jetzt war’s ein Walzer. Schilcher horchte einen Augenblick; ihm fuhr die Melodie nicht in die Beine, sondern in den Arm, wie wenn er jemand prügeln möchte. Ich wollte, dachte er, ich könnte dieses Süßholz van Wyttenbach – –

„Den hau’ ich auf den Kopf“ sagte er grimmig, als meinte er den Trumpf auf dem Strohmann, und warf seine Karte hin.

Einen Augenblick später kam etwas Dunkles in die Thür, die zum Salon führte. Rutenberg trat auf die Schwelle. Die große, breite Gestalt kam nicht frisch und elastisch wie sonst, sondern müde, als wär’ schon der ganze Ball vorbei und die Nacht herum. Er trocknete sich die Stirn, als hätte er sich bei wildem, dahinrasendem Tanz erhitzt. „Du auch schon da?“ fragte Wild, während Lugau nachspielte.

Rutenberg antwortete nicht. Er warf dafür einen so sonderbaren, verstörten Blick zu Schilcher hinüber, daß dieser aufstand, er wußte selbst nicht, warum. „Na?“ fragte Lugau verwundert, da der Mann sich erhob, statt, wie es seine Schuldigkeit war, wieder auszuspielen. „Schilcher, es ist Ihr Stich!“

„Ja, ja,“ brummte Schilcher. Jetzt stand aber schon der Hausherr bei ihm und faßte ihn am Arm. „Verzeiht!“ sagte er zu den andern – einen Augenblick! – Er zog den kleinen Oberappellationsrat zu seinem Wohnzimmer hin; die Whistspieler sahen ihm sehr betroffen nach. „Schilcher!“ flüsterte er, als er ihn dort hinter die Thür gedrängt hatte. „Schilcher, ich bin hin!“

„Ich noch nicht,“ raunte Schilcher; er ward nun wieder ruhig, da der andere überfloß. – „Es ist wirklich so?“

Rutenberg seufzte… „Ja, es ist so, Schilcher. Amor, der blinde Gott! Sie sieht ihren Arthur für ’nen Engel an. Leben und sterben will sie mit ihrem Arthur. – Schilcher! Schilcher! Haben wir das um das Kind verdient?“

„Einer von euch muß nachgeben,“ sagte Schilcher trocken. „du oder sie.“

„Ich?“ fuhr Rutenberg auf. „Lieber tot!“

Sie hörten, wie nebenan die Whistbrüder mit den Spielmünzen auf den Tisch klopften, zuerst ungleich, dann im Takt. „Was hat dieser Hausherr?“ fragte Lugau laut. Noch lauter sagte Wild, die Stimme hebend: „Wie ein vernünftiger Mensch so ’ne Spielpartie unterbrechen kann, ist mir unverständlich!“ – „Lugau! Was liegt unten? Schwarz oder rot?“

„Rot,“ sagte Lugau.

„Schwarz!“ entgegnete Wild.

„Sie fangen an, Abheben zu spielen,“ flüsterte Rutenberg. „Sie werden höllisch ungeduldig.“

„Laß sie,“ brummte Schilcher. „Haben Zeit bis morgen früh. – Also, wenn du nicht nachgeben willst, dann muß sie nachgeben. Ein drittes giebt’s nicht.“

Rutenberg seufzte leise. „Mit Gewalt? Unmöglich! Sie hat ihres Vaters Kopf! Gewalt macht sie hart wie Stein; macht sie wahnsinnig, Schilcher. Und ich will ja doch mein Kind nicht zu Grunde richten –“

„Ich auch nicht,“ ergänzte Schilcher.

„Da tanzen sie!“ flüsterte Rutenberg und horchte auf die weiche, wogende, wiegende Musik. „Da tanzt nun diese kleine Blinde mit dem Tod im Herzen …“

„Wird ja nicht,“ sagte Schilcher leise, immer trockener. – „Gegenmittel!“

„Ich weiß keins!“ stöhnte Rutenberg verzagt und warf sich auf einen Stuhl.

Schilcher lächelte, aber nur so mit den Augen. Er trat neben den gebrochenen Riesen und beugte sich ein wenig über ihn hin, beinahe wie eine Mutter über ihr krankes Kind. „Abreisen,“ sagte er dann langsam.

„Abreisen?“

Schilcher nickte stumm, legte aber seine Augen so recht auf die des andern und rieb sich die Hände.

