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Die Gartenlaube (1896)/Heft 29

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[485]

Nr. 29.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (5. Fortsetzung.)

Schorschl hantierte eifrig am Schmiedfeuer, indes Vroni immer noch unschlüssig an der Thür stand.

Nach einer Weile fragte Schorschl: „Was bringst denn?“

Sie wies den Spaten. „Unser Grabscheit is verbogen und hat die richtig Härten nimmer. Und am Beil hab’ ich mir die halbe Schneid ausg’splittert. Kannst mir’s heut’ noch machen?“

„Ja!“ Er verließ die Esse.

„Ich hab’ noch ein’ Weg,“ sagte sie rasch und trat unter das Thor zurück, „zum Krämer, ja, und komm’ wieder vorbei.“

„Magst net lieber warten?“ fragte Schorschl hastig.

„Na!“

Er lachte ganz merkwürdig. „Fürchst Dich vor mir?“

Da sah sie ihn groß an. „Ich? Warum denn?“ Mit dem Fuß stülpte sie einen Wasserzuber um und setzte sich. „Wenn D’ meinst, kann ich auch warten.“

„Ja, es is besser! Weißt, ich könnt’ davonlaufen und zusperren!“ Seine Stimme bekam einen Ton, als hätte er etwas Bitteres geschluckt. „So ein Lump, wie ich einer bin, halt’s ja net lang bei der Arbeit aus.“

Li-Hung-Tschang und Bismarck auf der Schloßterrasse in Friedrichsruh.
Nach einer Photographie von Willy Wilcke in Hamburg.

[486] „Ja, ich glaub’s!“

„Gelt?“ Er trat mit dem Beil zum Fenster und besah den Schaden. „Da mußt aber grob zug’haut haben?“

„Is schon möglich, ja! Es braucht’s halt!“

„Freilich!“ Seine Stimme klang wieder freundlich. „Geh, sag mir, wie steht’s denn bei Dir droben?“

Vroni atmete tiefer. „Allweil im Gleichen. Es hat sich nix g’ändert über Nacht!“

Da guckte er langsam über die Schulter. „No, wer weiß, vielleicht doch ein bißl was.“ Er löste vom Beil den Stiel ab, nahm das Eisen zwischen die Backen einer großen Zange, wühlte sie unter die Glut hinein und versetzte dem Blasbalg einen so ausgiebigen Tritt, daß eine ganze Sprühgarbe von Funken in den Kamin hinaufloderte.

Vroni saß mit gefurchten Brauen, und schlecht verhehlter Aerger redete aus ihren Augen; sie mußte aus Schorschls letzten Worten etwas herausgehört haben, das sie um ihre besonnene Ruhe brachte. Und es spielte und zuckte um ihre vollen Lippen, als müßte sich dieser Aerger entladen. Ihre Augen schossen einen spöttischen Blick zur Esse hinüber, und unter leisem Lachen fragte sie: „Bist gut heim ’kommen?“

Schorschl schob eine kleinere Zange mit einem fingerlangen Stahlstäbchen in die Glut. „Heim ’kommen? Wann denn?“

„No, heut’ nacht, mein’ ich.“

„Ah so, heut’ nacht! … Ja ja, ganz gut! Siehst es ja … ein’ Haxen hab’ ich mir net ’brochen.“

„Da kannst von Glück sagen! So ein Weg in der Nacht is gar hail.“

„Fest hintreten muß man halt, nachher rutscht man net aus.“

„So? Meinst?“

„Ja!“

Mit raschem Schwung hob Schorschl die beiden Zangen aus der Esse und faßte den schweren Hammer, um die neue Stahlschneide an das ausgesplitterte Beil zu schweißen. Wie ein zerdrücktes rotes Herz lag das glühende Eisenstück zwischen dem Griff der Zange. Der Amboß tönte wie eine Glocke, und sternhell flogen, wie von einem wagerecht kreisenden Feuerrad, bei jedem Hammerschlag die Funken rings umher in dem großen dämmrigen Raum; sie leuchteten nur und brannten nicht; sie flogen dem Schmied ins Gesicht, in die Haare, an die nackten Arme und an die offene Brust – und sprühten hinüber bis in den Schoß des Mädchens; Vroni rückte immer weiter zurück, aber die Funken flogen ihr nach. Das gewahrte Schorschl, und immer emsiger drosch er mit dem Hammer, so daß an seinem kräftigen Arm alle Muskeln spielten.

Die Glut des geschweißten Eisens drohte zu erlöschen und Schorschl schwang die Zange wieder in die Esse hinüber. Während er den Blasbalg trat, umsäumte der Feuerschein seine ganze Gestalt, sein Haar und sein Gesicht mit roten Linien. Draußen, vor dem Bogen des Thores, dunkelte es immer mehr, und am fahlen Himmel zitterte schon mit blassem Schein der Abendstern.

Ob Schorschl die brennende Röte auf Vronis Wangen und den Glanz ihrer staunenden Augen richtig deutete? Oder ob es ihm die eigene Arbeitsfreude auf die Lippen legte? – Er sagte: „Gelt, in der Schmieden is’ schön!“

„Ja, da g’fallt’s mir.“

„Möchtest net hausen herin?“ Das fragte Schorschl lachend, in jener gleichmütigen Art, in der man vom Wetter zu reden pflegt.

Und im gleichen Tone antwortete Vroni. „Warum denn net? Der Schmied müßt’ halt ein anderer sein!“

„No, wer weiß, vielleicht wird noch einmal ein anderer aus mir.“

„Wer ’s glaubt?“

„Du vielleicht net?“

„Na! Und so hab’ ich’s auch net g’meint.“

„Ah so? Ein ganz andern meinst?“ Schorschl hob die Zange auf den Amboß. „Ja freilich … ich weiß … viel halten thust net von mir!“ sagte er, immer ein Paar Worte nach jedem Hammerschlag einschiebend. „Kannst auch recht haben … daß die beste Schneid an mir … schon Fransen kriegt hat … grad so wie Dein Beil! … Aber … der richtige Schmied, mein’ ich … könnt’ den Schaden … vielleicht doch wieder ausgleichen.“ Mit der Zange hielt er dem Mädchen das rotglühende Eisen hin. „Schau her! Da hat’s wieder die schönste Schneid, Dein Beil! Bloß härten muß ich’s noch!“ Er schob die Zange wieder in die Glut und zog den Blasbalg. „Ja, Vroni, wie ich sag’ … über mich müßt’ halt die richtige Schmiedin kommen.“

„So such’ Dir s’ halt!“

„Meinst?“ Er lachte. „No also … fang’ ich halt mit’m Suchen gleich bei Dir an. Thätst es net riskieren mit mir?“

„Na! Ich dank’ schön!“

„Geh, probier’s!“

„Aufs Probieren laß ich mich net gern ein. Ich geh’ lieber sicher.“

„So heirat’ mich halt … das wär’ doch ’s Allersicherste. Und von Dir ließ’ ich mir was sagen!“

„Vergelt’s Gott! Da weiß ich mir was Besser’s!“

„Du bist aber heikel!“

„Für g’wöhnlich net! Aber beim Heiraten schon!“

„Ja, hast recht! Ein’ neuen Hut, wenn er ein’ druckt, den kann man fürs halbe Geld der Nachbarin aufhängen. Aber ein Mann, der bleibt ei’m! Das muß von Anfang gleich der Richtig’ sein! Is ’s wahr oder net?“

„Ja! Hätt’ gar net glaubt, daß D’ so g’scheit bist!“

„Freilich, mancher schaut dümmer aus, als er is!“

Da lachten sie alle beide, laut und lustig, als wäre ihnen der harmlose Spaß dieser hin und her fliegenden Wörtchen so recht nach Wunsch geraten. Dann aber schwiegen sie; und während Vroni, die von der strahlenden Wärme des Essenfeuers belästigt schien, langsam mit der Hand über Stirn und Wangen fuhr, haschte Schorschl mit der Zunge den Schnurrbart zwischen die Zähne und trat mit immer ungestümerem Fuß auf die Stange des Blasbalgs. Plötzlich riß er mit zornigem Ruck die Zange aus der Glut und brummte: „Herrgott, jetzt hätt’ ich den Stahl bald überhitzt!“

Vroni schien nicht zu hören; sie saß vorgebeugt, hatte die Ellbogen auf die Kniee gelegt, und während sich ein herber Zug um ihre Lippen senkte, blickte sie finster zum erlöschenden Glanz des Himmels und zu dem zitternden Gefunkel des immer heller brennenden Sternes auf.

Schorschl stand vor dem Amboß, und da in der Werkstätte schon tiefes Dunkel herrschte, mußte er Vroni den Rücken kehren, um die Helle des Essenfeuers für die Arbeit nützen zu können. Tiefgrau zeichnete sich seine hohe, breitschultrige Gestalt in den roten Schein. Unter achtsamen Schlägen gab er der Schneide des Beils mit einem kleinen Hammer die glatte Form. Dann tauchte er den glühenden Stahl in den mit schwarzem Wasser gefüllten Löschbottich, rasch und kurz, so daß es kaum zischte und nur ein kleines, rot beleuchtetes Dampfwölkchen aufstieg. Und als der nur äußerlich abgekühlte Stahl von innen heraus wieder matt zu glühen begann, versenkte Schorschl die Schneide langsam in das Oelbad. Er schien das Bedürfnis zu fühlen, dem Mädchen diese Hantierung zu erklären.

„Wenn einer z’ grob mit ’m kalten Wasser kommt, das kann den besten Stahl verderben,“ sagte er, und seine Stimme klang völlig anders als früher, „aber je linder einer ’s Oel braucht, so feiner und besser wird d’ Schneid’!“

Vroni schwieg, blickte nur ein wenig auf und sah wieder zum Thor hinaus. Der Spaten machte nur geringe Arbeit: eine kurze Glut und ein paar Streiche mit dem Hammer. Schorschl erledigte das, ohne ein Wort zu sagen.

Diese Stille schien Vroni unbehaglich zu berühren; plötzlich fragte sie: „Daß aber Du heut’ arbeit’st? … Wo is denn Dein G’sell?“

„Den hab’ ich davong’jagt in der Fruh.“

„Was?! … Ja warum denn?“

„Weil er ein Lump is!“

Vroni wollte lachen; aber bei dem funkelnden Blick, der sie aus Schorschls Augen traf, blieb ihr das Lachen in der Kehle stecken. Nach einer Weile fragte sie mit gereiztem Ton: „Daß einer ein Lump is …. seit wann g’fallt Dir denn so was nimmer?“

Er zuckte die Achseln. „No, gar lang’ is ’s noch net her! Gestern, mein’ ich, wär’s noch anders g’wesen.“ Ruhig lehnte er den Spaten an den Thorpfosten. „Soll ich Dir ’s Beil schleifen?“

Jähe Röte war über Vronis Wangen geflogen; nun schüttelte sie den Kopf und griff in die Tasche; sie mußte sich räuspern, ehe sie fragen konnte: „Was … was bin ich denn schuldig?“

„Nix! Is gern g’schehen!“

Da fuhr sie auf, so grob, als hätte er ihr ein böses Wort gesagt. „Schenken laß ich mir nix … Du!“

[487] „Und ich verlang’ nix! Arbeit nach Feierabend mach’ ich bloß zur Rekrazion. Das is kein G’schäft nimmer!“

„Und ich will nix g’schenkt haben und mach’ keine Schulden. Und wenn mir net sagst, was verdient hast, muß ich halt selber schätzen! Vier Mark kriegt einer, der ordentlich arbeit’ den ganzen Tag … macht vierzig Pfennig’ auf d’ Stund’ … und die halbe Stund’ da jetzt … so bin ich Dir zwanz’g Pfennig’ schuldig.“

Daß sie so genau rechnete, das ärgerte ihn. „Billig machst es! … Da könnt’ ein Schmied auskommen! Bei Deiner Rechnerei! … Und der Stahl, meinst, der kost’ gleich gar nix?“

„Mehr als zwei Fünferln wird das Bröckl doch wohl net wert sein! Da hast’ Deine dreißig Pfennig’!“

Er streckte die Hand, aber Vroni legte das Geld auf den Amboß, packte das Beil und den Spaten und schritt ohne Gruß zum Thor hinaus.

„So? So?“ schrie Schorschl mit einer Stimme, die ihm kaum aus der Kehle wollte. „Da kauf ich mir jetzt grad’ eine Maß Bier dafür! Grad’ mit Fleiß!“ Mit zornigem Griff nahm er das Geld und schob es in die Tasche. „Dürsten thut mich eh’, daß mir einwendig alles wie lauter Feuer is!“ Wütend faßte er den Wasserzuber, füllte ihn aus dem Bottich und löschte mit einem Guß die Glut in der Esse. Dann wusch er Gesicht und Hände und trocknete sie mit der Kehrseite des mürben Schurzfells. Darüber schien er seines durstigen Vorsatzes vergessen zu haben; denn aus einem Wandschrank nahm er seine Trompete hervor und ging hinters Haus in den Garten. Hier setzte er sich auf die Thürschwelle und spähte erwartungsvoll nach dem Sträßchen, das zum Gehäng des laufenden Berges führte. Plötzlich hob er die Trompete an den Mund; aber sei es, daß ihm von der Kühle des Abends die Finger steif geworden, oder sei es, daß er die richtige „Amboschur“ nicht hatte – er mußte ein paarmal ansetzen, bevor er einen klaren, schönen Ton zuwege brachte. Und da blies er nun mit schmachtenden Klängen:

„Du, Du liegst mir im Herzen,
Du, Du liegst mir im Sinn,
Du, Du machst mir viel Schmerzen,
Weißt nicht, wie gut ich Dir bin!
Jaaa, jaaa …“

Ohne das Lied bis ans Ende zu blasen, setzte Schorschl die Trompete ab und ließ sie zwischen den Knieen baumeln.

„Mir scheint ja gar, ich bin in das Madl verliebt!“

Er hatte wohl in seinem ganzen Leben noch kein so dummes Gesicht gemacht wie jetzt, da diese Erkenntnis in ihm auftauchte.

„Sakra! Da bin ich aber schön ang’rumpelt!“

Langsam erhob er sich, kraute sich hinter den Ohren und seufzte tief.

„Na! Na! Da schaut nix Gut’s net raus!“ Es befiel ihn die Versuchung, über sich selbst zu lachen. „Schorscherl, Schorscherl,“ sagte er mit der Stimme der Bäckenmahm’ – und dann wieder mit seiner eigenen: „Du bist ein narrisches Luder!“ Wie er das „narrisch“ betonte, das hätte für die Thorheit eines ganzen Faschings ausgereicht.

Aber dann verging ihm das Lachen, und er seufzte wieder. Mit kurzen Schritten trat er ins Haus, kochte das Nachtmahl, und auf dem Herd sitzend, löffelte er den Schmarren aus der Pfanne. Nachdem er draußen im Hof an der Brunnenröhre getrunken hatte, schloß er das Werkstattthor und die Hausthüre, zündete sein Pfeiflein an und setzte sich in der dunklen Stube auf die Ofenbank.

Bei jedem Paffer Pfeifenrauch, den er vor sich hinblies, krabbelte ihm eine Sorge über den Rücken herauf. Doch einem, der sich am Tage müde gearbeitet, erscheinen alle Sorgen um so leichter, je schwerer ihm die Glieder werden.

