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Die Gartenlaube (1897)/Heft 30

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[501]

Nr. 30.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
(10. Fortsetzung.)
17.

Als sich Herr Adam Xylander kurz vor ein Uhr zu Tisch setzte, war er mit seinen Gedanken schon vollständig bei dem Vorverhör, dem er heut’ nachmittag die Inkulpatin Hildegard Leuthold unterwerfen wollte. Ueberhaupt hatte die Angelegenheit dieser Neuverhafteten das Interesse Xylanders an dem Prozeß der Wedekind stark beeinträchtigt. Er schlürfte die braune Mehlsuppe unter fortwährendem Ueberlegen der Anklagepunkte – besonders der nächtlichen Scene am Kreuzweg zwischen der alten Haardt und der Grossachbrücke, wo der Verfasser des Denunziationsbriefes die Leuthold beobachtet haben wollte, wie sie den Namen Xylander und allerlei gräßliche Fluch- und Zaubersprüche hervorstieß. So lebhaft bohrte er sich in diesen Vorstellungskreis ein, daß ihm die ohnehin schwach entwickelte Eßlust vollends verging.


Entwurf für ein Nationaldenkmal der Völkerschlacht bei Leipzig.
Von Bruno Schmitz.

[502] Außer der Mehlsuppe genoß er nur einen kleinen Löffel gedünsteter Mohrrüben. Das Bratfleisch, das Bertha ihm sorgsam vorschnitt, erfüllte ihn mit plötzlichem Widerwillen.

„Ich kann nicht!“ rief er empört und schob klirrend den Teller zurück. „Laß mich doch endlich in Ruhe mit deinen albernen Mästversuchen! Ich trage höheres Verlangen als diese Fütterung, die nur den Grabwürmern zu gute kommt.“

Nun sprang er empor.

„Das war schon wieder die gottverfluchte Stimme der Unholdin!“ rief er entsetzt. „Noch aus der Haft heraus stört mir die Hexe den Frieden und sucht mich irre zu machen an Gott und mir selbst! Ruhig, ganz ruhig! Um keinen Preis darf sich ein ehrlicher Richter je zur Gehässigkeit und Rachsucht verleiten lassen! Aber ich wollte doch, Herr Balthasar Noß wäre zurück, um hier die Führung mir abzunehmen! Ich bin auch nur ein Mensch mit warmem Blut in den Adern!“

Bertha Xylander gab sich die größte Mühe, den angstvoll erregten Mann zu zerstreuen und abzulenken. Aber umsonst. Ihren freundlichen Rat, doch eine Weile zu schlafen, wies er höhnisch zurück.

„Schlaf’ du, wenn dir ein Dämon im Nacken sitzt! Eh’ diese Bosheit nicht aufhört, komm’ ich nicht über das heimliche Zucken und Krampfen hinaus! Das frißt mir schon wieder am Herzen wie eine Giftschlange. Ach, die verwünschte, heimtückische Teufelsbuhlin!“

Schlag halb Drei – kurz bevor seine Nichte das Haus verließ, um sich am Brunnen im Bürgergarten mit Doktor Ambrosius zu treffen, – schritt Adam Xylander fiebernd vor Unrast und Eifer durch das grauschwarze Thor des Gerichtsgebäudes. Obgleich noch Zeit war, ging er nicht erst, wie sonst, in den Eigenraum, sondern betrat ohne Verzug die Haupthalle, wo er in stummer Erwartung auf dem buckelbeschlagenen Präsidentenstuhl Platz nahm.

Fünf Minuten danach kam der Beisitzer Doktor Holzheuer; ihm folgten in kurzen Zwischenräumen die Schöffen und der Gerichtsschreiber. Die Folterknechte waren für diesmal beurlaubt.

Adam Xylander schlug nun dreimal auf die große kupferne Handglocke. Die Thüre der Inkulpatin öffnete sich. Hildegard Leuthold, von zwei Rutenknechten begleitet, trat im Glanz ihrer Jugendschöne, hoheitsvoll und kindlich zugleich, über die Schwelle. Ihr Anblick flößte selbst dem nahezu siebzigjährigen Wolfgang Holzheuer etwas wie aufquellende Wärme und Sympathie ein. Die Schöffen vollends und der Gerichtsschreiber hatten das dunkle Gefühl, als müßten sie aufspringen, um sich in Ritterlichkeit und Demut vor dieser lieblichen Königin ihres Geschlechts zu verneigen. Nur Adam Xylander warf ihr einen tief mißtrauischen und feindseligen Blick zu.

Hildegard Leuthold war jetzt vollständig ruhig. Der erste Schreck war gewichen. Ihr Vertrauen auf das Ansehen und den Einfluß ihres vergötterten Vaters hatte sich nach und nach wieder so sehr gefestigt, daß sie nun kaum noch zweifelte: ehe der Abend sank, würde sie ihre Freiheit zurückerlangt haben. Wie ihr Vater dies Wunder vollbringen sollte, davon hatte sie allerdings keine Vorstellung.

„Ihr seid Hildegard Leuthold, die Tochter des weiland kursächsischen Magisters Franz Engelbert Leuthold?“ begann der Präses in kaltem Geschäftston.

„Die bin ich! Und als die Tochter dieses allgemein geachteten Mannes möchte ich fragen, was Euch veranlaßt, mich in so beschimpfender Art aufgreifen und hierher vor Gericht schleppen zu lassen? Denn ich weiß von den Häschern, daß Ihr, Herr Doktor Xylander, in eigner Person meine Verhaftung befohlen habt.“

„So? Ihr kennt mich?“ gab Xylander zur Antwort. Ein unheimliches Lächeln zuckte um seinen bartlosen Mund. „Das stimmt ja vollständig mit dem überein, was ich selber seit vielen Wochen an mir gespürt habe und was auch sonst Euch unzweideutig zur Last gelegt wird. Ihr kennt mich, Hildegard Leuthold, und habt einen lästerlichen, abscheulichen Haß auf’ mich geworfen, dieweil ich der unversöhnliche Todfeind aller Zauberer und Hexen bin. Doch das beiläufig! Meine Persönlichkeit soll hier ganz und gar außer Betracht bleiben. Dem ehrlichen, schwurtreuen Richter gilt es allein die Sache – und was Ihr in Eurer Tücke mir selber zugefügt habt, ist überhaupt nur der geringere Teil Eures Verbrechens. Was ich hier feststellen will, ist die gewichtige Thatsache, daß auch Ihr mir bekannt seid. Ja, ich erkenne Euch wieder, Hildegard Leuthold! Vor Gott und meinem Gewissen. Ihr seid die boshafte Verfolgerin, die mich fast schon zu Grunde gerichtet hat!“

Er setzte dem Tribunal kurz auseinander, um was es sich handelte. Dann strich er sich mit gespreizten Fingern über das mißfarbige Haar und nickte tief überzeugt vor sich hin. Der halb schon beginnende Irrsinn, der unheimlich hinter den kleinen rastlosen Augen funkelte, hatte ihm eingeredet, die weiche, volltönige Stimme Hildegards sei die nämliche, die ihm bei seinen krankhaften Sinnestäuschungen so gespenstisch im Ohre klang. Das allein schon genügte. Ihm stand es nun unumstößlich fest, daß Hildegard Leuthold all der widersinnigen Unthaten schuldig war, deren sie von dem ungenannten Angeber und der gefolterten Wedekindin bezichtigt wurde.

„Ich verstehe Euch nicht,“ stammelte Hildegard. „Sagt mir, ich bitt’ Euch, in klaren bestimmten Worten, wer mich hier anschuldigt, und was ich sonst noch gethan haben soll! Das mit der Stimme, die Ihr gehört haben wollt, mag wohl auf Siechtum Eures Gehirns beruhen. Am Kreuzweg zwischen der alten Haardt und der Grossachbrücke bin ich im Leben noch nicht gewesen. Stellt mir doch den Verleumder gleich gegenüber! Ich will ihn der Lüge zeihen. Ich will sehen, ob er den Mut hat, mir ins Gesicht seine Verruchtheiten zu wiederholen.“

„Wenn ich Euch raten soll, Inkulpatin, so mäßigt Ihr Euch. Der Beschuldiger ist das erlauchte Tribunal selbst. Aus welcher Quelle es schöpft, danach zu fragen, steht Euch kein Recht zu.

„Kein Recht? Aber ich muß doch wissen …“

„Nichts müßt Ihr wissen, als was ich Euch mitzuteilen für gut finde. Hört jetzt, welcher sonstigen Uebelthaten Ihr auf Grund glaubhafter Zeugnisse dringend verdächtig seid. Zuvor aber ermahne ich Euch, mich durch keinerlei Gegenrede oder sonstige Ungebühr unterbrechen zu wollen! Wenn ich zu Ende bin, dann – aber nicht früher – habt Ihr das Wort! Inzwischen bedenkt Euch, ob Ihr nicht Eure Sache durch ein offenes, reumütiges Geständnis vereinfachen und für Euch hoffnungsvoller gestalten wollt!“

Er las nun mit etlichen Kürzungen die Denunziation vor, sowie das Erforderliche aus dem „Geständnis“ der Wedekind.

Hildegard Leuthold hörte ihm zu wie versteinert. Die Art und Weise des Blutrichters hatte vorhin schon ihre kaum erst erstarkte Zuversicht wieder zum Wanken gebracht. Jetzt vollends, da er mit so unheimlich starrem Ernst diese scheußlichen und dabei doch so lächerlich unsinnigen Dinge gegen sie vorbrachte, stockte ihr fast der Atem.

„Inkulpatin,“ frug Adam Xylander, indem er das Protokoll zuklappte, „bekennt Ihr Euch schuldig? Oder wollt Ihr die Schwere Eures Verbrechens durch Ableugnen erhöhen?“

Hildegard schwieg einen Augenblick. Es schien furchtbar in ihr zu arbeiten.

„Das, das hätte die Wedekind ausgesagt?“ fuhr sie dann plötzlich heraus.

„Hier steht’s in den Akten.“

„So ist sie verrückt – oder Ihr habt diese Unwahrheit in sie hineingefoltert!“

Adam Xylander schmunzelte wie ein Mann, der sich so recht im Gefühl seiner geistigen Ueberlegenheit sonnt. Er strich mit den Fingerspitzen das schmale, bartlose Kinn und sagte von oben herab:

„Weshalb beschränkt Ihr Euch nur auf die Wedekind? Wenn Ihr denn leugnen wollt, warum übergeht Ihr in Eurem Protest die vernichtenden Anklagepunkte, die sich hier aus dem Briefe ergeben?“

„Warum? Weil ich zur Not noch begreifen kann, daß irgend ein boshafter Schurke hinterrücks mich verunglimpft! Aber wie es die fromme Brigitta über das Herz bringen kann, sie, die gute, gläubige Christin, der ich doch nie was zu Leide gethan … O, es ist jammervoll, wie tief Eure Grausamkeit auch die edelsten Menschen erniedrigt!“

[503] „Also – Ihr leugnet.“

Hildegard richtete sich jetzt hoch auf. Noch einmal raffte sie all ihren Stolz, all ihre seelische Kraft zusammen.

„Herr Doktor Xylander,“ sprach sie mit fester Stimme, obgleich es um ihren lieblichen Mund zuckte und flimmerte, „Ihr, ein Mann von so großer Gelehrsamkeit und so vielfältigen Geistesgaben, seht Ihr nicht ein, daß diese ganze schmachvolle Anklage nur die Ausgeburt eines wahnwitzigen Aberglaubens, einer krankhaften Einbildung ist? Wie? Ich, ein menschliches Wesen von gesunder Vernunft, sollte Gott meinen Herrn verleugnen und Jesum Christum, den getreuen Erlöser, der mir die Seligkeit in den Fluren des Paradieses erkauft hat? Verleugnen um irdischen Tandes willen und mit dem klaren Bewußtsein, hierdurch den Mächten der Finsternis und der Verworfenheit anzugehören, zeitlich und ewiglich? Und ich, ein vom Vater treugehütetes Kind von neunzehn Jahren, ich sollte in schandbarer Liebe entbrannt sein für den Abschaum der Hölle, für ein scheußliches, ekelerregendes Ungetüm? Zumal ich doch längst schon im stillen einem höchst ehrbaren, klugen, tapferen, bewunderungswürdigen Manne zugethan bin? Erschreckt Ihr nicht vor dem handgreiflichen Widersinn dieser gräßlichen Anklagen? Das Reich Gottes ist lieblich, und Christo dienen, das lockt jedweden mit unsagbarem Zauber! Gießt man den goldnen Wein fort, um giftgrünes Sumpfwasser zu trinken? Wird eine gute Tochter dem geliebten Vater davonlaufen, um sich dem pestbeuligen Satanas in die Arme zu werfen? O und diese schmutzigen Lustbarkeiten auf dem Herforder Steinhügel! Nur die Verworfenheit selbst kann so Greuliches ausklügeln, in Wahrheit ist das alles einfach unmöglich. Es giebt keine Hexen! Es giebt keine Zauberer!“

„Ihr hört es, liebwerteste Herren Collegae! Inkulpatin leugnet die Wahrheit des Teufelspaktes! Herr Secretarius, vermerkt das, bitte, im Wortlaut! Es giebt keine Hexen! Es giebt keine Zauberer! Diese Ableugnung wiegt schwerer als alles andere! In den Annalen von Glaustädt ist das wohl bis heute nicht vorgekommen.“

„So habt Ihr niemals die Schriften des Friedrich Spee gelesen?“ rief Hildegard mit wachsendem Ueberzeugungseifer. „Hier freilich in Glaustädt sind sie ja längst verboten. Aber in Wittenberg waren sie jedem zur Hand, der ihrer begehrte, und sie haben ein gut Teil dazu beigetragen, den Blinden das Licht zu geben. Ich bitt’ Euch, Herr Malefikantenrichter, lest diese Schriften. Gewiß werdet Ihr dann einsehen, welch traurigem Wahnsinn Ihr so zahlreiche Opfer schlachtet!“

„Ihr beleidigt das Tribunal!“ schrie Adam Xylander außer sich vor Entrüstung. „Hätt’ ich mir nicht gelobt, Euch bis zur Rückkehr unseres hochwürdigen Zentgrafen Balthasar Noß völlig zu schonen, bei Gott dem Allmächtigen, ich ließe Euch krumm schließen! Geht jetzt! Vielleicht kommt Ihr im Dunkel des Kerkers zu besserer Einsicht. Beim Klirren der Ketten erwacht mitunter die Reue. Ihr dürft nicht glauben, daß man Euch glimpflich behandeln wird, bloß weil Ihr die Tochter eines so vornehmen hochgeachteten Mannes seid. Die Gerechtigkeit trägt eine Binde über den Augen, und die Pflicht steht uns höher als jede sonstige Rücksicht. Uebermorgen wird Herr Balthasar Noß zur Stelle sein. Verharrt Ihr dann bei Eurer Verstocktheit, so wird er schon Mittel und Wege finden, Euch mürbe zu machen. Die Folter ist eine Zungenlöserin ersten Ranges.

