Die Gartenlaube (1897)/Heft 32
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Nr. 32. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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(1. Fortsetzung)
Frau Wasenius lag endlich in ihrem Bett. Und nun setzte sich Hanna zu der Mutter auf den Bettrand; sie beugte sich tief zu ihr herab. „Warum willst du es auf morgen versparen, Mutterchen,“ sagte sie mit ernstem, zärtlichem Lächeln, „denkst du, ich hätte es nicht gleich gesehen, als ich hereinkam, daß du irgend eine Nachricht hast? Und zwar keine gute? Ich wollte nur nicht in Gegenwart der andern – aber nun sind wir ja allein. Nun gieb mir meinen Teil. Oder glaubst du ich, schlafe die Nacht, wenn ich weiß daß du in Sorgen wach liegst. – Thomas hat geschrieben?“
[534] „Ja“, sagte Frau Wasenius leise. „Ich wollte eigentlich wirklich bis morgen warten,“ fügte sie zögernd hinzu.
Hanna machte nur eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. „Also, die Fabrik ist doch hin?“ fragte sie dann. „Und alle Aktien wertlos?“
Die Mutter nickte nur.
„Thomas hat gemeldet, daß wir auf nichts mehr zu rechnen haben?“
„Auf gar nichts mehr.“
Hanna wurde sehr blaß und drückte die Zähne auf die Unterlippe, sie sah ein Weilchen starr geradeaus.
„Nun“, sagte sie endlich halblaut, „das ist wenigstens klipp und klar. Nun weiß man doch, woran man ist. Daß es gut ausgehen würde, hat man im stillen ja doch nicht geglaubt. Du wenigstens nicht, armes Herz. Und die Zeit von dem Warnungssignal an war auch nicht beneidenswert schön.“
„Aber was wird nun?“ fragte die Kranke, der plötzlich große Thränen über das Gesicht liefen.
Hanna ließ sich neben dem Bett niedergleiten und nahm die Mutter fest in die Arme. „Mein liebes Mutterchen, fürchte dich nicht so sehr, bat sie mit tiefer, vor Sorge und Zärtlichkeit bebender Stimme. „Es wird schon gehen, es wird schon gehen! Wie denn nicht? Wir schränken uns ein. Ich werd’s schon machen, glaub’ mir. Ich hab’ in diesen letzten Tagen schon allerhand Pläne entworfen, ganz gescheite Pläne. Ich bin nicht müßig gewesen. Weine nur nicht so! Und wie dein armes Herz klopft! Komm, komm, du darfst dich nicht so abängstigen. Denk doch an so manche andre arme Lehrerswitwe, die zu ihren kümmerlichen Einkünften noch eine Schar Kinder hat. Du hast doch wenigstens nur dieses eine, und das ist schon so alt, zu dem darf man gar nicht mehr Kind sagen.
Sie zwang sich zu einem heitren Lachen, es gelang ihr auch ganz leidlich.
Frau Wasenius streichelte ihr die Wange. „Prahlst mit deinen dreiundzwanzig, du armes Ding,“ murmelte sie.
„Es sind ja eigentlich schon viel mehr. Du weißt, Kriegsjahre zählen doppelt. Ich fühl’ mich schon recht erwachsen. Jedenfalls groß genug, um meinem arme Mutterchen hier in diesem Bett jetzt alle unnütze Grämerei zu verbieten. Morgen ist auch noch ein Tag. Heruntergesprochen haben wir’s uns jetzt, das war die Hauptsache. Morgen, wenn die Sonne scheint, wird weiter verhandelt. Da nehmen wir das große Buch und rechnen –“
„Thomas will morgen herkommen,“ unterbrach Frau Wasenius.
„Wozu das noch? Wenn doch alles vorbei ist?“
„Er schreibt sehr liebenswürdig. Der Brief ist in meiner Tasche. Er schreibt, er könne sich als Vaters ehemaliger Schüler nicht damit beruhigen, mir einfach nur Bericht von dem Verlust zu geben. Er stelle sich mir zur Verfügung, um wegen unserer künftigen Lage gründlich Rücksprache zu nehmen. Als Kaufmann könne er uns doch vielleicht den einen oder den andern guten Rat geben. Er bedauert diese ganze Sache sehr. Aber niemand hätte das voraussehen können, sonst hätte er beizeiten gesorgt, die Papiere zu verkaufen.
„Ja ja,“ sagte Hanna. „Aber darüber jetzt noch zu reden, hat doch keinen Zweck mehr. Nützen wird er uns nicht können, glaub’ ich. Deine Pension und die Zinsen von der Lebensversicherung beziehst du nach wie vor, auch ohne ihn. Was ich nebenbei verdiene, ist auch meine und nicht seine Sorge. Kurz, ich weiß nicht – aber einerlei, er meint es jedenfalls gut. Wir werden ja sehen! Eins weiß ich aber ganz gewiß. Nämlich, daß du von Rechts wegen schon lange schlafen solltest, Mutterherz. Du wirst jetzt brav sein, nicht wahr, wenn ich dich sehr, sehr bitte, und die Augen zumachen und bis hundert zählen hin und zurück, wenn’s sein muß, und einschlafen, ja? Willst du einen kalten Umschlag in den Nacken?“
Frau Wasenius schüttelte den Kopf. „Ich will ohne alle Künste zu schlafen versuchen, mein gutes Kind,“ sagte sie zärtlich, „nur dir zuliebe. Aber du mußt dich auch niederlegen.“
„Bald thu ich’s,“ versprach Hanna. „Ich muß mir nur noch geschwind an meinem Kleid etwas flicken. Ich bin auf der Treppe mit dem Fuß in den Saum geraten, weißt du. Das näh’ ich noch und dann geh’ ich schlafen. Gute Nacht! Wenn ich dann hereinkomme, will ich diese kleine Mutter im tiefsten Schlaf vorfinden, verstanden?“
Draußen auf dem dunklen’ Vorplatz blieb Hanna einen Augenblick stehen. Sie drückte die gefalteten Hände an den Mund und atmete tief. Drinnen bei der Mutter der herzkranken, hatte sie nicht schwach und weichmütig sein dürfen, keinen Augenblick lang. Aber jetzt überkam es sie, stieg ihr heiß und beklemmend in die Kehle hinauf. Aber sie weinte nicht, sie schluckte tapfer und hielt die Augen weit offen.
Und mit diesen weitoffenen Augen sah sie den feinen Lichtstreifen, der unten an Rettenbachers Thür entlang schien.
Er saß also noch bei der Arbeit.
Sie nickte dem zarten Scheinchen zu. „Guter, Fleißiger,“ hauchte sie. Die augenlose Dunkelheit, die sie umgab, sah nichts von ihrem unbewachten Gesicht. Nach einem tiefen Atemzug schlich sie leise vorbei ins Wohnzimmer daneben. Dort fühlte sie sich um den Tisch herum zu ihrem Schreibtisch, zündete ihre kleine Arbeitslampe an und setzte sich. Es war aber keine Näherei, die sie vornahm. Sie zog ihre Rechnungsbücher aus dem Fach und begann zu rechnen. Vielmehr sie fuhr fort. Sie hatte ja schon angefangen in diesen letzten Tagen, heimlich, in Absätzen – es blieb nicht mehr viel zusammenzuzählen. Hanna starrte auf die kleinen Ziffernreihen das Hauptexempel war sehr einfach zehn minus fünf bleibt fünf. Die Hälfte. Und mit dieser Hälfte konnten sie nicht hier bleiben, nicht hier weiter leben. Das Ganze hatte ja so nur kümmerlich gereicht. War mit allerlei Künsten in die Länge gezogen worden. Sie hatte ihre stille Freude an diesen Künsten gehabt, hatte sie mit der Zeit immer mehr ausgebildet, hatte der kranken Mutter sacht ein Fädchen nach dem andern aus der Hand gezogen, bis sie das ganze Bündel zwischen ihren jungen Fingern hielt. Es war ein Webstück daraus geworden, das sich hätte sehen lasse können, wenn die Weberin gewollt hätte. Sie wollte aber nicht. Sie wollte nichts, als die Mutter sorgenlos wissen. Sie wollte nichts, als den unruhig flatternden Schlag dieses armen Herzens besänftigen. Sie wollte Sonnenschein über dem müden, blassen Gesicht. Und es war ihr auch gelungen. Bis heute. Nein, bis vor acht Tagen. Bis der Brief kam mit der Vorbereitung auf den Schlag. Und sie hatte noch gehofft, es werde nur blinder Alarm gewesen sein. Sie hatte es sogar fertig gebracht, die tödlich erschrockene Mutter wieder zur Ruhe zu reden. An dem Schlag, den ihr vorhin die unwiderrufliche Nachricht gegeben hatte, war ihr bewußt geworden, wie fest doch noch ihre Hoffnung auf einen tröstlichen Ausgang gewesen war.
Nun also nicht mehr rückwärts gesehen auch nicht rechts, noch links, nur vorwärts, ins Neue, ins Notwendige! Also fort aus der Wohnung, aus Berlin, in einen billigen Vorort, in den billigsten!
Fort aus der Wohnung.
Aus diesem Haus, in das die Eltern geheiratet hatten vor sechsundzwanzig Jahren, wo sie zur Welt gekommen war, wo sie ihre glückselige Kindheit verlebt hatte, mit der noch gesunden, noch fröhlichen Mutter, wo alsdann auch das schwarze Gewölk der Sorge und Aengste mit dem beginnenden Herzleiden der Vielgeliebten seinen Einzug gehalten hatten wo der Vater, der angebetete gestorben war – nein, nicht gestorben, nur als ein stiller verstummter Mann gelegen hatte, noch drei Tage lang, nachdem man ihn von der Straße hereingebracht hatte, vom Schlag getroffen, die Treppe hinauf, seiner Frau entgegen, der Ahnungslosen, die ausgehen wollte, und die nun rücklings niederstürzte mit einem Schrei, und erst nach vielen Stunden erwachte, gelähmt von den Hüfte an, für Lebenszeit!
Hanna rührte sich auf ihrem Stuhl; die Starrheit, in der sie gesessen hatte, löste sich. Wie geschah ihr denn? Das war ja rückwärts gedacht, nur rückwärts! Das wollte sie ja nicht. Das durfte sie ja nicht. Sie strich sich das Haar aus der Stirn und wendete sich zur Seite. Ihr Blick fiel auf das Fenster, zu dem die sternklare Nacht hereinschaute, und auf die leere Stelle, wo am Tage der Sessel mit der Mutter stand. In dem matt erleuchteten Zimmer gähnte der unbewohnte Fleck wie ein Loch. Ein schwerer heißer Schrecken fiel ihr aufs Herz. Der Stuhl, der schöne, teure Krankenstuhl, der langsam, mühsam ersparte! Mit der Freude, die die Mutter darüber haben sollte, war’s nun [535] aus. Hanna wußte, sie würde nun nur noch erschrecken, würde sich grämen über die große Ausgabe in diesen neuen, trostlosen Verhältnissen. Als ob sie nicht längst verschmerzt wären, die einzelnen Markstücke, aus denen die Summe zusammengewachsen war. Als ob das überhaupt Schmerzen gemacht hätte. Ach, keine Schmerzen, nur Freude! Und als ob sie ihn nun nicht erst recht brauchten, diesen Stuhl, worin die lahme Mutter fortgeschafft werden mußte, wenn sie auszogen!
Hanna stand auf, es ergriff sie eine schmerzhafte, fieberische Unruhe. Auf ihren leisen Schuhen begann sie rastlos im Zimmer auf und ab zu gehen. Ihr Herz schlug schwerer und schwerer in ihrem nun schon übermüdeten Kopf knäuelten sich die wehvollen Erinnerungen, die Zahlen, die Furcht vor der Zukunft zu einem wirren Klumpen zusammen, der sich ihr hinter die Stirn legte, auf die Augen drückte. Es wurde ihr matt und mutlos zu Sinne. Am Klavier, an das sie mit dem Arm gestreift war, blieb sie stehen. Sie stützte die Ellbogen auf und legte das heiße Gesicht in die Hände. Nur nicht weinen, dachte sie noch. Und dann weinte sie schon, heiß und bitterlich.
Im Nebenzimmer wurde plötzlich ein Stuhl gerückt.
Hanna fuhr zusammen und richtete sich auf. Hatte er etwas gehört? Sie trocknete schnell ihre Thränen und lauschte, ohne sich zu rühren. Aber drinnen blieb alles ruhig. Auch kein Schritt ließ sich vernehmen. Es war also nur Zufall gewesen, das Geräusch.