Als die Glut in der Pfeife erloschen war, erhob sich Schorschl, um sich nach seinem Lager zu tappen. Und kaum hatte er sich ausgestreckt, da fiel ihm schon der Schlaf über die Augen. Im Dusel tauchte ein Bild in ihm auf – war es Erinnerung? oder war es schon Traum?

Er sah die Schlafkammer der beiden Simmerauer-Leute, genau so wie in der letzten Nacht, sah das Licht erlöschen und hörte die zwei Alten miteinander schwatzen. Aber merkwürdig! Mutter Katherl sagte: „Gut’ Nacht halt, lieber Schorschl!“ Und der alte Michel erwiderte: „Gut’ Nacht, mein Vronerl, mein gut’s! Jetzt schlaf’ halt ein und thu Dich net sorgen!“


6.

Weißer Reif schimmerte auf allen Wiesen des Berghanges, und im Hof des Simmerauer waren die Pfützen von dünnen Eiskrusten überzogen, als Michel früh am Tag aus der Hausthür trat, mit übernächtigen, müden Zügen.

Beim Anblick der kleinen, blinkenden Eisscheiben, die wie gläserne Augen aus allen Grübchen des erstarrten Schlammes hervorlugten, atmete er erleichtert auf. „Mathes!“ rief er und klopfte an das Stubenfenster. „Geh, komm und schau!“

Hastig und erschrocken kam Mathes aus dem Flur gerannt. „Is was passiert?“

„Na! G’froren hat’s in der Nacht! Da schau!“

Mathes bückte sich, drückte mit dem Finger eine der Eisscheiben ein und prüfte die Härte des Bodens. „Arg tief geht’s net. Bloß obenhin hat’s ein bißl an’zogen.“ Er sah, wie es über das Gesicht des Vaters zuckte, und fügte mit raschen Worten bei: „Aber fester is der Boden doch wie gestern, und ’s Eis ein bißl dicker. Ja, ja, Vater, es wird kälter mit jeder Nacht. Ich mein’ doch, daß der richtige Frost bald einfallen sollt.“

„Meinst?“

„Ja, Vater!“

„Kannst schon recht haben, Bub’! Ich mein’ selber, daß der Frost nimmer lang warten laßt.“ Nickend hob Michel die Augen zum Himmel. „Er hat mein Sprüchl halt doch verstanden!“ Aber bei aller Hoffnung befiel ihn schon wieder eine neue Sorge. „Sag’, Mathes … wenn aber jetzt mit Gott’s Willen der Boden g’friert … und ’s unt’rische Wasser möcht’ in d’ Höh’ … so kann’s ja nimmer durch, wenn der Boden steinhart is? Und hast es doch g’hört, daß die Kammissoni g’sagt hat: ’s unt’rische Wasser müßt’ wieder steigen, wenn alles gut sein sollt’?“

„Da thu Dich net sorgen, Vater! G’friert der Boden bis ’nunter, so g’friert ’s Wasser mit … und von die Wänd’ ’runter lauft kein neu’s Wasser nimmer zu!“

„Ja, das is auch wieder gut!“

„G’friert’s aber net bis ’nunter, so druckt sich ’s Wasser, wenn’s steigen will, deswegen doch wieder durch.“

„Glaubst?“

„Ja, Vater, das glaub’ ich fest! Weißt, so ein Wasser hat gar ein’ sakrischen G’walt.“

„Freilich, freilich! Tragt ja ein’ ganzen Berg davon … da wird’s doch im Notfall auch so ein Bröckl Boden in d’ Höh’ schieben können?“

„Aber g’wiß!“

„Der liebe Gott soll’s geben!“ Schwer atmend strich der Simmerauer mit den Händen übers Haar. Er wollte noch etwas sagen, aber da wurden im Flur die Stimmchen der beiden Kinder laut, und Vroni kam aus der Thür, mit dem Beil in der Hand.

Ihr Gesicht hatte nicht die frischen Farben wie sonst, und ein Schatten lag um ihre Augen. Aber sie nickte dem Vater lächelnd zu und deutete mit dem Beil auf die gefrorenen Pfützen.

„Gut, Vaterl, gut schaut’s aus!“ Sie ging zum Hackstock, um ihre Arbeit zu beginnen.

Der Simmerauer sah seine Tochter mit prüfenden Blicken an – etwas an ihr schien ihm nicht zu gefallen. Doch ihn drückte noch etwas anderes, und das schien ihm wichtiger. „Komm,“ sagte er halblaut zu Mathes, „speggalieren wir ein bißl umeinander, ob sich nix g’rührt hat in der Nacht.“ Er ging seinem Buben voran in den Garten. Als er an der Hausecke vorüberkam, strich er zärtlich mit der Hand über die Mauer und seufzte.

Mathes mochte gemerkt haben, daß ihm der Vater etwas sagen wollte; denn forschend blickte er dem Alten ins Gesicht.

Mit langsamen Augen spähte Michel an den Wänden hinauf, dann über den Boden hin. Alles war unverändert. Nirgends in der Erde ein Riß oder eine Senkung. Der Balkenrost, den sie mit angestrengter Arbeit am vergangenen Abend vollendet hatten, schien seine Schuldigkeit zu thun und den ganzen Grund um das Haus her fest zusammen zu halten. – Jetzt mußte der Verhau an der Böschung noch verstärkt und dichter verflochten werden. Am verwichenen Abend, während Vroni das Beil und den Spaten in die Schmiede getragen hatte, waren Michel und Mathes in den Wald gegangen, um die für das Flechtwerk nötigen Aeste von den Bäumen zu schlagen; der ganze Haufen, den sie heimgebracht, lag im Hof und Vroni putzte mit dem Beil die kleinen Zweige von den Ruten.

„Vater?“ fragte Mathes, als sie in den Garten kamen.

[488] Michel sah über die Schulter, als hätte er Sorge, daß Mutter Katherl oder Vroni ihnen nachgegangen wäre. Dann sagte er leise: „Ja, Mathes, was ich fragen will … hast nix g’hört in der Nacht?“

„Heut’ net! Na! Ich bin steinmüd’ g’wesen und hab g’schlafen! … Warum?“

„Heut’ nacht hat ’s mir gar net g’fallen. Und kein Stündl net hab’ ich g’schlafen, vor lauter Angst. Wenn halt doch was passieren thät! … Ich glaub’s net! na! … Aber es müßt’ halt doch gleich einer da sein, der d’ Mutter weckt und die Kinderln packt! Und ich sag’ Dir’s, Mathes … die ganze Nacht hab’ ich’s g’hört … allweil hat’s bröckelt in der Mauer drin … ganz unt’ drin, mein’ ich, im Fundament muß’s g’wesen sein! Ein bißl hat’s allweil ausg’setzt, aber gleich hat’s nachher wieder ang’fangt. Und erst wie’s Tag worden is, hat’s aufg’hört!“

„Aber geh, Vaterl,“ sagte Mathes ruhig, „da hast Dich anführen lassen in Deiner Angst! Was soll’s denn g’wesen sein? D’ Mauer is fest! Da kannst Dich verlassen drauf! Ich denk’ mir halt, daß d’ Mäus unter die Bretter drin ’krabbelt haben.“

„D’ Mäus? … So? Meinst?“ Im Gesicht des Alten kämpfte Sorge mit dem Wunsch, zu glauben. „D’ Mäus? Ja ja! Das hätt’ ich mir selber schon gern eing’redt, aber …“

„So schau, es hat ja doch aufg’hört, wie’s Tag ’worden is … da hast ja gleich ein’ Beweis! Geh, sorg’ Dich net! Es is schon so! D’ Mäus sind’s g’wesen!“

„Ja ja! Möglich könnt’s schon sein! D’ Mäus? Ja! Und eigentlich wär’ das gar kein so schlecht’s Anzeichen net! Man sagt doch allweil: eh’ ein Haus fallt, ziehen die Mäus aus. Ja Mathes! Wenn’s d’ Mäus g’wesen wären … ja, das wär’ ein Glück! Ja! Wenn d’ Mäus noch allweil ihre Sicherheit haben, da mein’ ich, könnt’s doch gar so schlecht net steh’n um unser Häusl?“

„Gott bewahr’! Gut steht’s, Vater! Gut!“

„Ja, ich glaub’s! Komm, Mathes, fangen wir ’s Arbeiten wieder an!“

Während sie in den Hof zurückkehrten, spähte Mathes, der hinter dem Vater ging, mit sorgenvollem Blick über das Fundament der Mauer.

Vroni stand mitten in einem Gewirre abgehackter Zweige und hatte schon einen ganzen Stoß geputzter Ruten neben sich aufgeschichtet.

„Brav, Vronerl, brav!“ sagte Michel. Er wollte zur Scheune; aber da blieb er stehen und sah dem Mädchen ins Gesicht. „Geh, sag’, was is denn mit Dir?“

„Warum, Vater?“

„So viel blasseln thust’ mir heut’! Hast net schlafen können in der Nacht?“

„Aber ja!“ Leichte Röte huschte über Vronis Wangen. „Fest hab’ ich g’schlafen!“

„Oder gelt, wird Dir d’ Arbeit schon ein bißl z’viel?“

„Mir? Na, Vaterl! So bald noch net!“ Rascher und wuchtiger schwang sie das Beil, wie um dem Vater zu beweisen, daß ihre Arme keine Spur von Müdigkeit empfänden.

Mathes, der dieses Gespräch gehört hatte, wandte sich ab und lächelte.

(Fortsetzung folgt.) 


Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Schloßgespenster.
Von Rudolf Kleinpaul.

Ich kenne ein Schloß in Schottland, in der Grafschaft Dumfries, mitten in einem See. Es heißt Closeburn und gehört der Familie Kirkpatrick; eine Brücke führt vom Schlosse nach dem Ufer, wo die Patrickkapelle steht, nach der die Familie benannt ist. Der Heilige selbst hat sie gestiftet. Jeden Sommer stellte sich auf dem See ein Schwanenpaar ein – die zwei schönen Vögel waren gleichsam Schutzgeister der Familie Kirkpatrick, sie brachten das Glück mit sich. Bis einmal ein junger Kirkpatrick, der in Edinburg auf der Schule und eben in den Ferien war, das traute Verhältnis löste. Er hatte so viel von dem Gesange des sterbenden Schwans gehört und wollte einmal wissen, was dran wäre. Er nahm also eine Armbrust, legte auf das Männchen an und erschoß es mit einem Bolzen. Der Schwan sang nicht, nur ein paar klagende Töne gab er von sich; das Weibchen flog laut schreiend davon. Jetzt machte sich der vorwitzige Knabe ein Gewissen; er vergrub den toten Schwan am Ufer und sagte kein Sterbenswörtchen von dem Vorfall.

Seitdem wich das Glück von der Familie Kirkpatrick. Kein Schwan ließ sich mehr sehen; endlich nach drei Jahren flog auf einmal wieder einer zu, aber außerordentlich scheu und mit einer blutenden Wunde auf der Brust. Zugleich starb unerwartet der Besitzer von Closeburn. Zwei Jahre darauf erschien derselbe Schwan abermals, wiederum erfolgte ein Todesfall in der Familie. Von nun an war der wunde Schwan der Todesbote für die Bewohner von Closeburn. Seine letzte Wiederkunft geschah im 17. Jahrhundert: da erblickte ihn Roger Kirkpatrick, als er am See spazieren ging, am Vorabend der Hochzeit seines Vaters, der zum zweitenmal heiratete, des Baronet Sir Thomas Kirkpatrick. Der junge Mann verfiel in Schwermut und starb in der folgenden Nacht.

Giebt es wohl ein altes Schloß, um das die Sage nicht ähnliche Erzählungen von schützenden und warnenden Geistern gesponnen hätte? Wer die Geschichte der menschlichen Weltanschauung kennt, dem erscheint die Kunde von den Schloßgeistern und Schloßgespenstern durchaus natürlich. Es gab ja eine Zeit, wo die Welt sich anders im Kopfe unserer Vorfahren spiegelte. Scharen von Geistern oder Dämonen lebten und webten in der Natur; sie brachten Wind und Regen, sie wohnten in Baum und Quelle und griffen in die Schicksale der Menschen ein, Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod waren ihr Werk. Einst herrschte auch allgemein der Glaube, daß jedes Haus seinen Geist oder Kobold habe, der die Sippe, die es bewohnte, beschützte und vor nahendem Unglück warnte oder der auch zu ihrem Verfolger wurde, wenn sie schwere Schuld und Missethat auf sich geladen. Die Geschichte der Hausgeister, die ärmliche Hütten einfacher Leute in ihrem Bann hielten, ist verschollen geblieben, die Kunde von den mächtigeren Schutzgeistern der Fürsten des Volkes hat sich aber von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt; sie hat sich noch lebendig erhalten, als die Aufklärung mit den Dämonen aufräumte, und so sind auch berühmte Burgen und Schlösser zu Stätten geworden, in welchen der Glaube an Hausgeister fortwuchern konnte. An ihrer Gestalt hat die Phantasie des Volkes vieles umgemodelt und sie den veränderten Anschauungen anzupassen gesucht; oft ist es aber nicht schwierig, zu erkennen, daß berühmte und berüchtigte Schloßgespenster ihre Entstehung dem alten Glauben an Schutzgeister des Hauses verdanken.

Giebt es nicht auch in Deutschland ein herrliches Schloß mitten in einem See, nur zugänglich durch eine Brücke? – Das ist das Schweriner Schloß, und es hat ebenfalls wie das von Closeburn seinen warnenden Geist, das sogenannte Petermännchen. Seine Statue steht im Schloßhof, in einer Nische rechts vom Hauptportale; Verehrerinnen setzen ihm wohl sogar ein Tellerchen rote Grütze vor. Denn Petermänken ist zwar ein Geist, aber ein Hausgeist, ein Kobold, der an den Schicksalen des großherzoglichen Hauses innigen Anteil nimmt; seine Farbe ist rot, wenn ein Freudenfest, schwarz, wenn ein Trauerfall in der Familie bevorsteht. Dann blickt Petermännlein traurig und zieht sein Hödeken, das spitze Hütchen, sein Hauptkennzeichen, tief über den Kopf, während es sich sonst vor Lustigkeit gar nicht zu lassen weiß, bei Mondschein über den Hof springt und im Winter Schlitten fährt. Unschwer erkennt man in dem Schweriner Schloßgeist einen Verwandten des Roten Männchens der Tuilerien in Paris, das von Béranger besungen und noch zu Zeiten Karls X., zum letztenmal 1871 beim Aufstand der Kommune „gesehen“ worden ist. Rot ist überhaupt die Leibfarbe aller Kobolde, weil sie eigentlich Herdgeister sind und auf dem Herde das Feuer brennt; daher sie auch für gewöhnlich am Kamine oder hinterm Ofen hocken und einen kleinen Schornstein als Kopfbedeckung haben. Die rote Farbe ist dem Petit Homme Rouge der Tuilerien, obgleich er hier immer Unglück ankündigte, geblieben, wie denn auch die Teufel, in welche sich bisweilen die Kobolde unter dem Einflusse des Aberglaubens

[489]

Li-Hung-Taschang am Sarge Kaiser Wilhelms I.
Nach einer Originalzeichnung von W. Pape.

[490] verwandelt haben, z. B. die Popanze, die an den Küsten der Bretagne umgehen, durchweg für Rote Männer gelten.