Auf einmal belebt sprang Rutenberg wieder auf. „Mensch“ sagte er, indem seine blauen Augen zu leuchten begannen, „Mensch, da hast du recht! Du hast ja recht, alter Schilcher. Abreisen – Trennung von dem ,Engel’ – Entfernung – andre Eindrücke – schöne Gegenden – Menschen – o wie hast du recht! – Es wird uns hier auf einmal zu kalt, zu nordisch, zu winterlich, wir sehnen uns nach dem Süden, wo es jetzt im November noch schön ist, wir sind junge Leute, wollen unser Leben genießen … O, wie hast du recht! In aller Liebe und Güte fahren wir mit dem Schnellzug ab … Geh’ an deinen Spieltisch, Schilcher. Ich hab’s. Ich bin wieder glücklich!“ Er schob ihn vergnügt von sich weg. „Geh! Geh!“

„Nu also!“ schmunzelte Schilcher. Weiter sagte er nichts mehr; er trat in das Bücherzimmer zurück und an seinen Platz.

Wild trommelte eben auf den Tisch. „Kann man jetzt die Ehre haben, Herr Oberappellationsrat Gottfried Schilcher, Sie ausspielen zu sehn?“

„Trumpf ist ’ne gute Farbe,“ sagte Schilcher ruhig und spielte aus. Die andern murrten nicht mehr, sie fragten auch nicht. Sie kannten ihren Rutenberg, das „alte Quecksilber“. Sie bedienten, man spielte weiter.

Ja, ja, Trudel, dachte Rutenberg im andern Zimmer, noch in seinen Stuhl gelehnt, von Herzen liebevoll lächelnd, abreisen! So wird’s! – Die alte Fabrik kann mich wohl entbehren. Na, und wenn sie auch nicht könnte, sie muß. Ein Vater, dem so ’ne Stunde schlägt, der muß alles hergeben, alles, alles dransetzen Zeit, Geld, Ruhe – um seinem Kind zu helfen – um ihr Glück zu retten. Alter, du hast recht …“

Er mußte das dem Alten selber sagen, auf seinem einsamen Platz litt es ihn nicht mehr. Mit drei Schritten war er im Spielzimmer, trat zu Schilcher und zog ihn wieder vom Stuhl empor und zwischen den Tischen entlang. „Glaub’ mir, Schilcher,“ flüsterte er zu dessen Ohr geneigt, „ich kenne meine Pflicht! Hab’ hundert Väter gesehn, die in so ’nem Fall nicht zum Ziel kamen, oder dran vorbei, weil’s ihnen am Herzen fehlte oder am Kopf, weil sie mehr an ihr liebes Ich dachten, [707] Schilcher, als an ihr Kind! Ich will es erreichen, Alter, oder ich will draufgehn. Ich will der Welt einmal zeigen, was ein Vater zu thun hat und ich will nicht eher wieder für mich selber leben, als bis ich dir sagen kann Schilcher, es steht gut!“

„Habe nichts dagegen“, murmelte Schilcher und drückte ihm die Hand.

„Wir gehn nach Italien,“ fuhr Rutenberg in seinem Eifer fort „möglichst weit, weit, an den Golf von Neapel, gleich vom allerbesten! Und müßt’ ich den ganzen Winter im Ausland bleiben –“

Mit einer jähen Bewegung hielt er inne, er sah Gertrud, sie stand in der Salonthür. Die Musik hatte schon eine Weile aufgehört, er hatte es nicht bemerkt. Das Mädel machte ein ernstes Gesicht; sie schien zu denken, indem sie die beiden Männer so eigen ansah, er hat ihm alles erzählt!

„Ich muß mich nämlich über Onkel Schilcher wundern,“ sagte Gertrud, sich gegen die Thür lehnend „darum komm’ ich her. Du hast uns noch gar nicht angesehn. Die jungen Damen sind alle empört. Das soll ich dir sagen. Hab’s nun ausgerichtet.“

Schilcher verneigte sich. „Jetzt kann er nicht kommen,“ rief Wild aus, dem die Ungeduld und die Empörung in den Augen brannte. „Er hat zu bedienen. Schilcher, werden Sie nun gefälligst endlich die große Güte haben, zu bedienen, oder nicht?“

Schilcher verneigte sich auch gegen ihn. „Und dann soll ich noch sagen,“ fing Gertrud wieder an „auch Herr Rutenberg wird sehr vermißt, sowohl von den jungen wie von den alten Damen.“

„Ja, ja,“ stieß Rutenberg heraus. „Mein Benehmen als Hausherr … Eure nichtswürdige Spielpartie!“ Damit war er an dem Kind vorbei aus der Thür.