Hildegard taumelte.

Ihr letzter Mut war bei den unheildrohenden Worten des Malefikantenrichters zu Grabe gegangen. Die Rutenknechte führten sie lautlos ab.

In der Gerichtshalle herrschte für Augenblicke ein tiefes Schweigen.

„Schade um sie!“ murmelte endlich der alte Beisitzer Wolfgang Holzheuer. „Ich sah nie ihresgleichen.“

„Das ist’s ja eben!“ fuhr Adam Xylander auf. „Ich bin fest überzeugt: eh’ sie der Satan verlockte, war sie die Reinheit, Unschuld und Frömmigkeit selbst. Aber je herrlicher seine Opfer, um so tollkühner macht ihn der Sieg. Und wenn so die teuflische Pestilenz um sich greift … O, Zeiten! O, Sitten! Stehen wir fest, liebwerte Collegae! Der allergnädigste Landesherr blickt vertrauend auf uns als die erprobtesten Stützen der Wahrheit und der Gerechtigkeit! Wir dürfen uns nicht durch falsches Mitleid beirren lassen! Und dazu stärke uns Gott! Amen!“

Er faltete seine hageren Hände und schloß die Augen. Ein heißes, ungeheucheltes Flehen stieg aus dieser verfinsterten Seele nach oben und färbte die eingefallenen Wangen mit dem Rot brünstigster Andacht. Der eine der Schöffen seufzte. Der Beisitzer Wolfgang Holzheuer aber nickte in stummer Ergebenheit vor sich hin.

Das Malefikantengericht schritt nunmehr zu einer weiteren Verhandlung, die gleichfalls von Adam Xylander ausgenutzt wurde, um bei dem Angeklagten, einem fahrenden Schüler, schwere Indicien gegen Hildegard Leuthold zu sammeln.

Unterdessen ward Hildegard selbst, die man bei ihrer Einlieferung zunächst in die ziemlich geräumige Wachzelle im Obergeschoß gesperrt hatte, nach dem Kerker der Malefikanten gebracht. Derselbe lag in dem rechten Flügel des Stockhauses und bestand aus einigen dreißig niedrigen Räumen, die zum Teil fast ganz ohne Licht waren. Ein dämmeriger Korridor, der nach dem Treppenbau mit einer starken eisernen Thür verschlossen war, lief zwischen den beiden Gelaßreihen her. Vor diesem Korridor saß bei Tag und bei Nacht ein bewaffneter Kerkermeister, einer von elf Uhr vormittags bis zum Abend, der zweite von elf Uhr abends bis früh. Links befand sich ein kleiner Raum für die Hellebardiere, die sich hier bis zum Schluß der Gerichtssitzung aufhalten mußten, um die Verhaftete je nach den Anordnungen des Tribunals vorzuführen.

Sinnlos vor Aufregung machte Hildegard Leuthold bei der eisernen Thür Halt.

Der Kerkermeister, ein düsterer, langbärtiger Mann von etlichen dreißig Jahren, nahm sie stumm in Empfang. Sein blasses, verschlossenes Gesicht hatte in der fahlen Beleuchtung, die von oben her durch eine Art Schießscharte in den winkligen Raum fiel, etwas Gespenstisches. Wie er Hildegards Namen hörte, blickte er noch verstimmter und mürrischer drein. Er nickte und legte ihr dann, ohne ein Wort zu sprechen, um Füße und Arme die schon bereit gehaltenen stählernen Ketten an. Die Rutenknechte brummten etwas und entfernten sich. Etliche von den Hellebardieren kamen aus ihrem Gelaß hervor, wo sie gewürfelt hatten, und glotzten die Gefesselte neugierig an. Der Kerkermeister schien diese Leute nicht wahrzunehmen. Er packte die halb leblose Hildegard über dem Handgelenk, schloß die eiserne Thür auf und schob sein Opfer hinein. Vom Sims der unregelmäßigen Steinwand holte er eine trüb flackernde Messinglaterne herab, denn der Korridor hatte kein Tageslicht.

„Vorwärts!“ sagte der Mann kurz und geschäftsmäßig.

Das war das erste Wort, das ihm seit Hildegards Ankunft über die Lippen ging.

Von außen bereits hatte das unglückliche Mädchen seltsame Geräusche gehört, die beinahe wie aufbrausendes Sturmgeheul oder entferntes Brüllen und Pfeifen klangen. Jetzt begriff sie, was dieser eigentümliche Lärm war: ein wildes Gemach von Jammern und Weinen und Wimmern, von Fluchen und Beten, das bald emporschwoll und bald in dumpfer Erschöpfung sich legte, das Elend der Eingekerkerten. In den Gelassen da rechts und links stöhnten Dutzende von menschlichen Wesen, einzelne darunter mit grausam zerbrochenen Gliedern, kaum der notwendigsten Pflege teilhaftig, alle von gräßlicher Angst und Seelenqual bis zum Wahnwitz gepeinigt.

Hildegard hatte bei diesen Schreckenslauten den Eindruck als ob ihr das Mark jählings zu Eis gefriere. Jetzt glaubte sie an die Obmacht der Hölle. Die Hölle aber hieß Erde, und die Dämonen, die dort regierten, waren Teufel in Menschengestalt.

Der Kerkermeister brachte sie nach der äußersten Zelle rechts, einem kleinen viereckigen Raum, der – wie der Platz vor der Korridorthür – durch eine schmale vergitterte Maueröffnung unter der Decke ein spärliches Licht bekam. Das war noch ein großer Vorzug; die meisten der Malefikantenzellen hatten nur einen Luftschornstein und blieben selbst bei hochstehender Sonne vollständig dunkel.- Am Boden lag ein Gebund Stroh. Daneben ein schleißender Wollteppich, man konnte nicht recht erkennen, ob grau oder schmutzig. Auf dem dreibeinigen Schemel stand ein mit Wasser gefüllter Krug.

[504]

Die bergischen Bauern in der Schlacht bei Worringen.
Nach dem Gemälde von Peter Janssen.

[505] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [506] Und nun fiel die schwerwuchtende Eichenthür krachend ins Schloß, die Riegel schoben sich mit mattem Gekreisch vor, die Schritte des Kerkermeisters verhallten.

Hildegard war allein mit ihrer hilflos schauernden Todesangst.

18.

Balthasar Noß war von seiner Geschäftsreise ins Kurmainzische heimgekehrt. Daß diese sogenannte Geschäftsreise nur der leichtfertigen Demoiselle Haricourt galt, die jetzt mit der Zählerschen Truppe in dem kurmainzischen Marktflecken Böhlhausen spielte und dort bessere Gelegenheit fand, sich ihrem neuen Beschützer und Gönner zu widmen, als in Glaustädt, das ahnte nicht einmal die dralle blühende Bärbel, die trotz ihrer ländlich naiven Beschränktheit nicht ohne Scharfblick war, sobald es sich um zärtliche Abenteuer ihres Herrn und Gebieters handelte.

Es war heute Sonntag. Der Ritt aus dem Kurmainzischen her hatte fünf Stunden in Anspruch genommen. Punkt Sechs war Herr Balthasar Noß in Glaustädt eingetroffen, etwas ermüdet zwar, aber doch sonst bei glücklichster Laune. Jetzt, gegen halb Acht, saß er in seinem wohligen Lehnstuhl am weitgeöffneten Fenster und schlürfte behaglich den duftigen schwarzroten Ingelheimer. Die „kalte Küche“, mit der ihn Bärbel empfangen hatte, war ganz vortrefflich gewesen. Die Erinnerung an das Zusammensein mit der bestrickenden Haricourt lag wie ein rosiger Abglanz über dem runden Vollmondsgesicht. Er machte – wie immer nach beendigter Mahlzeit – den Eindruck wunschloser Zufriedenheit und vollkommenster Seelenruhe.

Der Sessel stand etwas erhöht auf einem Tritt von rötlich gebeiztem Kirschbaumholz. Balthasar Noß konnte bequem den dreieckigen Stockhausplatz überblicken, wo jetzt ein frisches, buntfarbiges Treiben herrschte. Am Vormittag hatte es mäßig geregnet. Die Luft war für die Jahreszeit kühl und erquicklich. Aus der Richtung des Gusecker Thors kam eine immer wachsende Schar von Menschen vorüber, heimwärts steuernde Ausflügler und Spaziergänger. Balthasar Noß, die lange Thonpfeife im Mund, schien sich des wechselnden Bildes da drunten aufrichtig zu freuen. Wie er so strahlend und voll gemütlicher Neugier hinabschaute und namentlich die vorbeiwandelnden Frauen und Mädchen musterte, hätte wohl niemand in diesem gutgenährten Spießbürger den allgefürchteten Malefikantenverfolger und Blutrichter vermutet.

Da kam auch Frau Ada, die Ehewirtin des Stadtpfarrers Melchers, mit ihrer schwarzlockigen Tochter Margret. Neben den beiden schritt in kecker, auffallend modischer Tracht der blondbärtige Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck.

„Gotts Donner!“ dachte Herr Noß, „der Fuchs da hat keinen schlechten Geschmack! Er scheint das reizende Lachtäubchen gründlich aufs Korn zu nehmen! Die Frau Mutter lächelt und schmunzelt! Und die hübsche Margret schaut so kreuzverliebt zu ihm auf! Man könnte fast neidisch werden.“

Balthasar Noß ward sich jetzt klar darüber, daß er den hochnäsigen Woldemar Eimbeck nicht leiden konnte. Nur zwei- oder dreimal war ihm der Ratsbaumeister begegnet. Aber der Mensch hatte etwas Unsympathisches, Freches …

Erinnerte übrigens diese Margret Melchers nicht lebhaft an die berauschende Haricourt? Das heißt … natürlich … die Margret Melchers war eine Predigerstochter und eine Kleinstädterin! Aber so um die Augen … Was? Nein! Es fehlte ihr doch das eigentümliche Etwas, der unsagbar verführerische Reiz der Schauspielerin.

Und nochmals schweiften seine Gedanken zu der lustsprühenden, anmutsvollen Französin zurück, die er unter so schwierigen Umständen erobert hatte, denn Glaustädt war doch ein kleines Nest und er, der Zentgraf und Vorsitzer des Malefikantengerichts, durfte sich vor dem Urteil der Welt keine Blöße geben.

Balthasar Noß nickte vergnügt vor sich hin. Im stillen zollte er sich das uneingeschränkteste Lob. Wie meisterhaft er die Sache hier eingefädelt hatte und wie vortrefflich ihm alles gelungen war! Immer selbstzufriedener blickte er drein, immer glückseliger. Und da nun die Pfeife ausgeraucht war, legte er sie vorsichtig neben das halbvolle Glas mit dem schwarzroten Ingelheimer, schloß die Augen, faltete die fettglänzenden kurzfingrigen Hände über dem Bauch und fing leise zu schnarchen an.

Da kam die niedliche, dralle Bärbel und tippte ihn mit ehrfurchtsvoller Vertraulichkeit auf den Rücken. Sie trug ein hochrotes ländliches Mieder, das ihre vollen Arme bis an die Schultern freigab. Wie sie so vor ihm stand, ein bißchen zu klein vielleicht, aber doch kernig und frisch wie eine prächtige Klatschrose, da konnte Balthasar Noß ihr mit dem besten Willen nicht gram sein, obgleich sie ihn mitten aus einer lockenden Traumvision aufgeschreckt hatte.

„Ein vornehmer Herr ist draußen,“ meldete Barbara. „Es eilt, sagt er. Er muß Euch sprechen, Herr Zentgraf.“

„So spät noch?“

„Er läßt sich entschuldigen. Ihr wärt doch vor kurzem erst heimgekehrt. Bis morgen hätt’ er nicht warten können.“

„Hat er nicht seinen Namen genannt?“

„Doch. Aber ich hab’ ihn vergessen. Er ist ein Ratsherr und trägt sich gar fein mit Schleifen. Er sagt, daß er schon öfters mit Euch gesprochen hat.“

„So führ’ ihn herein!“

Balthasar Noß erhob sich. Der da im Rahmen der großen Mittelthüre erschien, war kein anderer als der Tuchkramer Henrich Lotefend.

Die beiden Männer begrüßten sich mit formvollster Höflichkeit.

„Verzeiht,“ hub Lotefend an, „wenn ich Euch lästig falle. Aber die Sache, in der ich komme, ist wichtig genug. Ich weiß nicht, Herr Zentgraf, ob Ihr Euch meiner erinnert. Ich lebe seit einiger Zeit äußerst zurückgezogen.

„Wie sollte ich nicht?“ erwiderte Noß verbindlich, denn die Dukaten des Tuchkramers erfüllten ihn mit aufrichtiger Hochachtung. Einen Mann wie Euch braucht man nicht zweimal zu sehen, um sich seine Persönlichkeit dauernd einzuprägen. Bitte, liebwerter Herr Lotefend!“

Er senkte den Kopf und wies auf den breiten Lehnstuhl, der auf der anderen Seite des Trittes dem seinigen gerade gegenüber stand. Während sich Lotefend setzte, ging Balthasar Noß zu dem kleinen Kredenztisch und holte dem vornehmen Gast eigenhändig ein Spitzglas. Die zweite Flasche, die ihm die sorgliche Bärbel nach Leerung der ersten hingestellt hatte, war noch nicht angebrochen.

Nachdem auch der Wirt Platz genommen, füllte er beide Gläser und sagte weltmännisch lächelnd zu seinem unerwarteten Gast: „Ich halt’ es für selbstverständlich, daß Ihr mir einen guten Schluck nicht von der Hand weist. Ingelheimer Auslese, Herr Ratsherr!“

„Nehme ich dankend an. Die Zunge klebt mir am Gaumen, Euer Hochgelahrter wird das nicht wundern, wenn Ihr erfahrt, in welch aufregender Sache ich hier bin.“

„Redet! Eure Gesundheit, Herr Lotefend!“

Beide Männer führten ihr Glas zum Munde. Der Tuchkramer leerte das seinige mit einem langen durstigen Zug. Während der Zentgraf ihm wieder eingoß, begann Herr Lotefend mit seltsam verschleierter Stimme.