Ursprünglich hatte jedes Haus seinen Kobold; und zwar gehörte der Kobold zunächst nicht der Familie, sondern dem Hause als solchem an. Die Hausgeister sind nämlich die alten Hausbesitzer und die Gründer des Herdes, die unter demselben ruhen. Man muß sich vorstellen, daß in grauer Vorzeit, als es noch keine Kirchen und Kirchhöfe gab, der verstorbene Hausvater im Hause gelassen und an dem Sitze seiner Herrschaft, der Feuerstätte, begraben wurde; daher schreibt sich die Heiligkeit des Herdes. Die eigentlichen Hausgeister, und zwar von den römischen Laren und Penaten an, sind alles Alterchen, alles Seelen von guten alten Leuten, die sich von ihren vier Pfählen nicht trennen, sondern nach wie vor ihren Platz am Feuer haben wollen, sich auch nach wie vor im Hause nützlich machen. Sie spalten Holz und legen an, klopfen an Thüren und Fenster, sehen überall zum Rechten und erhalten das Haus in gutem Stande. Wenn die Mauer einen Riß bekommt, so zeigt der Kobold es den Bewohnern an; wenn sie einzustürzen droht, erscheint er. Die Matrosen haben etwas Aehnliches an ihrem Klabautermann. In Häusern, welche recht alt sind, wohnt nicht das Väterchen, sondern das Mütterchen, die gebückte Urahne des Geschlechts; galt doch in der Urzeit die Frau als Oberhaupt der Familie.

Wer kennt nicht die Sage von der schönen Melusine, die in der französischen Stadt Lusignan auf den Zinnen des Schlosses erschien, wenn den Grafen ein Unglück drohte? Sie ist die Stammmutter dieser Herren, die in Zeiten der Kreuzzüge Könige von Jerusalem und Cypern waren. Sie soll eine Fee gewesen sein und den Grafen Raimund geheiratet haben. Als sie ihren Gemahl verlassen mußte, prophezeite sie: „Wenn man mich einst in der Luft über Lusinia schweben sieht, dann sollt ihr wissen, daß das Schloß im selbigen Jahre einen andern Herrn bekommen wird; ich werde aber den Freitag zuvor erscheinen.“ Und so geschah es. Das großartige Schloß, eins der altertümlichsten von Frankreich, wurde während der Hugenottenkriege belagert und zerstört und damit auch der Thätigkeit des Gespenstes ein Ende gemacht. In deutschen und österreichischen Schlössern werden die Ahnfrauen, die ihr Geschlecht abfordern, heute noch „gesehen“; man nennt sie hier gewöhnlich, weil sie aus dem Grabe kommen und das Totenhemd anhaben, im Gegensatze zu den Roten Männchen: die Weißen Frauen.

Weiß ist die Farbe der Geister und Gespenster, die die Volksphantasie aus dem Jenseits wiederkommen läßt. Wenn die Kinder Gespenster spielen, so wickeln sie sich in ein Bettlaken. Der Türmer sieht in der Geisterstunde hinunter auf den Kirchhof:

„Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:
Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann:
In weißen und schleppenden Hemden.“

Natürlich trägt die Weiße Frau als eine Figur des Mittelalters auch das Kostüm der altdeutschen Hausfrauen, das heißt außer dem weißen Kleide ein weißes Tuch um Kinn und Wangen, einen weißen Schleier und an der Seite einen Schlüsselbund. Man will wissen, daß sie vor dem Tode eines Prinzen gestiefelt und gespornt, vor dem Tode einer Prinzessin in schwarzen Handschuhen komme. Der Stiefel ist wohl der gefeite Schuh des Märchens, den jeder Kobold besitzt.

In Böhmen, in der Nähe des Marktes Borotin, ist der Schauplatz von Grillparzers „Ahnfrau“; in der Bezirkshauptmannschaft Kaplitz, auf einem hohen Felsen an der Moldau liegt das alte Schloß Rosenberg. Hier saß ein mächtiges Geschlecht, das in die Geschichte des Landes tief eingegriffen hat, das Geschlecht der Herren von Rosenberg. Den Namen Rosenberg führen heutzutage noch die Fürsten Orsini, die in Kärnten ansässig sind, neben dem ihrigen; die alten Grafen aber nannten sich Herren von Neuhaus und Rosenberg, nach dem uralten Schlosse Neuhaus, das gegenwärtig den Grafen von Czernin gehört; es liegt an der Bahn Wessely-Iglau und wird von den Czechen Heinrichsburg genannt. Dieses Schloß ist noch älter als Rosenberg, es stammt aus den ersten drei Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts und gilt für eine Schöpfung der Gräfin Bertha von Rosenberg, die hier dieselbe Rolle spielt wie die schöne Melusine in Lusignan. Noch heute, wo das Geschlecht der Rosenbergs längst erloschen ist, segnen die Armen der Stadt Neuhaus das Andenken dieser goldnen Baba (Großmutter). Zum Bau des Schlosses hatte es neunundzwanzig Jahre bedurft; als es fertig war, gab die Gräfin den Arbeitern einen Richtschmaus. Sie setzte ihnen Karpfen mit polnischer Sauce vor. Dieses Traktament erhielt sich jahrhundertelang in der Form, daß alle Ostern am Gründonnerstag vierundzwanzig alte Leute mit Karpfen bewirtet wurden. Das geschah regelmäßig bis zum Dreißigjährigen Kriege; in einem dieser stürmischen Jahre lagen die Schweden im Schlosse, und die Speisung fiel aus. Aber der Geist der alten Gräfin ließ sich das nicht gefallen: er schreckte und ängstigte die Besatzung, bis endlich auf den Rat des Kastellans wieder Karpfen gekocht und polnische Sauce dazu bereitet wurde.

Schon zu Ende des 16. Jahrhunderts gedenken gleichzeitige Schriftsteller der Weißen Frau von Neuhaus; die gelehrtesten Männer sprechen von ihrer Erscheinung als von einer allgemein bekannten Thatsache. Sie bewährte sich als echter Hausgeist, indem sie für den Bestand des Gebäudes selber sorgte und sich zum Beispiel einmal am hellen Mittag warnend auf einem Turme desselben zeigte, als eine Treppe morsch geworden war; sie vergaß aber auch ihre Leute, die Hausbewohner nicht. Als Joachim von Rosenberg, einer ihrer spätesten Enkel, im Sterben lag, holte sie ihm einen Geistlichen, damit er beichten könne. Und als sie ihr Geschlecht überlebt hatte und die rote Rose auf dem silbernen Berge entblättert war, wandte sie sich einem anverwandten Geschlecht zu.

Seit dem Jahre 1561 begann die Frau von Neuhaus das Berliner Schloß als das ihrige zu betrachten und nicht nur die Hohenzollern, sondern auch alle mit ihnen verschwägerten Familien, namentlich die Nebenlinien Ansbach und Bayreuth, unter ihren Schutz zu nehmen. Die Beziehungen der Rosenbergs zu der Mark Brandenburg sind alt: Markgraf Otto III., der Fromme, der im Jahre 1230 am Ufer des Frischen Haffs, zwischen Balga und Königsberg, eine neue Brandenburg erbaute, war der Schwager einer Frau von Rosenberg und der Vormund ihres Sohnes. Im Jahre 1285 erfolgte eine weitere Annäherung der beiden Häuser, indem eine Hohenzollern, die Prinzessin Sophie, Tochter des Kurfürsten Joachim II., einen Herrn Wilhelm von Rosenberg heiratete. Seitdem begann die Uebersiedelung und Verpflanzung der Bertha von Rosenberg in die Kurfürstenburg und die kurfürstlichen Anlagen längs der Spree. Sie war hier zunächst ebenso geschäftig und hilfreich wie in ihrem alten Heim. Sie wusch ihre weiße Wäsche am Schloßbrunnen und hing sie im Mondschein auf oder bleichte sie am Ufer; sie wiegte die geliebten Kinder, wenn ihre Ammen schliefen, und sprang gefällig ein, wo es an etwas fehlte. Sie war ein rechtes Faktotum. Die Kurfürstin Luise Henriette sitzt vor dem Spiegel und fragt so vor sich hin, was es an der Zeit sei. Ihre Kammerfrau ist zufällig nicht anwesend, aber statt ihrer guckt die Weiße Frau hinter dem Spiegel hervor und antwortet: Zehn Uhr, Euer Liebden! – Die Gräfin von Montfort-Bregenz macht bei einer preußischen Prinzessin einen Krankenbesuch; als sie weggeht, ist niemand da, ihr zu leuchten. Aber die Weiße Frau kommt mit einer brennenden Wachskerze und begleitet die Gräfin hinunter. Ihr eigentliches Amt ist es jedoch, in den Schlössern der Hohenzollern zu erscheinen, wenn etwas Wichtiges bevorsteht, namentlich Todesfälle anzuzeigen, die im preußischen Königshaus eintreten.

Als der erste König von Preußen, schon lange kränklich, eines Abends allein in seinem Zimmer saß, überraschte ihn seine Gemahlin Sophie Luise in weißem Nachtgewande, an den Armen blutend. Sie war die Tochter des Herzogs Friedrich von Mecklenburg und etwas überspannt; sie litt an religiösem Wahnsinn und quälte ihren Gemahl mit ihren Bekehrungsversuchen. Für gewöhnlich wurde sie überwacht, war aber an diesem Abend ihrem Gewahrsam entkommen und hatte sich beim Aufstoßen der Glasthüre verletzt. Der König erschrak heftig; er glaubte, die Weiße Frau zu sehen. Wirklich erkrankte er schwer und starb acht Tage darauf (25. Februar 1713), während ihn seine Frau um zweiundzwanzig Jahre überlebte.

Man hat die Erscheinung der Weißen Frau noch in einer andern Weise zu erklären versucht. Die Abergläubischen halten vielfach alle Gespenster, die da umgehen, für die Seelen Schuldbeladener, die verdammt sind, so lange zu wandern, bis die Verbrechen ihrer Zeitlichkeit getilgt sind. Das Abrufen ist nach dieser Anschauung nicht etwa ein Vergnügen, es hat etwas Qualvolles: rastlos muß die Weiße Frau heraufkommen, bis das von ihr abstammende Haus ausgestorben ist. Aus diesem Grunde hat man sich frühe unter den Ahnfrauen des Hauses nach einer geeigneten Sünderin umgesehen, ihr das Ruferamt übertragen, sie für die [491] eigentliche Stammmutter untergeschoben. Eine solche schuldbeladene, außerhalb der Familie stehende Gestalt hat man nun für das Haus Hohenzollern in der Person der Gräfin Agnes von Orlamünde gefunden, die eigentlich die Weiße Frau der Plassenburg war und wie Bertha von Rosenberg erst später nach Berlin verpflanzt wurde.

Diese sagenhafte Frau, die dem 14. Jahrhundert angehört, ist Agnes, eine geborene Herzogin von Meran, die den Grafen Otto von Orlamünde heiratete, dem sie zwei Kinder gebar; das herzogliche Haus Meran ist eigentlich das Haus der Grafen von Andechs, die an der Etsch und am Inn begütert waren, aber auch halb Franken besaßen. Hier gehörte ihnen die Herrschaft Plassenburg mit der Stadt Kulmbach, desgleichen die Markgrafschaft Ansbach und Bayreuth. Auf die Plassenburg zog die verwitwete Gräfin, als sie mit ihren Kindern Orlamünde verließ. Dort soll sie nun in intime Beziehungen zu einem Hohenzollern, dem schönen Albrecht, Burggrafen von Nürnberg, getreten sein. Der Burggraf hatte einmal zu ihr geäußert, aus einer Ehe könnte nichts werden, vier Augen stünden ihrer Verheiratung entgegen. Vier Augen sind zwei Menschen: er meinte damit seine alten Eltern, Friedrich IV. und seine Gemahlin, die ihre Einwilligung nicht gaben. Die Gräfin Agnes aber verstand es von ihren beiden Kindern und räumte sie aus dem Wege. Sie bohrte ihnen eine goldene Nadel in den Hinterkopf. Hierauf von Albrecht verlassen, pilgerte sie nach Rom, that Buße und stiftete das Kloster Himmelskron unweit Berneck; in der Klosterkirche, wo man ihren Leichenstein zeigt, wurde sie um das Jahr 1361 beigesetzt, der Burggraf Albrecht an ihrer Seite. So lautet die freilich vielfach unhistorische Tradition.

Die Feste Plassenburg war der Mittelpunkt der fränkischen Besitzungen des Hauses Meran gewesen; hier erschien also die Gräfin Agnes zunächst, wie Bertha von Rosenberg zunächst in Neuhaus erschienen war, weiter dann auch in den Schlössern zu Ansbach und Bayreuth. Daselbst hingen auch Porträts von ihr, die leider verbrannt sind; einen Holzschnitt vom Ende des vorigen Jahrhunderts, die Weiße Frau darstellend, die einen Lilienstengel trägt, findet man in dem „Buch der Hohenzollern“ von Max Ring. In Bayreuth hat sie der Markgraf Erdmann Philipp, bevor er 1678 im Schloßhofe vom Pferde stürzte, in einer Mainacht des Jahres 1812 Napoleon, schon vor ihm der General d’Espagne „gesehen“. Demnächst und gleichsam aus alter Liebe zeigte sie sich auch in den übrigen Schlössern der Hohenzollern, sowie solchen, deren Herren den Hohenzollern verwandt sind: in der Schwanenburg zu Kleve, in Sagan, im Schlosse zu Darmstadt und in Altenburg.

Es sei noch ferner erwähnt, daß es auch Schlösser giebt, in welchen die Ahnfrauen nicht in weißer, sondern in tiefschwarzer Tracht sich den Menschen zeigen. In München soll so eine Schwarze Frau vor dem Tode jedes Wittelsbachers erscheinen: die Kurfürstin Marianne, die Gemahlin Maximilians III. Josephs, eine sächsische Prinzessin, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts lebte. Man erinnert sich in München noch sehr gut, daß im Winter 1863 unter der Regierung des Königs Max ein Hofball in dem von Max III. und Marianne erbauten Residenztheater stattfand, bei dem alle Tänzer im Kostüme jener Zeit und die Mitglieder der alten Familien in den von ihren Ahnen bekleideten Hofchargen erscheinen mußten. Königin Marie stellte Marianne vor und trug ihre Juwelen, Prinz Luitpold gab den Kurfürsten. Man sah’s im abergläubischen Volk nicht gern, und als im selben Winter Prinzeß Luitpold und bald darauf auch König Max plötzlich starb, meinte man, es sei ein Frevel gewesen, die Schwarze Frau absichtlich zu beschwören, und die Strafe nicht ausgeblieben. Warum die Kurfürstin Marianne umgeht, darüber läßt sich Bestimmteres nicht ermitteln.