„Jetzt beschuldigt er uns,“ sagte Wild, dem die Augen noch mehr als sonst aus dem Kopf hervortraten, „das ist ein starkes Stück!“

Es sollte aber noch schlimmer kommen: der Störenfried Rutenberg war kaum hinaus, so trat seine Tochter heran, fing den Onkel Schilcher auf, der zu seinem Platz ging, und zog ihn mit sanfter Gewalt in den Salon hinein. Die Whistspieler sahen ihr sprachlos nach. „Vater, bitte, auf einen Augenblick!“ sagte das Mädel, während sie so resolut mit dem Alten abging.

„Womit kann ich dienen?“ fragte Schilcher, in sein Schicksal ergeben.

„Ich will dir nur sagen,“ flüsterte Gertrud, „da du jetzt offenbar alles weißt –“

Er nickte.

„Mach dir keine Illusionen, du; und Vater auch nicht. Und sag’ Vater, bitte, tief, tief hat er mich verwundet und er soll nicht glauben, daß ich, weil ich jung bin – – nie lass’ ich von Arthur, nie!“

„Werd’s ihm ausrichten,“ sagte Schilcher sanft.

„Nie!“ wiederholte sie noch einmal, ließ ihn los und lief fort, in den großen Saal zurück.

Schilcher ging stumm zu seinem Platz. „Kann jetzt gerobbert werden?“ fragte Lugau, der mit seinen kurzen Fingern den Radetzkymarsch auf dem Tische spielte.

„Jawohl,“ erwiderte Schilcher. Er setzte sich, sie spielten eine Weile weiter. „Diesen Buben stech’ ich!“ rief Schilcher plötzlich mit einer Art von grimmiger Wollust und warf seinen König auf den Strohmanns-Buben.

Das war übrigens noch nicht lange geschehen, so hörte er wieder Schritte hinter seinem Stuhl, an einem gewissen starken, erregten Atmen merkte er, es war Rutenberg. Der schon wieder da! – Gott helf‘! dachte Schilcher. „Na?“ sagte es jetzt hinter ihm. „Ihr spielt noch immer?“

„Noch immer!“ rief Wild und blickte zum langmütigen Himmel auf. „Gerechter Gott!“

Er spielte aus, es nützte aber nichts. „Nur noch ein Wort, Schilcher“ sagte Rutenberg, „bitte um Pardon, ihr Herren!“ – Der kleine Schilcher saß schon nicht mehr, der ruhelose Hausherr hatte ihn emporgezogen. „Was ich noch sagen wollte,“ sprach Rutenberg ihm ins Ohr, indem er ihn hinausführte, „es ist mir eben eingefallen, und es sitzt mir hier auf der Brust. Mann, du mußt mit!“

„Nach Italien?“

„Ja! – Ja, mein Alter, nicht ohne dich!“

Schilcher warf einen Blick über die Schulter, nach dem Spieltisch zurück, einen wehmütigen als wollte er sagen: das aufgeben? – Rutenberg bemerkte das wohl und streichelte ihn am Arm „'s geht nicht ohne dich! – Du bist ja frei, mein Alter, du hast nichts zu thun. Gott sei Dank, daß du deinen Abschied genommen hast, als die neue deutsche Gerichtsordnung kam, damals that mir’s leid; jetzt segn’ ich es, Schilcher! Und wozu hast du dein ganzes Leben lang Italienisch getrieben, auch das segn’ ich jetzt. Du bist ja unsre Grammatik, unser Dolmetsch, unser Lexikon. Was sind wir ohne dich? rein gar nichts. Du und ich miteinander, wir retten unsre Gertrud. Du mußt!“

„Wenn ich muß, dann muß ich,“ antwortete Schilcher kurz. Er regte sich weiter nicht. – Rutenberg drückte ihm die Hand, streichelte ihn wieder. – „Kann ich jetzt spielen?“ fragte Schilcher, nachdem er diese Liebkosung ruhig hingenommen hatte.

„Ja!“ sagte Rutenberg laut, mit einem strahlenden, dankbaren Lächeln, und schob ihn gegen das Bücherzimmer zu. Dann ging er mit großen Schritten zum Saal, wo sie wieder tanzten.