„Ich komme wegen der Hildegard Leuthold. Vielleicht wißt Ihr noch nicht …“

„Doch, doch! Ich fand bei der Rückkehr von meiner Geschäftsreise ein Schreiben Xylanders vor, das mich von ihrer Verhaftung in Kenntnis setzt. Der Fall ist bedauerlich. Niemand zollt dem wackern Magister mehr Teilnahme als ich. Aber was kann ich thun?“

„Viel, Euer Hochgelahrten! Da ich von Eurer Abwesenheit gehört hatte, war ich heut’ vormittag bei Doktor Xylander und später bei Holzheuer. Beide haben mich gleichermaßen an Euch verwiesen …“

„Womit?“

„Nun, mit dem dringenden Ansuchen, das ich dem Tribunal unterbreiten wollte. Selbstverständlich kann es mir nicht im Traume beifallen, irgendwie Nachsicht für das Fräulein zu hoffen, dafern sie schuldig ist. Und nach dem, was ich von Doktor Xylander hörte, scheint ja leider ein fast niederschmetterndes Material gegen sie vorzuliegen. Immerhin könnt Ihr das verzweifelte Los der Unglücklichen milder gestalten und viel Schreckhaftes von ihr abwenden …“

„Wie meint Ihr das?“ frug Balthasar Noß lauernd.

„Seht, Herr Zentgraf … seit die Familie Leuthold nach [507] Glaustädt übergesiedelt ist, bin ich – ohne Ruhmredigkeit – wohl der beste und verwandteste Freund des Magisters. Was ich jetzt hier zur Ausführung bringe, das hätte ich ja unter allen Umständen gethan, auch wenn der Vater selbst für sein Kind hätte einstehen können. Nun aber liegt Herr Leuthold seit dem gestrigen Tag am Gehirnfieber ohne Bewußtsein danieder. Jetzt halt’ ich es doppelt für meine Pflicht …“

„Ihr macht mich neugierig.“

„Die Sache ist einfach genug. Natürlich, das Gesetz kennt kein Erbarmen. Die Schuld muß gesühnt werden. Nur möchte ich darauf hinwirken, daß die Beschuldigte nicht über das Maß des Notwendigen hinaus leidet. Ich möchte ihr, wenn es anginge, die Tortur ersparen. Und das glaub’ ich erreichen zu können. Seit ich bei Doktor Xylander war, bin ich ja leider Gottes von ihrer Schuld nahezu überzeugt. Ein offenes und rückhaltsloses Geständnis wird diese Schuld zwar nicht austilgen, aber doch wohl die Folter unnötig machen. Ich habe nun auf das Gemüt dieses Mädchens einen so starken, zwingenden Einfluß, daß ich mich dreist unterfange, ihren störrischen Sinn zu beugen und sie ehestens zur Vernunft und zur Buße zu bringen. Erlaubt mir also, daß ich allein oder doch höchstens im Beisein des Kerkermeisters mit der Verhafteten spreche. Diese Vergünstigung läuft ja den Zwecken des Tribunals durchaus nicht zuwider. Im Gegenteil. Und zum Dank dafür bin ich bereit, hier eine namhafte Summe zu hinterlegen, die Euer Hochgelahrten für irgend ein gutes Werk – vielleicht zur Entschädigung schuldlos torquierter und späterhin freigesprochener Häftlinge – aufwenden wollen.“

Die Stirn des Blutrichters hatte sich flüchtig umwölkt. Es kam ihm doch etwas unverhofft, daß es ein Glaustädter Bürger und Ratsherr wagte, ihn auf so wenig verhüllte Art zu bestechen. Die Phrase von der Entschädigung Schuldloser klang fast wie Hohn, dieweil sich ein Freispruch vor dem Glaustädter Malefikantengericht bisher nicht ereignet hatte. – Als aber Henrich Lotefend gute Frankfurter und Leipziger Wechsel herauszog, deren Betrag ein kleines Vermögen darstellte, löste sich diese kurze Beklemmung in vollste Genugthuung auf.

„Gut!“ sagte Herr Balthasar Noß mit erkünstelter Förmlichkeit. „Euer Verlangen hat nichts, was dem Gesetz widerstrebte. Wenn sich die Inkulpatin schuldig bekennt und alle Fragen reumütig beantwortet, dann waltet für uns allerdings kein Grund ob, zur Torquierung zu schreiten. Und daß Ihr, der Tochter eines verehrten Freundes, die Qual ersparen wollt, ist nur menschlich, edel und christlich. Wieviel Zeit gedenkt Ihr aufwenden zu müssen, um das verstockte Geschöpf mürbe zu machen? Nach den Mitteilungen Doktor Xylanders ist ihm noch keine begegnet, die so schroff und so hochfahrend alles geleugnet hätte wie diese Hildegard Leuthold.“

„Dem strengen Tone des Inquirenten mag sie wohl Trotz entgegengesetzt haben. Mir aber, dem treuen bewährten Freund, vor dem sie nie ein Geheimnis hatte, mir, des bin ich gewiß, widerstrebt sie nicht lange. Wenn Ihr mir zwei, drei Stunden vergönnt … Vielleicht an verschiedenen Tagen … Denn, wie das Sprichwort sagt: der Baum fällt nicht sofort auf den ersten Hieb.“

„Schön! Das soll Euch gewährt sein. Geduldet Euch einen kurzen Moment!“

Er nahm die beträchtlichen Wechsel vom Tisch und ging mit behäbiger Würde ins Nebenzimmer. Nach zwei Minuten kam er zurück und brachte dem Tuchkramer ein rot untersiegeltes Blatt.

„Hier“, sprach er, „da habt Ihr den Einlaß. Den braucht Ihr nur vorzuzeigen, dann öffnet sich Euch das ganze Stockhaus.“

„Auch heute noch?“ frug Henrich Lotefend.

„Zu jeder Zeit, bei Tag und bei Nacht.“

„Ich dank’ Euch, Herr Zentgraf! Gott soll’s wissen, wie mir das Schicksal des unglücklichen Magisters zu Herzen geht! Und das jungrosige Fräulein selbst …! Ein Jammer, daß sich der böse Feind so liebliche Opfer kürt!“

„Freilich, freilich!“ murmelte Balthasar Noß. „Er treibt’s nachgerade zum Schopfausraufen. Jetzt aber – genug! Und trinkt hier noch einen Schluck von dem Ingelheimer! Was hilft es, wenn sich der Mensch in Gram verzehrt? Das Leben ist kurz, und alles Geseufze ändert die Welt nicht!“

„Das sagt Ihr wohl!“ nickte Herr Lotefend. „Wenn man nur immer den Gram und die Sorge so abschütteln könnte!“

Er machte ein tief schwermutsvolles Gesicht.

„Wann hattet Ihr vor, die Beschuldigte aufzusuchen?“ fragte der Blutrichter.

„Eigentlich ohne Verzug. Aber nun fühl’ ich mich, offen gesagt, etwas zu angegriffen. Das kommt jetzt nach. Und dazu noch die Angst, Ihr könntet mich abschlägig bescheiden! So was drückt auf die Nerven. Ich denke, zuvor mach’ ich erst einen kurzen Erholungsgang. Die frische Luft soll mir aufhelfen! Gott, o Gott, was man nicht alles erlebt!

„Ja, ja, die Zeiten sind ernst! Ach, und glaubt mir, Herr Lotefend: keiner steht so mitten darin wie unsereins! Meint Ihr, es wäre für mich ein Leichtes, Tag für Tag in den Schrecknissen des Daseins zu wühlen? ‚Die Obrigkeit trägt das Schwert nicht umsonst!‘ – heißt’s in der Schrift. Dies Wörtlein ‚umsonst‘ hat für mich einen gar eigenartigen Sinn. Leider Gottes geschieht es ja in der That nicht umsonst! Ich verliere dabei mein Bestes: die glückliche Frohnatur und das Vertrauen auf den endgültigen Sieg des Guten. Ich bin ein schwer geprüfter, innerlich kraftloser Mensch, Herr Lotefend, was man auch sonst über mich reden mag! Und seht Ihr, daß ich Euch jetzt in der Sache der Leuthold gefällig sein konnte, ohne doch meine Pflicht zu verletzen, das labt mich und thut mir wohl wie ein Sonnenblick nach langwierigem Unwetter.“

„Elender Heuchler!“ dachte der Tuchkramer. Er selbst, Henrich Lotefend, heuchelte freilich auch, aber er spielte doch nur Komödie um seiner Liebe willen. Mit Balthasar Noß verglichen, kam er sich, trotz seiner selbstsüchtigen Grausamkeit gegen Hildegard, rein, würdig und edel vor.

Nach kurzer Frist nahm Lotefend Abschied. Als seine Schritte verhallt waren, begab sich der Blutrichter nochmals in das Nebengemach, wo er die Frankfurter und Leipziger Wechsel beiseite gelegt hatte. Er zog an dem eisenbeschlagenen Wandschrank die Schublade auf, nahm die bedeutungsvollen Papierstreifen langsam heraus, hielt sie gegen das Licht, prüfte und las, und nickte dann hochbefriedigt.

„Wenn er kein Ratsherr wäre!“ murmelte er mit teuflischem Lächeln.

Der Gedanke zuckte ihm durchs Gehirn, wie höchst ergiebig es sein müßte, diesen steinreichen Herrn Lotefend vor die Schranken des Tribunals zu fordern. Aber der Mann war ein Ratsherr! Allzu straff wollte denn doch selbst Balthasar Noß den Bogen seiner Malefikantenverfolgung nicht spannen!

(Fortsetzung folgt.)


Die Schlacht bei Worringen.

(Zu dem Bilde S. 504 und 505.)

Hell funkelten die Sterne in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1288 über der niederrheinischen Ebene, wo auf der Fühlinger und Worringer Heide – zwischen Köln und Neuß – zwei Heere einander gegenüber lagen, um in der Morgenfrühe loszuschlagen. Beide Teile blieben die Nacht unter den Waffen. Sie waren einander so nahe, daß man die Geräusche des einen Lagers deutlich in dem andern hören konnte –

„Daß die gestellten Posten fast vernahmen
Der gegenseit’gen Wacht geheimes Flüstern.
Die Feu’r entsprechen Feuern und es sieht
Durch ihre bleichen Flammen ein Geschwader
Des andern bräunlich überfärbt’ Gesicht.
Roß droht dem Roß, ihr stolzes Wiehern dringt
Ins dumpfe Ohr der Nacht; und von den Zelten,
Den Rittern helfend, geben Waffenschmiede,
Die Rüstung nietend mit geschäft’gem Hammer
Der Vorbereitung grauenvollen Ton.“

Die Lage der beiden Heerhaufen war ähnlich wie die der Engländer und Franzosen in der Nacht vor der Schlacht von Azincourt (25. Oktober 1415), die uns Shakespeare in den vorstehenden Versen [508] so anschaulich vorführt. Bei Worringen handelte es sich nun freilich nicht um das Geschick zweier mächtiger Reiche, sondern bloß um den Auftrag einer langwierigen Erbschaftsstreitigkeit, in die allerdings zuletzt eine ganze Menge von Dynasten verwickelt war. Die Geschichte kennt sehr viele wichtigere und größere Schlachten, aber kaum ist jemals in einer anderen so heroisch und zugleich erbittert gekämpft worden, wie in der Schlacht bei Worringen, in der sich beiderseits der „furor teutonicus“ in seiner grimmigsten Gestalt offenbarte. Zudem ist jener in alten Liedern und Sagen vielfach verherrlichte Kampf auch noch dadurch denkwürdig, daß die Entscheidung durch eine Schar mit Morgensternen und Sensen bewaffneter bergischer Bauern herbeigeführt wurde, die den in Eisenrüstungen gehüllten Rittern der feindlichen Streitmacht so übel mitspielte wie später die Schweizer Landleute bei Morgarten und Sempach den geharnischten Rittern Leopolds von Oesterreich. Dieser Sieg bezeichnet einen Hauptruhmestag in der Geschichte der rheinischen Städte Köln und Düsseldorf.

Die Worringer Schlacht entschied den Limburger Erbfolgestreit, der seit 1282 zwischen Rhein und Maas tobte und das ganze Land jämmerlich verwüstet hatte. Das Herzogtum Limburg, das in diesen Streitigkeiten den Zankapfel bildete, umfaßte die beiden jetzt zu Holland und Belgien gehörenden Provinzen Niederländisch- und Belgisch-Limburg und war unter eigenen Regenten ein Teil des Deutschen Reiches. Als im Jahre 1280 Walram, der letzte Sproß des ältesten Zweiges der Herzöge von Limburg, starb, ohne einen Sohn zu hinterlassen, da entspann sich zwei Jahre darauf der erbitterte Streit um die Erbschaft. Alle Wechselfälle dieses verheerenden Krieges zu verfolgen, würde zu weit führen, wer sie kennenlernen will, möge darüber in Herchenbachs und Reulands „Geschichte des Limburger Erbfolgestreites“ (Düsseldorf, Bagel) nachlesen.

Hier sei nur kurz erwähnt, daß zunächst des Verstorbenen Schwiegersohn, Graf Reinold von Geldern, als Erbe seiner inzwischen auch bereits aus dem Leben geschiedenen Gemahlin Irmengard, das Land beanspruchte. Dasselbe that Walrams Bruderssohn, Graf Adolf VII. von Berg, der aber sein Anrecht an Herzog Johann I. von Lothringen und Brabant, seinen Lehnsherrn, der ein gefeierter Turnierheld und Minnesänger war, für 32000 Mark verkaufte. Beide Teile sahen sich nach Bundesgenossen um. Graf Reinold gewann für sich in erster Linie den Erzbischof von Köln, Siegfried von Westerburg, einen stolzen und ehrgeizigen Kirchenfürsten, der einen mächtige Anhang besaß und fortan der eigentliche Führer des Kampfes auf dieser Seite wurde, ferner den Grafen Heinrich von Luxemburg mit seinen Brüdern, Adolf von Nassau und noch viele edle Ritter und Herren. Auf Herzog Johanns Seite standen nicht minder zahlreiche Bundesgenossen, vor allem Graf Adolf von Berg und die Bürger von Köln, die mit dem strengen Regiment ihres Erzbischofs schon lange unzufrieden waren. Jahrelang wütete der Krieg, zuerst in der Nähe von Aachen und Maastricht, später wurde namentlich das bergische Land schrecklich heimgesucht. 1387 kamen die gegen Johann von Brabant Verbündeten dahin überein, dem Hause Berg wegen des geschehenen Verkaufes die Nachfolge von Limburg abzusprechen und sie dem Grafen von Luxemburg, als dem Enkel des verstorbenen Herzogs Walram, zu übertragen. Graf Reinold von Geldern mußte sich damit zufrieden geben, daß man ihm bloß die Nutznießung ließ, dem Luxemburger aber, der ihm dafür indes 40000 Pfund Brabanter Denare zahlen sollte, das Erbrecht zusprach.