Aus den tragischen Figuren, die wie die Gräfin von Orlamünde mit einer Schuld auf dem Gewissen aus dem Leben gegangen sind, rekrutieren sich noch andere Schloßgespenster: Geister, die, ohne Todesboten zu sein, nur überhaupt spuken, in der Stille der Mitternacht entsetzlich rumoren und poltern, weshalb sie auch geradezu Poltergeister heißen. Sie fehlen fast in keinem alten verfallenen Schlosse. Wer hätte denn noch niemals von einer „Rummelsburg“ gehört, in der es irregeht und nach der Versicherung der ganzen Nachbarschaft nicht recht geheuer ist? – Bald ist es ein Gefangener, der mit seinen Ketten rasselt, bald ein langer hagerer Mann in einem langen Talar von weißem geblümten Atlas, der alle Thüren und alle Kasten aufschließt, bald ein ehrwürdiger Greis, der dem Angstschweiß schwitzenden Fremdling die Bettdecke wegzieht, den Bart abnimmt und eine Glatze schert. Die Deutung dieser Poltergeister ist zunächst nicht schwierig. Das Poltern läßt sich bald auf den Wind, der durch die Luken pfeift, zurückführen, bald auf Katzen und Marder, die sich beißen! Oder es ist eine Maus, die über die Tasten huscht! Wirklich ist so ein Fall, daß eine Maus unter dem Deckel eines alten abgesetzten, seit Jahren nicht geöffneten Klaviers ihre Wohnung aufgeschlagen hatte und männiglich erschreckte, weil ab und zu bald eine Saite, bald die ganze Klaviatur angeschlagen wurde, erst vor ein paar Jahren in Tilsit vorgekommen, und ebenso gab unlängst ein Elsässer die Anekdote zum besten, wie sich in einem alten Schlettstädter Stiftshause die Sage von einem geisterhaften Archivar gebildet hatte, der die Nacht hindurch in einem Eckzimmer unermüdlich schreibe und kritzele. Das Rätsel löste sich, indem später in einem abgetragenen Kamine unzählige Skelette von Dohlen und Eulen gefunden wurden, die sich hier zu Tode geflattert hatten, weil sie sich in dem Schornsteine wie in einer Falle gefangen hatten. Und diese armen Gefangenen bringen uns zu guter Letzt noch eine Gattung von Schloßgespenstern in Erinnerung: die Frauen und die Kinder, die absichtlich in Schlössern eingemauert worden sind, die unglücklichen Wesen, die nach dem Sinne einer grausamen Vorzeit zu Hausgeistern werden sollten und das finstere Haus so grauenvoll belebten wie hier die elendiglich hereingefallenen Vögel.

Es giebt noch ein drittes Fürstenhaus, das wie die Familien Andechs und Rosenberg einerseits Beziehungen zu den Hohenzollern, anderseits eine Weiße Frau hat. Das ist das alte in Oesterreich begüterte Geschlecht Collalto, das in der Trevisanischen Mark bereits im 10. Jahrhundert auftaucht. Sein Ahnherr ist der Ueberlieferung nach ein Hohenzoller. Als Graf Reimbalt XIII. am 8. April 1630 sein Testament aufsetzte und die Güter in Mähren zu einem Fideikommiß vereinigte, traf er auch Bestimmungen für den gänzlichen Abgang der Familie Collalto. Dann sollten seine Güter an die ihm anverwandte fürstlich Hohenzollernsche Familie fallen. Aber die Weiße Frau des Stammschlosses, das an der Grenze der Mark Treviso und der Gemeinde Ceneda steht, ist keine Ahnfrau, sondern ein Kammerfräulein, das einst hier eingemauert und lebendig in die meterdicken Mauern des Hauses eingeschlossen wurde, und das kam so:

Die Gräfin Juliana läßt sich von ihrer Zofe das Haar machen. Sie sitzt vor dem Spiegel und bemerkt, wie das hübsche Mädchen hinter ihrem Rücken mit dem Grafen liebäugelt. Wütend verurteilt die Gräfin das unglückliche Geschöpf zur Einmauerung, einer Strafe, die im alten Rom eidbrüchige Vestalinnen, im Mittelalter so viele gefallene Nonnen, z. B. Konstanze von Beverley in St. Cuthbert auf Holy-Island, traf. Vade in pace! (Geh’ in Frieden!) Mit diesem Gruße und mit ein wenig Brot und Wasser verließ man die lebendig Begrabene. Es klang wie Hohn. Das Opfer fand keinen Frieden. Es ward ein Schloßgespenst.

Das war in anderen Fällen die beabsichtigte Folge. Die Einmauerung ist nicht bloß eine Strafe gewesen wie das Pfählen, sondern eine Sitte, eine Methode, Hausgeister und Kobolde künstlich zu schaffen und zu züchten, wo noch keine da waren. Bei Neubauten unter den Grundmauern Menschen, zumal unschuldige Kinder, lebendig einzuschließen, um damit einen Schutzgeist für das Gebäude zu gewinnen, war einst auch unter den Völkern Europas ein vielverbreiteter Brauch. In Afrika und Hinterindien kann man es heute noch erleben, daß ein Mensch festlich bewirtet, auf seine künftigen Pflichten hingewiesen und dann umgebracht wird, um sein Blut unter den Mörtel zu mischen und für ein neues Thor einen unsichtbaren Wächter zu bestellen. In Europa vergrub man den Menschen lebendig unter dem Baugrunde oder mauerte ihn ein. Es waren gewöhnlich Burgen und Festungen, auch Klöster, denen man auf diese Weise einen Warner, einen treuen Eckart sichern wollte; aber auch Brücken, Dämme und andere Bauanlagen, die nicht recht feststanden und bei denen es darauf ankam, daß jemand aufpaßte. Der Brauch ist nicht bloß durch zahllose Sagen und Lieder, sondern auch durch die Gerippe, die man beim Abbruch alter Häuser im Fundamente findet, thatsächlich bezeugt. Es ist klar, daß Erinnerungen an das traurige Schicksal der Eingemauerten und die grauenhaften Funde von Gerippen die Phantasie des Volkes tief erregten und zum Fortleben des Glaubens an Hauskobolde und – Schloßgespenster nicht wenig beitrugen.



[492]

Fredy.

Novelle von Marie Bernhard.
(Schluß.)


3.

Ein herrlicher Sommertag! Blaufunkelnd wogte das Meer, in breiter Goldflut ergoß sich freudiger Sonnenschein über Feld und Wiesen. Um die wilden Blumen taumelten bunte Schmetterlinge, in geschäftigem Summen schwirrten die Bienen um offene Kelche. Aus stolzen Wipfelkronen flötete die Amsel, lockte der Buchfink, schmetterte der Zeisig sein keckes Liedchen, und unaufhörlich fragte der kleine Goldammer dazwischen sein eintönig liebliches „Hast, hast, hast Du mich lieb?“

00Dort in die Schluchten, die hier und da vom Strande aufwärts in den Wald hineingingen, konnte vor Abend kein Sonnenstrahl durchdringen. Tiefblaue Schatten lagerten sich da, ein satter violetter Ton webte über den gewaltigen Farrenkräutern, die ihre gerippten Wedel bis in das Bächlein herabsenkten, das hier in Zischen und Sprühen weißflockig über die Kiesel tanzte, dort fadendünn von braunrötlicher nackter Felsenbrust niederträufelte. Ab und zu fing eine von den großen blaudunkeln Glockenblumen, wie sie zahllos am Bachesrand wuchsen, einen von den herabsprühenden Tropfen auf, so daß er wie ein Diamant in dem offenen Kelch funkelte. Im Waldesdickicht brach und knackte es, mit scheuem Lugen streckte ein Reh sein feines Köpfchen vor und hielt furchtsam inne, sobald unter seinem flüchtigen Fuß ein Aestlein entzweiknickte. Hoch oben im blauen Duft tummelten sich die Möwen, stießen mit kühnem Flug nach unten, segelten in weitem Bogen über die Schlucht und strichen dicht am Meer hin, in neckendem Spiel die Flügelspitzen ins Wasser tauchend. Einige unter ihnen legten sich mit der silberweißen Brust auf die Wellen und ließen sich von der Brandung werfen, während der Fischreiher droben beutegierig seine Kreise zog. – Ostpreußischer Strand ist schön, und mit Recht sagen seine Bewohner, wenn man die Abgelegenheit ihres Landes, die Kargheit seiner Reize bedauert, mit stolzer Betonung: „Aber wir haben doch unseren Strand!“ Hier auch, in diesem stillen Badeörtchen hatte Mutter Natur ihre gütige Hand aufgethan und Land und Strand mit stolzen Bäumen, mit wild aufgetürmten Felsgruppen, mit üppig wucherndem Buschwerk und einer Unzahl köstlicher Waldblumen geschmückt, die den Wanderer lockten und lockten, bis er sich tief im Herzen des Waldes befand, wo kein Pfad mehr führte.

„Bei den Klippen“, so hieß eine Stelle, zu der man vom Walde aus gelangen konnte, mühsam freilich, oft auf ungeebneten Wegen, häufiger noch steil aufwärts, wo der Fuß den Halt verlor und die Hand zu Hilfe genommen werden mußte, um am zähen Gesträuch eine Stütze zu suchen. Gefährlich für den Schiffer waren sie freilich nicht, diese schroffen, nackten Felskolosse, dazu ragten sie zu steil und weithin sichtbar über den Spiegel der See empor. Man genoß von ihnen einen wunderbaren Rund- und Umblick über Meer und Wald und Land, den Sonnenuntergang hatte man auf ihrer Höhe herrlich vor Augen. Jedoch nur für tüchtige Fußwanderer war der schöne Aussichtspunkt zu erreichen; für Wagen und Reiter war der Pfad nicht gangbar.

Als Frau Hildegard Bingen nachmittags zum Versammlungsplatz im Walde kam, Fredy an der Hand führend, erfuhr sie, daß heute dieser Aussichtspunkt das Ziel der gemeinsamen Wanderung sein sollte. Sie hatte wohl einige Bedenken, ob ihrem Knaben der Weg nicht zu weit und zu beschwerlich sein möchte, aber der Arzt hatte ihm weites Gehen geradezu verordnet, mit dem Zusatz: „Wir dürfen ihm durchaus nicht das Gefühl geben, als gäbe es allerlei, wofür er zu zart und schwächlich sei. Es ist Zeit, daß er es lernt, sich auf seine eigene Kraft zu verlassen, bei dem ewigen Behüten und Abwägen kommt nichts heraus!“ Da auch Baron von Trutzberg, als er Hildegards Zaudern bemerkte, mit Ostentation rief: „Wenn die gnädige Frau nicht dabei ist, gehen wir alle nicht!“ und diese Worte mit einem sehr sprechenden Blick begleitete, so fühlte die junge Frau ihren ohnehin nicht sehr ernst gemeinten Widerstand schmelzen.

Der schöne Kürassieroffizier schien es heute überhaupt darauf anzulegen, seine Verehrung für Frau Hildegard vor der versammelten Gesellschaft, die aus etwa achtzehn bis zwanzig Köpfen bestand, offenkundig an den Tag zu legen. Es ist immer ein merkwürdiges Schauspiel, wenn ein von der Natur besonders bevorzugter Mann gegen die ganze Welt eine übermütige Siegerlaune zur Schau trägt und nur mit einer Einzigen eine Ausnahme macht .... ein Schauspiel, das bei dieser einen Einzigen gewöhnlich auch seines Erfolges sicher ist!

„Er geht scharf ins Zeug!“ dachte Lutz von Bredwitz für sich, der, nachdem er allen Anwesenden vorgestellt worden war, ein wenig seitwärts blieb und den stillen Beobachter abgab. „Er bläst zur Attacke, der flotte Hans Henning, und, wenn nicht alle Zeichen trügen, wird er einen leichten Sieg zu verzeichnen haben! Hat immer die Weiberchen heillos rasch am Bündel gehabt und ist ja auch ’n schöner Kerl, tannenschlank gewachsen, Prachtfigur, und den richtigen Rassestempel, was Kopfhaltung und Hände und Füße betrifft und nun die Brandraketen von Augen im Kopf …. da mag es für ein Weib schwer sein, das Herz festzuhalten! Schön ist sie nun nicht, seine Auserkorene, da hat er recht, und wenn er mit der am Arme Visiten schneidet, wird auch jeder zuerst ans Portemonnaie denken, – aber häßlich ist sie auch nicht, sie sieht gescheit aus, und wenn’s nicht sentimental klänge, würd’ ich von ihr sagen, sie hat ein liebes Gesicht! Auf ihren Sprossen scheint sie freilich große Stücke zu halten, läßt ihn kaum aus den Augen, und der Junge wird in der neuen Ehe den unausbleiblichen Haken abgeben, und zwar ’nen eklichen Haken, da laß ich meinen Kopf zum Pfand! Ja – ich werd’ es doch nicht ändern können! Was mir aber Fanny und Philipp der Gute heute bei Tisch so beiläufig über die Vermögensverhältnisse der Frau – Frau – wie heißt sie gleich? – Bingen erzählt haben, das giebt mir die Zuversicht, daß Trutzberg denn doch ’nen riesigen Glückstreffer mit ihr macht … trotz Stiefsohn und allem!“

Während das dicke Lützelchen sich diese Gedanken gemütlich durch den Kopf gehen ließ, – er besorgte nichts geschwind, auch das Denken nicht! – standen die beiden neuen Kameraden Fredy Bingen und Lutz Ortmann nebeneinander und musterten sich mit den Augen, ohne zu sprechen. „Die beiden Bengel beschnüffeln sich wie zwei junge Hunde!“ dachte Bredwitz und sah ihnen belustigt zu.

„Bist Du der, von dem mir der gesagt hat?“ brach endlich Fredy das Schweigen und wies auf Lutz den Aelteren.

Das hellblonde Bürschchen mit dem rosigen, kugelrunden Kindergesicht nickte und zupfte an seinem Matrosenkragen.

„Kannst Du auch schon lesen?“ fragte es nach einer neuen Pause, um auch seinerseits zur Belebung des Gesprächs beizutragen.

„Ja – schon lange – seit dem Winter!“

„Ich auch! Hab’ einen Lehrer ganz allein für mich gehabt!“

„Ich hab’ bei meiner Mama gelernt!“

„Ist das die mit der hellblauen seidenen Bluse?“

„Ja!“

Eine neue Pause.

„Bleibt ihr lange hier?“ fing Lutz Ortmann von neuem an.

„Weiß nicht. So lange, wie meine Mama will. Und Du?“

„Ach – na, – den Sommer bis zu Ende. Wir haben uns ja hier ’ne eigene Villa gebaut!“ Dies sagte er mit einem scheinbar gleichgültigen Gesicht, aber mit einem kleinen fragenden Seitenblick, ob Fredy diese Thatsache auch gehörig imponiere.

„Wir haben ein Landgut!“ sagte dieser einfach dagegen.

„Ach! Aber ist das nicht da langweilig – so im Winter?“

„Mit Mama? Niemals! Und dann kommt immer Onkel Hugo –“

„Wer ist das?“

„Na … Onkel Hugo Haßler! Hat auch ein Landgut, nahe bei unserm, und liest Mama vor und fährt mit uns spazieren, und spielt auch mit mir. Sieh mal, das ist auch von ihm!“

Mit einiger Mühe holte Fredy aus der Tasche seines Höschens einen Ball heraus. Es war ein wunderhübscher Ball, mit bunter Seide kreuz und quer übersponnen, und als Fredy ihn auf die Erde warf, that er einen hohen Satz.

„Der ist fein!“ sagte Lutz bewundernd. „Solchen Ball hab’ ich noch nie gehabt!“

„Das neueste aus Berlin!“ nickte Fredy wichtig. „Mein Onkel Hugo, der läßt immer das allerneueste aus Berlin für mich kommen!“

„Den hast Du also sehr lieb?“

[493]

Ueberrascht.
Nach dem Gemälde von E. J. Boks.

[494] „Ja – aber nicht bloß, weil er mir oft was schenkt!“

Mein Onkel – mein Onkel Lutz ist auch sehr gut – den haben wir alle sehr lieb; ich hab’ nämlich noch zwei kleine Schwestern! Hast Du auch welche?“

„Nein, ich bin bloß allein!“

„Aber wir spielen heute zusammen, ja? Onkel Lutz sagt, wir sollen!“

„Der ist nett, Dein Onkel und dann können wir auch spielen, aber Du mußt mich nicht schlagen!“

„Fällt mir gar nicht ein, Dich zu hauen, wo Du mir nichts gethan hast!“ Die beiden neuen Freunde faßten einander bei der Hand und lächelten sich an.