Der Oberappellationsrat außer Diensten kehrte schweigend an seinen Platz zurück, hob seine Frackschöße und setzte sich. Wild nickte ihm boshaft freundlich zu: „Ueber so eine gemütliche Spielpartie geht nichts! – Wollen Sie jetzt die Güte haben, verehrter Freund, zu bedienen?“

„Natürlich,“ sagte Schilcher. Er spielte aus, unwillkürlich auf italienisch: „Ecco!“

Lugau sah ihn nun doch etwas verwundert und neugierig an. „Was hatten Sie denn mit Vater und Tochter; wenn man fragen darf?“

Mit seinem ehrenwerten Ernst antwortete Schilcher: „Einige kleine Arrangements für den Cotillon.“

„Seit wann helfen Sie Cotillons arrangieren?“

„Nun, man bildet sich doch, wenn man älter wird,“ sagte Schilcher sanft. Er spielte wieder aus, er hatte noch ein paar gute, siegreiche Karten: „Da! Und da!“

„Wir haben zwei Trick,“ bemerkte er dann vergnügt zu Wild hinüber.

„Drei!“ rief Wild.

Lugau hob drei Finger.

„Bitte um Entschuldigung,“ erwiderte Schilcher. „Habe nichts dagegen.“

„Wild, Sie geben,“ sagte Lugau. „Ich gebe.“

Wild nahm die Karten.

(Fortsetzung folgt.) 0


Blätter und Blüten.

Die Rückeroberung Ofens. (Zu dem Bilde S. 704 und 705.) Schlimme Wirren herrschten in Ungarn um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Schon im Jahre 1526 wurde das ungarische Heer bei Mohacs vom Sultan Soliman vernichtet, und die Lage gestaltete sich noch schwieriger, als die Nation bei der Königswahl uneinig wurde. Zwei Parteien befehdeten einander, die eine hatte den österreichischen Erzherzog Ferdinand, die andere Johan Szapolyai zum Könige gewählt. Die Türken unterstützten den letzteren, aber nach seinem Tode besetzten sie im Jahre 1541 die Festung Ofen und beließen seinem Sohne nur den Rang eines Fürsten in Siebenbürgen. So zerfiel das ungarische Reich in drei Teile. Das Herz des Landes stand unter türkischer Herrschaft, im Osten regierte der Fürst von Siebenbürgen als Vasall der Türkei und im Norden und Westen herrschten die ungarischen Könige aus dem Hause Habsburg.

Erst gegen das Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Macht der Türken gebrochen und Ungarn wieder unter einem Scepter vereinigt. Nachdem die Türken im Jahre 1683 vor Wien eine vollständige Niederlage erlitten hatten, beschloß Kaiser Leopold I, den Feldzug gegen den Sultan mit Nachdruck fortzusetzen. Dieser Entschluß wurde auch außerhalb Oesterreichs mit Begeisterung aufgenommen und der Kaiser vom Reiche unterstützt. Bayern sandte 8000 Mann, die Kurfürst Maximilian Emanuel, des Kaisers Eidam, führte; ebenso stark waren die Brandenburger unter General Schönings Kommando. Markgraf Ludwig von Baden stand an der Spitze von 6000 Schwaben, Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels brachte 5000 Sachsen mit, während Tüngen 3000 Franken führte. Insgesamt war das kaiserliche Heer 80000 Mann stark, darunter befanden sich gegen 20000 Ungarn und Kroaten. Aus beinahe ganz Europa kamen Freiwillige herbei, Spanier, Engländer, Italiener und Franzosen, es herrschte eine Begeisterung, als ob es sich wieder um einen Kreuzzug gegen den Halbmond handelte. An der Spitze [708] des Heeres stand der berühmte Feldherr Herzog Karl von Lothringen und unter den Heerführern befand sich auch der junge, später so berühmt gewordene Prinz Eugen von Savoyen.