Im Frühjahr 1288 eröffnete Herzog Johann von Brabant den Krieg aufs neue, indem er in das Gebiet des Erzstiftes Köln einfiel und sich mit dem Heere der Kölner Bürgerschaft verband. Die Kölner verlangten, daß der Herzog ihnen zunächst beistände, die Zwingburg Worringen anzugreifen, die ihr Erzbischof am Rhein zwischen Köln und Neuß erbaut hatte, und Johann ging auch darauf ein.

Nun berief der Erzbischof schleunigst seine Verbündeten, denn er vermeinte, den Herzog und die Kölner, welche Worringen bereits belagerten, dort in einer Falle zu haben.

Er war des Sieges schon so gewiß, daß er einen ganzen Wagen, beladen mit Ketten und Seilen, mitführen ließ, um die Gefangenen damit zu fesseln. Die Grafen von Geldern und von Luxemburg entsprachen gleich den übrigen Herren auch ungesäumt seinem Rufe. Man vereinigte sich an der Erft und rückte dann gegen Worringen. Nun hob der Brabanter aber rasch die Belagerung der Feste auf und zog mit seiner ganzen Streitmacht dem Feind entgegen.

So lagerten denn wie oben geschildert, in der Nacht zum 5. Juni 1288 beide Teile einander dicht gegenüber auf der Fühlinger und Worringer Heide, und am anderen Morgen – es war ein Sonntag, und zwar das Fest des heilige Bonifacius – entbrannte die Entscheidungsschlacht.

Die Zahl der Streiter in beiden Heeren zusammen wird auf 55000 Mann geschätzt, doch war des Erzbischofs Macht wohl um die Hälfte stärker als die des Herzogs Johann, namentlich an Reiterei war er diesem überlegen, der dafür über mehr Fußvolk verfügte. Ein breiter, von tiefen Gräben eingefaßter Weg auf der Fühlinger Heide trennte die Heerhaufen. Hüben und drüben ordnete Erzbischof Siegfried und der Brabanter als Oberbefehlshaber ihre Schlachtordnung. Als die Heere aufgestellt waren, wurden die Fahnen und Standarten entrollt, Trommeln wirbelten, Trompeten schmetterten, und das Schlachtgeschrei scholl von beiden Seiten über die weite Heide.

Herzog Johann von Brabant rückte unmittelbar auf den Erzbischof los. Ritter Frank von Westfalen, der Führer seiner Brabanter, war der erste, welcher durch den trennenden, mit Wasser und Schlamm gefüllten Graben setzte und die Herzoglichen gegen die lanzentragenden Fußknechte des Kirchenfürsten führte.

Auf der ganzen Linie entbrannte jetzt der Kampf. Furchtbar war der Anprall, es wurde auf beiden Seiten mit ebensoviel Tapferkeit wie Ingrimm gestritten und immer lauter erscholl das Geklirr der Waffen. Inmitten des allgemeine Getümmels gab es Einzelkämpfe, welche an die Thaten der homerischen Helden vor Troja erinnerten. Graf Walram von Ligny, ein Bruder des Luxemburgers, fiel, dann auch dieser selbst, aber das mörderische Gemetzel währte bis in den Nachmittag hinein, ohne daß eine Entscheidung erfolgt wäre.

Die Junisonne brannte so heiß hernieder, daß schließlich auf beiden Seiten eine Unterbrechung des Kampfes eintrat, indem die in Schweiß gebadeten, vor Durst beinahe verschmachtenden Krieger kaum noch die Waffe zu führen vermochten.

Diese Pause nahm Graf Adolf von Berg wahr, der bisher eine weise Zurückhaltung beobachtet hatte. Dem kundigen Kriegsmann entging nicht, daß die Gegner im Vorteil seien, er hielt es deswegen für angemessen, jetzt mit frischen Streitkräften einzugreifen. Er ließ seinen Bauern den Befehl zum Vorgehen zukommen, da diese, obwohl nur mit Sensen, Keulen und nägelbeschlagenen Morgensternen ausgerüstet, schon längst mit Ungeduld erwarteten; sie waren förmlich grimmig darüber, daß man sie so lange harren ließ.

In diesem Augenblick hielt, wie die Chronisten des Tages melden, ein bergischer Mönch, mit Namen Walter Dodde, der zu Pferde die Bauern begleitete und großen Ansehens unter ihnen genoß, eine feurige Ansprache an sie und brach am Schlusse in das weithinhallende Schlachtgeschrei. „Berge roemrik!“ („Ruhmreiche Berger!“) aus. Hingerissen von der volkstümlichen Beredsamkeit des Mönches stimmte die Schar ein und wiederholte den Kriegsruf.

Diesen Vorgang giebt das große Gemälde des Malers Professor Peter Janssen in Düsseldorf, das unser Holzschnitt darstellt, in überaus markiger und packender Weise wieder. Es vergegenwärtigt uns lebhaft, wie der Funke kriegerischer Begeisterung von dem Mönche auf die Bauern überspringt und sie entflammt. Wie ein Ungewitter brachen sie alsdann los und hieben so wütend und ungestüm drein, daß sie zuerst zwischen Freund und Feind gar keinen Unterschied machten, weil sie die bergischen Ritter in ihren Rüstungen nicht von den brabantischen unterscheiden konnten. Sie schrieen unaufhörlich: „Berge roemrik, Berge roemrik!“ und hieben wie besessen mit ihren furchtbaren Waffen um sich, alles niedermachend, was ihnen in den Weg kam. Nur mit Mühe gelang es, ihren Eifer in die richtige Bahn zu lenken, dann aber wüteten die Sensen, Keulen und Morgensterne dermaßen unter den Feinden, daß die Erzbischöflichen zum Weichen gezwungen wurden. Bald gab es kein Halten mehr, die Flucht wurde allgemein. Vollendet ward die Entscheidung, als Erzbischof Siegfried selbst, nachdem sein Streitroß gefallen war, sich seinem Todfeinde Adolf von Berg ergeben mußte.

Der Graf ließ seinen Gefangenen vom Schlachtfelde unter starker Bedeckung nach dem am anderen Rheinufer gelegenen Dorfe Monheim führen, in dessen Kirche er die Nacht verbrachte. Die Fesseln, die er mitgeführt hatte, dienten jetzt dazu, seine Freunde und Bundesgenossen zu binden. Viele von den Verbündeten des Erzbischofs fielen in Gefangenschaft, unter ihnen auch Graf Reinold von Geldern und Adolf von Nassau; der künftige Kaiser; die siegreichen Brabanter blieben unbestrittene Herren des Schlachtfeldes.

Herzog Johann hatte persönlich mit der größten Tapferkeit gefochten und sein Leben wiederholt da eingesetzt, wo die Gefahr am größten war; auch seine Freunde und Verbündeten waren nicht hinter ihm zurückgeblieben, aber den letzten, entscheidenden Schlag hatten doch die bergischen Bauern geführt.

Die Gesamtzahl der Getöteten wird auf etwa 6000 beziffert, auch 4000 Pferdeleichen bedeckten das blutgetränkte Schlachtfeld. Die Gefallenen wurden in tiefen Gruben bestattet, die man auf dem Friedhofe des Dorfes Worringen aushob. Auf der Stätte, wo die Schlacht stattfand, wurde später eine Kapelle errichtet, die noch lange das Andenken jenes schrecklichen Ereignisses wachhielt.

Die Folge der Worringer Schlacht waren tiefgreifend. Gleich nachher wurde die Burg Worringen eingenommen, die sich jetzt nicht mehr halten konnte, und dem Erdboden gleichgemacht, was in Köln, wo man den siegreichen Brabanter jubelnd empfangen hatte, besondere Freude erregte.

Herzog Johann nahm alsdann Limburg in Besitz; den Grafen Reinold entließ er erst nach drei Jahren aus der Gefangenschaft, aber derselbe mußte ihm ein hohes Lösegeld zahlen, allen Ansprüchen auf Limburg entsagen und dem Herzog noch drei Städte abtreten. Erzbischof Siegfried wurde von dem Grafen von Berg in hartem Gewahrsam auf Schloß Burg gehalten; in voller Rüstung mußte er in der Haft ausharren, nur beim Essen wurden ihm Helm und Handschuhe abgenommen.

Seine Freiheit bekam der Kirchenfürst erst nach Jahresfrist, am 18. Juni 1289, wieder, nachdem er sich dem Grafen gegenüber verpflichtet, nirgend am Rhein von der Sieg bis zur Angermündung eine Burg oder Feste anzulegen und 12000 Mark Schadenersatz zu zahlen, und nachdem er auch mit den Bürgern seiner Stadt Frieden gemacht hatte.

In der ganzen Grafschaft Berg war der Sieg des Grafen Adolf mit Frohlocken begrüßt worden. Er und seine Gemahlin Elisabeth stifteten ein dauerndes Andenken an jenes wichtige Ereignis, indem sie am 14. August 1288 das bisherige Dorf Düsseldorf zur Stadt erhoben. Die städtische Gemäldegalerie in Düsseldorf hat deswegen auch Janssens Gemälde, das den entscheidenden Augenblick der Worringer Schlacht so packend wiedergiebt, für sich erworben. Fr. R.     


[509]

 Erste Schuld.

Den Stachel schmerzlichster Erinnerungen
Weckt mir ein Lied, das von des Tannichts Krone
In silberhellem, lautem Jubeltone
Erstmals an mein entzücktes Ohr gedrungen.

O Drosselsang! Oft bist du mir erklungen
Seit jener Zeit, doch nicht zu süßem Lohne –
Als ob ein Strafgericht dir innewohne,
Hast du mich stets zur Reue nur gezwungen.

Denn damals war ich auf den Baum geklommen
Und hatte keck – umsonst, daß ich’s verhehle! –
Dem Elternpaar die junge Brut genommen.

Seitdem mahnt jede frohe Drosselkehle
Mich an die Stunde, da zu Fall gekommen
Die noch von keiner Schuld befleckte Seele.
 Otto Braun.


Unter der Linde.

Novelle von Wilhelm Jensen.

      (Schluß.)

Alban Hartlaub ist in jener Nacht weiter gezogen und am folgenden Tage und viele Jahre hindurch, weit über Land und Länder. Sein rasch gesundeter Arm hätte ihm gestattet, schon am nächsten Morgen zu schreiben, doch er hat’s nicht gethan.

Wie nach dem Gefecht im Schwarzwald war er unter der Linde aufgestanden von einer Kugel getroffen, nur diesmal ins Herz. Darin hatte sie etwas getötet, das kein Leben wieder fand, doch sein Körper lebte fort und verlangte nach dem, dessen er bedurfte.

Der junge Philologe trug ein Wissen und Können in sich, das ihm auch in der Fremde Sicherung seines Daseins gewährte. Gleichgültig erfaßte er was sie ihm darbot; wie der Naturtrieb einen Verhungernden die Hand nach einer dürren Frucht am Wegrand strecken läßt, nahm er in einer schweizer Stadt eine Lehrerstelle an. Das Glück begünstigte ihn und er war tüchtig; was in ihm schmerzte, mühte er sich, unter rastloser geistiger Thätigkeit zu vergessen. Es gelang nicht, aber er klammerte sich an die Arbeit, hielt sich an ihr aufrecht und sie ward ihm zur hilfreichen Freundin.

Ein Mann von ungewöhnlich gewinnender Erscheinung war er; die auf ihn gerichteten Blicke der Frauen und Mädchen bezeugten es. Seine Vergangenheit als „Achtundvierziger“ umgab ihn mit einem romantischen Nimbus, sein still in sich gekehrtes Wesen übte besonderen Reiz. Er erteilte der Tochter eines reichen Hauses Unterricht, und ihm konnte nicht verborgen bleiben, daß sie mehr und mehr eine wärmere Empfindung für ihn hegte. Sie war schön und von feiner Bildung, das Verhalten der Eltern ließ keinen Zweifel an ihrer Zustimmung, eine glänzende Lebensaussicht breitete sich vor ihm aus. Doch eines Tages blieb er fort; statt seiner teilte ein Brief mit, daß er eine ihm gebotene Stellung in Italien angenommen habe und sie sogleich antrete. Das war der Wahrheit gemäß; rasch hatte er den Entschluß gefaßt und verließ noch am Abend die Stadt. Nur begab er sich noch nicht wirklich auf die Reise, erstieg vielmehr am nächsten Morgen einen der hohen Vorgipfel der weißen Firnzacken. Als er droben stand, dehnte sich unermeßlich unter ihm die Weite bis zu den bläulichen Höhen des Schwarzwaldes, langhin zog sich des Bodensees schimmernde Fläche. Alban suchte mit einem Fernrohr, da trat etwas schmal und schattenhaft aus der Ebene sich Erhebende ihm ins Sehfeld. Das war der Turm, in dem er drei Tage lang verweilt; vor den Augen stand ihm, wie wirklich gesehen, der Glockenraum, und er saß droben, auf dem Balken unter sich hinabblickend, wo an einem schaukelnden Seil ein Gesicht sich zurückbog, aus dem blauer Edelsteinglanz heraufleuchtete. So lange schaute er hin, bis vor dem ermatteten Auge alles formlos verschwamm, dann stieg er wieder den Berg hinunter. Und weiter zog er dem neuen Ziel in der Fremde entgegen, doch gleich seinem Schatten ging mit ihm sein Leid.

Und es verließ ihn nicht, Raum und Zeit hatten keine Macht darüber. Wohl brachte die Erfüllung der altvererbten deutschen Sehnsucht nach den Wundern des Südens es manchmal zu einem Einschlummern, doch der Kopf vermochte immer nur für eine Weile Herrschaft über das Herz zu gewinnen, das sein Leid unverloren und unverändert mit sich trug. Uebers Meer kam er nach Griechenland, Glück und Gunst verschwisterten sich, ihm die Wege zu bereiten – zu gewähren, wonach Tausenden vergeblich der sehnsüchtige Wunsch stand. In Athen ward ihm eine Stellung geboten, die alles in sich schloß, was er zur Befriedigung seines Geisteslebens begehren konnte, und ein Jahrzehnt hindurch nahm er sie ein. Ganz Hellas machte er sich vertraut, doch keine hellenische Frauenschönheit übte eine fesselnde Wirkung auf ihn. In dem deutschen Kreise, mit dem [510] er verkehrte, suchte und fand nun eine Erklärung dafür in der Annahme, daß er in Deutschland eine Braut besitze, und auf eine Frage, die einmal jemand darüber an ihn richtete, antwortete er kurz: „Ja.“ So ward nicht noch davon gesprochen.