Sie weinte aber nicht mehr, über dem Schrecken war es ihr vergangen. Doch der Kopf schmerzte sie arg, auch begann sie zu frösteln. Sie wollte zu Bett gehen, ruhen. Vielleicht kam doch noch zuletzt der Schlaf und half in den neuen Morgen hinüber.
Wie lange er da drinnen aber wohl noch aufsitzen wollte über seinen Büchern? Es mußte doch schon spät sein. Sie ging zum Schreibtisch. Im Lampenschein, der schon zu verglühen begann, sah sie nach der Uhr. Beinahe Zwei. Hatte sie sich so lange verweilt? Und die Mutter ganz vergessen? Ach, nicht vergessen aber wenn sie noch nicht schlief, mit welcher Unruhe wartete sie dann wohl schon, unfähig, aufzustehen und die saumselige Tochter zu holen, ins Bett zu treiben!
Also schnell! Sie nahm die Lampe, um sie draußen auf dem Vorplatz auszulöschen.
Auf dem Klavier sah sie im Vorbeigehen Noten liegen.
Günthers liegengebliebene Hefte. Sie blieb noch einmal stehen; es zog sie hin, mit der Hand über das Buch zu streichen, aus dem er gesungen hatte, er, der Ernsthafte, Ruhige, der nicht ahnte, wie ihr zu Mute war neben ihm, daß es um sie geschehen war, wenn sie seine goldene Stimme hörte.
Ein neues Frösteln lief ihr über den Rücken hinunter, die Lampe in ihrer Hand klirrte leise. Sie sah auf das Flämmchen, das zu knistern begann, und ging schnell hinaus. Auf dem Flurtisch setzte sie die Lampe nieder und verlöschte sie. Noch immer glänzte im Dunkeln der feine Lichtstreifen unter der Thür. Sacht, wie eine Flocke, glitt Hanna in ihr Zimmer. Der Mondschein leuchtete ihr zu Bett. Die Mutter schlief.
Arnold Rettenbacher saß an seinem Schreibtisch, vielmehr am Schreibtisch des alten Herrn, wie denn überhaupt das Zimmer, dieses größere, zweifenstrige die Studierstube von Hannas Vater gewesen war. Dem Mieter, der ihnen den Zins tragen half, hatten die Frauen dann selbstverständlich dies Zimmer eingeräumt und alle besten Stücke des bescheidenen Hausrats hineingestellt. Arnold hatte seine paar Habseligkeiten mitgebracht. Ein tannenes, braungestrichenes Stehpult, an dem er tagsüber seine Schulsachen erledigte, es stand am zweiten Fenster – und ein ebensolches Bücherregal, vier Fächer hoch, das an der Wand zwischen dem großen, dunkelbunten Sofa und dem Ofen Platz gefunden hatte. Darauf seine „Bibliothek“, ein annoch armes Häuflein Bücher in billigstem Einband. Schulwissenschaftliche Sachen und einige Klassiker in Volksausgaben. Zwei gepolsterte Lehnsessel zu den Seiten des Sofas, die einzigen im Hause, verherrlichten zusammen mit einer von Hanna noch für den Vater gestickten Decke über dem länglichrunden Tisch diese Wohnseite des Zimmers. Gegenüber verdeckte ein großer, grüner Wandschirm der des Nachts zusammengeklappt an der Wand lehnte, die Schlafstubenecke.
Langsam, in der ersten Zeit halb bewußtlos, hatte Rettenbacher sich in diesen Raum hineingelebt. Seit einem Jahr erst etwa, seit er sich aus der gestaltlosen Form des fast allezeit unsichtbaren „Chambregarnisten“ zum Pensionär verdichtet hatte, nach dessen Schulstunden man das Mittagsessen ansetzte, dessen Leiden und Freuden – es gab von den letztern nicht viele – man teilte, dessen scheue Wortkargheit man nicht bekämpft und doch schließlich überwunden hatte, – seit diesem letzten Jahre erst war ihm allmählich das Verständnis für Gemütlichkeitsbedürfnisse aufgegangen. Ohne daß er’s recht wußte, hatte er seine „Bude“ lieben und sich an ihr freuen gelernt.
Daß er sich in der andern Stube, drinnen bei der alten Frau und dem jungen Mädchen, heimisch zu fühlen begann, war ihm schnell zum Bewußtsein gekommen. Ein Träumer in Herzenssachen war er nicht. Er wußte bald und wußte genau, wie ihm geschah. Aber in demselben Augenblick, als er sich darüber klar geworden war, daß er sein glückungewohntes Herz an diese grauen Augen verloren hatte, war auch sein Pflichtgefühl geharnischt aufgestanden und hatte sich mit ausgestreckter Hand vor die Pforte gestellt. Er durfte nicht heiraten! Kein armes Mädchen und kein reiches. Kein armes, weil bei Null zu Null gerechnet Hunger herauskam, und wenn er selbst auch diese schwere und ziemlich undankbare Kunst beizeiten gelernt hatte – seine Frau durfte nicht in diese Schule. Kein reiches, weil Arnold Rettenbacher selbstbezahltes Brot essen mußte, um gesund zu bleiben. Diese Weisheit war schon nicht mehr neu, sie war ungefähr so alt wie sein Herzensverstand, war zusammen mit ihm auf steinigem Boden aufgewachsen, unaufhaltsam, himmelan, der Sonne entgegen. Aber daß sie ihm wehthat, die Weisheit, daß er schwer an ihr trug, das war noch nicht gar lange her, einige Monate erst, und die dünkten ihn länger als die ganze übrige Zeit bis dahin.
Ungern und schwer nur war er heute am späten Abend „ins Geschirr“ gegangen, an die Arbeit, die einen Teil der Samstagnacht zu kosten pflegte.
Die Paulus-Arie lag ihm noch im Blut. Es sang und klang in ihm. Verflogen war der Nebel, der aus Erdmanns trostlosem Geständnis aufgestiegen war und sich wie eine schwere Decke über sie alle hingebreitet hatte. Seine Seele war wieder wach und wund und schrie mit starker Stimme nach Erlösung. Sie rüttelte an den Gitterstäben ihres Käfigs. Warum ihm heute so viel schlimmer, so viel ungebärdiger zu Mute war als sonst – er wußte es nicht. Hatte er das Mädchen gestern, vorgestern nicht so lieb gehabt wie heute? Doch wohl! Aber es war nicht alle Tage Sonnabend. Und nicht alle Sonnabende wehte der Westwind so duftschwer übers Land.
Er schob die lateinischen Extemporalia zusammen, die er zuerst noch hatte erledigen wollen. Es fehlte ihm jetzt durchaus an der nötigen Sammlung. Unthätig, finster stand er dann vor seinem Schreibtisch still, bis ihm das mittlere Fach, das nur angeschoben, nicht geschlossen war, ins Auge fiel. Er zog es weiter auf und nahm die Schachtel heraus, die ihm Hanna heute abend gegeben hatte. Es war ein Schiebkästchen wie man sie in der Apotheke bekommt, in der Mitte der Hülse ein eingeschnittener Schlitz, über dem stand: „Mutters Stuhl“.
Rettenbacher lächelte. „Wenn du wüßtest,“ murmelte er vor sich hin. Er zog dann ein anderes Schubfach auf, in dem stand Kästchen an Kästchen, sehr ähnlich dem in seiner Hand. Eine ganze Reihe. Zwei große, acht kleine. „Vater“, „Mutter“ stand auf den großen. „Grete“, „Liese“, „Meta“, „Ernst“, „Regine“, „Franz“, „Johannes“, „Evchen“ auf den kleinen. Alle sperrten die Mäulchen auf. man sah an den Rändern, sie waren gefüttert worden. Rettenbacher nickte ihnen zu. Er griff dann ganz hinten in das Fach hinein, dort war noch ein Kästchen, ein einzelnes, für sich. „Mutters Stuhl“ stand über dem Schlitz. Er öffnete es und schüttete das Geld, das darin war – etwas große, schon eingewechselte, und viele kleine Münzen – in Hannas Schachtel. Sie war nun voll bis zum Rande. „Wenn du wüßtest,“ murmelte er wieder. „Um ein gutes Drittel billiger hat er ihn dir gelassen, der Biedermann! Du Kind du, wie leicht betrügt man dich!“
Seine leere Schachtel warf er in das Fach zurück, Hannas schwerer gewordene behielt er in der Hand. Mit brennenden [536] Augen betrachtete er die zierlichen aber kräftigen Buchstaben der Aufschrift, sie begannen sich aber allmählich zu verwirren. Er ließ die Hand mit der Schachtel sinken und schloß die Finger fester darum her. Zu fest. Sie knackte und brach ein. Erschrocken, vor sich selber beschämt, wickelte er das Ganze, wie es war, in ein Papier und verschloß es sorgfältig.
Er ging dann eine Weile ziellos im Zimmer auf und ab, blieb am Fenster stehen und starrte, die heiße Stirn an die Scheibe gelehnt, in die Nacht hinaus. Es that ihm aber nicht gut, es wurde ihm nicht besser davon zu Mut. Aus dem Dunkel sahen ihn Hannas Augen an. In der tiefen Stille hörte er ihre Stimme sprechen, zu ihm sprechen. Liebe, gute Worte, zärtliche Worte. Und ihr unschuldiger, junger Mund blühte ihm entgegen.
Mit einem schweren Seufzer löste sich Rettenbacher von seinem Platz und wandte sich langsam von dem unheilvoll flüsternden Dunkel da draußen zu dem sanften, ganz unromantischen Schein seiner Studierlampe zu seinem Schreibtisch, zu seiner Arbeit, die nicht länger warten durfte, die ein Recht auf ihn hatte, die allein ein Recht auf ihn hatte. Er starrte noch mit den geblendeten, aus verbotenem Traumland heimkehrenden Augen auf die weißen Blätter, die da neben dem Buch bereit lagen – und ließ sich dann müde in den hochlehnigen, breiten Stuhl niedersinken. Er zog das Buch heran, den englischen Roman, den er übersetzte – seine Sonntagsarbeit, zu der er immer in der Nacht vorher die vorbereitenden Studien machte, um dann sein Kapitel hintereinander niederschreiben zu können. Eine leidlich gut bezahlte Sonntagsarbeit, die ihm schon manchen notwendigen Ertraggroschen eingetragen hatte und die er dem von seinem Schuldirektor ermöglichte halbjährigen Aufenthalt in England verdankte. Er raffte sich zusammen. Er las, machte Anmerkungen, las weiter. Die Gewohnheit forderte ihr Recht. Das Pflichtbewußtsein nahm ihn am Zügel. Die heiße Stirn begann sich zu kühlen, die tiefe, schmerzliche Falte zwischen den Augenbrauen glättete sich.
So verrann die Zeit. Langsam? Schnell? Wer weiß es? Weder der rechte Träumer noch der rechte Arbeiter.
Plötzlich zuckte Rettenbacher zusammen und fuhr von seinem Stuhle auf. Nebenan weinte jemand, ganz leise.
Hanna! Wer denn sonst? Sie war da drinnen, noch auf, so spät – wie spät denn? Fast Zwei. Und sie weinte. Was war ihr geschehen? Er lauschte regungslos.
Alles still jetzt. Das Schluchzen verstummt. Mit seinem scharfen Ohr hätte er es sonst leicht vernommen. Es war ja eine Thür zwischen den Zimmern, wenn auch zugestellt, drinnen mit dem Bücherschrank, hier die Nische davor, in der sein Waschtisch stand, mit Wollstoff ausgekleidet. Aber alles totenstill. Er drückte sich die Faust auf das wieder heftig schlagende Herz. Hinübergehen. Sie fragen, trösten.
Aber er blieb flehen, er rührte sich nicht vom Fleck, schüttelte nur mit einem schwachen, rasch verfliegenden Lächeln den Kopf. Noch war er ja nicht verrückt. Noch hatte er ja seine Gedanken beisammen. Er wußte genau, was er thun würde, wenn er jetzt hineinginge zu ihr, die da allein saß und weinte. Er würde es nicht zuwege bringen, fein höflich zu fragen: „Was fehlt Ihnen, liebes Fräulein? Kann ich Ihnen helfen? Befehlen Sie über mich! – Er würde ihr seine arme Seele vor die Füße legen, er würde ihre Hände küssen, die blassen, vielgeliebten, er würde sein streng bewahrtes Geheimnis verraten, er würde ein Narr werden und kein ehrenhafter Narr. Helfen? Er? Wobei? Und womit? Daß Gott erbarm! O nein, noch hatte er seine Gedanken beisammen.
Er lauschte wieder angestrengt. Alles still.