Der kaiserliche Kriegsrat beschloß zunächst, den Hauptschlag gegen die auf einem steilen Berge gelegene Festung Ofen zu richten. Am 21. Juni 1686 begann die Belagerung. Am 24. Juni drangen die Kaiserlichen durch die Bresche der Ringmauer und das mit einer Petarde gesprengte Thor in die untere Stadt ein und verschanzten sich daselbst. Der Angriff des Kurfürsten von Bayern ging von Hohberg zwischen Blocks- und Spiesberg durch die Raizenstadt gegen das Schloß. Prinz Eugen kommandierte, wie sein Biograph Arneth erzählt, die im Lager zurückgebliebene Reiterei. Er war es, der am 29. Juni mit zwei Schwadronen einen Ausfall der Türken so nachdrücklich zurückschlug, daß seine Reiter sich mitten unter den fliehenden Janitscharen und Spahis befanden und er mit ihnen bis an die Thore der Festung vordrang. Es war dies nur das Vorspiel zu dem großen Entscheidungskampf zwischen der tapferen Belagererarmee und der zähen tapferen Besatzung. Am 14. August versuchte der Großvesier den Entsatz der Festung. Er wurde mit ungeheuerem Verlust zurückgeschlagen und Prinz Eugen vom Kurfürsten von Bayern mit der freudigen Nachricht des errungenen Sieges nach Wien entsendet. Schon am Tag nach seiner Ankunft in Wien kehrte der Prinz wieder in das Lager vor Ofen zurück, um dem als unausbleiblich angesehenen Fall der Festung beizuwohnen. Am 2. September kam es zum sieghaften Hauptsturm. Der Festungskommandant fiel im verzweifelten Kampf und triumphierend zogen die Belagerer ein.

Unser Bild vergegenwärtigt den denkwürdigen Augenblick. Die verschiedenartigen Uniformen der deutschen, ungarischen und kroatischen Truppen, die niedergebeugten Gestalten der gefangenen Türken, denen ein Geistlicher das Kreuz entgegenhält, vereinigen sich zu einem äußerst wirkungsvollen Ganzen. In der Mitte reitet auf einem Schimmel Herzog Karl von Lothringen, hinter ihm erblicken wir neben dem ungarischen Banner den jungen Prinzen Eugen von Savoyen.

Durch die Rückeroberung Ofens wurde die Macht der Türken für lange Zeit gebrochen und in den darauf folgenden Kämpfen wurden sie gezwungen, Ungarn zu räumen.

Das Genesungsheim für Soldaten zu Lettenbach in den Reichslanden.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph Eugen Jacobi in Metz.

Ein Genesungsheim für Soldaten. (Mit Abbildung.) Der glückliche Gedanke, weniger bemittelten Leuten, die schwere Krankheiten überstanden haben, die völlige Genesung durch gute Pflege und Aufenthalt in frischer Luft zu ermöglichen, gewinnt erfreulicherweise immer mehr an Ausbreitung. Viele unserer Großstädte haben bereits in ihrer näheren oder weiteren Umgebung Genesungshäuser errichtet, und seit einiger Zeit wurde auch ein Genesungsheim für Soldaten geschaffen. In der Nähe des Luftkurortes Alberschweiler in den Vogesen liegt das Besitztum Lettenbuch, das aus einem geräumigen schloßartigen Wohnhause, mehreren dicht dabei gelegenen Wirtschaftsgebäuden und großen parkähnlichen Gartenanlagen besteht, ringsum aber von großen Waldbeständen umgeben ist. Vor einigen Jahren wurde dieses Besitztum von der Landforstverwaltung behufs Abrundung der Staatsforste angekauft. Die Behörde befand sich aber in einiger Verlegenheit, wie sie das weitläufige Schloß zweckmäßig verwenden sollte. Da faßte der kommandierende General des 16. lothringischen Armeekorps, Graf von Häseler, den Entschluß, dort ein Genesungsheim für Rekonvalescenten jenes Armeekorps zu errichten. Er pachtete das Schloß von der Landesverwaltung und ließ es zu einer Erholungsstätte für solche Soldaten umgestalten, die schwere Krankheiten überstanden, aber die volle Gesundheit und Dienstfähigkeit noch nicht wiedererlangt haben. Das Hauptgebäude mit den Nebengebäuden bietet im Sommer für 80, im Winter für 60 Soldaten reichlich bemessenen Raum. Es enthält mehrere Säle für gemeinschaftlichen Aufenthalt für Spiel und Unterhaltung bei ungünstigem Wetter, sowie eine Badeanstalt, Bibliothek usw. Für ärztliche Behandlung ist ein Assistenzarzt und zur Aufsicht ein Offizier, zumeist auch ein Rekonvalescent, stationiert. Es sind bis jetzt schon über 500 Soldaten in diesem militärischen Luftkurorte mit gutem Erfolg verpflegt worden. – Das Beispiel, das General Graf von Häseler gegeben hat, ist sicher nachahmenswert. Hoffen wir, daß auch andere Armeekorps ihm folgen werden. Die Erfahrung lehrt ja, daß viele Soldaten, die nach überstandener schwerer Krankheit in die Heimat beurlaubt werden, dort nicht immer die zur Erholung und Kräftigung nötige Pflege finden können.