Trägen Ganges, wie kaum sich weiter bewegend, schritt derweil die Zeit über Deutschland hin. Dann aber kam doch einmal ein frischerer Hauch, der sich zum belebenden Winde verstärkte – günstige Himmelszeichen verhinderten, daß er zum Sturm anwachse und ausartete. Wie alles im stetigen Kreislauf der Erdendinge, hatte auch die Herrschaft der Willkür, Selbstsucht und Lüge einmal wieder ihre Lebenskraft erschöpft und fiel fast wie von selbst haltlos zusammen. Die gepreßte Brust des deutschen Volkes hob sich, reiner werdende Luft einziehend; bessere Tage kamen auf. Und sie brachten auch den in der Fremde Zerstreuten die Möglichkeit, ungefährdet zur Heimat zurückzukehren. Halb vergessen schon lag die Zeit, in der sie sich mit Wort und Waffen gegen die damalige „Staatsordnung“ aufgelehnt hatten, und der Urteilsspruch, der drohend über ihnen geschwebt, ward offen für nichtig erklärt.

Unter denen, die von dieser Wandlung der heimatlichen Verhältnisse Gebrauch machten, befand sich auch Alban Hartlaub. Erst später that er’s als die Mehrzahl seiner Schicksalsgenossen, ihn zogen keine menschlichen Bande zurück. Aber heimlich hatte oft zwischen den in nackter Schönheit leuchtenden Felsen, den Palmen und Pinien der hellenischen Welt ihn ein Sehnen nach deutschem Waldesschatten erfaßt, und die vom Norden her kommenden Botschaften reiften langsam das Verlangen in ihm zum Entschluß, den auszuführen nichts ihm wehrte; er war zu den äußeren Mitteln gelangt, seinen geringfügigen Ansprüchen gemäß überall leben zu können. Wie stetige Geistesthätgkeit es wohl als eine Art des Lohnes einträgt, hatten die Züge des ins fünfte Jahrzehnt Eingetretenen Jugendfrische bewahrt, nur sein Haar war frühzeitig bleich geworden, umgab wie von Asche grau überflogen den schönen Kopf mit den stillen Augen.

Als ein Fremder kehrte er nach Deutschland zurück, dessen Boden nur seinem Gefühl eine Heimat war. Wo er sich niederlasse, galt ihm gleich, nur nicht in einer Stadt, sondern in stiller Naturumgebung, die vor rauhen Winden, deren er sich entwöhnt hatte, geschützt sei. Das schloß den Norden und das flache Land aus, richtete seine Gedanken auf die Gegenden am Oberrhein, den mildesten Himmelsstrich Deutschlands, und dorthin nahm er seine Richtung. Doch als er, nach Basel gelangt, vom Platz der alten Kaiserpfalz aus jenseit des Flusses die dunklen Schwarzwaldrücken sich aufwölben sah, überkam ihn ein plötzliches Verlangen; es ergriff ihn unwiderstehlich der Drang, noch einmal all’ die Wege zu gehen, die er sich als Flüchtling im Nachtdunkel über Berg und Thal gesucht. Und um eine Stunde später überschritt er jenseit Klein-Basels die deutsche Grenze. Niemand hinderte ihn – ein Wächter stand an der Zollschranke, ohne ihn zu beachten; er mußte ein spielender Knabe gewesen sein, als Albans Leben davon abgehangen, daß er von Norden her in umgekehrter Richtung an den damaligen Grenzhütern vorbeigelaufen.

Der Wanderer folgte der im Wiesenthal aufwärts führenden Straße bis Todtnau; hier hatte er vor dem Gefecht zuletzt übernachtet, nun suchte er den Schauplatz desselben aufzufinden. Dies gelang ihm nicht; die Erinnerung lag zu stark überdämmert, und Bergrücken und Wälder glichen sich zu sehr. Doch ungefähr konnte er durch Nachfragen erkunden, wo es gewesen sein müsse und von dort aus schlug er die Richtung ein, welche das Ziel seiner Flucht ihm damals angewiesen.

Nachdem er seine Wanderung mehrere Tage lang fortgesetzt hatte, konnte ihm aber kein Zweifel bleiben, daß er aus der Richtung des wirklichen Weges, den er innehalten gewollt, abgeraten und in ein Thal gekommen sei, das sein Fuß damals nicht betreten. Schmal zog es sich gegen Süden hin, von Laubwald umschlossen, mählich sich ein wenig verbreiternd und sanft niedersenkend, neben einem leise zwischen nickenden Blumen plätschernden Quellbach ging er abwärts, Thymianduft umgab ihn, von stillen Hängen aufsteigend. Aus dem bergumschlossenen Grund hoben sich ein niedriger Kirchturm mit grünem Zwiebelknauf und zerstreute Häuser, die Nachmittagssonne war schon hinter einen Felsenkamm getreten ein traulicher Abendfrieden senkte sich über das Dorf und den Wald. Alban fühlte sich angezogen, die Nacht hier zu verbringen, und ging nach kurzer Rast in dem kleinen Gasthaus nochmals ins Freie hinaus. Nun begann leise ein Dämmerlicht um alles zu weben; er wanderte ziellos umher, da auf einmal umfing ihn ein süßer Duft, der ihm keinen Zweifel über seinen Ursprung ließ und wie kein zweiter vertraut war. Durch ein Mauerpförtchen wandte er sich der Richtung zu, und eine alte, mit Blüten überdeckte Linde sah ihm entgegen, dann erkannte er, daß er auf den kleinen Dorffriedhof geraten sei, den sie zu einem Teil mit ihrem Gezweig beschattete. Um ihn hoben sich Kreuze und Steine vom Boden, die Grabhügel davor zeigten sich mit Blumen geschmückt, doch nicht mit in Gärten gezogenen, sondern, aus dem Feld und von den Halden herübergeholt, standen blaue Glockenblumen, Tausendgüldenkraut und rote Nelke darauf, da und dort umrankten wilde Rosenbüsche die Denkmäler. Eine sanft schwermütige Lieblichkeit lag über der schweigsamen Schlafstatt, an die von einer Seite der Bergwald sein Laubdach dicht heranwölbte. Doch jetzt unterbrach ein Klang die Stille, von der nahen Kirche ertönte das Abendgeläut, der Glockenschall ging ein Weilchen weich über die Gräber hin, dann verstummte er und die schweigende Ruhe kehrte zurück. Da kam Alban plötzlich die Eingebung, dies Dorf und Thal hier biete ihm den Erdenfleck, nach dem er für das, was ihm noch als Lebensabend zugemessen sei, getrachtet habe, und er brauche nicht weiter zu gehen, einen andern zu suchen. –

Das ist ihm über Nacht zum Entschluß gereift, er hat am nächsten Morgen die Ausführbarkeit geprüft und sie zu seiner völligen Befriedigung möglich gefunden. Um ein Geringes war ein Häuschen zu erwerben, das ihm genügte, ein kleiner Garten gehörte dazu. Nach der anderen Seite sah es nachbarlich hinüber auf die Linde und den Friedhof unter ihr. Dort ließ sich durch unbedeutende bauliche Veränderung eine luftig geräumige Arbeitsstube herstellen, und nach wenigen Wochen ist Alban Hartlaub mit seinen Büchern und dem geringfügigen Hausrat, dessen er bedurfte, darin eingezogen, von einer ältliche Magd, zur Führung der einfachen Wirtschaft begleitet.

Eigentümlich blickten in der stillen Weltabgeschiedenheit des Thales von den Wänden Bilder der Akropolis und hellenischer Tempelreste auf den deutschen Wald hinaus, der sein Laub braun färbte, den dann Schnee durch lange Monate bedeckte und der wieder grüne Blätter am Gezweig aufrollte. Doch zu abgeschieden ward es dem neuen Dorfangehörigen nicht, er war ein Mann der Einfachheit, der nicht nach Menschen Begehr trug. Vom Frühling bis zum Herbst erfreute ihn das Werden und Wandeln der Natur, er holte nach, was seiner Jugend nicht zu teil geworden, und erwarb sich durch Selbstunterricht aus botanischen und zoologischen Werken Kenntnis des Pflanzen-und Tierlebens, das ihn umgab. Und immer deutlicher empfand er, daß er nirgendwo eine ihn friedvoller umfangende Heimstätte zu finden vermocht hätte. Täglich ging er auch einmal auf den kleinen Kirchhof zu seinen stillen Nachbarn hinüber, mit deren fast sämtlichen Namen er von ihren Grabsteinen her vertraut ward. Ein anheimelnder Gedanke war’s ihm, sich hier einmal unter dem Vogelgesang, Sonnengeflimmer und murmelndem Laub zum ewigen Schlaf betten zu lassen.

*               *
*

So verflossen zwei Jahre und zum drittenmal begann um ihn der Frühling, auch darin hatte er seinen Aufenthaltsort richtig gewählt, daß zu ihm die rauhen Winde aus Nord und Ost nicht über die schützenden Bergwände herabdrangen. Allein jetzt brach es doch eines Nachts herein, von Süden her – ein Föhnsturm, der sich, aus der Höhe niederstoßend, mit ungeheurer Gewalt ins Thal warf. Lange Stunden tobte er, man hörte ihn die Wälder durchkrachen, erst mit dem Morgengrau erlahmte seine Kraft und der schwarz verdunkelte Himmel färbte sich wieder zu mildem Blau um. Ein Frühlingbringer war’s gewesen, doch manchem ein verderblicher; altmächtige Bäume lagen hingeschmettert, geschäftig besserten vielfach die Dörfler an übel beschädigten Dächern. Alban ging auf den Friedhof, er hatte Sorge um die Linde, doch sie stand ruhig aufrecht, nur einzelnes abgebrochenes kleines Geäst deckte den Boden. Dagegen lagen hier und dort altersmorsche Holzkreuze umgestürzt, mannigfach war der Epheu wie mit zerrenden Händen von den Gräbmälern heruntergerissen. So auch das dicht versponnene Gerank eines [511] wilden Rosenstrauches, das noch halb unter dem Ueberhang des Lindengezweigs einen Stein völlig verdeckt gehalten. Nun stand er entblößt da, in der über die Bergwand blickende Morgensonne eine Inschrift zeigend, die Alban noch nie gesehen. Und er las:

„Gerlind Toralt
geb. am 6. Juli 1832, gest. am 10. Juni 1850.“

Ein paar Stunden vergingen, dann suchte Alban Hartlaub den Mann auf, der im Dorf die Totengräberarbeit versah. Doch er fand einen noch jungen, erst seit einigen Jahren damit betrauten Knecht, der über die nicht von ihm hergestellten Gräber keine Auskunft zu geben wußte. Schlaflos brachte Alban die folgende Nacht zu, nur gegen Morgen übermannte ihn ein verworrener Halbtraum, in dem er den Stein vor sich sah und in dem er sich immer wieder sagte, seine Augen seien halb erblindet, daß er nicht zu lesen vermöge, denn hinter dem Namen Gerlind müsse ein anderer als Toralt auf dem weißen Marmortäfelchen stehen. Dann ward er wach, kleidete sich hastig an und ging das Thal nach Süden hinab, den weißen Alpenfirnen entgegen. Und am folgenden Tage durchschritt er die Straßen unter dem hohen Turm der Kirche, deren Zugang sich ihm einst rettend aufgethan.

Wie damals war er fremd in der Stadt, kannte niemand drin als vielleicht einen einzigen ihrer Bewohner, dessen Name ihm obendrein im Gedächtnis entschlummert war. Doch wachte derselbe ihm auf, als er sich die Aerzte des Ortes nennen ließ, und bald klopfte er an die Thür des so ausfindig Gemachten. Eintretend, erkannte er ihn nicht wieder und ward von ihm gleichfalls nicht wiedererkannt. Ein sich den Fünfzigern nähernder Mann war’s, der den Ankömmling für einen Patienten ansah und fragte, welches Uebel ihn herführe. Es dauerte eine Weile, ehe er auf Albans Antwort, in seiner Erinnerung suchend, noch halb ungewiß erwiderte. „Ja, bei dem Alten droben auf dem Turm – und nachher in der Nacht am Grenzhaus – die beiden Frauen mit dem Wäschekorb – ich hatte einen Stachel mitgenommen, mit dem ich mein Pferd unvermerkt wild machte – waren Sie der Flüchtling? Mein Gott, welche Zeit ist darüber vergangen! Ja, ja, nun kommen Sie mir bekannt vor – aber bei meinem Geschäft sieht man so viele Gesichter – es freut mich, daß Sie bei mir vorsprechen – Alban entgegnete: „Sie erwiesen sich mir damals so hilfreich und sagten, als wir uns trennten: auf ein Wiedersehen im Leben und im deutschen Land!“

„Ja, gewiß –“, der Antwortende entsann sich dessen wohl nicht, doch bestätigte er es aus Höflichkeit und lud den Besucher artig zum Platznehmen ein. Das Gespräch ergab, er sei ein vielbeschäftigter Arzt, verheiratet und Vater einer Anzahl schon halb herangewachsener Kinder. „Haben Sie auch Kinder?“ fragte er.

Alban verneinte kurz; er sei unverheiratet; es drängte ihn, auf seinen damaligen Beschützer, den Turmwart, die Rede zu bringen. Der wäre kränklich geworden und seit langem gestorben; ein Kummer, der Gram um seine Tochter, hätte zuletzt sein Leiden beschleunigt. Auf eine Aeußerung des Zuhörers, er erinnere sich, sie sei verlobt und ihre Hochzeit festgesetzt gewesen, erwiderte der Arzt. „Ja, das war eine merkwürdige Sache. Sie rufen es mir ins Gedächtnis. Ihr Bräutigam war hier bei der Polizei – das machte Ihren Aufenthalt damals auf dem Turm etwas gefährlich – übrigens sonst ein braver und hübscher junger Mensch, an dem sich weiter nichts aussetzen ließ. Sie sagten ganz recht, die Hochzeit sollte sein. Der Alte war wegen seiner Gesundheit besorgt, das junge Ding nicht allein in der Welt zurückzulassen, und sie hatte ihren Bräutigam auch gern. Ich bin nicht dahinter gekommen, was nachher zwischen sie geraten ist, aber es muß etwas gewesen sein, denn es ward nichts aus der Heirat und jedenfalls ging die Lösung von ihr aus. Er kam an freien Tagen wie früher auf den Turm, aber sie schob die Hochzeit immer hinaus, vielleicht, daß sie gefühlt hat, wie ihre Gesundheit nachließ. Ich mußte den Vater öfter besuchen, und schon im Anfang vom Winter gefiel sie mir auch nicht so recht, war nicht mehr heiter wie sonst, sondern still und blaß. Sie hustete nicht, aber so im Februar oder März wird’s gewesen sein, daß mir doch klar wurde, was es mit ihr auf sich habe. Der ewige Zug und Wind da oben war jetzt gefährlich für sie, viel Hoffnung blieb mir nicht mehr, aber einen Versuch mußte man doch machen; so schickte ich sie zum Frühling in ein für ihren Zustand besonders gut gelegenes Schwarzwaldthal, wo noch Verwandte von ihrer Mutter lebten, bei denen sie gute Unterkunft fand. Doch das Leiden steckte zu tief in ihr, ich habe gehört, daß sie dort nach einigen Monaten gestorben ist. Ein nettes Geschöpfchen war’s, ohne daß sie eigentlich etwas gelernt hatte, von feinerer Art als die meisten jungen Bildungsdamen; ich glaube, unter besseren Umständen hätte etwas Besonderes aus ihr werden können. Schade! Sie haben sie ja auch gekannt, freilich zu kurz, um sie kennenzulernen und meine Meinung von ihr zu begreifen. Aber nun erzählen Sie mir von sich, wie es Ihnen nach der Nacht, in der ich Ihnen keinen Gruß mehr zurufen konnte, in der Fremde ergangen. Mir wacht’s wieder auf, eine recht stürmische Nacht war’s, die Ihnen zu gute kam.“

*               *
*

Alban Hartlaub hat in der Stadt noch den Kirchturm bestiegen, doch an der Wohnung des fremden Türmers ging er vorüber; er wandte sich gleich zum Glockenraum hinauf, in dem er eine Zeit lang sich aufhielt – dann ist er in seine stille Gebirgswelt zurückgekehrt.