Unterdessen hatte die Gesellschaft eine sehr eifrige Debatte über den bevorstehenden Spaziergang geführt. Eine Mutter erklärte, der Gang zu den Klippen sei nichts für Kinder, und sie müsse dann ihr kleines Mädchen nach Hause schicken. Einige stimmten dem bei, andere wieder erklärten sich dagegen.

„Ich gehe nicht ohne mein Kind!“ sagte Hildegard Bingen mit ihrer sanften, festen Stimme.

„Natürlich nicht!“ rief Trutzberg lebhaft. „Fredy muß mit dabei sein! Und wenn er müde wird, dann trage ich ihn!“

„Ich werde auf keinen Fall müde!“ ließ sich Fredys Stimmchen in sehr bestimmtem Ton vernehmen.

Alles lachte. Frau Hildegard warf dem Knaben einen mahnenden Blick zu, in dem zu lesen stand: „Was hattest Du mir versprochen?“

Das Kind wurde rot und schlug den Blick zu Boden, ohne etwas zu erwidern.

„Meine Verehrten, wenn wir noch lange hier stehen, wachsen wir fest!“ rief ein jovialer Oberlehrer. „Die schöne, kostbare Zeit verstreicht, und der Weg bis zu den Klippen ist ziemlich weit!“

Unter Scherzen und Lachen brach man auf. Lutz von Bredwitz warf sich zum „Kindermädchen“ auf und nahm die vier Jüngsten der Gesellschaft in seine Obhut. Frau Hildegard warf ihm einen dankbaren Blick zu – sie wußte ihr Kind gut aufgehoben und konnte sich ruhig demjenigen widmen, an dessen Arm sie ging.

Ruhig? Ach, sie war weit davon entfernt, dies zu sein. Bis in die feinen Fingerspitzen hinein fühlte sie ihr Blut klopfen ... Schüchtern hob sich ihr Auge zu dem stolzen, regelmäßig geschnittenen Gesicht empor, das sich so angelegentlich zu ihr herabneigte. Sie wollte es so gern studieren, dies Gesicht, so gern in diesen Augen lesen … man hatte sie oft versichert, sie sei eine gute Menschenkennerin, und sie hatte sich selbst dafür gehalten – – aber wo die Leidenschaft zum Wort gekommen ist, da ist es vorbei mit dem Beobachten und Ueberlegen! Sie konnte auch nicht auf das achten, was er zu ihr sagte …. wie er es sagte, das war ihr alles! Ihr Herz sprach mit, sobald der vibrierende Ton seiner Stimme ihr Ohr traf oder war es doch ihr Herz nicht? War das nicht am Ende doch daheim im schönen stillen Landgut geblieben, im schönen, stillen Zimmer, wo am Winterabend die rote Flamme im Kamin flackerte, der Wind den körnigen Schnee gegen die Fensterscheiben warf und eine tiefe sympathische Stimme ihr geistvolle, bedeutende Dichterworte vorlas? – Dort war kein Bangen, kein Schwanken gewesen, nur tiefes Verstehen und geistiges wie seelisches Geborgensein, … hier … ach, wer sagte, wer zeigte ihr, wo ihr Glück lag? Und handelte sich’s um ihr Glück allein? – Wie eine Vision sah sie wieder das schöne trauliche Gemach mit dem lodernden Kaminfeuer und, an das Knie des Vorlesers gelehnt, einen kleinen bleichen Knaben, zutraulich und zärtlich sein Köpfchen an die Schulter des alten Freundes geschmiegt … und der kleine bleiche Knabe war ihr einziges, geliebtes Kind! –

„Gnädigste Frau sind so tief in Gedanken!“ sagte die Stimme an ihrer Seite.

Sie zuckte zusammen, wurde rot und lächelte verlegen. Konnte sie ihm sagen: „Meine Gedanken drehten sich alle um Dich?“

Er, der schöne Kürassierlieutenant, nahm mit zwei Fingern der freien linken Hand seinen Schnurrbart gefangen und drehte ihn ungeduldig aufwärts. Mein Gott, war diese Frau philiströs und schwerfällig!! Man kam keinen Schritt weiter mit ihr! Wären ihre Augen nicht gewesen, diese sprechenden, aufgeregt glänzenden Augen, die immer so bewundernd zu ihm emporsahen … wahrhaftig, er hätte nicht einmal zu sagen gewußt, ob er ernstliche Chancen habe, ob es sich lohne, das entscheidende Wort zu sprechen! Aber ob sie ihn heute schon dazu würde kommen lassen, wie er es so gern gewollt, das schien ihm doch sehr zweifelhaft. Und er hatte sich eine Art von Programm zurechtgemacht, in welchem dieser Spaziergang nach den Klippen eine sehr wichtige Nummer bildete! Freilich, so ganz vom Zaun brechen ließ sich die Sache nicht, aber die Ungeduld raubte ihm alle Ruhe und machte ihn viel erregter noch, als er es ohnehin war. Seine goldene, schöne Freiheit – nun sollte er wirklich darangehen, sie zu opfern – oder doch wenigstens ein gutes Stück davon! Und um dieser Frau willen, die so gar nicht „sein Genre“ war, die er sich aus freiem Antrieb niemals ausgesucht haben würde! Sicher war sie unsäglich tugendhaft, moralisch, brav, wahrheitsliebend – mit einem Wort: langweilig! Und dann hatte er sie stark im Verdacht, mit „geistigen Interessen“ behaftet zu sein, für Kunst und Litteratur zu schwärmen und wissenschaftlich gebildet zu sein! Dies war bei Frauen ein Standpunkt, den er „das letzte“ nannte, er konnte ihn durchaus nicht vertragen! Wie würde man sich mit einer solchen Frau zu unterhalten haben? Von Amüsement mußte man natürlich ein für allemal absehen – aber einfach: was redete man mit ihr? „Ach,“ tröstete er sich endlich, „wenn sie sehr verliebt sind, die Weiber, kommt’s weiter nicht so viel drauf an!“

Den Dienst hätte er ungern quittiert, er kam sich noch zu jung dazu vor und war gern Soldat. Besitzer eines Rittergutes aber – warum nicht? Und es war ein stolzes, ein schönes Rittergut, er hatte sich genau informiert. Dort im Sommer ein paar Monate leben, Gastfreundschaft im großen Stil ausüben, sich die halbe Garnison herausbitten, im Herbst mit den Kameraden jagen und nach der Scheibe schießen, tüchtig durch die Wälder reiten, ein gutes Vollblutgestüt anlegen im Winter dann in der Stadt ein hübsches Haus machen, jours fixes und Hausbälle in Scene setzen … das wäre nach seinem Sinn, das würde sich aushalten lassen! Ein ungleiches Paar würden sie allerdings abgeben, er und diese Frau – sie war auch viel zu klein für ihn, er liebte die junonischen Gestalten. Vielleicht, wenn man sie besser anzog, konnte sie doch repräsentabler werden. So, wie sie da neben ihm herschritt, in dem schlichten grauen Rock und der blauseidenen Bluse, sah sie fabelhaft unscheinbar aus. Und dieser verzogene Bengel, von dem sie sich gewiß nie würde trennen wollen! Bah, war sie erst einmal seine Frau, so setzte er’s auch durch, daß der Junge ins Kadettenhaus kam, obgleich er freilich zum künftigen Offizier so ungeeignet wie nur möglich erschien. Ja, ja, Hans Henning, Edler von und zu Trutzberg, wenn man zum erstenmal in seinem vielbewegten Erdendasein einen ernstlichen Heiratsantrag wagen will, das kostet Kopfschmerzen! – –

An einem besonders schönen Aussichtspunkt machte die wandernde Gesellschaft für eine Viertelstunde Rast. Man war schon ein gutes Stück gestiegen, unmerklich beinahe, da der Weg sich sanft emporhob. Nun sah man drunten, eingebettet in ein grünes Thal, ein weißes friedliches Dörfchen liegen, hier und dort eine weidende Herde, hinter den leicht gewellten Hügelrücken die weite blaue See, auf der hin und wieder ein helles Segel im Sonnenschein glänzte.

„Vertrauen Sie mir Ihren Schirm an, ich will Sie schützen!“ sagte Hans Henning und dämpfte seine Stimme zu einem leisen einschmeichelnden Ton herab. „Ich will mich bemühen, es geschickt zu machen, damit Sie sehen. Daß Sie gesehen werden, möchte ich gern vermeiden!“ Und nun manövrierte er mit dem weißen Spitzenschirm und bog sich tief über sie und sonderte sie und sich selbst vollkommen gegen die übrigen ab, daß ihnen nur ein kleiner Lugaus blieb für das liebliche Landschaftsbildchen zu ihren Füßen, und wenn sein beredter Blick den ihrigen traf und eine verräterische Blutwelle um die andere in ihre blassen Wangen stieg, dann faßte seine Hand von neuem nach dem Schnurrbart, diesmal aber, um ein Lächeln des Triumphes zu verstecken.

So kam es, daß die beiden und auch die anderen, die eifrig im Gespräch waren, den Wanderer nicht bemerkten, der vom Dörfchen her langsam den gewundenen, etwas beschwerlichen Fußpfad aufwärts stieg. Und hätte ihn jemand bemerkt, so hätte man ihn kaum sonderlich beachtet; er konnte einer der Bewohner des kleinen Badeortes sein, und in seiner Erscheinung lag nichts, was irgendwie in die Augen fiel. Kaum mittelgroß, tief brünett, das Haar um Stirn und Schläfen herum schon ein wenig grau, in einen einfachen dunkelblauen Sommeranzug gekleidet, einen Strohhut mit breitem schwarzen Band über der Stirn – solcher Persönlichkeiten giebt es viele, man sieht flüchtig drüber hin und drüber weg, ohne sich weiter etwas zu denken.

[495] Einer aber war unter der Gesellschaft, der sah nicht drüber weg. Der kleine Fredy, der nach seiner schüchternen Art mit seinem neuen Freund ein etwas einsilbiges Gespräch geführt und währenddessen mit seinen forschenden Kinderaugen die Landschaft gemustert hatte, stürzte plötzlich mit dem aufgeregten Jubelruf: „Mama, Mama, da ist Onkel Hugo! Da kommt Onkel Hugo!“ auf seine Mutter zu. Ungestüm stieß er den weißen Spitzenschirm beiseite und faßte seine Mama bei beiden Händen, um sie von der Bank emporzuziehen.

„Wer kommt?“ – „Wen hat er gesehen?“ – „Meint er den Herrn, der dort vom Dorf in die Höhe kommt?“ – „Kennen Sie ihn?“ – „Na, der Junge scheint sich aber unbändig zu freuen!“ Solche Ausrufe wurden rechts und links hörbar, indessen sich Frau Hildegard verwirrt erhob und, unbewußt widerstrebend, sich von Fredy mit fortziehen ließ.

„Wer ist das, meine Gnädige?“ fragte Trutzberg stirnrunzelnd, dicht neben der jungen Witwe bleibend – er war nicht gewillt, seinen Posten aufzugeben. „Fredy ist ja ganz aus dem Häuschen, so hab’ ich ihn noch nie gesehen. Teilen Sie etwa sein Entzücken über diesen vielbejubelten Onkel Hugo?“

Er sprach ganz leise in sie hinein, daß nur sie ihn verstand, und seine Stimme klang zornig; sie, die junge Frau, hörte die helle Eifersucht heraus. Zornig war er auch wirklich, aber nur darüber, daß jetzt, da er eben alles so schön „im Zuge“ gehabt, irgend ein Störenfried des Weges daher kam, der ihn in seinem Siegeslauf möglicherweise aufhielt. Im Ernst eifersüchtig zu sein, fiel ihm nicht ein.

„Herr Haßler, mein – mein – meines verstorbenen Mannes bester Freund, mein Gutsnachbar und Fredys Vormund,“ sagte sie hastig und gepreßt, „ich habe Ihnen wohl schon von ihm gesprochen.“

„Möglich! Ich erinnere mich nicht!“ entgegnete er ablehnend. „Und dieser Herr kommt Ihnen ganz unerwartet?“

„Ich – ja – in der That! Ich hatte keine … freilich hab’ ich ihm auf seinen Brief“ – Hildegard verwirrte sich immer mehr. An dem Brief, den sie heute vormittag unter der Feder gehabt, schrieb sie bereits den dritten Tag, und es war doch eine wichtige geschäftliche Angelegenheit, um die es sich handelte!

„Nun komm aber doch!“ Fredys kleine Hände zerrten an seiner Mama Kleiderfalten. „Nun komm doch mit mir ihm entgegen! Freust Du Dich denn gar nicht über Onkel Hugo?“

Die unschuldige Frage aus Kindermund tönte ihr wie eine schwere Anklage im Herzen wieder. Wirklich freute sie sich denn nicht? Hundertmal hatte sie es gedacht und dem treuen Freunde gesagt: „Was wäre ich ohne Sie? Was finge ich mit Fredy an, wenn ich Sie nicht hätte?“ Und nun – blieb wirklich alles still in ihr? Kam weiter nichts in ihrem Innern zu Wort als der heiße Schreck: „Was wird er denken? Was wird er sagen?“ Mechanisch ließ sie sich von Fredy weiterziehen, mechanisch beantwortete sie die durcheinander schwirrenden Fragen, die von allen Seiten auf sie eindrangen. Der Ankömmling war jetzt schon so nahe, daß er die einzelnen Gesichter dort auf der Anhöhe gut unterscheiden konnte – er bog etwas den Kopf zurück, spähte scharf durch die Brille in die Höhe und hob grüßend den Hut. Es war ein sehr glückliches Lächeln, was jetzt auf seinem Gesicht erschien – er hatte die eine herausgefunden, die ihm nie zu unscheinbar oder zu unelegant erschienen war, von der er nie gedacht, wie sie sich wohl neben ihm ausnehmen werde, deren Kind er nie als unbequeme Beigabe angesehen, deren Eigentum er keinen Augenblick zum Gegenstand seiner Spekulation gemacht hatte. Unter all den neuen, gleichgültigen Gesichtern dies eine, dies wohlbekannte, dies liebe – und daneben Fredy, der ihm mit offenen Armen entgegenläuft, sich von ihm auffangen, in die Höhe heben und herzhaft abküssen läßt und sich fest um seinen Hals klammert. „Onkel Hugo! Mein Onkel Hugo!“

Er will den Jungen auf die Erde setzen, um die Hände zur Begrüßung frei zu bekommen, aber das sonst so wenig demonstrative Kind, das bei jeder Gelegenheit fragt, „ob auch keiner zusieht“, läßt seinen lieben Onkel nicht los, und so, Fredy auf dem Arm, lachend und glücklich, tritt er vor Fredys Mutter.