Er wußte nicht, daß ihm das weinende Mädchen da drinnen, dem das Herz so bänglich schlug, in seiner einsamen Not vielleicht wortlos in die Arme gesunken wäre, wenn er plötzlich in der Thür gestanden und gefragt hätte: „Was ist geschehen? Er wußte nicht, wie arg bedroht seine Ehrenhaftigkeit gewesen war.
Er hörte jetzt deutlich, da er mit Anspannung aller Sinne lauschte, daß sie durch das Zimmer und auf den Vorplatz hinaus schlich, daß das Lämpchen klirrte. Er hörte das leise, leise Knarren ihrer Thür – und dann nur noch die tiefe Stille, die folgte, und die mit ihren langsamen, breiten Wellen dahergezogen kam und alles andere verschlang.
„Sag’du es ihm,“ bat Hanna, nachdem sie übereingekommen waren, daß man Rettenbacher sofort Mitteilung von der Veränderung ihrer Lage machen müsse. Sie saßen am Frühstückstisch. Er konnte jeden Augenblick hereinkommen.
„Gewiß, natürlich,“ antwortete Frau Wasenius beklommen. „Aber du bleibst doch im Zimmer, du hilfst doch bei der Besprechung, wenn ich angefangen habe, du lässest mich doch nicht im Stich?“
„Nein, mein Engel, ich lasse dich nicht im Stich.“ Hanna küßte die Hand der Mutter. „Beunruhige dich nicht. Wir besprechen das alles gemeinsam. Nur den allerersten Anfang, die Einleitung, weißt du –.“ Sie sah nach dieser schlimmen Nacht sehr blaß aus. Aber in ihrer Fürsorge für die Mutter hatte sie sich genug in der Gewalt, um gleichmütig zu erscheinen. Nur vor diesem Anfang graute ihr, vor dieser ersten Mitteilung an Rettenbacher: wir müssen uns trennen!
Rettenbacher trat ein. Auch überwacht, auch hohläugig, auch gefaßt. Aber ein schneller, falkenscharfer Blick traf die Gestalt des Mädchens, das ihm freundlich, wie immer, den Morgengruß zunickte. Er sah wohl ihre Blässe, die von einem jähen, aber nur flüchtigen Erröten übergossen wurde, sah ihre dunkler und größer gewordenen Augen und fühlte wieder die halszuschnürende Angst; was ist ihr geschehen?
Fast vergaß er, höflich, wie er gewohnt war, zu grüßen. Und am Tisch niedersitzend, seine gefüllte Tasse aus Hannas Hand entgegennehmend, warf er mit heiserer Stimme irgend eine gleichgültige Bemerkung hin, nur um zu sprechen nur um die Beherrschung nicht zu verlieren. Aus einem tieferen Stummsein wäre er doch mit der Frage aufgefahren: Was ist Ihnen geschehen?
„Lieber Rettenbacher“ – sagte Frau Wasenius leise.
„So,“ dachte er, „jetzt kommt’s. Was ist das für ein Ton?“ Argwöhnisch sah er sie an. Er hatte sie in der Sorge um das Mädchen noch gar nicht betrachtet. Sie zitterte ja.
„Bitte?“ sagte er so ruhig wie möglich.
„Es ist – wir müssen Ihnen etwas erzählen – es ist etwas geschehen – das heißt, die Hauptsache ist: wir müssen uns trennen.“
Er antwortete nicht gleich, er lehnte sich etwas zurück, den Griff des Messers, mit dem er eben das Brötchen durchgeschnitten hatte, in der festgeballten Faust, und starrte sie an. Aus seinem Gesicht war alle Farbe weg. „Bitte –“ wiederholte er dann mechanisch. „Und warum?“ brachte er noch heraus.
„Wir haben Unglück gehabt,“ fing Frau Wasenius wieder mühsam an. „Ich glaube, ich habe Ihnen schon früher einmal gesagt, daß die Hälfte meines Einkommens in einer kleinen Rente aus schlesischen Fabrikaktien besteht. Ich habe diese Aktien vor Jahren von meinem verstorbenen Bruder geerbt. Diese Rente ermöglichte es uns, hier wohnen zu bleiben, auch nach dem Tode meines Mannes, obwohl wir uns sehr zusammennehmen mußten. Nun ist das aber –“ sie machte eine hilflose Bewegung mit der Hand und brach ab.
Hanna, die bisher mit aufgestütztem Kopf still vor sich hingeschaut hatte, streichelte diese arme Hand und hielt sie dann fest.
„Also das Kurze und Lange von der Sache ist,“ sagte sie nun, indem sie tapfer das schmähliche innere Zittern bekämpfte und den Blick zu Rettenbachers starrem Gesicht erhob, „daß diese Fabrik hin ist, ruiniert ist, falliert hat. Außer den Prioritätsaktien, von denen wir keine haben, sind alle Papiere wertlos. Unser Einkommen hat sich also auf die Hälfte verringert, und wir müssen unser Leben danach einrichten. Das heißt, wir müssen diese Wohnung aufgeben, überhaupt Berlin aufgeben. Soweit bis jetzt – seit gestern abend – eine Ueberlegung möglich war, scheint es uns am besten, in irgend einen billigen, recht billigen Vorort zu ziehen, sozusagen aufs Land, je weiter hinaus, also je wohlfeiler, desto besser.“
Sie hatte ganz ruhig gesprochen anfangs noch mit etwas schwankender Stimme, aber sie fühlte doch, es ging. Da Rettenbacher, anstatt sie anzusehen, regungslos auf seinen Teller starrte, wuchs ihr der Mut.
„Wir sind übereingekommen,“ fuhr sie dann fort, „Ihnen gleich von unserem Mißgeschick zu erzählen. Denn hoffentlich
[537][538] glückt es uns ja, zum ersten mal von dieser Wohnung loszukommen, und – da wir uns dann doch trennen müssen, so ist es wohl gut, wenn Sie sich auch beizeiten –“ nun stockte sie doch.
Aber er unterbrach sie auch schon mit einer aufzuckenden Handbewegung. „Wir wollen doch, bitte, jetzt nicht von mir sprechen,“ sagte er, fast tonlos heiser. Und nach einer kleinen Pause: „Ich bin so erschrocken über diese Geschichte, daß mir die Worte fehlen. Halten Sie das nicht für Teilnahmlosigkeit.“
„Ganz gewiß nicht,“ sagte Frau Wasenius warm und streckte ihm die Hand hin. Er nahm sie und drückte sie an seinen Mund.
„Wie heiß Ihre Lippen sind,“ sagte sie unruhig. „Fühlen Sie sich krank?“
„Keine Spur. Etwas übernächtigt. Ich schlief spät ein, hatte noch lange zu thun. Und dann – ist mir doch – diese Sache eben in die Glieder gefahren. Also keine Hoffnung?“
„Gar keine,“ antwortete Hanna. „Herr Thomas, ‚unser Banquier’ – um ihn so zu nennen –, der stets diese Geldangelegenheiten für uns besorgt hat, hat uns geschrieben, daß Betrügereien, Unterschlagungen sehr umfangreicher Art entdeckt worden sind, ganz plötzlich entdeckt worden sind. Der eine Teilnehmer, eben der Uebelthäter, hat sich geflüchtet, als er sich nicht mehr halten konnte. Nun ist der Konkurs über die Fabrik verhängt. Es sind noch viel mehr Menschen zu Schaden gekommen als wir. Das dürfen wir nicht vergessen. Aber freilich, jeder denkt, ihn trifft’s am härtesten.“
Sie seufzte leise, aber sie lächelte auch schnell wieder der Mutter zu, die mit ihren verängstigten Augen der Tochter die Worte von den Lippen las. „So lange es nur Geld ist, Mutterliebchen, um das man sich grämt,“ sagte sie tröstend, „so lange ist man noch besserungsfähig. Laß uns nur erst das Aergste überwunden haben, den Auszug hier aus unserm alten Nest; in dem neuen da irgendwo weit draußen, mitten in der Natur, will ich’s dir dann auch schön behaglich machen.“
Sie sah Rettenbacher immer noch nicht an. Sie wagte es nicht. Sie durfte nicht schwach werden. Nun sie auseinandergingen, mußte sie ihr Geheimnis um so sorgsamer hüten.
Eine Weile blieb es nun still, dann hob der junge Mann den Kopf. „In dieser kurzen Zeit können Sie natürlich noch keine Einzelheiten in Erwägung gezogen haben,“ fing er wieder an, seine Stimme hatte noch immer keinen eigentlichen Ton – „ich hoffe, Sie werden mir erlauben, Ihnen behilflich zu sein, wo es nur immer möglich ist.“
Er sagte es zu Hanna, die er dadurch zwang, ihn anzusehen. Sie that es, indem sie ihm freundlich zunickte. Beide beherrschten sich vortrefflich, keines erfuhr von dem andern, wie elend ihm zu Mute war. Die Armut nährte aus ihren kärglichen Mitteln den Stolz, den die beiden armen Wichte brauchten, um sich selbst und einander vor der eignen Schwäche zu bewahren.
„Zum Beispiel,“ fuhr Rettenbacher fort, „könnte ich zum Hauswirt hinuntergehen und an Ihrer Statt mit ihm verhandeln.“
„Nein,“ sagte Hanna, „ich danke Ihnen. Aber gerade das muß ich selbst thun – ich gehe doch auch schon in Vertretung, an Mutters Statt. Ich hoffe ja viel von seinem guten Willen. Von dem hängt freilich alles ab. Denn von Rechts wegen könnten wir ja eigentlich erst im Oktober zum April kündigen. Aber wenn ich ihm klar mache, daß wir ihm die Miete nicht mehr zahlen können, so wird er wohl in Anbetracht unsrer alten ‚Freundschaft’ – sechsundzwanzig Jahre, denken Sie doch, ein menschliches Rühren fühlen. Für dieses Vierteljahr ist schon bezahlt. Aber der erste Juli – der liegt mir im Nebel. Uebrigens, fügte sie helleren Tones hinzu, mit einem Blick auf das Gesicht der Mutter, in dem die Farbe kam und ging – „darüber wollen wir uns den Kopf in diesem Augenblick nicht zerbrechen. Heute ist Sonntag. Heute soll auch Sonntag bleiben. Nichts von Geschäften mehr! Das – Nothwendige ist geschehen. Alles andre fängt erst morgen an.“
„Du vergissest,“ wandte Frau Wasenius ein, „daß sich Herr Thomas auf heute vormittag angemeldet hat.“
„Richtig – den hatte ich vergessen. Aber ich denke, er wird nicht lange bleiben. Helfen kann er uns nicht. Was soll er also hier?“
Sie war aufgestanden und hatte die Tassen und Teller auf dem Theebrett zusammengestellt, um sie hinauszutragen. Rettenbacher öffnete ihr die Thür und kehrte dann auf seinen Platz am Tisch zurück. Gegen seine Gewohnheit, er pflegte sonst gleich nach dem Frühstück zu verschwinden, auch am Sonntag.
Frau Wasenius, die sich nach der Peinlichkeit der ersten Eröffnung nun gefaßt hatte, sah mit liebreichem Blick in sein blasses Gesicht. Als er sich dann neuerdings, offenbar völlig geistesabwesend, niedersetzte, sagte sie mit ihrer sanften, weichen Stimme, die ihm schon manchmal wohlgethan hatte. „Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht erst zu versichern, wie schwer uns der Entschluß geworden ist, lieber Rettenbacher. Ich meine das mit unsrer Trennung. Der Gedanke war mir anfangs gar nicht einmal gekommen. Erst, als wir uns heute früh darangaben, ein bißchen auszurechnen, wie der Rest einzuteilen wäre, da wurde mir klar, daß es für uns unmöglich ist, zusammenzubleiben. Wir müssen einen abgelegenen, recht anspruchslosen Platz suchen. Und da ich nicht in Berlin bleiben kann, ich meine, hier in dieser alten, lieben Wohnung, so ist mir der Gedanke, irgendwo weit draußen in so einer Art von Dorf zu wohnen, ganz recht. Meine arme Hanna – für die hätt’ ich mir freilich ein anderes Los geträumt. So, im Kampf mit der Armut, als Pflegerin ihrer krüppelhaften Mutter – eine traurige Jugend!“
Sie schwieg eine Weile; er störte sie nicht darin. Wieviel er von dem Gesagten vernommen hatte, war ihm nicht anzusehen. Frau Wasenius hatte aber wohl keine Erwiderung von ihm erwartet.