Hier suchte er gleich nach seiner Heimkunft die Leute ausfindig zu machen, bei denen Gerlind Toralt ihre letzten Lebensmonate zugebracht hatte, und es gelang ihm. Der Mann war gestorben, doch die alte Frau lebte noch, und er teilte ihr mit, daß er zufällig auf dem Grabstein den Namen des Mädchens gelesen habe, dem er vor Jahren einmal für ihm geleisteten Beistand zu Dank verpflichtet worden sei. Das ließe ihn sich nach ihrer letzten Zeit und ihrem Tode erkundigen.

Mit der Redseligkeit des Greisenalters gab die Befragte ihm Auskunft; in ihrem ereignislosen Leben war’s das Besonderste gewesen. Sie nannte die Verstorbene, zu der sie nur in weitläufigster Verwandtschaft gestanden, mit dem alten, unter den Lebenden sonst beinahe völlig abhanden gekommenen Wort für „Geschwisterkind“ ihre „Nistel“, aber zugleich sprach sie von ihr auch mit einer gewissen Scheu, sie sei so fremdartig zart gewesen und es immer mehr geworden, je näher sie dem Tod kam. Geklagt hätt’ sie nie und am liebsten unter der Linde auf dem Kirchhof gesessen und in einem kleinen Buch, das sie mit hergebracht, gelesen. Wie die Flamme von einem ganz herunterbrennenden Kerzenlicht wär’ sie ausgegangen, zuletzt nur ein kleines Flämmchen noch, das hätte der Tod wie ein leiser Windzug weggeblasen. Aber am letzten Tag davor war sie im Kopf nicht mehr ganz recht geworden und hatte gebeten, man sollt’ ihr eine Bleikugel, das Buch und ein Kopftuch, das sie immer, um sich nicht zu erkälten, um den Hals gebunden gehabt, mit in den Sarg legen. Die Alte weinte beim Erzählen. „An der Kugel, dran lag ja nichts und das haben wir gethan, aber um das Buch und das Tuch wär’s doch schad’ gewesen, sie hätt’ ja doch nichts mehr davon gehabt.“

„So habt Ihr’s noch?“ fiel Alban mit halb versagender Stimme ein. Die Greisin stand auf, humpelte an einen Kasten und kam mit den beiden Dingen zurück. „Dadrin hat’s seit ihrem Sterbetag gelegen.“

Er nahm seine Börse und legte ihr eine Geldsumme in die Hand. Dazu sagte er: „Ich konnte damals dem Mädchen den Dank, den ich ihr schuldig war, nicht abtragen, so laßt’s mich heut’ bei Euch thun. Wenn Ihr mir die beiden Sachen dafür geben wollt – Ihr lest doch wohl nicht in dem Buch?“

Das überhaupt zu können, hatte die Alte allerdings nicht gelernt, und freudig händigte sie ihm für seine Freigebigkeit das Verlangte ein. Er kehrte damit in seine Behausung zurück. Eichendorffs Gedichte waren es, wie er sie aufschlug, sah er eine Anzahl von ihnen mit Bleistiftstrichen am Rand angezeichnet, alle die, welche er droben in der Turmstube vorgelesen. Ueber dem Gedicht. „Es zog eine Hochzeit den Berg entlang“, befanden sich zwei Striche, und die Seite ließ erkennen, daß sie am häufigsten aufgeschlagen worden sei. Auf ihr lag getrocknet ein Blättchen von einer wilden Rose mit noch leis rötlichem Schimmer, und verwischte Spuren wie von etwas Feuchtem zeigten sich auf dem Papier.

Alban hörte im Geiste seine Stimme wieder das Gedicht lesen, und er sah, wie er geendigt, Gerlind Toralt mit den auf den Schoß herabgesunkenen Händen vor sich sitzen, reglos ins Weite hinausblickend, mit ihren Augen, deren leuchtender Edelsteinglanz [512] wie von einem Schleier getrübt war. Heute wußte er, warum, und was sie in der Stunde gedacht, in sich zu fühlen begonnen. Damals war er aufgesprungen und hatte den Arm um sie schlingen wollen. Wenn ihr Vater nicht hereingetreten wäre und er es gethan hätte? Was wäre geschehen und was würde heute sein?

Umsonst, so zu fragen –

Das Kopftuch war jenes, das ihm zu seiner Verkleidung mitgedient. Als letztes hatte ihre Hand es beim Abschied ihm abgelöst – nein, sie war noch einmal zurückgekommen, ihm die Arme um den Nacken zu schlingen und ihn zu küssen. Ein übermächtig aus ihrem Kinderherzen aufwogendes Gefühl, ein Gruß der Liebe! Dunkelverworren hatte er es empfunden – aber sie war die Braut eines andern gewesen. Und sie hatte an Geist und Bildung so tief unter ihm zu sein gemeint, daß keine Möglichkeit sei, er könne Liebe für sie fühlen. Geist und Bildung – und Herzensglück – als Gewichte auf die Waage des Lebens gelegt! Bittere Worte – umsonst auch sie!

Er nahm das Tuch, das sie bis zu ihrem letzten Tag um den Hals getragen und schlang es sich wieder über den Kopf, wie ein Anhauch kam’s ihm daraus, als ob ihre warme Hand es noch eben gehalten habe. So saß er, nach dem Stein unter der Linde hinüberblickend, bis tiefes Dämmerlicht ihn mit Schleiern umwob. Da zündete er seine Lampe an und versuchte zu arbeiten.

Am anderen Tage ging er mit dem Vorstand der Dorfgemeinde auf den Friedhof, bestimmte als zukünftige Grabstätte für sich einen leeren Platz an der Seite derjenigen Gerlind Toralts und erkaufte sich den Grund. –

Die sicher geführte Herstellung des großen Neubaus unseres Reiches, an dessen zu frühzeitige Aufrichtung Alban Hartlaub mit Hand gelegt, hat er nicht mehr gesehen. Im Frühsommer des Jahres 1870 fand seine Wirtschafterin ihn eines Morgens auf der Ruhebank seines Arbeitszimmers für immer entschlafen. Eine heiße Nacht war’s gewesen, er mochte sich, statt ins Bett, dorthin gelegt haben und war im Schlaf vom Schlag getroffen worden, ruhig, wie in sanftem Schlummer lag er. Das Fenster stand offen, und das letzte, was er empfunden, mußte der Duft der Linde gewesen sein, die auf dem Friedhof zu blühen begonnen. Unter ihrem Schatten hat man ihn nach seiner Bestimmung neben Gerlind in die Erde gelegt.


Vom „echten“ Dialekt in der Dichtung.

Glossen zu einer alten Streitfrage.
Von Johannes Proelß.

Die Freude an der Darstellung des wirklichen Lebens in ungeschminkter Frische und in dem vollen Farbenreiz der Natur hat in der modernen Dichtung dem Dialekt zu einer Rolle verholfen, welche die Litteratur früherer Epochen niemals gekannt hat. Kaum wird heutzutage noch eine Dorfgeschichte geschrieben, in welcher nicht die Mundart einer besonderen Landschaft zur Darstellung gelangte, ja selbst der Gassendialekt unserer Großstädte ist längst „litteraturfähig“ geworden und zählt für die meisten Romanschriftsteller der Gegenwart zu den berechtigten Mitteln poetischer Charakteristik.

Aber so allgemeiner Beliebtheit die Dialektdichtung und der Dialekt im Roman sich gegenwärtig erfreuen, so selten findet irgend eine Schöpfung dieser Art auch allgemeine Anerkennung in Bezug auf die Echtheit des darin angewandten Dialektes. Eine jede stößt auf hochnotpeinliche Kritiker, die mit unbarmherziger Schärfe oder höhnischem Spott die „Unechtheit“ desselben nachweisen. Und das ist keine neue Erscheinung. Bereits den ersten hervorragenden Versuchen, den deutschen Mundarten das alte Heimatrecht in der poetischen Litteratur zurückzuerobern, ist es so ergangen. Fast alle berühmten Dialektdichter dieses Jahrhunderts, deren Werke in den festen Besitzstand unserer Nationallitteratur übergingen, die großen Bahnbrecher Hebel und Reuter nicht ausgenommen, hatten darunter zu leiden. Schon daraus läßt sich schließen, daß die Veranlassung dazu im Wesen des Dialektes selbst liegen muß.

Und in der That! Schon die Bezeichnung „Mundart“ weist darauf hin. Im Unterschied zur Schriftsprache haben die landschaftlichen Dialekte jahrhundertelang im Munde der Leute volle Freiheit genossen, ohne sich den Fesseln schriftlicher Aufzeichnung fügen zu müssen. Das hat ihnen ihre Ursprünglichkeit, Bildlichkeit und Frische bewahrt, sie aber auch mit jenen eigenartigen Lautgebilden durchsetzt, die sich einer genauen Wiedergabe durch die Schriftzeichen unseres Alphabetes zumeist entziehen. Fast jeder deutsche Volksdialekt hat gequetschte Vokale, verschliffene Doppelkonsonanten, unklare Diphthonge, die sich mit unseren Schriftzeichen nur andeuten lassen. Je mehr man sich aber bemüht, durch zusammengesetzte Vokale, Dehnungszeichen oder gar neuerfundene Buchstaben dem Klange eines besonderen Dialektes gerecht zu werden, um so schwieriger wird die Lektüre auch für den, welcher durchs Gehör mit dem Dialekte vertraut ist.

Darum ist die volle Echtheit irgend einer Mundart in schriftlicher Aufzeichnung von vornherein ein Ding der Unmöglichkeit. Auch derjenige Dichter, dessen künstlerischer Zweck mit der Absicht zusammenfällt, einen besonderen Dialekt recht genau wiederzugeben, wird sich darin Beschränkungen auferlegen müssen. Wie aber, wenn der Dichter für seinen Zweck gar nicht diese Genauigkeit braucht? Wenn er die Mundart z. B. nur anwendet, um in einer hochdeutschen Erzählung bestimmte Personen als Kinder einer besonderen Volksart zu charakterisieren und damit den unmittelbaren Eindruck der Lebenswahrheit des Erzählten zu erhöhen? Wenn er dabei vor allem verstanden sein will von recht vielen – auch solchen, die außerhalb der Grenzpfähle des angewandten Dialektes wohnen? In den Zwiespalt versetzt, wie Rosegger sagt, zwischen der Absicht, die Mundart genau wiederzugeben, und dem Bestreben, sie für weitere Kreise leserlich und verständlich zu machen, wird er die Rücksicht auf die Leichtverständlichkeit sich zur Richtschnur nehmen. Und er wird damit unbewußt dem Rate folgen, den schon Goethe erteilte, als ihm Hebels „Alemannische Gedichte“ als etwas Neues entgegentraten. Er spendete Hebel in der „Jenaer Litteraturzeitung“ hohes Lob wegen der reizvollen Frische und poetischen Anschaulichkeit dieser Lebensbilder aus der anmutigen Gegend, durch welche die liebliche Feldbergtochter, die Wiese, dem Rheine entgegeneilt. Rückhaltslos gab der Dichter von „Hermann und Dorothea“ auch zu, daß die „behagliche naive Sprache“, deren sich Hebel bedient habe, für dessen Zwecke „vor unserer Büchersprache“ unbedingte Vorzüge habe. Aber am Schlusse bedauert er doch, daß die für das mittlere und nördliche Deutschland seltsame Sprache und Schreibart ein Hindernis sei, um die ganze Nation an dem Genuß teilnehmen zu lassen. Und so sprach er den Wunsch aus, daß dies Hindernis einigermaßen gehoben werde durch Annäherung des Dialektes an die gewohnte Schreib- und Sprechweise.

Hebel benutzte den Wink und unterwarf die Alemannischen Gedichte einer Ueberarbeitung, die auf den erweiterten Leserkreis durch manche „Annäherung“ an das Schriftdeutsche Rücksicht nahm, und der Erfolg dieser neuen Auflage gab ihm und dem Altmeister recht. Aber damit war auch das Signal für die Entfesselung des Streites gegeben, der sich seitdem stets wieder erneut hat, sobald es einem deutschen Dialektdichter gelang, jenseit der Grenzen seiner Mundart für seine Dichtungen reges Interesse zu finden. Die alten Freunde der Gedichte in Hebels engerer Heimat zeigten sich mit den Aenderungen durchaus nicht einverstanden, und man forderte von ihm die Wiederherstellung der Lesarten der ersten Auflage, weil sie viel „echter“ gewesen seien. Hebel beharrte auf seinem Standpunkt. Er empfand, daß es leichter und lohnender sei, dem großen, Schriftdeutsch redenden Publikum entgegenzukommen als alle Ansprüche der alemannisch redenden Landsleute zufriedenzustellen. Hat doch der alemannische Dialekt in jedem Schwarzwaldthal seine besonderen Eigentümlichkeiten, die schon im Nachbarthal als fremdartig berühren, und so war es unvermeidlich, daß die besondere alemannische Sprechweise, die im Thal der Wiese daheim ist, kritisch gespitzten Ohren, die eine andere Abart des Dialektes für den einzig richtigen hielten, Anlaß zu allerhand Einwand bot. Berthold Auerbach, der

[513]

Klatschbasen.
Nach einem Gemälde von G. Weiß.