„Da bin ich, meine verehrte Freundin! Die Antwort auf meinen Brief blieb mir gar zu lange aus, und da doch die Sache einigermaßen wichtig ist, ich auch daheim nichts Wesentliches jetzt versäume, so bin ich kurz entschlossen hierhergekommen, um die Angelegenheit selbst mit Ihnen durchzusprechen.“

„Und wo fanden Sie – wie fanden Sie hierher?“

„Das ist doch so einfach! Im Hotel wußte man Ihr Logis, und in Ihrem Logis wußte man, wohin Sie heute gegangen waren, und hat mich Ihnen nachgeschickt.“

Es entgeht ihm nicht, daß sie, um derentwillen er gekommen ist, sichtlich verlegen aussieht – er kennt ihr Gesicht zu gut. Ist es nur die Anwesenheit der vielen fremden Menschen, die sie beengt, oder – oder – kann es sein – daß er, ihr nächster, treuester, ihr einziger Freund, er, der sicher hoffte, ihr sobald noch weit mehr zu werden … daß er ihr ungelegen kommt?

Ganz flüchtig schießt ihm der Gedanke durch den Kopf, gleich darauf schiebt er ihn weit von sich und schilt mit sich selbst, daß er ihr unrecht gethan. In einem Verhältnis, wie das ihre es ist, bleibt ein so konventioneller Begriff, wie „gelegen“ oder „ungelegen“ absolut ausgeschlossen!

„Fredy, laß Dich auf die Erde setzen! Sofort! Du belästigst den Onkel!“

„Sie wissen, daß das nicht der Fall ist, Frau Hildegard. Federleicht ist er noch immer, der kleine Kerl, aber es will mir scheinen, als wär’ er voller im Gesicht geworden, und eine viel bessere Farbe hat er entschieden bekommen!“

Mit liebevollem Anteil mustert er Fredys Gesicht, während er ihn sorgsam zu Boden gleiten läßt.

„Sie gestatten, daß ich Sie mit den Herrschaften bekannt mache! Herr Gutsbesitzer Haßler, der beste Freund meines verstorbenen Gatten – Herr Staatsanwalt Möller und Frau Gemahlin – Herr Oberlehrer Grün und Fräulein Schwester.“

Die Hüte fliegen, die Kleider rascheln – Verbeugungen hier, Verbeugungen dort. Es dauert natürlich eine ganze Weile, aber es geht ganz fließend. Dann ein Stocken in ihrer Stimme: „Herr Lieutenant Baron von Trutzberg!“

Der schöne Aristokrat und der unscheinbare Bürgerliche im schlichten Reiseanzug messen einander mit den Blicken. Trutzberg ist verstimmt und hat dessen gar kein Hehl; sich zu beherrschen, das hält er nur im Dienste allenfalls für angezeigt, im übrigen hat er’s ja nicht nötig! Die vertrauliche Anrede: „Verehrte Freundin!“ – und dann: „Frau Hildegard!“ hat ihm wenig gefallen, und nun hängt auch noch das Schoßpüppchen, der verzogene Bengel, dieser Fredy, wie eine Klette an dem hereingeschneiten Onkel, läßt seine Hand nicht los, sieht immer wieder mit strahlendem Blick zu ihm auf … eine Rolle wird dieser „Freund“ hier spielen, das ist ohne Zweifel, und ob er ihm, dem verwöhnten adligen Offizier, gutwillig die Hauptrolle überlassen wird, das scheint nun doch die Frage!

Herr Gutsbesitzer Haßler wird im übrigen von der Gesellschaft freundlich bewillkommnet und von dem heutigen Plan verständigt; man habe nach den Klippen gehen wollen, das sei jetzt etwa noch eine Stunde Weges, aber ein sehr hübscher Weg, wenn freilich auch nicht ohne Beschwerde – hoffentlich werde Herr Haßler sich anschließen, wenn er nicht gar zu müde sei!

„Ach, Onkel Hugo – der ist nie müde, der kann um Vier aufstehen und kann den ganzen Vormittag auf seinem wilden Fuchs auf den Feldern herumreiten, und dann macht es ihm noch gar nichts! Onkel Hugo, und wenn Du nicht mitkommst zu den Klippen, dann geh’ ich natürlich auch nicht und ich bleib’ wo Du bleibst!“

Fredy giebt diese Erklärung vor der ganzen Gesellschaft laut, mit unerschrockenem Mut, ab – es ist, als ob Onkel Hugos Erscheinen sein Selbstbewußtsein außerordentlich gehoben habe.

Man setzt sich von neuem in Bewegung, und wie dies ganz natürlich ist, arrangiert man den Zug so, daß Frau Bingen mit ihrem Freunde ein paar vertrauliche Worte zu wechseln vermag.

„Sagen Sie mir, Frau Hildegard, warum beantworteten Sie mir meinen Brief nicht umgehend, wie ich Sie doch bat? Vor all den Fremden mochte ich es nicht aussprechen, aber ich fürchtete schon, Sie könnten erkrankt sein, und es ließ mir daher keine Ruhe zu Hause. Sie sind ja sonst die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit in Person, und schließlich war die Sache wichtig genug; es ist doch ein stattlicher Posten Geld, um den es sich handelt!“

Unter seinem besorgt forschenden Blick errötete sie. Mechanisch spielten ihre Hände mit einem Sträußchen Waldblumen, das sie im Gürtel trug. Trutzberg hatte es ihr gepflückt.

„Geh zu den Kindern, Fredy!“ sagte sie in freundlichem, aber bestimmtem Ton. „Du darfst nicht immer unter Großen sein und alles mit anhören.“

[496]

Die Einweihung des Kyffhäuser-Denkmals: Vorbeimarsch der Kriegervereine.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph A. Linde in Frankenhausen.

[497] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [498] „Aber – aber – ich möchte doch bei meinem Onkel Hugo bleiben!“

„Onkel Hugo und ich haben über Dinge zu sprechen, die nicht für Kinder bestimmt sind.“

„Aber ich freu’ mich doch so schrecklich, daß er da ist!“

„Das kannst Du ebensogut thun, wenn Du zu den Kindern gehst! Gehorche jetzt, Fredy, ich will kein Wort weiter hören!“

Das Kind ließ zögernd des Onkels Rechte, die es mit beiden Händen gefaßt hielt, los und ging langsam, mit gesenktem Kopf, zu Lutz Ortmann zurück.

„Nun, liebe Freundin?“

„Ach!“ Sie sah von ihm fort und bewegte unruhig den Kopf. „Ich – ich hatte hier keine rechte Ruhe zum Schreiben!“

„Keine Ruhe?“ wiederholte er erstaunt. „Und wie ging das zu? War etwa Fredy krank?“

Seine offenbare Verwunderung schien sie zu reizen. „Fredy? Gottlob nein, er ist immer wohlauf gewesen.“

„Aber es muß doch irgend einen Grund –“

„Ach!“ machte sie in leichtem Unmut. „Muß denn alles und jedes auf der ganzen Welt immer seinen logisch definierbaren Grnnd haben? Wie kann man jederzeit seiner Stimmung Herr sein! Wie kann man sich Rechenschaft ablegen von jeder Trübung oder Erregung des eigenen Innern –“

„Aber, Sie verzeihen, liebe Freundin: was hat Ihre augenblickliche Stimmung, die Trübung oder Erregung Ihres Innern mit unserer wichtigen Geldangelegenheit zu schaffen?“

Der Einwurf war gerecht, sie fühlte das. Aber eben, daß er gerecht war, ärgerte sie.

„Eben einfach das zum Beispiel,“ sagte sie rasch, „daß mir in meiner jetzigen Stimmung diese wichtige Geldangelegenheit weitaus nicht so schwerwiegend erscheint wie Ihnen!“

Sie hatte die Worte kaum gesprochen, als sie sie auch sofort bereute. Hildegard Bingen war keine heftige Natur und ließ sich sehr selten zu voreiligen Aeußerungen hinreißen. Wenn es ihr aber geschah, so litt sie selbst am meisten darunter.

Haßler blickte sie betroffen an. Ob ihm eine Ahnung dessen kam, was in ihr vorging?

„Es muß in der That eine merkwürdige Seelenstimmung sein, die Sie zu einem solchen Ausspruch veranlaßt!“ sagte er langsam, wie wenn er jedes Wort abzuwägen wünschte. „Sie wissen recht gut, daß ich für meine Person keineswegs einen übermäßigen Wert auf Geld und Gut lege, daß es mir immer und überall nur Mittel zum Zweck ist; bei dem, was ich mein unumschränktes Eigentum nenne, wohlverstanden! Anders ist es mit demjenigen, was mir ein anderer als anvertrautes Gut übergeben hat – hier kann ich nicht umsichtig, nicht vorsichtig genug sein, um in mir das Bewußtsein, in vollem Maß meine Pflicht gethan zu haben, zu befestigen. Sie und ich, wir haben ja so oft gerade über diesen Punkt gesprochen, Frau Hildegard, und ich weiß es, wir hatten dieselbe Auffassung. Sie und ich, wir sind die Verwalter für Fredys dereinstiges Hab’ und Gut, wir tragen die volle Verantwortung dafür, daß es sich unter unseren Händen mehrt – es ist nicht das tote Stück Geld, um das es sich handelt …. wir haben es beide oft gesagt, daß gerade wir einen idealen Gesichtspunkt hierbei vertreten müssen! Im Sinn und Geist dessen, der uns beiden so wert war, sein Eigentum erhalten und wenn möglich vergrößern für sein Kind …. in seinem Sinn und Geist dies Kind so erziehen, daß das schöne Besitztum einstmals ihm selbst und vielen anderen zum Segen werde …. so habe ich, so haben Sie bisher die uns gewordene Aufgabe als ein heiliges Vermächtnis angesehen! Peinlich genau habe ich, das darf ich von mir sagen, bis jetzt meine Pflicht gethan und ebenso Sie die Ihre erfüllen sehen – nicht, um Fredy einstmals ein paar hundert Thaler mehr zu erhalten, die er ruhig entbehren könnte, nein, eben von jenem höheren Standpunkt aus, den wir bis heute miteinander teilten. Wenn Sie diesen Standpunkt jetzt verlassen haben sollten – wenn Sie mir sagen, eine Angelegenheit, die, so oder so, immer ein Stück Zukunft Ihres Kindes betrifft, erscheine Ihnen nicht so wichtig wie mir –“

„Nein, lieber Freund, nein!“ Ihr Blick hatte sich umflort, ihr Mund zuckte. „Ich bin heute Ihrer Ansicht, wie ich es immer gewesen! Ich erkenne Ihre treue Fürsorge für mich und mein Kind, ich weiß, daß wir in Alfreds Sinn handelten, und ich möchte, daß es nie, nie anders damit wird. Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie verletzt habe, Sie, den besten, wahrsten –“ Die Stimme versagte ihr, sie bog den Sonnenschirm tiefer, um ihr Gesicht zu verbergen.

Der Freund ging eine kleine Weile stumm neben ihr weiter. Sie waren hinter den anderen, die laut lachend und plaudernd weiterschritten, ein Stück Weges zurückgeblieben.

„Was haben Sie denn, Frau Hildegard?“ fragte Haßler endlich, und seine Stimme klang so gut und treu, wie der Blick seiner Augen war, der ihr Antlitz suchte. „Sie sind dieselbe nicht mehr – sind verändert – erregt – betrübt – was ist Ihnen geschehen? Darf ich es nicht wissen?“

Stumm und energisch schüttelte sie den Kopf – sie machte nicht einmal den Versuch, eine Antwort zu finden. Nein, er – gerade er, durfte nichts davon erfahren, ehe ihr Entschluß reif war.

Sie schenkte ihm volles Vertrauen – aber dem Mann, der im Begriff stand, um ihre Hand zu werben, dem ihr bisheriges Benehmen ein offenbares Recht dazu gegeben …. ihm konnte sie nicht sagen: es ist ein anderer Bewerber da, der es verstanden hat, eine Leidenschaft in mir wachzurufen, die mein ganzes Wesen wandelt und erschüttert!

„Abcr es ist etwas da? Das wenigstens werden Sie mir zugestehen müssen!“ fragt er dringlicher.

Wieder bleibt sie stumm, aber ihr Schweigen ist beredt genug. Seine guten Augen trüben sich, und er atmet tief.

Die beiden haben unwillkürlich immer mehr ihren Schritt verlangsamt – – von den übrigen ist nichts mehr zu sehen. –

Diese anderen schlendern scherzend und lachend dahin. Die beiden jungen Mädchen, die von der Gesellschaft sind, pflücken Blumen am Wegesrand, ein paar von den jüngeren Herren spielen die Galanten und klettern da und dort einen Abhang hinunter, um eine besonders schöne Waldblume zu holen. Der Weg wird mit der Zeit steiler, das Ufer fällt tief zum Meer ab, man muß sich hüten, zu nahe an den Rand zu gehen.

Lutz von Bredwitz nahm es sehr ernst mit seinen Pflichten als „Kindermädchen“. Er hielt seine vier Pflegebefohlenen scharf im Zügel, ließ sie beständig vor sich hergehen, nahm einen von ihnen zeitweilig an die Hand, namentlich Fredy, und bedrohte sie mit den entsetzlichsten Strafen, falls sie ihm nicht aufs Wort gehorchten … Aber er that das alles mit einem so gutmütig komischen Ton, daß die Kinder nicht aus dem Lachen kamen und es gar nicht der Versicherung Lutz’ des Jüngeren bedurft hätte: „Das meint ja mein Onkel gar nicht so böse! Mein Onkel, der spaßt ja bloß!“

„Fredy, Du widerspenstiges kleines Unkraut, was hast Du Dich denn in einem fort umzusehen? Du wirst auf der Nase liegen, ehe Du Dich versiehst, und das wird Dir dann sehr schlecht gefallen! Vor Dich sehen – auf den Weg achten! Verstanden?“

„Ich will doch bloß sehen, wo meine Mama mit Onkel Hugo bleibt!“

„Deine Mama ist keine Stecknadel, lieber Sohn, die wird uns nicht verloren gehen!“

„Aber sie ist ganz, ganz weit zurück – ich kann sie schon gar nicht mehr sehen!“

„Ist nicht der berühmte Onkel Hugo da zu ihrem Schutz? Der wird schon auf sie aufpassen!“

„So laß einmal die dummen Gören allein laufen!“ sagte eine ärgerliche Stimme dicht an Bredwitz’ Ohr in unterdrücktem Ton, und eine Hand schob sich in seinen Arm. „Sie sind groß genug, um sich selbst in acht zu nehmen ... Ich bin einfach wütend!“

Das dicke Lützelchen sah mit seinen gutmütigen, etwas vorquellenden Augen nahe in Trutzbergs zorniges Gesicht und sagte bedauernd: „Ja, es trifft sich unangenehm! Schön ist’s für Dich nicht, daß – – – “

„Schön? Nichtswürdig ist’s – infam! Muß diesen dummen Kerl heute gerade der Teufel reiten, hier aufzutauchen und mir die ganze Geschichte zu verderben! Wär’ er morgen gekommen – meinetwegen auch heut’ abend spät, so hätte man ihm mit dem vollzogenen Faktum entgegentreten können … nun zögert und zögert sich das hin! – – Man wird wahrhaftig noch alle Segel beisetzen müssen, um dem edlen Stoppeltreter den Rang abzulaufen!“

„Na, ich denke, das ist bloß Freundschaft!“

„Der Teufel trau’ den Weibern – zumal denen von solchem Schlag! Daß er will, ist klar wie die Sonne, und sie …. diese stillen Wasser sind oft sehr bedenklich!“

„Ja, warum lässest Du denn die beiden jetzt allein, Edler? Ich an Deiner Stelle würde mein Eisen schmieden!“

[499]Du!“ Trutzberg warf geringschätzig den Kopf auf. „Lehr’ Du mich Weiber kennen! Gerade eine scheinbare Vernachlässigung reizt sie. Soll sie durchaus merken, wieviel mir an der Partie gelegen ist? Ich werde mich hüten und der Narr sein und ihr zeigen, wie … was war denn das?“

Ein vielstimmiger, gellender Angstschrei drang zu ihnen herüber. Die übrigen waren weit voraus – man konnte nicht sehen, was geschehen war – an einer Stelle drängte sich alles zusammen – die hellen Kleider der Damen, die dunklen Männergestalten; es war hart am Rande des hier senkrecht abstürzenden Ufers, das unmittelbar zur See abfiel.