„Ich sehe auch keinen Ausweg,“ fuhr sie fort zu sprechen, aus ihrem trüben Sinnen heraus. „So lange sie noch mit mir behaftet ist, bleibt sie an den Fleck gefesselt. Und wenn ich einmal tot bin – was macht sie dann, angesichts der Mittel, die ihr zur Verfügung bleiben? Gesellschafterin launenhafter Leute muß sie werden. Stütze der Hausfrau. Sich hudeln lassen. Zur Lehrerin taugt sie nicht. Abgesehen davon, daß sie ja gar kein Examen gemacht hat. Mein Mann wollte es nicht. Sie kann’s nicht, sagte er, sie hat das Zeug nicht dazu, schlechte Lehrer giebt’s genug. Er wird wohl recht gehabt haben. Aber mit dem bißchen Handarbeitsunterricht und dem Arbeiten für Geschäfte kann sie ihr Leben nicht fristen. Das giebt nur einen notwendigen und angenehmen Zuschuß. Also irgend eine Stellung als Dienende ist das einzige, was ihr bleibt, meinem stolzen, fröhlichen Mädchen!“
Sie schwieg wieder, aber vor Schreck. Sie hatte in ihrem halblauten Vorsichhinsprechen den aufgestützten Kopf gesenkt gehalten und ihn erst bei den letzten Worten wieder erhoben. Nun sah sie Rettenbacher an, sah in sein gequältes, zusammengezogenes Gesicht – und erriet alles. Gott im Himmel! dachte sie erschüttert. Und gleich darauf. Wie habe ich das nur bis jetzt übersehen können! So leidet er ja nicht erst seit heute. O du Armer! Aber still, nicht daran rühren. Nichts merken lassen! Auch Hanna nichts merken lassen! Schützen, diese Wunde!
„Ich verdiene Strafe,“ sagte sie mit einem frischen, gehobenen Neuklang der Stimme, der ihn auch wirklich weckte. „Ich sollte ja nicht grübeln. Auf allerhöchsten Befehl sollte ich ja den Feiertag heiligen und all dieser Trübsal zum Trotz an gute Dinge denken. An andre wenigstens. Das will ich auch! Sie sollen mir von zu Hause erzählen, gestern kam doch ein dicker Brief. Wie geht’s denn dort?“
„Ganz gut soweit, ich danke,“ gab er zur Antwort. Er faßte sich nun gewaltsam, es gelang ihm auch. Er stand aber auf, als er Hannas Stimme auf dem Vorplatz hörte. „Sie gestatten mir wohl, mich zurückzuziehen. Ich muß notwendigerweise an die Arbeit. Ich habe mich schon zu lange verweilt. Den Brief lasse ich Ihnen da.
Er nahm ihn aus der Brusttasche und legte ihn auf den Tisch. Es schien ihm dann wieder ein Bedenken zu kommen, denn er griff noch einmal danach, aber in dem verlegenen Gefühl, daß er mit dem Zurücknehmen eine Unzartheit begehen würde, ließ er ihn wieder los.
Hanna trat ein. Sie hatte sich draußen zu schaffen gemacht, hatte sich tüchtig gerührt und den schmerzenden Kopf gezwungen, sich auf die „laufenden Tagesgeschäfte“ einzustellen. Rote Wangen hatte der gut geschulte Wille noch nicht erzwingen können, aber doch die heitere, unbefangene Miene, mit der sie nun hereinkam [539] und Rettenbacher bat. „Helfen Sie mir, die Mutter ans Fenster tragen, ja? Bertha ist noch nicht zurück. Und den Brief auf dem Tische mit dem Blicke streifend. „Den dürfen wir lesen, nicht wahr? Das ist hübsch, da freu ich mich. Sie wollen arbeiten gehen? Nach Tische kann ich wohl schon wieder etwas zum Abschreiben bekommen? Schon. Also bis nachher.“
Sie nickte dem Hinausgehenden freundlich nach. Als sie sich zurückwandte, trafen ihre Augen auf einen so befremdlich spähenden Sorgenblick der Mutter, daß sie leicht erschrak.
„Ist dir etwas, Mutterchen?“
„Nein,“ sagte die verwirrt und sich sammelnd. Die erste Entdeckung hatte die Furcht vor der zweiten gezeitigt. Sie traute sich nun auch die andere, die tiefere Blindheit zu. Aber ein tapferes, ehrenfestes Kind kann mitunter auch das wachsamste Mutterauge betrügen. Mit einem Seufzer der Erleichterung nickte Frau Wasenius ihrer lächelnden Tochter zu, als diese sich ihr gegenüber setzte und den vielblättrigen Rettenbacherschen Brief aus seiner Hülle zog.
„Lieber Sohn!
Nach Erledigung meiner Amtsgeschäfte ergreife ich die Feder, um Dir auf Deinen Brief vom 2. dieses Monats zu antworten. Es wäre schon etwas eher geschehen, aber ich konnte nicht schreiben, weil mich der Rheumatismus geplagt hat und mir in die Hüfte fuhr, wenn ich mich unvorsichtig wendete. Dein Bruder Ernst hat sonach müssen die Glocke läuten und mit dem Rohrstock bin ich derowegen auch sparsam umgegangen. Die Schulkinder haben Maul und Nase aufgerissen ob meiner Sanftmut, aber gar zu lange haben sie sich nicht brauchen wundern, dann war ich wieder gesund. Mein lieber Sohn, ich habe Deine Sendung erhalten und sage Dir dafür meinen väterlichen Dank. Es traf wieder recht gelegen. Unser Stadtsohn ist uns stets ein erheblicher Gedanke und der Herr Graf, der sich neulich im Vorbeifahren wieder nach Dir erkundigt hat, sagte mit herzlichem Wohlwollen, ich sollte Dich grüßen und es reute ihn nicht, das mit dem Stipendium, Du schienest das Studiengeld gut angewendet zu haben und solltest nur so weiter machen. In der That, ich darf wohl glauben, mein Sohn, daß seine Güte von damals bei Dir auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Ich habe denn auch Gelegenheit genommen, dem Herrn Grafen zu erzählen, daß Du ein guter Sohn bist und Deine Eltern und Geschwister bis dato noch nicht vergessen hast. Möge es stets so bleiben. Der Herr Graf hat ein neues Arbeiterhaus lassen bauen, einen großen Kasten, und es ist eine ganze Kolonie von neuen Leuten eingerückt. Kinder sind auch etzliche Mandeln dabei, so steigt auch der Schulbesuch, und wenn es glückt mit der Fabrik, so muß der Herr Graf mir lassen auch ein neues Schulhaus bauen, denn die blökende Herde wächst mir schon bald zu den Fenstern heraus. Deine Mutter will Dir auch noch eine kleine Epistel senden, so mag sie vom Haus und von den Kindern erzählen. Daß sie alle gesund sind, kann ich bestätigen, nur die Grete könnte schöner aussehen, aber dafür kann sie nichts und es wird sich ja bald geben. Dein Schwager freut sich auch schon. So sei denn gegrüßt und gesegnet
„Mein lieber Junge!
Ein paar Reihen will ich noch hinschreiben, damit daß ich Dir kann danken für das Geld, mein Arnold, und ich bete alle Abend und ich danke dem lieben Gott für mein liebes Kind, für meinen Arnold. Er wird es Dir einstmals vergelten, ich kann es nicht. Es langte dem Hans zu einer neuen Hose zum Geburtstag und er geht stolz herum und Evchen sagt, sie freut sich auch schon, denn ihrer ist jetzt der nächste und sie meint, eine Puppe, aber ich meine ein Paar Schuhe, denn sie sind ihr zu klein und Vorschuhen geht auch nicht mehr. Es geht uns allen gut. Vater war erkältet, aber es ist auch schon wieder gut. Die Wintersaat steht schön und die Obstbäume möchten schon bald blühen, wenn nur nachher kein Frost mehr kommt, die gestrengen Herren. Die Kinder lassen alle grüßen, der Hans sollte Dir auch schreiben, aber er ist mir ausgerissen. Grete geht es auch so leidlich, aber sie möchte, es wäre schon so weit, noch eine sechs Wochen, dann wird es wohl kommen. So will ich denn schließen und ich segne Dich von Herzen, mein treues Kind, ich möchte Dich so gerne wiedersehen, aber die teure Fahrt, das ist das schlimme. Es umarmt Dich in treuer Liebe, mein Arnold,
„Liber Bruder!
Ich danke Dir für Dein Geschenk sie paßt mir, Mutter hat mich doch erreicht, ich war auf den Apfelbaum und beim Wurstessen habe ich mir gebrochen aber nicht ser.
Hanna lachte laut auf. „Wenn ich doch diesen Hans einmal zu sehen bekommen könnte. Das ist sein Liebling. Er muß jetzt sieben Jahre alt geworden sein. Das war jedenfalls beim Schweineschlachten, wo er sich mit dem Wurstessen übernommen hat.“
Sie hob dann die Blätter und schüttelte sie ein wenig. Man sieht hieraus wieder deutlich, wo alles bleibt, was er sich abdarbt. Und wie lange wird das noch dauern! Von wem ist denn noch dieses Briefchen? – Deine Regine.’ – Aha, das Lockenköpfchen, die kleine ‚Schönheit‘. Sie schlug das Blatt um.
„Lieber Herzensbruder! – –“
Draußen ging die Flurglocke.
Die Magd steckte den Kopf zur Thüre herein. „Herr Thomas wünscht Frau Doktor zu sprechen.
Die Roentgen-Strahlen in Industrie und Technik.
Von W. Berdrow.
( gemeinfrei ab 2025) [540] Erster Textabschnitt: ( gemeinfrei ab 2025)
Von A. Freihofer. Mit Abbildungen.
„Ins Wildbad will er reiten, wo heiß ein Quell entspringt,
Der Sieche heilt und kräftigt, der Greise wieder jüngt.
Unter den Wildbädern des Kontinents ist eines „das Wildbad“ schlechthin, das weltberühmte im württembergischen Schwarzwald, im grünen Thal der Enz, inmitten frischer Matten und dunkler Tannenwälder. Ist auch das Städtchen klein und nicht an der breiten Heerstraße des modernen Verkehrs gelegen, so ist Wildbad doch ein Weltbad ersten Ranges; unter den etwa zehntausend Badegästen, die es jährlich besuchen, fehlt es nie an fürstlichen Häuptern, berühmten Staatsmännern, Kriegs- und Geisteshelden, wie an Krösussen der Alten und Neuen Welt. Da man aber nach Wildbad kommt, um ernstliche Leiden zu heilen, so fehlt auch der bescheidene Badegast nicht und den Armen und Aermsten ist von der württembergischen Regierung eine Stätte bereitet, wo sie in Wahrheit die Sorgen draußen lassen können.
Wildbad ist ein königliches Bad, es steht unter staatlicher Verwaltung, seine Bauten und Einrichtungen werden aus staatlichen Mitteln bestritten. Dank dem fortschrittlichen Geist, der in Schwaben Regierung und Volk beseelt, wird hier nicht gekargt: das Wildbad steht auf der Höhe der Zeit, vor allem in seinen Badeeinrichtungen und allem, was sonst den Heilzwecken zu dienen hat, aber auch in dem Komfort, ohne den heutzutage ein königliches Bad, in welchem Könige absteigen, nicht gedacht werden kann. Das ist freilich erst seit wenigen Jahrzehnten so, und doch ist Wildbad auch in vergangenen Zeiten eines der vornehmsten unter den Bädern gewesen.