[514] Dichter der „Schwarzwälder Dorfgeschichten“, ging von vornherein dieser Gefahr aus dem Wege. Wie er in der Charakteristik seiner Personen keineswegs nur die besondere Art der Bewohner seines Heimatortes Nordstetten, sondern das für den Schwarzwaldbauern Allgemeintypische schildern wollte, so „behielt er die Eigentümlichkeiten des Dialektes und der Redeweise“ nur insoweit bei, als das wesentliche Gepräge derselben damit dargethan wird. Seine „Dorfgeschichten“ sollten nicht nur Darstellungen aus dem Volksleben, sondern auch „bildende Vorschriften“ sein. Er stellte den Satz auf, daß der Mann aus dem Volke, der in Büchern Bildung sucht, sich gern in der Sprache angeredet sieht, die nun einmal die des gebildeten Lebens ist. Das hat man ihm im Lager der Dialektfreunde sehr übelgenommen, und A. Holder in seiner „Geschichte der schwäbischen Dialektdichtung“, durch die man einen reichen Einblick in die vielen Unterarten der schwäbische Mundart gewinnt, hat den Wert der „Dorfgeschichten“ als Dokumente der Volkskunde ziemlich gering taxiert.

Zog es Auerbach um der bildenden Wirkung seiner Schriften vor, den Dialekt nur im Dialog seiner Bauern und da auch nur andeutend zu verwenden, so hat Herman Schmid, der treue Mitarbeite der „Gartenlaube“ in früheren Jahrzehnten, welche dem Leben im deutschen Hochgebirge die Stoffe zu seinen fesselnden Romanen entnahm, nur um der Gemeinverständlichkeit willen die gleiche Zurückhaltung geübt. Ihre Nachfolger in der Kunst der Schilderung landschaftlicher Besonderheit sind dagegen auch in Anwendung der Mundart meist realistischer verfahren, und daraus ergab sich für sie ein neuer Uebelstand: das Publikum erhielt aus demselben Landschaftsgebiet Erzählungen mit ganz verschieden gefärbtem Dialekt und es erhob sich nun die Frage, welche Schreibweise ist die rechte? Die Wenigsten ahnen ja, welche Mannigfaltigkeit an Unterarten ein jeder Dialekt besitzt. Der Pusterthaler spricht anders wie die Leute im Isarwinkel, die Bürger von Meran und Bozen haben eine andere Aussprache und viele andere Ausdrücke wie die In- und Umwohner von Innsbruck. Der Dialekt, in welchem der Meraner Karl Wolf seine Bergler Bauern reden läßt, weicht daher auch ab von demjenigen, in dem sich die Unterinnthaler von Greinz unterhalten, wie von dem Oberbayrisch, das die Leute in Ganghofers so farbenechten Berchtesgadener Romanen sprechen. Anzengruber schrieb einen anderen Dialekt als Rosegger, obgleich beide uns oberösterreichische Gebirgsbewohner vorführen. Doch beide haben sich dabei ganz wie die vorher Genannten im Sinne von Goethes Wunsch „dem Schriftdeutschen“ genähert. Anzengruber in höherem Grade als Rosegger. Der Dichter des „Pfarrers von Kirchfeld“, der wohl von allen Dialektdichtern die tiefsten poetischen Wirkungen ausgeübt hat, sagte von sich, wie uns sein Biograph Anton Bettelheim bezeugt hat, daß er „nur ein halber Dialektdichter“ sei, denn schon als Dramatiker habe er darauf Bedacht zu nehmen, der Mehrheit der Menge verständlich zu bleiben. „Weil ich aber inmitten des Schilderns und Schaffens die Dialekte selber anklingen höre, so gebe ich diese Anklänge voll oder schwach, wie sie sich just bemerkbar machen“. Anzengruber war ein geborener Wiener, doch sein Vater stammte aus Oberösterreich; er hatte also seine Mundart aus zweiter Hand. Machte man ihm Vorhaltungen über Inkorrektheiten, so erwiderte er. „Das is mir alles ans, i schreib amal so und net anders!“ Rosegger, der sich in den Vorreden zu seinen „Schriften in steirischer Mundart“ über diese Fragen recht eingehend ausgesprochen hat, bekennt dort, daß er sich gleich anfangs von der Absicht habe leiten lassen, seinen Lesern das Lesen und Verstehen recht leicht zu machen. Später habe er sich etwas strenger in den einzelnen Ausdrücken und im Satzbau an die Mundart seiner besonderen Heimat gehalten. Dennoch, so sagt er im Geleitwort zur zweiten Auflage seiner Gedichte „Zither und Hackbrett“, werde der Leser auch in letzterer scheinbar sich widersprechende Abweichungen finden, die wie Inkonsequenz aussehen. Dazu bemerke er, daß schier in jedem Thale seines Berglandes die Mundart der Bewohner ihre Eigentümlichkeit habe. „Die Dichtungen sind nicht bloß an verschiedenen Orten, sondern auch zu sehr verschiedenen Zeiten entstanden, die einen beziehen sich auf ein jüngeres, die anderen auf ein älteres Geschlecht, die einen waren ursprünglich für einen engeren, die anderen für einen weiteren Kreis berechnet. Das sind die Gründe der abweichenden Schreibweise. Jede der Schreibweisen ist in ihrer Art richtig.“

Wenn aber schon ein verhältnismäßig enger Bezirk, wie das weltabgelegene Waldgebirge der Steiermark, so viel verschiedene Schattierungen des einen steirischen Dialektes aufweist, um wieviel mehr muß dies der Fall sein, wenn es sich um ein so großes, breites Sprachgebiet handelt wie das der plattdeutschen Sprache, die von Haus aus eine ebenbürtige Schwester des Hochdeutschen war und welche mehr als hundert Dialekte umfaßt. Gehört doch diesem Sprachgebiete, in welchem seit dem Siege der Lutherschen Bibelsprache die Gebildeten freilich meist hochdeutsch reden, eine ganze Reihe großer Handelsstädte mit tausendjährigem Weltverkehr an und ist doch auch die ländliche Bevölkerung, soweit sie am Meeresstrande wohnt, vielfältiger Berührung mit fremdem Schiffer- und Fischervolke ausgesetzt! Kein Dialekt aber bleibt von solchem Verkehr unberührt. Das Plattdeutsch, in dem ein Vierländer Gemüsebauer mit den Hamburger Köchinnen feilscht, ist gar verschieden von dem, welches der einsame Bienenzüchter in der Lüneburger Heide mit den Seinen redet. Die Ausdrucksweise eines friesische Fischers weicht erheblich von den wiederum untereinander sehr verschiedenen Mundarten ab, die in den Gesindestuben der Bauerngüter von Holstein, Mecklenburg, Pommern, Ost- und Westpreußen heimisch sind. Und welche Abstufungen erlebt nun gar jede Volksmundart in den Städten durch die verschiedenartigste Mischung derselben mit dem Hochdeutschen je nach Herkunft, Bildung, Altansässigkeit oder Zugewandertheit der Bewohner!

So war es daher nur natürlich, daß der holsteiner Lyriker Klaus Groth in seinem „Quickborn“ ein ganz anderes Platt schrieb als der mecklenburger Humorist Fritz Reuter, und ferner, daß der erstere, der für seine Lyrik eine einheitliche und rein gestimmte Mundart brauchte, mit seinem heimatlichen Dialekt anders verfuhr als Reuter in seinen Erzählungen, in welchen fast immer Vertreter der verschiedensten Bildungsschichten nebeneinander auftreten. Heute sieht dies jeder Billigdenkende ein. Als Reuters „Läuschen und Rimels“ erstmals erschienen waren, fand jedoch sein Platt in anderen Gegenden des niederdeutschen Bodens lebhafte Beanstandung. Er erschien in Westfalen, in Holstein vielen als „unecht“, und Klaus Groth brachte diese Kritik in scharfer Weise zum Ausdruck. Reuter, schwer gereizt, antwortete darauf in einer noch schärferen Streitschrift und legte ferner seinen Standpunkt, der für die „Ollen Kamellen“ maßgebend wurde, in der Vorrede zur vierten Auflage der „Läuschen und Rimels“ dem größeren Publikum dar. Er bedauerte die buntscheckige Verschiedenheit der plattdeutschen Idiome, die es mit sich bringe, daß jedes plattdeutsche Buch sogar in vielen Gegenden Niederdeutschlands fremdartig berühre. Er wies aber energisch das Ansinnen zurück, daß irgend einer dieser Dialekte verlangen dürfe, in Zukunft für alle plattdeutschen Dichter als maßgebendes Vorbild zu wirken. Er wies auf die Zeiten zurück, in welchen noch jene gemeingültige plattdeutsche Schriftsprache geherrscht habe, auf die alle heutigen plattdeutschen Dialekte zurückweisen. Was jede von diesen mit der alte Schriftsprache gemeinsam habe, das solle nunmehr jeder plattdeutsche Schriftsteller als das Charakteristische herausarbeiten. „Wir müssen das Unwesentliche über Bord werfen und das Zufällige der Aussprache dem Leser überlassen.“ Mit der neue Ausgabe seiner kleineren Dichtungen habe er den Anfang gemacht. Er wisse, daß man ihm mit Recht viele Inkonsequenzen vorwerfen könne, aber das schade nicht. Er fühle, daß er auf gutem Wege sei, denn er liebe seine Sprache mehr als seinen Dialekt. Er hätte hinzufügen können, ihm sei die poetische Treue in der Charakteristik wichtiger als philologische Accuratesse – und wir wissen, daß, weil dies so war, er alle anderen plattdeutschen Erzähler hinter sich gelassen hat in seiner Wirkung auf die ganze Nation.

Die Leser der „Gartenlaube“ werden bei der Erörterung diese Frage gewiß gern auch erfahren, welche Stellung zu ihnen derjenige Dichter einnimmt, dem unser Blatt in den letzten Jahren die so lebensechten Hochlandsromane „Der Klosterjäger“, „Der laufende Berg“ usw. zu danken gehabt hat. Auch Ludwig Ganghofer sind nicht Beanstandungen der Echtheit seiner mundartlichen Schreibweise erspart geblieben. Erst kürzlich hatte ich Gelegenheit, mit ihm eingehend über diese Lebensfrage seines Dichtens zu sprechen.

„Ich habe“, so führte er aus, „in meinem ersten Werke [515] im Herrgottschnitzen, den Dialekt möglichst getreu zu schreiben versucht, doch bin ich im Laufe der Jahre immer mehr davon abgekommen, einmal, weil ich erkannte, daß es ohne Aufwand eines großen Apparates von Schriftzeichen überhaupt unmöglich ist, den Dialekt richtig zu schreiben, und dann, weil ich die Erfahrung machte, daß durch strenge Dialektschreibung die Wirkung eher gestört als gefördert wird. Hauptsache ist, daß die der Volkssprache eigentümliche Wort- und Satzstellung gewahrt wird. Ist dann der Dialekt auch nur leise angedeutet, so wird ihn der Kenner trotzdem richtig lesen – und für jenen Leser, dem der Dialekt nicht geläufig ist, wird er gerade dadurch vollkommen verständlich sein und dabei noch immer genügend Farbe und eigenartigen Reiz haben. Es genügt für Kenner und Nichtkenner in gleicher Weise, wenn das folgende Schnaderhüpfl geschrieben wird:

„Jetzt hab i noch sechs Kreuzer,
Die g’hören mein und dein,
Drah di, Weiberl, drah di,
Versuffen müssen’s sein!“

Sollte dieser Vierzeiler ganz treu im Dialekt geschrieben werden, so ist folgende Anleitung vorauszuschicken:

ê bedeutet einen Laut zwischen e und a
à einen Mittelton zwischen a und o,
é einen Laut zwischen e und ö,
á lautet wie aah, ganz offen,
o~, ei~, e~ haben bei verschlucktem ch oder n einen nasalen Klang.

Und dann wäre zu schreiben:

Jêtzt hàb i no~ séx kreuzê,
dé ghör’n mei~ und dei~,
drá di, Wáwél, drá di,
vêrsuffe~ müêssn s’ sei~!

Ein ganzes Buch in solcher Schreibart lesen zu müssen, wäre für den Leser eine nutzlose Marter, und dabei ginge jede dichterische Wirkung gründlich verloren. Es ist eine absolute Notwendigkeit, Kompromisse zwischen Dialekt und Schriftdeutsch zu schließen, und es muß dem Dialektschriftsteller frei überlassen bleiben, wie weit er mit Rücksicht auf die zu erzielende Wirkung bei diesem Kompromisse gehen will.

Aus seinem Verkehr mit dem zu früh gestorbenen oberbayrischen Lyriker Karl Stieler machte mir Ganghofer weiter sehr bezeichnende Mitteilungen. Er knüpfte dabei an den Unterschied an, der zwischen der lyrischen Dichtung und der Erzählung dem Dialekt gegenüber besteht. Er sagte: „In der Prosa kommt jeder Dialektschriftsteller nach jahrelangem Probieren und Wählen schließlich zu einem System der Dialektschreibung, an dem er festhält, weil es ihm für alle Fälle genügt. Schwieriger gestaltet sich aber die Sache in der poetischen Form, wo die Pointierung des Reimes einen strengeren Dialekt verlangt, der aber dann wieder wie eine eiserne Kette die freie Beweglichkeit des Ausdruckes einschränkt. Karl Stieler klagte mir gegenüber häufig und ärgerlich über den endlosen Kampf, den er bei seinen oberbayrischen Gedichten mit der Schreibart des Dialektes führe; er wolle und müsse so echt sein wie möglich, die Rücksicht auf das allgemeine Verständnis zwänge ihn aber doch zu Milderungen, und öfter, als ihm lieb wäre, müsse er bewußte Inkonsequenzen begehen, wenn er nicht ein gutes Wort oder einen glücklichen Einfall opfern, oder bei irgend einer Situation in gequälte Darstellung verfallen wolle. Derartigen Inkonsequenzen begegnet man in der That fast bei jedem seiner so köstlichen Gedichte. So schreibt er z. B. die Dialektform des Schriftwortes ’hinein’ in dreifacher Weise, sogar in einem und demselben Gedichte auf doppelte Art. In dem Gedichtchen „Wo der Haber so theuer is“ heißt es:

’Sieb’n Guld’n die paar Stund da ’nein?
So dumm wird do’ wohl Niemand sein?’

Und drei Zeilen später heißt es:

’Jetzt geh’ i halt schön langsam eina,
Auf oanmal radelt’s hinter meina …,’

Und in dem Gedichte ‚Der Floßknecht’ heißt es:

’So hock ma drinna unser neuni,
Drei Stund san no’ auf Lenggries eini!’