„Die Kinder! Die Kinder!“ Lutz von Bredwitz griff krampfhaft nach Trutzbergs Arm. „Um Gotteswillen, wenn es eins von den Kindern wäre! Laß uns hinlaufen – hier hinüber das ist der kürzeste Weg – verdammtes Gestrüpp – – –“

Er wollte den Weg abschneiden und quer hinüber – ein paar hoch aufgeschossene zähe Dornbüsche stachen ihm die Hände blutig und hielten ihn an den Kleidern fest.

„So warte doch ab, Mensch! Bleib!“ mahnte Trutzberg.

„Wart’, sag’ ich Dir. Es sind ja Leute genug da zum Helfen und Retten. Wenn jemand hier von oben direkt in die See abgestürzt ist, seh’ ich ohnehin nicht, wie man ihm so rasch beikommen soll!“

„Aber es könnte doch Fredy –“

„Fredy! Ja, wenn’s der wäre, da müßte man freilich –“

„Ich bin durch! Warte! Laß sehen! Wenn sie nur nicht alle durcheinander rennen und schreien möchten! Wer ist abgestürzt?“

Sie waren jetzt beide zur Stelle, aber es antwortete ihnen niemand, es beachtete sie keiner. Ein Stück des Holzgeländers, mit dem man die gefährliche Stelle zum Schutz umgeben, hing lose und gebrochen herunter, zwei Frauen lagen auf den Knien, die jungen Mädchen schluchzten, die Herren schrieen und gestikulierten, einer von ihnen hatte sich Platt an die Erde gelegt und versuchte, am Felsgestein hinunterzuklettern, – einige waren um eine zusammengesunkene Gestalt bemüht, die in Weinkrämpfen am Boden lag.

„Jungen! Lutz! Fredy!“ schrie Bredwitz mit Donnerstimme in das Getümmel hinein. – Es antwortete ihm niemand – von den Kindern war nichts zu sehen.

„Gott im Himmel!“ Die hellen Angsttropfen perlten ihm auf der Stirn. „Meiner Schwester Junge! Wenn ich nur wüßte, wer überhaupt verunglückt ist! Fredy! Lutz! Fredy!“

„Ach, Onkel – Onkel!“ Ein hellauf weinendes Kinderstimmchen ließ sich vernehmen. „Onkel Lutz –“

„Junge! Hierher! Zu mir! Wo hast Du Fredy?“

„Hier, Onkel, hier sind wir alle beide!“

„Alle beide!“ Er riß sie in seinen Armen in die Höhe, er küßte ihre Wangen, ihre Haare, ihre Kleider – die Augen standen ihm voll Wasser. „Jungen – Jungen, – daß ich euch wieder habe! Wer ist abgestürzt? Wer?“

„Gretchen Möller, Herrn Staatsanwalts Gretchen! Sie lief so gegen das Geländer – aus Versehen –“

„Man muß doch versuchen – Trutzberg – ich möchte versuchen – wenn Du so lange die Kinder –“

Der schöne Offizier zog den Freund mit einem Ruck beiseite.

„Du wirst doch der Narr nicht sein! Du siehst, der Vater versucht schon, hinunterzukommen – es wird ihm nicht gelingen. Hier hinunterzukommen ist unmöglich – vielleicht, daß von einer andern Stelle … wär’ es Fredy gewesen, hätte ich’s wagen müssen … aber so …“ Er zuckte die Achseln und vollendete nicht.

Sie waren inzwischen zum Ufer zurückgelaufen; darin hatte Trutzberg recht – an dieser Stelle war es unmöglich, an den Strand hinunterzukommen, das jäh abstürzende, nackte Felsgestein bot nirgends einen Halt. – Aber ein neuer vielstimmiger Schrei, halb Entsetzen, halb Freude, brach jetzt oben aus Aller Kehlen.

Man sah im dunkelblauen Wasser, schon um ein Stück weiter zurück, das helle Kinderkleid wie eine weiße Möve zum zweitenmal aus den Wellen emportauchen und zugleich rechts vom Ufer her zwischen Geröll, Felsbrocken und Gestrüpp einen eilig abwärts klimmenden Mann … und dieser Mann war bald, bald unten am Strande angelangt.

„Wer ist das?“ – „Einer von uns?“ – „Wie kommt er dahin?“ – „Kennen Sie ihn?“ – „Er war ein Stück zurückgeblieben und konnte gerade dort absteigen, wo er war!“ – „Er wird zu spät kommen!“ – „Nein, nein, sie wird gewiß noch ein drittes Mal auftauchen.“ – „Er fällt! Die losen Steine geben nach!“ – „Da ist er schon wieder in die Höhe!“ – „Wenn er nur schwimmen kann!“ – „Gott, o mein Gott, die arme Mutter!“ – „Es ist der fremde Herr, der heute angekommen ist!“ – „Jetzt ist er unten! Nun stürzt er sich ins Wasser!“

Kein Wort, kein Laut weiter! Selbst das Schluchzen der unglücklichen Mutter hatte für den Augenblick aufgehört. In atemloser Spannung sah alles nach unten – sah und wartete.

Der Schwimmer nahm große Stöße und die See war ruhig.

Aber ihn hinderten die schweren Kleider, die Stiefel, die er in der Eile nicht abzulegen gewagt hatte, und die ziemlich starke Uferströmuug hatte das Kind bereits ein Ende fortgetrieben. Es tauchte ein drittes Mal auf und wieder unter, ohne daß es dem Schwimmer möglich geworden war, es zu erreichen. Jetzt tauchte er … kam wieder zum Vorschein – tauchte von neuem … man sah eine Zeit lang nichts weiter, als die blaue, wogende Flut – –

Endlich! Ein dunkles Etwas kam über dem Wasser empor, ein Kopf – ein Arm – sehr, sehr langsam kam es näher. Und hinterher in dem Strudel – waren das Kleider? Nein ja – ja doch – ja, ganz gewiß!! –

Ein Weinen und Lachen brach los auf der Höhe, die Menschen fielen einander in die Arme, es war eine Aufregung ohnegleichen! Und nun eilten einige zurück und dann zum Strande hinunter – und andere ins nächste Dorf nach einem Wagen, nach Decken, nach stärkendem Wein – zurück – zurück alle – vor allen Dingen dem geretteten Kinde, dem Retter entgegen! –

Abseits von allen kniete eine blasse Frau, einen kleinen, zarten Knaben im Arm, und die Thränen rollten ihr unaufhaltsam aus den Augen, während sie ihre Hände über den Kinderhänden gefaltet hielt und beten wollte. Als alle schon gingen, erhob sie sich als die letzte – sie hatte es gesehen, daß der Mann unten wankend und taumelnd, das Kind in den Armen, das Ufer betreten hatte – nun konnte sie gehen, ihm entgegen.

„Gnädigste Frau sind so tief erschüttert – es war in der That ein überaus aufregendes Schauspiel! Darf ich der gnädigen Frau meinen Arm anbieten?“

„Ich danke, Herr von Trutzberg, ich fühle mich vollkommen stark genug – komm, Fredy, mein Kind!“

„Gnädigste Frau können stolz sein auf die That Ihres Freundes!“

„In der That – das bin ich!“

„Es traf sich freilich günstig, daß er dort besser zur Stelle war. Wir – von unserem Standpunkt aus – es versteht sich ja von selbst, daß jeder von uns das Gleiche gethan hätte, wenn …“

– – „Ja,“ unterbrach Hildegard Bingen die stockende Rede des Offiziers und sah ihm mit einem festen Blick in die Augen, „wenn es Fredy gewesen wäre, hätten Sie es doch wagen müssen!“

Sie wandte ihm den Rücken und zog ihren Knaben an der Hand mit sich fort, so rasch sie nur konnte. –

Sie waren schon alle, alle unten am Ufer um ihn versammelt, als sie mit Fredy dazukam. Das bewußtlose Kind war in Tücher gewickelt und lag im Arm seiner Mutter – ihm, seinem Retter, hatte man einen Mantel über die triefenden Kleider geworfen, das Haar klebte ihm um die Stirn, er war sehr bleich, aber er lächelte dem Vater des kleinen Mädchens, der in wortloser Rührung seine Hände gefaßt hielt, freundlich zu.

Als er Frau Hildegard kommen sah, that er rasch ein paar Schritte, wie um ihr zu zeigen, daß er sich vollständig wohl fühle – – und wieder traten die übrigen zurück und redeten lebhaft miteinander, um die beiden allein zu lassen.

Sie nickte ihm wortlos lächelnd zu und die Thränen standen ihr in den Augen, als sie seine beiden Hände in die ihren nahm.

„Lieber, lieber Onkel Hugo!“ sagte Fredy zärtlich.

Da neigte sie sich über den Knaben und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Froh erstaunt, als habe er nicht recht gehört, sah er zu ihr empor; sie flüsterte noch einmal.

„Lieber, lieber Papa!“ sagte Fredy leise und breitete die Arme aus.

Der Mann sah verwirrt um sich, als träume er.

„Hildegard –“ begann er endlich stammelnd.

Ihre tiefen Augen lächelten ihn an.

„Es ist nichts mehr, was mich verwirrt und aufregt,“ sagte sie ernst. „Ich bin zur Erkenntnis gekommen! Wenn Sie uns haben wollen – mich und Fredy –“

Das Kind umfaßte beide zugleich mit seinen Armen.




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Blätter und Blüten.


Die Denkmalsfeier auf dem Kyffhäuser. (Zu dem Bilde S. 496 und 497.) Die lange Reihe festlicher Veranstaltungen, durch welche das deutsche Volk die Erinnerung an den glorreichen Krieg für Deutschlands Einigung feierte, hat am 18. Juni auf der Höhe des Kyffhäusers einen erhebenden Abschluß gefunden. In Gegenwart des Kaisers, der Bundesfürsten oder deren Vertreter, im Angesicht von 30000 aus allen deutschen Gauen herbeigeströmten Kriegern wurde dort das stolze Denkmal für Kaiser Wilhelm I. eingeweiht. Wir haben bereits im Jahrg. 1892, S. 160, und in diesem Jahrg., S. 396, das Denkmal selbst in Bild und Wort geschildert und über seine Entstehungsgeschichte berichtet; heute vervollständigen wir jene Mitteilungen durch einen Hinweis auf die großartige Feier, deren denkwürdigsten Augenblick wir auch bildlich unseren Lesern vorführen.

Schon am frühen Morgen, als noch weiße Nebelwolken den Fuß des Denkmalsberges verhüllten, herrschte rings um den Kyffhäuser das regste Treiben. Das ganze Land war meilenweit in einen einzigen Festplatz verwandelt. Langsam füllte sich in den Vormittagsstunden der Platz um das Denkmal, der etwa 5000 Personen zu fassen vermag, mit den zur Feier geladenen Ehrengästen, darunter etwa 400 Trägern von Vereinsfahnen. Dem Denkmal gegenüber war das prachtvolle Kaiserzelt errichtet. Auf der Bergstraße bis tief unten im Thal bildeten Tausende und Abertausende von Kriegern Spalier. Nach 11 Uhr begann die Auffahrt der Bundesfürsten und der mit ihnen erschienenen Fürstinnen und kurz nach 12 Uhr verkündeten brausende Hochrufe das Nahen des kaiserlichen Wagens von der Station Roßla her. Nach der Begrüßung des Kaisers und der Bundesfürsten durch den Vorsitzenden des Denkmals-Ausschusses, General v. Spitz, gab der Kaiser den Befehl zum Beginn der Feier. Der Schriftführer des Denkmals-Ausschusses, Prof. Dr. Westphal, hielt hierauf die Festrede, in welcher er der patriotischen Gesinnung der Kriegerverbände, die zur Zeit anderthalb Millionen treuer deutscher Männer vereinen, beredten Ausdruck verlieh. Er gelobte im Namen der Kriegervereine dem Kaiser und den Bundesfürsten unverbrüchliche Treue und schloß, indem er von dem Denkmal auf die versammelten deutschen Krieger deutete, die Rede mit den Worten: „Fest wie die Schrift hier oben in den Stein, ist in ihre Herzen der Wahlspruch eingegraben: Für Kaiser und Reich!“

In kurzen aber inhaltreichen Worten gab darauf der Kaiser die Antwort. Vor allem wies er auf die hohe edle Aufgabe des Denkmals hin. „Den kommenden Geschlechtern soll es ein Mahnzeichen sein, einig und treu zu bleiben in der Hingebung an Kaiser und Reich; festzuhalten an dem, was das Vaterland groß gemacht hat; Deutschlands Ehre und Wohlfahrt höher zu stellen als alles irdische Gut.“ Mit donnerndem Hurra wurden von den Tausenden die kaiserlichen Worte aufgenommen, von Berg zu Thal pflanzte sich der Ruf fort und klang noch aus der weiten Ferne herüber, als Fürst Günther von Schwarzburg-Rudolstadt in markigen Worten das Hoch auf den Kaiser ausbrachte.

Nachdem die Fürsten einen Rundgang durch die weiten Denkmalsanlagen gemacht hatten, begann die Heerschau über die Krieger, die nun in musterhafter Ordnung und festem Schritt vorbeimarschierten. Eine Stunde dauerte dieser Vorbeimarsch, der Fürst und Volk zusammenführte. Unsere Abbildung läßt uns dem erhebenden Vorgang beiwohnen. Dann folgte unter lautschallenden, nicht enden wollenden Hurrarufen die Abfahrt der Bundesfürsten und der Rückmarsch der Vereine nach den Ortschaften, in welchen sie ihre Quartiere hatten.