Dem Volksmund ist Wildbad geläufig durch dichterische Verherrlichung. Ludwig Uhlands Ballade vom „Ueberfall im Wildbad“, der unser Leitvers entnommen ist, kennt man soweit die deutsche Zunge klingt. Dieses Lied vermittelt uns auch die älteste Kunde von dem Bade. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, als Süddeutschland unter Römerherrschaft seine erste Kulturblüte erlebte und das benachbarte Baden-Baden den Luxus der Alten Welt sah, war unser Wildbad eine unentdeckte Wildnis. Aber vielleicht damals schon war alemannischen Jägern, die in diesem herrlichen Waldrevier pirschten, der heilreiche Quell [541] bekannt, verraten von einem „angeschossnen Eber“, der sich die Wunde wusch. Die Sage von dem wunden Hirsch oder Eber, der den Menschen zu solchen Naturheilstätten geleitet, kehrt ja fast bei allen Wildbädern wieder, und es liegt ihr zum mindesten die Wahrheit zu Grunde, daß selbst die unvernünftige Kreatur den Weg zu den heilenden Wassern findet, welche die gütige Mutter Erde aus ihrem Schoße sprudelt, und daß auch die Menschheit immer wieder zu ihnen flüchten wird, mag ärztliche Kunst und Gelehrsamkeit zu Zeiten auch ihren Ruhm ein wenig verdunkeln. Den Eber also wird unser exakt forschendes Geschlecht preisgeben, um so mehr aber darf es dem Dichter aufs Wort glauben, was er von jenem Ueberfall des württembergischen Heldengrafen
berichtet, denn Uhland hat es, wie er meist bei seinen Balladen zu thun pflegte, mit aller Treue den urkundlichen Ueberlieferungen entnommen. Es ist also kein künstlicher Glanz der Romantik, der unser Bad umschwebt, auf Jahr und Tag ist es gewiß, daß jene ritterliche Gestalt aus dem fehdereichen vierzehnten Jahrhundert, der im Chor der Stuttgarter Stiftskirche ruhende gräfliche Ahnherr der württembergischen Könige, den man Eberhard den „Greiner“ (Zänker) oder „Rauschebart“ nannte, von seinen grimmen Gegnern, dem Ebersteiner, dem Wunnensteiner und den Rittern vom Schleglerbund oder, wie sie damals eigentlich hießen, den „Martinsvögeln“, im Frühsommer des Jahres 1367 im Wildbad überfallen wurde und daß er ihnen nicht mit heiler Haut entronnen wäre, wenn nicht ein braver Unterthan ihn auf geheimen Wegen über das Waldgebirge nach seiner festen Burg Zavelstein gerettet hätte. Auch ist es wohl erlaubt, anzunehmen, daß jener andre Eberhard, der „Graf im Bart“ und spätere Herzog, von dem das Württemberger Lied „Preisend mit viel schönen Reden“ handelt, auf dem Tag zu Worms, als er sich berühmte,
„Daß in Wäldern noch so groß
Ich mein Haupt kann kühnlich legen
Jedem Unterthan in Schoß,“
dabei eben jenes schönen Beispiels von Unterthanentreue gedachte, das seinem Ahn widerfahren war.
Doch kehren wir zum Wildbad zurück! Es ist auch buchstäblich richtig, was Uhland am Schluß seiner Ballade über Eberhards Dank für seine Rettung berichtet:
„Dann schickt er tücht’ge Maurer ins Wildbad allsofort;
Die sollen Mauern führen rings um den offnen Ort,
Damit in künft’gen Sommern sich jeder greise Mann,
Von Feinden ungefährdet, im Bade jüngen kann.“
In jenem Jahr wurde das Wildbad ein festes Städtchen, der „Greiner“ umgab es mit einer Mauer und machte es durch zwei Thore zugänglich. Diese ganze „Stadt“, wie sie einstens war, bildet den heutigen „Kurplatz“, und das „Hotel Klumpp“, eines der großartigsten und besten in Deutschland, führt seinen Ursprung direkt zurück auf jenes Wirtshaus zum „Spieß“, in dem der alte Greiner wohnte:
[542]
„Zu Wildbad an dem Markte, da steht ein stattlich Haus,
Es hängt daran zum Zeichen ein blanker Spieß heraus.
Dort steigt der Graf vom Rosse, dort hält er gute Rast,
Den Quell besucht er täglich, der ritterliche Gast.“
So klein der Ort war und jahrhundertelang blieb, er hat hernach viel glänzende Tage gesehen. Seine erste Blütezeit fällt ins sechzehnte Jahrhundert. Da kamen sie mit „großem Geleit“, die Herzöge Württembergs, die Pfalzgrafen, die Markgrafen von Baden und von Brandenburg, die Herzöge von Sachsen, die Landgrafen von Hessen usw., so daß ein Chronist schrieb: „Solche Zeiten hat Wildbad vor und nach nicht wieder gesehen. Der Pfalzgraf Friedrich bei Rhein, der 1547 mit seiner Gemahlin zur Badekur kam, hatte allein 352 Pferde in seinem Gefolge. Auch viel berühmte Namen weist die Kurliste jener Zeit auf: Ulrich von Hutten, Franz von Sickingen, den Truchseß von Waldburg und den Georg von Frundsberg, die Gelehrten Crusius und Bergerius und zahllose Fürsten, Grafen, Bischöfe usw. Natürlich fehlten die Landesherren nicht, der durch Hauffs „Lichtenstein“ berühmte Ulrich und sein größerer Sohn Christoph. Als dieser im Jahr 1545 als dreißigjähriger Erbprinz seinen Vater um die Erlaubnis zu einem Besuch in Wildbad anging, verstattete es ihm der Mißgünstige nur mit viel Ermahnungen, „daß du nicht nach solchem Bad deinem Halten und Wesen nach, wie wir bericht, so feyst werdest, wie ein Mastsaw.“ Dieser Herzog Christoph war hernach der erste, der ein Bad für Arme, ein „pfrondheußlin“ samt „Hofstatt“ errichtete.
Noch zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts stand Wildbad in hoher Blüte – der Dreißigjährige Krieg machte jedoch auch hier aller Lust und Freud und aller Kultur ein Ende. Die Gasthäuser verfielen, in den Bädern schwammen Ratten herum, die Straßen nach dem Wildbad waren halsbrecherisch geworden. Trotz der großen Verwahrlosung, in der das Bad dann fast zwei Jahrhunderte verblieb, ist es von den württembergischen Fürsten vielfach gebraucht worden.
Seinen neuen Aufschwung nahm Wildbad in diesem Jahrhundert unter Württembergs Königen. Sein eigentlicher Neuschöpfer ist König Wilhelm I., neben welchem sein Finanzminister Herdegen und sein Baumeister Thouret zu nennen sind. Seit dem vierten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ist in Wildbad fortwährend, wenn auch zu Zeiten in bescheidenen Grenzen, gebaut und modernisiert worden und die Könige Wilhelm I., Karl und Wilhelm II. haben daran stets den persönlichsten Anteil genommen. Seit dieser Zeit gewinnt auch die Gästechronik wieder eine Fülle hochklingender Namen. Die glänzendsten Tage aber erlebte Wildbad von Mitte der fünfziger Jahre ab. Der damalige Kronprinz Karl von Württemberg war verlobt mit Olga, der Tochter des Zaren Nikolaus. 1856 besuchte erstmals die Mutter der Großfürstin Olga und Schwester des nachmaligen Kaisers Wilhelm I., Alexandra Feodorowna, seit 1855 Zarin-Witwe, das Wildbad mit großem Gefolge und wiederholte diesen Besuch mehrere Jahre hintereinander. 1857 waren mit der Zarin-Witwe und dem württembergischen Königshause der Prinz von Preußen und Gemahlin (das erste deutsche Kaiserpaar) und vorübergehend auch Zar Alexander II. und Gemahlin, sowie viele deutsche und außerdeutsche Fürstlichkeiten verewigt. Eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten, die damals Wildbad besuchten, sind ihm in der Folge treu geblieben; wir nennen nur zwei, die dem Bild der damaligen Wildbader Badegesellschaft ein besonderes Relief gaben: den Prinzen Peter von Oldenburg und den Fürsten Gortschakoff.
Nach unseren heutigen verfeinerten Begriffen erscheint es fast unglaublich, wie in dem damaligen eisenbahnlosen Städtchen, das nur eine einzige Straße hatte und dessen dörflicher Charakter bis auf den „Kurplatz“ (vgl. die obenstehende Abbildung) herein sich erstreckte, eine so illustre Gesellschaft auf Wochen und Monate Quartier nehmen mochte. Die Sache wird erklärlich, wenn man weiß, daß das Königliche Badgebäude mit dem Königlichen Badhotel, und nicht minder das „Hotel Klumpp“ und einige andere Etablissements schon damals an Eleganz und Komfort und an bequemen Badeeinrichtungen ganz Außerordentliches boten.
Dieses „Königliche Badgebäude“ bildet bis heute den Mittelpunkt und Grundstock der modernen Einrichtungen Wildbads, obwohl inzwischen ein neues prachtvolles König-Karl-Bad (erbaut von Hofbaudirektor Berner in Stuttgart) und das schon [543] oben erwähnte imposante Bad für die Unbemittelten, das neue „Katharinenstift“ (erbaut von Baudirektor von Bok), eine große Trinkhalle mit Wandelgang, eine stattliche Zahl eleganter Privatbauten und eine stets fortschreitende Verschönerung der herrlichen Waldanlagen an der Enz hinzugetreten sind. Wir verweisen auf unsere Abbildungen, die dem Leser das König-Karl-Bad (nebenstehend) und die
Trinkhalle (S. 542) und eine reizende Partie aus den Anlagen mit dem „Rindenhäuschen“ (s. unten) veranschaulichen.
Es würde zu weit führen, wollten wir das alles im einzelnen schildern; wir müssen auch darauf verzichten, den Leser über die speziellen Einrichtungen und Wirkungen der Wildbader Bäder zu unterhalten, welche bekanntlich gegen Gicht, Rheumatismus, Neuralgie und ähnliche Leiden mit bestem Erfolg genommen werden.
Dagegen sei es gestattet, der jüngsten Verschönerung Wildbads, der auch unsere Bilder S. 541 und S. 545 gewidmet sind, einige begleitende Worte mitzugeben.
Es handelt sich dabei gewissermaßen um den Ausbau des mehrerwähnten „Königlichen Badgebäudes“. Dieses, in den vierziger Jahren von dem trefflichen Baumeister König Wilhelms I., Thouret, in den von ihm herausgebildeten Formen eines einfachen maurischen Stils erbaut, ist im Prinzip auf das „Gesellschaftsbad“ eingerichtet, enthielt aber von Anfang an auch Einzelbäder, die sogenannten „Fürstenbäder“, in welchen anfänglich auch nur wirkliche Fürsten badeten, während sie jetzt jedem zugänglich sind, der fürstlich zahlen kann. Die ganze Einrichtung des Baus ist heute noch zweckmäßig, auffallend war aber gerade für Wildbader Verhältnis, wo die Mittagstemperatur auch im August nicht über 22 bis 23°C hinaufgeht und wo man in der Saison vom Mai bis September mit einem Tagesmittel von 12 bis 18°C und recht kühlen und taureichen Morgen und Abenden zu rechnen hat, der Mangel eines geschützten großen Warteraums. Der Baumeister Thouret selbst hat möglicherweise an einen solchen gedacht, der Plan ist aber in den anspruchsloseren vierziger Jahren vielleicht als eine Luxussache zurückgestellt worden. Bis in die letzte Zeit waren daher die Kurgäste, welche die Thermen des Thouretschen Hauptbads benutzten, genötigt, sich an den Außenthüren zu versammeln und hier, den Unbilden der Witterung preisgegeben, ihrer Stunde zu harren. Jetzt hat die Königliche Badeverwaltung der rühmlichst bekannten Stuttgarter Architektenfirma Eisenlohr und Weigle den Auftrag gegeben, den Thouretschen Bau in dieser Richtung zu reformieren, und Baurat Weigle hat diese Aufgabe in ausgezeichneter Weise gelöst. Von der östlichen Gangflur gelangte man früher in einen Hof, der an drei Seiten mit Gängen umgeben war, die von schlanken Säulen getragen waren. Der Hof selbst, mit einem Springbrunnen in der Mitte, befand sich unter freiem Himmel und wurde jahrzehntelang nur zu allerlei Verrichtungen der Dienerschaft benutzt. Diesen für weitere architektonische Ausgestaltung äußerst dankbaren Raum erkor sich der Baumeister für den zu schaffenden Warteraum, und er setzte es auch durch, daß er unter Opferung zweier Fürstenbäder ein groß angelegtes Vestibül zu demselben schaffen konnte (s. die Abbildung S. 545), wofür er durch Anlage von vier neuen Fürstenbädern im Anschluß an den Warteraum doppelten Ersatz bot. Auf diese Weise hat der Thouretsche Bau erst seine volle Ausgestaltung bekommen, indem eine Hauptachse durch das ganze Gebäude gezogen wurde. Im Anschluß an die Thouretschen Formen ist auch der Neubau in maurischem Stil, aber reicher, prachtvoller ausgeführt. Das Vestibül gliedert sich in drei Teile, je mit besonderem Oberlicht: der obere Teil der Seitenwände ist in Arkaden aufgelöst und durch Spiegel der Schein weiter Seitenräume hervorgerufen. Der Warteraum selbst (siehe Abbildung S. 541) ist mit Glas gedeckt, der Säulengang rundum vervollständigt. Das Ganze ist in einem weißlichen Grundton gehalten, die Säulen in der Farbe des gelblichen Sieneser Marmors, die Kapitelle, Bogen und Zwickel in reichem farbig getönten Stil. Die Umgänge haben eine zweieinhalbmeterhohe Verkleidung in farbiger Marmorinkrustation. Der Fußboden in Marmormosaik hat ein schönes Muster in Dunkelgrau, Weiß und Rot. Gleichzeitig konnte mit dem Neubau noch eine andere Verbesserung durchgeführt werden: das ganze Gebäude, in dem bisher eine Treibhausluft herrschte – die Wildbader Therme hat Blutwärme, daher der Volksmund sagt: Gerade recht wie ’s Wildbad –, hat jetzt eine für unser nervöseres Geschlecht unentbehrliche künstliche Ventilation durch Wasserdruckmotoren erhalten.