An ihren Sohn. (Zu dem Bilde S. 701.) Sie schreibt nicht oft, die alte Frau, die wir hier in stiller Einsamkeit die Feder führen sehen. Ihre Hand ist an rauhere Arbeit gewöhnt, und der Tisch, an dem sie sitzt, dient sonst gröberer Hantierung. Es muß schon ein wichtiger Anlaß sein, der sie zwingt das verstaubte Tintenfaß hervorzuholen und einen eigens dafür eingekauften Briefbogen mit ihren ungefügen Schriftzügen zu bedecken. Doch was giebt es Wichtigeres für eine Mutter, als die Sorge um den Sohn, den sie in ferner fremder Umgebung weiß, hingegeben an einen schweren strengen Beruf, ausgesetzt den Versuchungen und Verführungen einer übervölkerten Stadt? Wie lästig ihr auch das Schreiben fällt, an den Sohn schreibt sie gern! Für ihn war ihr nie eine Mühe zu groß, für ihn, den sie aufgezogen hat mit aller zärtlichen Liebe eines Mutterherzens, wie oft sie auch darben mußte, damit er gedeihe. Und während sie zurückdenkt an die Zeit da er noch unter ihrer Obhut aufwuchs, überkommt sie der tröstliche Gedanke an all die Freude, die sie an dem Jungen schon erlebt hat, und ihre Sorge weicht der Zuversicht, daß er auch in der Ferne weiter gedeihen werde – der Stolz, die Freude ihres einsamen Alters!

Die Muse des Anakreon. (Zu unserer Kunstbeilage.) Unter den Dichtern Griechenlands, welche in den Formen des Lieds ihr Empfinden und ihre Begeisterung zur Aussprache brachten, steht Anakreon an der Spitze derer, welche die Freuden des Lebens, die gesellige Lust, den Wein und die Liebe befangen. Die fröhliche Lebensweisheit, die sein Lied verkündet, hat zu allen Zeiten begeisterte Anhänger gefunden und sein Vorbild und Ruhm haben so mächtig gewirkt, daß sein Name bezeichnend wurde für das ganze Gebiet seines Dichtens und wir alle, die späteren Sänger, die seinem Beispiel folgten, „Anakreontiker“ nennen. So reden wir von „anakreontischer Poesie“ und „anakreontischer Lust“ wenn wir den Preis und Genuß der Gaben des Bacchus im Auge haben. Anakreons Dichtung selbst aber stand in innigem Zusammenhang mit dem hohen Kultus, den die daseinsfrohen Hellenen dem Bacchus selbst, dem Gott des Weins und des heiteren Lebensgenusses, von ihnen auch Dionysos genannt, widmeten. Sie verehrten in dem Gott nicht nur den Spender des Weins, der das Herz freudig stimmt und die Sorgen verscheucht, sondern auch den Genius der Begeisterung. Das Drama und der Dithyrambus, der festliche Chorgesang, verdankten seinem Kultus ihre Entstehung. Die Griechen feierten den Dionysos in Gelagen und Aufzügen welche durch Musik, Gesang und Tanz eine höhere Weihe erhielten. In den älteren Zeiten, in welche die Lebenszeit Anakreons fällt, der bis 522 v. Chr. zu Samos am Hof des Polykrates, später in Athen lebte, hatten die Dithyramben und Lieder, welche diese Festlust austönten, einen hohen begeisterten Schwung. Erst später entarteten die Feste und erhielten den Charakter rasender Ausgelassenheit, wie er unseren Vorstellungen von Bacchanalien und Bacchantinnen entspricht. Die „Muse des Anakreon“, wie sie Böcklins Gemälde darstellt, ist beseelt von jener dithyrambischen Begeisterung, welche den Kult des Dionysos als einen weltentrückenden Gottesdienst beging. Sie ist im Freien gelagert, der kostbare Mantel der Bacchuspriesterin, die Bassara, umwallt ihre Glieder. In den Händen hält sie die beiden Flöten der Doppelpfeife, welche, einander ergänzend, gleich einem Instrument benutzt wurden und sowohl zur Begleitung festlicher Gesänge wie auch zur Einleitung poetischer Vorträge bei festlichen Anlässen dienten.


manicula      Hierzu Kunstbeilage XXII: „Die Muse des Anakreon.“ von A. Böcklin.

[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht transkribiert.]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.