Die erste Form ist Münchner Dialekt, die dritte ist echter Gebirgsdialekt, und im zweiten Falle hat Stieler, dem Reime zuliebe, sogar einen sprachlichen Schnitzer gewagt, denn ,eina’ bedeutet streng genommen nicht ’hinein’, sondern ’herein’. Aber keine dieser Inkonsequenzen hat die Wirkung seiner prächtigen Gedichte geschmälert – durch die Freiheit, mit welcher er den Dialekt im großen ganzen behandelte, verstand er diese Wirkung immer zu steigern.

Und warm geworden, schloß Ganghofer mit dem folgenden echt dichterischen Bekenntnis: „Es kommt nur darauf an, daß poetischer Wert in der Sache steckt, daß man die künstlerische Wahrheit achtet und bei der Darstellung einer Volksfigur mit keinem Wort die Grenzen ihres Gefühlslebens und Gedankenkreises überschreitet – ob man sie dann ,hoam’ oder ,heim’ ,nein’ oder ,eini’ sagen läßt, das ist Nebensache! Und fände einer auch eine Methode, jeden Dialekt völlig getreu und mühelos lesbar zu schreiben – wenn er dabei nicht auch als Dichter zu wirken versteht, so ist sein ganzer, echter Dialekt keinen Federstrich wert!

Ist es dennoch das Schicksal auch der größten und besten unter den eigentlichen Dialektdichtern gewesen, daß man an ihrem Dialekt allerlei auszusetzen gehabt hat, so können natürlich dem Vorwurf der „Unechtheit“ erst recht nicht jene hochdeutschen Autoren entgehen, die aus poetischen Gründen in ihren Romanen die eine und die andere Person einen bestimmten Dialekt reden lassen. Da läßt z. B. ein Wiener Autor einen Berliner auftreten und nach Mustern, die er beobachtet hat markiert er das Berlinertum in dessen Sprache. Sofort melden sich in der Reichshauptstadt die „Merker“ und kreiden ihm hurtig allerhand Verstöße gegen das „echte Berlinisch“ an. „Da hat wieder einmal ein Oesterreicher Berlinisch schreiben wollen und hat keine Ahnung davon!“ Wie vernichtend das klingt! Wer aber spricht denn eigentlich in Berlin das „echte“ Berlinisch? Die Zeiten der allgemeinen Schulpflicht, der Freizügigkeit, der Verkehrsfreiheit sind der Reinkultur des Volksdialekts in den Städten gar wenig günstig. Wie viele Leute giebt es noch in Berlin, welche naiv und unberührt vom Einfluß des Schriftdeutschen jenes „echte Berlinisch“ reden, das über die Lippen der humoristischen Volkstypen eines Glaßbrenner, eines Kalisch und Dohm so fröhlichfrech dahernäselte? Gar viele heutige Berliner sind nicht mit Spreewasser getauft und haben als Kinder eine ganz andere Mundart dem Mutter- oder Ammenmunde abgelernt. Was man im großen Leben Berlinisch nennt, ist ein unregelmäßiges Gemengsel von Schriftdeutsch und der Berliner Volksredeweise, dem noch allerlei aus anderen Dialekten beigemischt ist. Eine scharfe Dialektgrenze zwischen Gebildeten und Ungebildeten existiert längst nicht mehr. Es giebt Hochgebildete, zu deren Eigenheiten die Freude an kräftigen mundartlichen Redewendungen und der Gebrauch von solchen gehört, und Mindergebildete, deren Bildungstrieb sich nicht genugthun kann in dem Streben, ein reines Hochdeutsch zu sprechen. So giebt es anderseits Wiener und Wienerinnen, welche daheim im Verkehr mit ihresgleichen allen Dialekt vermeiden, unter Norddeutschen aber, die das gemütliche „Weanerisch“ besonders gern hören, diesen bereitwilligst den Gefallen zu thun, im Dialekt der Donaustadt zu „plauschen“. Ja, manche, denen das besonders leicht fällt und die der Humor dazu antreibt, ergehen sich dabei in drastischen Redewendungen, die in „ihren Kreisen“ daheim verpönt wären. Der Grad der „Echtheit“ ist aber immer individuell. Ein Beispiel solch einer Oesterreicherin hat neuerdings W. Heimburg im Roman „Trotzige Herzen“ geschaffen, wo die liebenswürdige Sängerin Hochleitner ein „Wienerisch“ spricht, das durch längeren Aufenthalt in der Fremde ja auch an „Echtheit“ eingebüßt hatte.

Im Plattdeutschen nennt man solche Mischung von Schriftdeutsch und Volkssprache, wie sie auch Reuters „Bräsig“ spricht „Missingsch“ Das Wort ist von Messing abgeleitet und stellt diese sprachliche Mischung in Vergleich mit der Kupfer-Zink-Legierung, welche wir Messing bezeichnen. Das Kupfer und das Zink können in sehr verschobenem Verhältnis gemischt werden – „echtes Messing“ giebt die Mischung doch! So können Schriftdeutsch und Dialekt sich im verschiedenartigsten Verhältnis vermengen, ohne daß dieses „Missingsch“ unecht wäre! Und will man jede echte ursprüngliche Mundart mit purem Golde vergleichen, so läßt sich dieser Vergleich auch auf die Ummünzung des Dialekts für den öffentlichen Verkehr ausdehnen. Wie das reine Gold erst mit Kupfer legiert werden muß, um zur Prägung in Münzen tauglich zu sein so muß auch die Mundart sich eine Legierung mit Schriftdeutsch gefallen lassen, damit sie in litterarischer Gestaltung die Runde durchs ganze Vaterland mache! [516] 0


Blätter und Blüten.

Der Entwurf für ein Nationaldenkmal der Völkerschlacht bei Leipzig. (Zu dem Bilde S. 501.) Professor Bruno Schmitz, der Erbauer des Kyffhäuserdenkmals, dem der Auftrag geworden war, den Entwurf für ein zur Erinnerung an die große Leipziger Völkerschlacht zu errichtendes Monument auszuarbeiten, hat diese Aufgabe nun glänzend gelöst. Unser Bild stellt die Vorderansicht des gewaltigen Denkmals dar. 90 m erhebt sich die Vorderfront über den Boden, während ein künstlich geschaffener Hügel sich bis zu 30 m Höhe an der Rückseite des Denkmals hinanzieht. Der Untergrund des dreigeteilten Baus ist 80 m breit. Rechts und links vorn leiten über einen terrassenförmigen Unterbau breite Treppen zu einer groß angelegten Terrasse empor. Die Mauerwand, welche zwischen den Treppenaufgängen sichtbar ist, zeigt als Schmuck ein Reliefbildwerk, das in der Gestalt des heiligen Michael das Erwachen des deutschen Volkes und dessen siegreiche Erhebung gegen seine Unterdrücker darstellen soll. Von der oberen Terrasse strebt ein in der Höhe sich verjüngender viereckiger Turmbau auf, der eine Halle in sich birgt, deren Wandflächen von vier hohen Bogenöffnungen durchbrochen sind. Nach vorn zu ist die Halle durch einen halbkreisförmigen Säulengang abgeschlossen. Das Ganze krönt ein säulengetragener Rundbau, der mit einem Kranz von Kugeln geschmückt ist und nach oben in einem von monumentalen Löwen gehaltenen Eisernen Kreuz seinen Abschluß findet. Trotz aller Wuchtigkeit der Massen erweist sich das Denkmal als ein fein durchdachtes wohlgegliedertes Architekturwerk, das einen mächtigen erhebenden Eindruck hinterläßt.

Im Innern des Denkmals führen Treppen bis zur höchsten Spitze empor, von wo aus man Leipzigs weites Schlachtgefilde überblicken kann. Zu beiden Seiten des Denkmals sollen deutsche Eichen rauschen. Vor demselben hat sich der Künstler einen Weiher, oder besser noch die Anlage eines „Stadions“ nach klassischem Vorbild gedacht, durch welche die Platzfrage für Deutschlands künftige Wettspiele in schönster und würdigster Weise gelöst wäre.

Hoffen wir, daß das herrliche Werk, welches das große geschichtliche Ereignis der Erhebung Deutschlands aus niedriger Schmach wahrhaft ergreifend zum Ausdruck bringt, bald in Wirklichkeit erstehen werde. Aber freilich, dazu sind bedeutende Mittel nötig. Und wir geben gern der wiederholten Bitte Raum, ein jeder Deutsche möge helfen, diese aufzubringen und sein Scherflein dazu beitragen, das, so klein es auch sei, von der Sammelstelle des Deutschen Patriotenbundes, (Clemens Thieme in Leipzig, An der Pleiße Nr. 12) entgegengenommen wird.

Sommerfrische am Huronsee.
Nach Skizzen von Ida Chelius gezeichnet von W. Hoffmann.

Sommerfrische am Huronsee. (Mit Abbildung.) Der Drang, während der heißen Jahreszeit die Mauern der Stadt zu verlassen und in freier Natur Erquickung und Erholung zu suchen, ist den Amerikanern ebensogut eigen wie den Europäern. In der Neuen Welt, namentlich in Nordamerika, fehlt es auch nicht an Bädern und Kurorten, die mit allen wünschenswerten Bequemlichkeiten ausgestattet sind. Viele Nordamerikaner verbringen jedoch ihre Ferienzeit in eigenartigerer Weise. Sie verlassen die Verkehrswege und ziehen in die unverfälschte Natur. Fernab von menschlichen Wohnungen schlagen sie Zelte im Walde auf und leben hier wochen- und gar monatelang in wahrer Natürlichkeit. Andere wieder ziehen aufs Wasser der großen Seen. Solche Sommerfrischler führt uns unsere Abbildung vor. Das „Hausboot“, das am Ufer verankert ist, gleicht einer Arche Noah. Doch ist es bequem eingerichtet, mit Küche, Wohn- und Schlafzimmern versehen, und wenn gut verträgliche Leute drin wohnen, dann kann man es einige Wochen schon aushalten. Die Landschaft, in der es sich befindet, ist die Georgianbai des Huronsees, des mittleren der fünf kanadischen Seen. Meilenfern von jeder menschlichen festen Ansiedlung liegt hier ein Gewirr von zahllosen Inseln mit breiten dazwischen sich schlängelnden Kanälen. Viele dieser Eilande stehen nackt da und zeigen die groteskesten Felsbildungen, die anderen prangen im üppigsten Pflanzenwuchs. Traumhaft schön ist hier eine Bootfahrt im Mondenschein, wenn das oft so stürmische Element still ist, still, als ob es schliefe. Nach allen Seiten thun sich zwischen den Inseln weite Wasserstraßen auf, die sich in grauer Ferne verlieren. Das Wasser ist so klar, still und glatt, daß die Ruder fast lautlos darin versinken. Es ist, als schwebe man durch die Lüfte, geheimnisvollen Mächten ein Spiel.

Die nächsten Nachbarn der Sommerfrischler sind hier Indianer, klägliche Ueberreste der einst stolzen Irokesen. In schmutzigen Zelten hausen sie beieinander und nähren sich hauptsächlich von Fischen, die sie an Querstangen vor ihren Zelten trocknen. Sie empfangen Besuche der Weißen und kommen auch zu den Sommerfrischlern, um ihnen beim Jagen und Fischen zu helfen. Nichts Malerischeres kann man sehen als einen Indianer mit seinen Hunden, wie er mit wunderbarer Geschwindigkeit und lautlosem Schlage das kleine Birkenboot durch die Fluten treibt. Das einzige kurze Ruder, das er führt, scheint kaum das Wasser zu berühren.

Zu Anfang des Sommers schleppt ein Dampfer das Hausboot von einer stundenweit entfernten Stadt in diese stille Wildnis, und wenn die Bäume und Sträucher an den Seeufern in den dort so wunderbar schönen Herbstfarben zu glühen beginnen, schleppt er die Sommerwohnung wieder zurück. Ida Chelius.     

Die Klatschbasen. (Zu dem Bilde S. 513) Wer hätte es glauben mögen, daß der einzige Sohn des reichen Bürgermeisters das arme Ding, des Flickschneiders jüngste Tochter Anna, heiraten würde! Und doch ist es so – oder wird es bald werden, denn gestern hat der Bürgermeister Ja und Amen gesagt und die Verlobung wurde gefeiert. Dieses neueste Stadtereignis wird im Rate der drei Klatschbasen auf unserem Bilde eifrig besprochen. Die Erzählerin in der Mitte hat die Brautleute seit deren ersten Lebenstagen gekannt und berichtet ohne Ende von ihnen und ihren Familien. Die Freundinnen hören zu, als ob sie das allerneueste vernähmen, obwohl auch sie die Familie des Flickschneiders und die des Bürgermeisters genau so gut kennen. Aber freilich! Die Alte hat eine Zungenfertigkeit und einen Vortrag, von denen die Leute in allen Straßen und Gassen mit nicht unberechtigter Scheu sprechen. Das „unverdiente Glück“ Annas wird von ihr jetzt haarscharf durchgehechelt und die Zukunft des jungen Paares mit den düstersten Farben ausgemalt. Und das thut den Zuhörerinnen wohl, denn sie klatschen für ihr Leben gern, und wenn die drei zusammenkommen, dann wird gar oft der siedende Kochtopf daheim und der Strickstrumpf im Beutel vergessen. Schlimme Folgen wird jedoch diese Gerichtssitzung nicht nach sich ziehen. Erstens sind die Alten lebenserfahren und klug genug, die Geständnisse ihrer schönen Seelen, in Anbetracht der zweifellosen Unbescholtenheit der beiden Familien für sich zu behalten und dann vereint die Brautleute das feste Band wahrer Liebe, das kein Klatsch zu lockern vermag. *      


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

K. L. in M. Die Bezeichnung „Grenadier“ kommt von Grenate oder Granate her. In früheren Zeiten wurden den Infanterieregimentern Mannschaften beigegeben, die Granaten mit der Hand werfen sollten, um das Feuer der Infanterie zu unterstützen. Sie fanden besonders im Festungskriege oder im Kampfe mit der Kavallerie Verwendung. Da das Handhaben der schweren eisernen Geschosse besondere Körperkräfte erforderte, wählte man zu Grenadieren die größten und kräftigsten Mannschaften. Diese Truppe ist zuerst im Dreißigjährigen Kriege aufgekommen. Später bezeichnete man eine auserlesene Infanterie mit dem Namen Grenadiere. Noch lange trugen sie als besonderes Kennzeichen eine springende Granate an der Kopfbedeckung und am Lederzeug.


Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 30/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.