Unter den heurigen Besuchern Wildbads herrscht nur eine Stimme, daß durch diese Neuschöpfung abermals eine ganz wesentliche Verbesserung und Verschönerung erreicht ist, so daß dem modernen Kultur- und Luxusmenschen hier am Ort kaum etwas Weiteres zu wünschen übrig bleibt. Was aber würde der alte „Greiner“ für Augen machen, wenn er, der Beschwörung Uhlands folgend, „aus seinem Sarge bräche und aus Stuttgarts üppigem Thale durch die luftigen Wälder reitend heute nach seinem Wildbad käme, zu waschen und zu strecken den narbenvollen Leib?“ An seiner Lieblingsstätte,
„wo aus dem Felsenspalt
Am heißesten und vollsten der edle Strudel wallt.“
fände er jetzt ein „Nobelbad“, das nicht bloß seinen luxusverfeinerten königlichen Enkeln, sondern auch deren wohlbegüterten Unterthanen gerade nobel genug erscheint.
[544]
Roman von Ernst Eckstein.
(12. Fortsetzung.)
Am folgenden Tage bei schon tief stehender Sonne klomm Doktor Ambrosius schweren langsamen Schrittes die Holzstiege nach seiner Wohnung hinan. Er kam vom Siechbett des todkranken Magisters Franz Engelbert Leuthold, der in den wütendsten Phantasien nach seiner herzlieben Hildegard schrie und zwischendurch wehleidig klagte und winselte oder im Fieberwahn längst zurückliegende Scenen seiner Wittenberger Vergangenheit durchlebte, unruhige Auftritte, Verhandlungen mit feindseligen Amtsbrüdern und Vorgesetzten, ein wahres Chaos nie zu schlichtender sinnloser Verwicklungen.
Doktor Ambrosius war jetzt mit seiner Kraft vollständig zu Ende.
Die lang ausgedehnten Besuche bei dem unglücklichen Vater hatten ihn ebenso aufgerieben wie das fruchtlose Nachsinnen über die Rettung der Tochter. Tag und Nacht hatte er unter Vernachlässigung aller sonstigen Pflichten unaufhörlich gegrübelt und Pläne entworfen, ohne sie doch bei näherem Zusehen für ausführbar zu halten. Auch eine dreistündige Unterredung mit dem Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, der so reich an Ideen war, hatte zu keinem Ergebnis geführt. Ja, wenn sich das alles um etliche Monate später ereignet hätte, dann wär’ es wohl anders gewesen! Ehe der November ins Land zog, war der vielfach erörterte Handstreich wider den Landgrafen Otto möglicherweise geglückt, Balthasar Noß mit seinen furchtbaren Helfershelfern hinweggefegt und Glaustädt als reichsunmittelbares Gemeinwesen anerkannt. Es war nicht zum erstenmal, daß so der Kaiser eine vollendete Thatsache guthieß, wenn sie ihm nur durch beredte Wortführer klar und in der rechten Beleuchtung dargestellt wurde. Die Kerker, die mit den Opfern des Hexenirrwahns gefüllt waren, hätten sich bei einer solchen Wendung ohne Verzug aufgethan. So aber, wie die Dinge jetzt lagen, schien jeder Versuch eines Kampfes mit Balthasar Noß aussichtslos. Die Sache der großen Verschwörung war noch nicht reif, und mit der bloßen Faust konnte selbst der Mut der Verzweiflung die städtischen Wachtposten und die Mauern des Stockhauses nicht über den Haufen werfen.
Völlig niedergedrückt von all diesen Seelenqualen, betrat Doktor Ambrosius gegen halb Acht das zweifenstrige Mittelzimmer. Er setzte sich vor den Eßtisch, warf sich breit mit dem ganzen Oberkörper darüber und brach in lautes, leidenschaftliches Schluchzen aus.
Da fühlte er auf seiner zuckenden Schulter eine sanfte Hand. Emporschauend, blickte er in das blasse Gesicht Elmas.
„Um Gott,“ stammelte sie bewegt, „liebster Herr, was fehlt Euch? Verzeiht nur, daß ich hereinkam! Aber Ihr hörtet nicht. Ihr weint! Jesus, mein Heiland, das ist so herzzerreißend!“
„Du gutes Kind! Selbst leidest du Kummer und Elend genug – und findest noch eine so liebe Art, mich zu trösten!“
„Ach, ich!“ versetzte Elma, indes ihr die Augen feucht wurden. „Wenn mir’s gegeben wäre, Euch wirklichen Trost zu bringen – das wäre wohl für mich selber der größte Trost. Aber was vermag ich? Ich lebe nur so dahin und komme mir vor wie ein sündhaftes Geschöpf, weil ich noch atmen und essen und trinken kann, während doch meine geliebte Mutter …“
Nun hub sie an, stürmisch zu wehklagen und sich rückhaltlos ihrem Jammer zu überlassen. Ihr armes Mütterchen lag ja beinahe im Sterben, so grausam hatten die Blutrichter ihr zugesetzt. Elma wußte es von dem Stockhausarzte, dem die Opfer der Folter überwiesen wurden, wenn sie nicht mehr vernehmungsfähig waren. Ihr armes Mütterchen befand sich jetzt in der Siechenabteilung. Rudloff, der Altgeselle, hatte den Arzt nochmals gefragt, ohne etliche Wochen sorgsamer Behandlung würde sie das nächste Verhör nicht überstehen.
Doktor Ambrosius erhob sich. Beim Anblick dieser hilflosen Verzweiflung vergaß er für kurze Minuten sein eigenes Elend. Er zog das Kind an sich wie ein treusorgender Vater, der sein Töchterchen gegen die Rauheiten des Unwetters in Schutz nehmen will. Ihr Kopf lag wie versunken an seiner Brust, während ein wildes Erschauern den zarten Körper krampfhaft durchschüttelte.
„Ach,“ sagte sie dann, durch ihre Thränen emporlächelnd, „wie thut das wohl, bei einem treuen Freund sich ausweinen zu dürfen! Mein Freund – – das seid Ihr doch? Beim Vater zuck’ ich mit keiner Wimper. Da getrau’ ich mich nicht …“
„Ist denn der Vater so unwirsch?“
„Das nicht. Aber ich meine, wenn er mich trauern sieht, das erhöht nur seine eigene Qual! Und er leidet entsetzlich. Bei Tag freilich – da geht er mitunter einher, als ob gar nichts geschehen wäre. Er arbeitet und spricht mit den Leuten und ordnet an und befiehlt. Obschon ich ja doch merke, daß ihn das Weh keinen Augenblick losläßt. Aber bei Nacht! Das ist nicht zu beschreiben! Ich höre oft stundenlang, wie er sich schlaflos in den Kissen herumwälzt. Und dann betet er laut, und die Zähne schlagen ihm hart wider einander. Oder er stößt Verwünschungen aus und gräßliche Drohungen.
„Drohungen?“
„Ja. Gegen die Blutrichter. Euch kann ich’s ja sagen … Ihr verratet uns nicht.“
Doktor Ambrosius nahm sich vor, den Zunftobermeister, der seit einiger Zeit mit in der großen Verschwörung war, ernstlich zu warnen und ihm schon jetzt durch Elma einen wohlmeinenden Wink zu geben. Die Spione der Blutrichter zählten nach Hunderten. Selbst in den eigenen vier Pfählen und zu nachtschlafender Zeit war niemand recht davor sicher, daß nicht ein unvorsichtiges Wort aufgefangen und heimtückisch hinterbracht wurde.
„Dein armer Vater sollte doch seinen gerechten Zorn meistern. Drohungen, die du sogar im Nebenzimmer verstehst, sind hier lebensgefährlich. Wenn ich du wäre, sagt’ ich ihm das.
Elma brach von neuem in Thränen aus.
„Ich will’s ihm vorhalten,“ meinte sie schluchzend. „Ja, Ihr habt recht. Man kann ja nicht wissen. Gleich über ihm schlafen die drei Gesellen. Gott, ach Gott, wenn ich auch noch den Vater verlöre! Das einzige, was mir auf Gottes Welt bleibt!“
Doktor Ambrosius küßte sie auf die Stirn. „Sei ruhig, mein Kind!“ sagte er liebevoll. „Noch ist ja wohl nichts versehen! Und jetzt weine nicht mehr! Geh! Mach’ wieder ein frohes Gesicht! Freilich, uns beide nimmt das Schicksal hart genug in die Schule … Da verlernt man das Lachen.“
„Uns beide! Ach wohl! Das war’s ja! Ich ging draußen vorbei und wollt’ in die Bodenkammer. Da hört’ ich Euch stöhnen. Und wie ich nun komme, sprech’ ich von meinem eigenen Leid. Und frag’ Euch gar nicht, was Euch so schwer bedrückt, und ob es in meiner Kraft steht, Euch beizuspringen. Aber das ist ja gewiß schon ungebührlich, daß ich nur so was denke. Wie soll ich unkluges, armseliges Ding Euch helfen können?“
Er setzte sich wieder und zog sie freundlich zu sich heran.
„Nein Elma,“ sprach er mit trüber Stimme und legte den Arm liebreich um ihre Schulter, „helfen kannst du mir nicht! Aber es labt und erquickt mich doch, daß du dich so getreulich um deinen Freund härmst! Und obgleich du noch ein so kleines Mädchen bist, sollst du jetzt doch erfahren, was mich zu Grunde richtet. Du bist reif über dein Alter. Gewiß und wahrhaftig, Elma, ich habe hier niemand, dem ich so ganz ohne Rückhalt mein Herz ausschütten möchte wie dir.“
„O, das ist gut von Euch! Ja, Ihr habt recht! Wenn man so furchtbar gelitten hat, ist das genau, als ob man ein paar Jahre länger gelebt hätte. Ich bin jetzt gar nicht mehr die lustige, übermütige Elma von einst. Ich denke so viel an den Tod … Manchmal erschrecke ich über mich selbst. Also erzählt mir nur alles!“
„Kind, zu erzählen giebt es da blutwenig. Es handelt sich nur um ein einziges schwerwiegendes Wort. Und das will ich dir anvertrauen. Du bewahrst es in deinem Herzen als dein tiefstes Geheimnis. Es wäre nicht gut, wenn es die Welt jetzt erführe. Dir aber sag’ ich’s mit Freuden.“
Sie schaute ihm still und erwartungsvoll in das Antlitz. Er beugte sich nahe zu ihrer aufglühenden Wange.
[545]
[546] „Du hast schon gehört, Elma, daß über den wackeren Magister Engelbert Leuthold das nämliche Unglück hereingebrochen ist wie über euch. Man hat ihm die Tochter, das liebste, herrlichste Mädchen von ganz Glaustädt, plötzlich ins Stockhaus geschleppt – unter der gleichen Anklage wie deine gute Mutter …“
„Ja, das hab’ ich gehört,“ flüsterte Elma.
„Nun, siehst du, mein Kind, diese Hildegard, dieses himmlisch süße Geschöpf, steht mir so nahe wie niemand sonst … Sie hat sich mir anverlobt. Sie sollte mein Weib werden. Verstehst du nun?“
Elma blieb eine Weile hindurch regungslos. Nur ihre Wimpern tropften wieder von schwer quellenden Thränen. Aber sie schluchzte nicht. Als sie dann wieder aufblickte, lag über ihrem bleichen Gesicht ein merkwürdiger, fremdartiger Glanz.
„Eure Braut also,“ sagte sie traumverloren. „Wie muß sie glückselig sein in all ihrer Not, da Ihr sie doch so von Herzen lieb habt! Ihr aber … Freilich, das ist ein Elend, nicht auszudenken!“ Sie faltete ihre schmalen Hände.
„Herr Doktor Ambrosius, wenn Euch das trösten kann, ich will für sie beten. Mit aller Gewalt will ich’s dem lieben Gott abringen. Nicht wahr, es steht doch geschrieben. Unser Gebet vermag viel, wenn es standhaft ist …? Es gilt ja doch Euer ganzes zukünftiges Glück! Und seht Ihr, für Euch könnt’ ich gleich alles thun, alles! Ja, schaut mich nur an! Es ist so! Ihr seid so gütig gewesen – gleich von der ersten Minute an! Und Ihr habt dem Vater so liebevoll zugesprochen in seiner Trostlosigkeit! Ob Ihr’s nun glaubt oder nicht. Um Euretwillen könnt’ ich zu den Blutrichtern sagen: ‚Hier, nehmt mich anstatt der Hildegard Leuthold! Die ist nicht schuldbefleckter als ich und noch dazu eine junge glückliche Braut!‘ Nicht wahr, Doktor Ambrosius, wenn ich das thäte, und die Richter nähmen das an, und die Hildegard Leuthold würde dann Eure Frau, dann hättet ihr beide mich lieb auch über das Grab hinaus und hieltet mich Aermste in freundlichem Andenken?“
„Du bist eine treue Seele! Ja, ich glaube dir, Elma, daß du einer so rührenden Selbstlosigkeit fähig wärest. Du hast das Herz dazu und den Mut … Aber ich sitze hier und verträume die kostbare Zeit! Wahrhaftig, das Herzeleid ohne Hoffnung macht auch den Tapfersten lässig. Wenn ich nur wüßte, wenn ich nur wüßte …! Irgend etwas muß doch geschehn, und wär’ es selbst die krasseste Thorheit!“
Nun schob er die Kleine sanft von sich weg. Es war ihm ein Einfall gekommen. Im Rechtsstaat hätte ihm dieser Gedanke zuerst auftauchen müssen. Unter dem Druck des Blutrichtertums hatte er ihn als vollständig aussichtslos noch nicht in Betracht gezogen. Auch jetzt drängte sich ihm die Sache nur auf als ein Mittel, um möglicherweise eine Verschleppung herbeizuführen. Dieses letzte Mittel war die Beschreitung des Rechtsweges. Und wenn er auf diesem Wege auch nur halb so viel Zeit gewann wie in dem Fall der Brigitta Wedekind durch die leider jetzt ausgeschlossene Beeinflussung des Doktor Xylander – es mußte versucht werden. Vielleicht gab die Gesetzgebung doch irgend etwas an die Hand, was man bei geschickter Verwertung als Hemmschuh benutzen konnte. Hierzu jedoch bedurfte man eines Rechtskundigen. Sofort dachte er an den kleinen Notar Rolf Weigel. Die Gewandtheit und Schlagfertigkeit des Mannes war stadtbekannt …
Doktor Ambrosius erhob sich. „Leb wohl, Kind! Ich muß noch hinaus, ehe es Nacht wird.“
„Wollt Ihr nicht erst einen Imbiß nehmen?“ fragte ihn Elma fürsorglich. „Es geht schon auf Acht.“
„Nein, ich danke! Höchstens vielleicht einen Tropfen Milch. Wenn du mir den reichen könntest … Oder halt! Gieb mir einen Trunk Wasser! Die Kehle verdorrt mir, aber ich mag nichts, was Nahrung heißt.“
„Da thut Ihr unrecht. Vater genießt auch so entsetzlich wenig. Und er wird hohläugig.“
„Geh nur!“
Während sie ihm drunten am Hofbrunnen den irdenen Krug füllte, trat er ins Nebengemach und nahm einen dreischneidigen Dolch von der Wand, der da in braunlederner Scheide über dem Bett hing. Die Waffe stammte aus seiner Studentenzeit in Bologna, wo er sie bei sich zu tragen pflegte, wenn er Ausflüge ins Gebirg machte. Vorsichtshalber steckte er diesen Dolch zu sich. Der nächste Weg zu dem Notar führte durch ein abseits gelegenes Viertel über den alten Johannisfriedhof, und man konnte nicht wohl voraussagen, wie lange die Unterredung mit Weigel dauern würde. Ambrosius war seit den Vorkommnissen der letzten Tage ängstlich und mißtrauisch. Er witterte überall drohendes Unheil, Angriffe und heimlichen Ueberfall.
Nach zwei Minuten kam Elma wieder die Treppe herauf. Sie bot ihm ein Glas, das er auf einen Zug leer trank.
„So! Und nun fort! Ich nehme den Schlüssel mit – für den Fall, daß es heut’ spät wird. Laß mir nur ja am Hausthor den Riegel auf!“
„O, ich lege mich nicht, eh’ Ihr zurück seid.“
Fiebernd im Drang seiner erneuten Hoffnung rannte Doktor Ambrosius durch die Gassen und Gäßchen des winkligen Hainviertels und dann quer über den längst außer Gebrauch gestellten Johannisfriedhof nach dem Haus des Notars.
Rolf Weigel war jetzt eben von seinem Abendspaziergang heimgekehrt und saß nun allein in der niedrigen Wohnstube, deren schlicht wertvolle Einrichtung den besten Geschmack verriet. Alles war hier gediegen und prunklos – von dem schwerwuchtigen Ebenholzschrank mit den zwei mächtigen Rundsäulen bis zu der vornehmen altenglischen Wanduhr, deren metallene Zeiger durch die bläuliche Dämmerung mattgolden herüberblinkten.
Rolf Weigel, der neulich bei der Lustspielaufführung in der städtischen Waldschenke den jungen Arzt und Hildegard Leuthold beobachtet hatte, wußte sofort, was Doktor Ambrosius wollte. Er führte den Gast höflich in das anstoßende Schreibzimmer, setzte zwei Kerzen in Brand und rückte ihm einen Korbsessel heran, während er selber dicht vor dem Ofen Platz nahm und den graumähnigen Kopf in stummer Erwartung wider die grünlichen Kacheln lehnte. Mit einer artigen Handbewegung lud er den späten Besucher zum Sprechen ein.
„Ich bin der Verzweiflung nahe!“ begann Ambrosius. „Ihr, mein hochwürdigster Herr Notarius, seid meine letzte Zuflucht.“ Rolf Weigel senkte ein wenig die hohe Stirn, aber er sagte nichts. Doktor Ambrosius fuhr in herzklopfender Aufregung fort.
„Ganz Glaustädt weiß, unter welch krasser Beschuldigung die Tochter unseres allverehrten Freundes Engelbert Leuthold ins Stockhaus geschleppt worden ist. Ich kann mich also hier kurz fassen. Alles, was ich zu sagen habe, besteht in der Bitte. Helft! Rettet! Leiht mir Euren juristischen Rat, wie ich dies furchtbare Schicksal bekämpfen soll! – Mir vor allen Glaustädtern kommt es zu, für Hildegard einzutreten, zumal jetzt, wo ihr Vater lebensgefährlich erkrankt ist. Ich mache Euch kein Geheimnis daraus, daß ich im stillen mit Hildegard Leuthold versprochen bin … Und nun dieser gräßliche Eingriff! Teuerster Herr Notar! Giebt es nicht eine Möglichkeit, dem drohenden Unheil hinterrücks in den Arm zu fallen? Irgend ein Glaustädter Landesgesetz, eine halbvergessene Verordnung, eine verwertbare Glosse? Der kleine Notarius schüttelte schwermütig den Kopf. „Ich fürchte, nein!“ sagte er seufzend. „Erwägt nur eins: das Malefikantengericht des Balthasar Noß ist ein Ausnahmetribunal, wie ja die Hexerei überhaupt als crimen exemptum gilt! Das allerhöchste Dekret hat den Zentgrafen mit so ungewöhnlichen Vollmachten ausgerüstet, daß er kühnlich von sich behaupten kann: Ich bin ebenso souverän wie der Landesherr!“
„Aber das widerstrebt doch jeder gesunden Vernunft!“ rief Doktor Ambrosius, außer sich. „Selbst dem Straßenräuber und Mörder wird doch ein Rechtsbeistand zugesellt, der alles zusammenträgt, was seinen Schützling entlasten kann.“
„Freilich, freilich! So will’s schon die peinliche Gerichtsordnung Karls des Fünften. Aber der „Hexenhammer“ und seine Ausleger haben hier eine gar üble Wandlung geschaffen. Im Hexenprozeß gilt jetzt nachgerade der Grundsatz, daß ein Verteidiger die Wahrheit notwendig verdunkeln müsse, dieweil er unmöglich ein guter Christ sein könne. Der Blutrichter läßt sogar die Vermutung gelten, wer als Rechtsbeistand für Zauberer und Hexen eintrete, der liebäugle selber mit Satanas und sei von ihm zum Nachteile der Gerechtigkeit inspiriert.“
„Unglaublich!“
[547] „Der Trugschluß ist allerdings haarsträubend. Aber was wollt Ihr? Einsicht und Logik dürft Ihr ja doch bei den Anhängern dieser abscheulichen Praxis überhaupt nicht voraussetzen. Und nun vollends hier unter der Schreckensherrschaft des Noß! Was frommt ein mattes Beschönigen! Wir sind vollständig rechtlos! Die Vertretung der Stadt läßt uns elend im Stich. Im Rathaus überwiegen die Elemente, die teils vor Noß jämmerlich zittern, teils sein tollwütiges Treiben aus Ueberzeugung begünstigen. Kunhardt, der Bürgermeister, ist zwar ein guter, wohlwollender Mensch, aber ein Schwächling. Kurz, die Zustände sind geradezu himmelschreiend.
Doktor Ambrosius ließ das Kinn schwer auf die Brust sinken. Nach einer Pause hub der Notar wiederum an:
„Das Reichskammergericht zu Wetzlar hat ja neuerdings auf eingelegte Beschwerden hin mehrfach die Verweigerung eines Verteidigers auch beim Hexenprozeß für unstatthaft erklärt. Das Unglück wollte jedoch, daß die Verfügungen des hohen Gerichtshofes immer zu spät kamen. Die Malefikantenrichter – und namentlich unser Balthasar Noß – haben ein sehr schnelles Verfahren, während die Herren zu Wetzlar … Nun, Ihr kennt ja wohl sattsam den Wetzlarer Schneckengang.“
„Ja ums Himmels willen, hat eine solche Beschwerde denn nicht aufschiebende Kraft?“
„Sie sollte es haben – jeder Billigkeit und Vernunft zufolge. Aber da giebt’s ja leider Gottes Winkelzüge und Ausflüchte genug. Besonders in Glaustädt-Lich, wo sich das Tribunal der wärmsten Fürsorge der Landesregierung erfreut. Und das ist ja die uralte Not in Deutschland: die Fürsten der einzelnen Territorien machen sich gerne so frei als möglich von dem lästigen Gängelbande des Reiches. Mit einem Wort – es ist wenig Aussicht vorhanden, die dauernde Beigebung eines Rechtsbeistands durchzusetzen, und noch weniger Aussicht, daß diese Beigebung – wenn sie wirklich erreicht wird – auch von Erfolg gekrönt ist.
Doktor Ambrosius blickte erregt auf. Mit sämtlichen Einzelheiten stand ihm jetzt ein Fall vor der Seele, den ihm vor etlichen Wochen der gelehrte Jurist aus dem Dernburgschen, Herr Theodor Welcker, mitgeteilt hatte. Dem Scharfsinn und der Rastlosigkeit eines Notars zu Fulda sollte es im Vorjahr geglückt sein, den Malefikantenprozeß eines Buchdruckers monatelang hinauszuziehen, bis es dann möglich ward, durch kunstvoll hergestellte Verbindungen die Gnade des Landesherrn anzurufen. So fand auf allerhöchsten Befehl eine ganz neue Beweisaufnahme statt, deren Ergebnis – ein Treffer unter zehntausend Nieten – die vollständige Freisprechung und Wiedereinsetzung in das beschlagnahmte Eigentum war.
Doktor Ambrosius erzählte das. Der kleine Notar hörte ihm schweigend zu. Er drehte sein langes eisernes Lineal zwischen Daumen und Zeigefinger und nickte zuweilen wie einer, der nachsinnt. „Die Sache ist mir bekannt,“ sagte er endlich. „Ein Fall, der schon aus rein technischen Gründen auf unsere Glaustädter Verhältnisse keine Anwendung leidet. Je mehr ich’s bedenke, um so fester bin ich davon überzeugt, diese Methode würde hier gleich im Beginn scheitern. Die Glaustädter Gerichtsverfassung läßt die meisten von Euch erwähnten Kunstgriffe gar nicht zu – ganz abgesehen von der hochfahrenden Willkür der Blutrichter. Nur ein einziges Mittel wüßte ich noch, um Zeit zu gewinnen. Ein Mittel, das allerdings durchaus nicht ohne Bedenken wäre …“
„Sprecht!“ rief Doktor Ambrosius aufatmend.
„Nun, man müßte die Verwahrung an das Reichskammergericht erst nach erfolgter Verurteilung einreichen.“
„Wieso? Nach erfolgter Verurteilung …?“
Die Verwahrung nach Fällung des Urteils hindert nämlich unbedingt die Vollstreckung. Und zwar höchst wahrscheinlich auf lange hinaus. Es sei denn, daß die Blutrichter sich der Gefahr aussetzen wollten, unnachsichtlich an Leib und Leben gebüßt zu werden. Der Notar, der einem Verurteilten diese Verwahrung zum Unterzeichnen vorlegt, steht unmittelbar unter dem Rechtsschutz des Kaisers. Bis das Reichskammergericht entschieden hat, darf der Zentgraf dem Verurteilten nicht ein Haar krümmen. Das wäre Aufruhr und Hochverrat und könnte den Landesherrn in arge Verlegenheit bringen. Wenn Ihr denn also wirklich glaubt, es sei für Euch und die Beschuldigte wertvoll, daß die Sache verschleppt wird …“
„Aber dann müßte doch Hildegard einräumen, was man ihr schuld giebt! Denn sonst …! Was hülfe zuletzt ihre Befreiung, wenn sie vorher …“
Der Gedanke an das fürchterliche Gespenst der Folter ließ ihm das Wort auf der Zunge ersterben.
Rolf Weigel verstand ihn. „Ein Geständnis müßte sie freilich ablegen,“ sagte er langsam. Darüber sind wir doch längst im klaren: ob sie gesteht oder leugnet – für den Ausgang ihres Prozesses bleibt sich das vollkommen gleich. Durch eine rasche Bejahung alles dessen, was ihr das Tribunal vorhält, erspart sie sich nur die grauenhafte Mißhandlung.
Doktor Ambrosius sprang hastig empor. Er stürzte ans Fenster, dessen geöffnete Halbscheibe die taufrische Nachtluft hereinließ. Er war wie betäubt. Sein Kopf glühte. Es brauste ihm grell in den Ohren.
„Aber das ist ja unmöglich!“ rief er, stürmisch zurückkehrend. „Vor allem: wer soll ihr die nötigen Winke erteilen? Ihr anraten, was Ihr da vorschlagt? Und wenn selbst – wird sie der Weisung gehorchen? Nicht vielleicht gar eine Falle darin erblicken? Und dann – Ihr kennt sie ja nicht! Sie ist zwar ein weiches, hingebungsvolles Geschöpf, aber so stolz und stark! Sie hält vielleicht ein unwahres Geständnis für eine Selbsterniedrigung, für einen sündhaften Verrat am Heiligsten!“
„Man muß ihr das eben begreiflich machen! Wir leben in Zeitläufen, die auch das Ungewöhnlichste rechtfertigen. Beruhigt Euch, Herr Doktor! Ich will morgen am Tag den Versuch machen, sie persönlich zu sprechen. Nein, seid nicht gar zu verzweifelt! Ich handle hier nicht nur als Rechtskundiger, sondern als Freund des wackeren Magisters, als Freund Hildegards und – gestattet mir’s! – auch als der Eure. Die mannhaft verständige Art, mit der Ihr den Stab brecht über das ganze fluchwürdige Institut, hat Euch mein Herz gewonnen. Wenn alle Glaustädter Bürger so dächten wie Ihr und ich, dann wäre das Nest dieser scheußlichen Raubvögel bald ausgehoben. Hier meine Hand! Was wäre der Mensch noch wert, wenn nicht das Alter einmal die Todesgefahr mißachten sollte um der frischblühenden Jugend willen! An mir, Herr Doktor, ist nichts weiter gelegen! Ich verspreche Euch also, mit Aufbietung all meiner Kräfte für Euch und Eure Hildegard einzutreten. Ich bin nicht so ganz ohne Einfluß. Ich werde mir Zutritt in ihr Gefängnis verschaffen. Ich werde ihr klar auseinandersetzen, um was es sich handelt und wie Ihr gerechnet habt. Und ebenso übernehme ich’s, ihr demnächst die Verwahrung zu unterbreiten – und müßt’ ich noch auf dem Richtplatz die Henker zur Seite stoßen.
Doktor Ambrosius umarmte den kleinen buckligen Mann unter Thränen.
„Ich dank’ Euch von ganzer Seele,“ sprach er gerührt. „Ich wußt’ es ja gleich, als ich zum erstenmal Euch ins Auge sah, daß wir Gesinnungsgenossen sind und heimliche Waffenbrüder. Hoffentlich kommt noch einmal die Zeit, da wir uns freimütig zu unserer Meinung bekennen dürfen. Bis dahin schweigen und dulden wir!“
„Und ersetzen durch spürende Klugheit die offene That,“ murmelte Weigel.
„Ein schlechter Ersatz! Nun erst fühl’ ich, wie tief Glaustädt gesunken ist! Aber das schwör’ ich Euch beim Grab meines Vaters, wenn unser Plan fehlschlägt“ – (er dachte hierbei halb an den Plan der Verschworenen halb an den Plan des Notars) – „dann soll dieser Bluthund seinen Triumph nicht erleben! Ich steche ihn über den Haufen wo ich ihn finde und wär’s im Gotteshaus, das er durch seine Gegenwart so schmachvoll besudelt! Ich schwör’ es, ich schwör’ es!“
Er streckte wild schüttelnd die Faust empor.
„Mäßigt Euch und verratet Euch nicht!“ mahnte Rolf Weigel. „Auch diesen Landverderber wird einst sein Schicksal ereilen. Gott ist gerecht und allweise, wenn auch die Menschen in Thorheit wandeln.“
Geraume Zeit noch saß Doktor Ambrosius mit Rolf Weigel in flüsterndem Zwiegespräch. Erst kurz vor Elf nahm er von dem Notar Abschied. Ganz zerwühlt von der qualvollen Herzensangst um die Geliebte und zitternd vor Ingrimm über die rohe Gewaltherrschaft des Zentgrafen, schritt er langsam hinaus in die mondklare Sommernacht.
[548]
Wie man vor hundert Jahren reiste. Einen klassischen Beitrag zum deutschen Reisewesen am Ende des vorigen Jahrhunderts bildet der folgende, vom kais. Rat Bretschneider in Ofen an den gelehrten Buchhändler Nicolai in Berlin gerichteter Brief. Nicolai war damals im Begriff, eine große Reise durch Deutschland anzutreten, und hatte seinen vielgereisten Freund Bretschneider um Rat gefragt, wie er von Regensburg nach Wien – heute ungefähr 8 Eisenbahnstunden – am besten gelange. Bretschneider antwortete u. a. „Sie werden freilich bei der Reise zu Wasser das Angenehme nicht finden, was Sie sich versprechen, allein es schadet nichts, daß Sie es auf die Probe ankommen lassen. Alle Sonntage geht ein Ordinari-Schiff von Regensburg nach Wien das etwa, wenn der Wind nicht konträr ist, Donnerstag Vormittag in Wien ankommt. Auf diesem zahlt die Person mit Bagage einen Dukaten und wenn Sie einen Wagen haben, etwa zwei Gulden Reichsmünzen für denselben besonders, das sage ich Ihnen aber im Voraus, daß Sie mit dieser Gelegenheit unbequem fahren, keine Kajüte für sich allein haben und sicher Ungeziefer mit nach Wien bringen. Doch weil Sie auch in litterarischer Absicht reisen, so würden Sie auf der anderen Seite viele Volkslieder sammeln können, denn auf diesem ordinären Fahrzeug, auf dem der Handwerksbursch und Tagelöhner bloß für seine Arbeit am Ruder mitgenommen wird, fehlt es niemals an Bettelbuden, ungarischen Krummholzträgern und anderen feinen Herren und Weibern resp. Sängern. Wollen Sie aber ein eigenes Schiff nehmen, das würde Ihnen 12 bis 15 Dukaten kosten. Aber das Beste, was Sie thun können, ist Folgendes. Schicken oder gehen Sie selbst zu dem bayrischen Schiffsmeister Keller, welcher zu Stadt am Hof, jenseit der regensburger Brücke wohnt. Dann zahlen Sie nur 35 Gulden Reichsmünzen, oft, wenn mehrere Personen mitgehen, noch weniger, ja ich bin sogar einmal für 12 Gulden mitgefahren. Dieser Mann nimmt sogleich ein besonderes Schiff und fährt in dritthalb Tagen nach Wien. Das waren etwa die Umstände einer Reise, die man jetzt in weniger als 10 Stunden für 14 bis 22 Mark zurücklegt. Bw.
Elefantenschildkröten im Hamburger Zoologischen Garten. (Mit Abbildung.) Reisende, die im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert den Indischen oder den Stillen Ocean befuhren, melden von riesigen Land-Schildkröten, die sie in zahllosen Scharen auf einigen einsam im Weltmeer liegenden Inselgruppen angetroffen hatten. Die Galapagos-, d. i. Schildkröteninseln, vulkanische Inseln im Stillen Ocean südlich nahe dem Aequator, sind die eine dieser Gruppen; im Indischen Ocean waren es die Maskarenen mit Reunion, Mauritius und Rodriguez, die Seychellen und das einsame Koralleneiland Aldabra, wo man damals Schildkröten in so großen Mengen antraf, daß sie während vieler Jahre erwünschten Proviant für die dort landenden Schiffe lieferten.
Damals waren diese Inseln von Menschen noch nicht bewohnt, und an Raubtieren, die unseren Reptilien hätten gefährlich werden können, fehlte es auch gänzlich. So kam es denn bei der Langlebigkeit der Tiere und bei dem Ueberfluß an Nahrung, den sie überall fanden, ganz von selber, daß ihre Zahl von Jahr zu Jahr wuchs und schließlich ins Ungeheure anstieg. Leguat schrieb im Jahre 1691 von der Insel Rodriguez „Es giebt dort so viele Schildkröten, daß man zuweilen zwei- bis dreitausend von ihnen in einer Herde vereinigt sehen und mehr als hundert Schritte weit auf ihren Rücken gehen kann.“ Infolge der Nachstellungen seitens der Schiffer und Ansiedler schmolz jedoch die Zahl der Schildkröten rasch dahin, so daß es heute auf den obengenannten Inseln des Indischen Oceans nur noch wenige mehr giebt. Die Riesenschildkröten der Inseln des Indischen Oceans und die der Galapagosinseln gehören einer eigentümlichen Gruppe von Landschildkröten an, die durch einen lang vorstreckbaren Hals und durch eine gleichförmig dunkelbraune oder schwarze Färbung ohne jede Abzeichen ausgezeichnet ist, der Rückenschild ist wie bei allen Landschildkröten stark gewölbt.
Fast jede größere Inselgruppe und jede bedeutendere Insel beherbergt oder beherbergte eine besondere, durch wenig auffallende Merkmale ausgezeichnete Art. So kommt es, daß man etwa zehn noch heute lebende und fünf bis sechs ausgestorbene Arten Riesenschildkröten zählt. – Von den beiden Elefantenschildkröten, Testudo elephantina Gthr. in deren Besitz der Hamburger Zoologische Garten durch die Güte des Herrn Dr. Aug. Brauer in Marburg gekommen ist und die aus der Gefangenschaft von den Seychellen herstammen, gehört die größere zu den allergrößten ihrer Art; ihr Rückenschild mißt in gerader Linie 1 m 24,5 cm, über die Wölbung aber 1 m 55,5 cm in der Ruhe, d. h. wenn sie nicht auf den Beinen steht, ist sie 60 cm hoch. Sie stimmt demnach mit den beiden größten Schildkröten, die in Museumssammlungen aufbewahrt werden, in den Maßen fast genau überein, das Britische Museum besitzt ein Stück von 49 Zoll engl. = 1 m 24,5 cm, das Tring Museum des Baron Walter Rothschild ein anderes von 49½ Zoll = 1 m 25,7 cm Länge. Bei ihrer Ankunft in Hamburg wog die größere der beiden auf unserer Zeichnung dargestellten Aldabraschildkröten 431 Pfund. Das kleinere Tier ist geradlinig 93,5 cm, über die Wölbung 128,5 cm lang, es wog bei seiner Ankunft gerade 300 Pfund.
Die Schildkröten kamen nach der Seereise in Hamburg sehr ausgehungert an und zeigten darum eine erstaunliche Freßlust. Sie haben nämlich in den ersten 32 Tagen zusammen 1225 Pfund Weißkohl, d. h. täglich durchschnittlich 38¼ Pfund gefressen. Dementsprechend war auch ihre Gewichtszunahme, die bei der größeren Schildkröte etwa 1 Pfund für den Tag betrug.
In ihrer Heimat nähren sich die Aldabra- und anderen Riesenlandschildkröten von Gras und Kräutern verschiedenster Art, in der Gefangenschaft erhält man sie mit Weißkohl, Mohrrüben, Salat und Gras. Dr. Heinrich Bolau.
Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 32/1897 ]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.