Unvergeßlich wird der 18. Juni 1896 in der Geschichte des Kyffhäusers bleiben. Hat doch an diesem Tage nach sieben Jahrhunderten wieder ein deutscher Kaiser die durch Nationalsagen geheiligte Stätte betreten. Das Denkmal, das in Deutschland ohnegleichen dasteht, ist das gewaltigste Wahrzeichen für das höchste schwer errungene Gut der Nation, für die heißen Kämpfe, in denen Deutschlands Einheit erstritten wurde, „unserer Väter heißes Sehnen“ in Erfüllung gegangen ist. Die Festestage sind verrauscht, aber um den Kyffhäuser klingt weiter das Lied:

„Heil dir im weißen Barte, du jugendlicher Greis!
Um deine Siegsstandarte schlingt sich der höchste Preis!
Es geht in dem Kyffhäuser Held Friedrich nun zu Ruh –
Sein Erb’ als deutscher Kaiser bist, König Wilhelm, Du!“

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Li-Hung-Tschang in Berlin und in Friedrichsruh. (Zu den Bildern S. 485 und 489.) Während der letzten Juniwochen erfreuten wir uns in Deutschland eines hohen und seltenen Besuchs: Li-Hung-Tschang, einer der berühmtesten Staatsmänner Ostasiens, der den Kaiser von China bei der Zarenkrönuug in Moskau vertreten hatte, kam von dort nach Deutschland, um unserem Kaiser ein Schreiben seines Herrschers zu überbringen. Bei der feierlichen Audienz, die am 14. Juni im Rittersaale des Königlichen Schlosses zu Berlin stattfand, sprach China durch den Mund Li-Hung-Tschangs seinen Dank für den wirkungsvollen Beistand aus, der dem großen Millionenreiche bei den letzten Friedens-Verhandlungen mit Japan von Deutschland gewährt worden war, und zugleich wurden Versicherungen freundschaftlicher Gesinnung zwischen den beiden so weit entfernten, aber durch Handelsbeziehungen einander näher gerückten Ländern ausgetauscht. – Li-Hung-Tschang ist eine hochinteressante Persönlichkeit. Er steht gegenwärtig in seinem 73. Lebensjahre und blickt auf eine thatenreiche Vergangenheit zurück. Als Vicekönig von Petschili, der wichtigsten vor den Thoren Pekings gelegenen Provinz des Reiches der Mitte, hatte er einen großen Einfluß am Hofe von China. Man rühmt ihm nach, daß er ein Mann des Fortschritts sei und wiederholt der europäischen Kultur das verschlossene China habe öffnen wollen. Die Gunst des kaiserlichen Hofes war ihm jedoch nicht beständig; wiederholt verfiel er in Ungnade. Im Laufe des letzten Krieges mit Japan wurden ihm auch die „Gelbe Jacke“ und die „Pfauenfeder“, Abzeichen der höchsten Würde in China, entzogen; als es aber galt, Frieden mit dem siegreichen Japan zu schließen, fand man in Peking keinen besseren Diplomaten und betraute den wieder in seine Ehren eingesetzten und zum Großkanzler des Reiches der Mitte ernannten Li-Hung-Tschang mit der schwierigen Aufgabe. Es ist bekannt, daß er dabei in Japan beinahe das Opfer eines Attentats geworden wäre. – Der Empfang des greisen chinesischen Staatsmanns in Berlin gestaltete sich besonders feierlich und herzlich. Li-Hung-Tschang selbst verstand es wohl, den guten Beziehungen zwischen China und Deutschland durch taktvolle Handlungen einen sinnigen Ausdruck zu verleihen. Zwei derselben, die wir im Bilde unseren Lesern vorführen, tragen ganz besonders ein sympathisches Gepräge.

Kurz nach seiner Ankunft in Berlin legte Li-Hung-Tschang einen Kranz am Sarge Kaiser Wilhelms I. nieder. Er brachte damit eine symbolische Huldigung dem Andenken des großen Monarchen, unter dessen Scepter Deutschland aus langjähriger Zerrissenheit zu einer Weltmacht emporgehoben wurde und auch zu China in freundschaftliche Beziehungen trat. Der Kranz war aus Lorbeer und Rosen geflochten und mit weißen Bandschleifen versehen, auf deren Enden die Widmung stand: „Dem großen Kaiser Wilhelm. Li-Hung-Tschang.“ Die Abbildung auf Seite 489 zeigt uns die Chinesen in der Gruft des Charlottenburger Mausoleums. Der alte, gebrechliche chinesische Gesandte wird zur Rechten vom Vicomte Li, zur Linken von dem Botschaftssekretär Lo-fang-luh gestützt. Dahinter steht Li-king-schi, während seitwärts Lieng-fang einen zweiten Kranz für den Sarg der Kaiserin Augusta trägt. Im Hintergrunde erblickt man die deutschen Begleiter, unter ihnen den zum Ehrendienst kommandierten Oberst Liebert und den als Dolmetscher dienenden chinesischen Zolldirektor Detring. Das Gewölbe ist spärlich durch Kerzen beleuchtet; links befindet sich der Sarg Kaiser Wilhelms, vor dem Li-Hung-Tschang steht; rechts sehen wir den Sarg der Kaiserin Augusta. Dahinter liegen die Särge der Königin Luise und Friedrich Wilhelms III., während im Kreuzungspunkt der vier Särge eine viereckige Platte sichtbar ist, unter der das Herz Friedrich Wilhelms IV. ruht.

Aber nicht nur dem ersten Deutschen Kaiser brachte Li-Hung-Tschang eine aufrichtige Huldigung dar. Der Großkanzler von China versäumte auch nicht, den ersten Deutschen Reichskanzler aufzusuchen. Seit mehr als dreißig Jahren war er nach seiner eigenen Aussage von dem Wunsche beseelt, den größten Staatsmann Europas von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Er reiste nach Friedrichsruh und brachte damit die Zusammenkunft der beiden bedeutendsten Staatsmänner des Ostens und Westens der Alten Welt zustande. Wenn auch dieser Begegnung eine politische Tragweite nicht innewohnte, so ist sie doch, schon durch die Bedeutung der beiden Männer, von weltgeschichtlichem Charakter. Die Abbildung auf Seite 485 führt uns die beiden greisen Staatsmänner auf der Schloßterrasse von Friedrichsruh vor Augen. *     

Ueberrascht. (Zu dem Bilde S. 493.) Daß aber auch Mama gerade dann so unerwartet heimkommen muß, wenn man sich einen Augenblick von der langweiligen Kinderstubenaufsicht dispensierte, um vornheraus durch die Gardine einen gewissen gegenüber wohnenden jungen Herrn verstohlen zu beobachten! Da steht sie nun mit dem vorwurfsvoll befremdeten Gesicht und das Töchterlein schämt sich bitterlich über seinen Ungehorsam und den zu Boden geschleuderten Strickstrumpf. Nun, allzugroß ist das Verbrechen nicht, und die tiefe Bestürzung der jungen Sünderin zeigt, daß sie noch Neuling in solchen Dingen ist. Das wird Mama wohl bedenken, wenn sie sich erst darüber gefaßt hat, daß das Kind von gestern heute als junges Mädchen vor ihr steht. Dies ist auch eine Ueberraschung, und deshalb fragt es sich noch, welche von beiden in diesem Augenblick die größere erlebt! Bn.     

Ratschläge und Winke für die musikalische Jugend von Carl Reinecke (Leipzig, Zimmermann). Aus diesem kleinen Buch hört der junge Musikbeflissene die Stimme eines Meisters seiner Kunst, der zugleich erfahrener Lehrer ist und hier in kurzen Skizzen die wertvollsten Ratschläge über Auffassung und Ausführung giebt. Alle die bekannten Schwierigkeiten des Taktes, Tempowechsels und der Betonung, des vom Blattlesens, des Spielens mit anderen Instrumenten und Orchester finden hier ihre Würdigung, der gute Rat aber, der zu ihrer Ueberwindung dient, er fußt stets in der großen klassischen Tradition und der echt musikalischen Anschauung. Seine starke Wirkung auf talentvolle, vielleicht bisher nicht richtig belehrte junge Leute, wie sie besonders in kleineren Städten vielfach dilettantenhaft Musik treiben, dürfte daher außer Frage stehen. Aber auch der Großstadtjugend, die unter dem verlockenden Einfluß des Modevirtuosentums steht und nur in möglichst schwierigen Leistungen ihren Erfolg sucht, auch ihr werden die goldenen Worte dieses wahren, gewissenhaften Meisters von größtem Nutzen sein. Das hübsch ausgestattete Büchlein sei allen Eltern und Lehrern zum Geschenk an die musikalische Jugend über sechzehn Jahren wärmstens empfohlen. A.     


Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (5. Fortsetzung). S. 485. – Li-Hung-Tschang und Bismarck auf der Schloßterrasse in Friedrichsruh. Bild. S. 485. – Tragödien und Komödien des Aberglaubens. Schloßgespenster. Von Rudolf Kleinpaul. S. 488. – Li-Hung-Tschang am Sarge Kaiser Wilhelms I. Bild. S. 489. – Fredy. Novelle von Marie Bernhard (Schluß). S. 492. – Ueberrascht. Bild. S. 493. – Die Einweihung des Kyffhäuser-Denkmals: Vorbeimarsch der Kriegervereine. Bild. S. 496 und 497. – Blätter und Blüten: Die Denkmalsfeier auf dem Kyffhäuser. S. 500. (Zu dem Bilde S. 496 und 497.) – Li-Hung-Tschang in Berlin und in Friedrichsruh. S. 500. (Zu den Bildern S. 485 und 489.) – Ueberrascht. S. 500. (Zu dem Bilde S. 493.) – Ratschläge und Winke für die musikalische Jugend. S. 500.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 29. 1896.


Die Unruhen auf Kreta. Es gibt unglückliche Länder, auf denen der ungerechte Fluch eines blinden Schicksals lastet, Länder, über deren Gefilde der Frieden niemals seinen Segen ausbreitet. Jahrhunderte vergehen und die Geschichte ihrer Bewohner weiß nur von blutigen Kriegen, von roher Vergewaltigung, von unmenschlichem Druck und von vergeblichen Versuchen zum Abwerfen des schmählichen Jochs zu berichten. Ein solches Land ist die unglückliche Insel Kreta. Ihr heiterer Himmel rötet sich wieder in den stillen Nächten von der Lohe brennender Dörfer, ein Aufstand herrscht wieder in ihren Bergen und man hört von Metzeleien, von blutigen Schlachten, die zwischen den verfolgten Christen und den Herren der Insel, den Türken, stattfinden.

So weit die geschichtliche Kunde reicht, erfreute sich die etwa 8600 qkm große Insel niemals auf die Dauer geordneter Zustände. Schon die griechischen Ansiedler, die etwa 1000 Jahre vor Chr. von Kreta Besitz ergriffen, gründeten hier keineswegs ein einheitliches Reich, sondern zerfielen in etwa 20 von einander unabhängige Staaten, die sich gegenseitig befehdeten. Zur Zeit, da die Römer ihre Herrschaft über das Mittelmeerbecken ausdehnten, waren die Kreter als Seeräuber berüchtigt. Später bildete die Insel ein Ziel der Raubzüge der Sarazenen, einen Kampfpreis zwischen diesen und den byzantinischen Kaisern. Im dreizehnten Jahrhundert fiel Kreta in die Hände der Venetianer und die Kreter kämpften gegen diese Herren, bis sie um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts von den Türken unterjocht wurden. Damit begann in der traurigen Geschichte dieses Eilandes der traurigste Abschnitt. Von nun an gab es auf ihm nur Herren und Sklaven. Die siegreichen Türken ließen hier ihren Leidenschaften den freiesten Lauf und verübten die scheußlichsten Greuelthaten. Unter diesem Druck flohen Scharen christlicher Bewohner von der Insel, Tausende beugten sich vor dem Islam und wechselten ihre Religion; nur in den Bergen, namentlich auf den schwer zugänglichen Höhen der westlichen Landschaft Sphakia blieb ein Häuflein Kreter frei und unabhängig und behauptete seine Rechte im ewigen Kampfe gegen die fremden Eroberer. Das reiche Land verödete, und an Macht gewann nur die Saat, die von der Tyrannei emsig ausgestreut wurde, der glühendste Haß der Bedrückten gegen ihre grausamen Peiniger.

Hafenansicht von Kanea.
Nach einer Originalzeichnung von Jos. Winckler.

So lagen die Dinge auf Kreta, als im Anfang unseres Jahrhunderts für die geknechteten Griechen die Stunde der Erlösung schlug. Die Kreter blieben hinter ihren Landsleuten in Morea nicht zurück, im Maimonat 1821 entfalteten sie auf ihrer Insel das Banner der Unabhängigkeit. Leider sollten sie vergebens ihr Blut vergießen, denn die europäische Diplomatie schloß im Jahre 1830 in dem Protokoll zu London Kreta von dem neugegründeten griechischen Staate aus – überantwortete die Insel auch weiterhin der türkischen Herrschaft! Zwar versuchte man die Türkei zu Reformen zu zwingen und eine Gleichberechtigung der Christen und Türken durchzusetzen, aber alle diese Versuche führten zu keinem ersprießlichen Ende. Die Geschichte Kretas besteht seit jener Zeit aus einer Kette von Aufständen, die immer mit blutiger Gemalt unterdrückt wurden.

Ein solches schmähliches Drama spielt sich auch gegenwärtig auf dem schwergeprüften Eilande ab. Die Christen erhoben sich, unterstützt von ihren Stammesbrüdern in Griechenland, und es begannen Zusammenstöße und Metzeleien zwischen Türken und Christen, in welchen der grimmigste Haß zum Ausdruck kommt, so daß nicht einmal das Leben von Frauen und Kindern geschont wird. Die Verbindungen mit dem Innern des Landes sind zumeist aufgehoben und man weiß nicht genau, welche grauenvollen Vorgänge sich dort abspielen. Selbst in den Hafenstädten konnte die Ruhe nicht aufrechterhalten werden. So war die Hafenstadt Kanea, deren Ansicht wir in unserem Bilde wiedergeben, der Schauplatz blutiger Auftritte. Hier wohnt in engen Gassen, dicht zusammengedrängt, eine Bevölkerung von etwa 12000 Menschen. Reich an geschichtlichen Erinnerungen, mit Kirchen und Moscheen geschmückt, in der Nähe fruchtbarer Gefilde gelegen, könnte sie sich einer bedeutenden Wohlhabenheit erfreuen. Aber ruhige Tage sind selbst den Hafenstädten der Insel nicht beschieden. Am Pfingstfest kam es dort zu einem Streit zwischen einem griechischen Diener des russischen Konsuls und der Thorwache. Der Streit artete bald in ein Handgemenge aus und damit war das Signal zu einer Niedermetzelung der Christen gegeben. Darauf wurde der Kampf von den bewaffneten Scharen im Innern mit verstärktem Eifer fortgeführt, und es gelang den Aufständischen noch in letzter Zeit, einige Vorteile über die türkischen Truppen zu erringen. Inzwischen hat die Türkei dem Drängen der europäischen Großmächte nachgegeben, einen christlichen Gouverneur ernannt und Reformen versprochen. Es ist dringend zu wünschen, daß die Leiter dieser kretischen Freiheitsbewegung diese Zugeständnisse annehmen. Eine völlige Befreiung Kretas ist infolge der politischen Lage unmöglich und nur durch weise Mäßigung auf beiden Seiten kann der Frieden geschlossen und eine gedeihlichere Entwickelung der Insel herbeigeführt werden.

Kreta ist in Europa wenig bekannt. Um so mehr sollte man den wenigen guten Werken über das an landschaftlichen Reizen reiche Eiland, wie z. B. „Erlebnisse und Beobachtungen eines mehr als zwanzigjährigen Aufenthaltes auf Kreta“ von Elpis Melena (Hannover, Schmorl und von Seefeld Nachf.), eine größere Verbreitung wünschen. Die öffentliche Meinung würde aus ihnen erfahren, daß der tapfere Kreter, wie rauh ihn auch die ewigen Kämpfe gemacht haben mögen, doch unsre Sympathien verdient.



An unsere Leser.

     manicula Um den praktischen Interessen der Familie zu dienen, haben wir in dem Anzeigenteil der „Gartenlaube“ eine besondere Rubrik, den Kleinen Vermittler“, eingeführt. In denselben werden Anzeigen, welche Stellengesuche und Stellenangebote, Unterricht und Pensionatswesen betreffen, Inserate über Kauf und Verkauf von Grundstücken, sowie überhaupt Ankündigungen aus dem täglichen Kleinverkehr zu besonders ermäßigtem Insertionspreise aufgenommen. Das Wort in gewöhnlicher Schrift kostet 15 Pf., in fetter Schrift 20 Pf. Wir empfehlen den „Kleinen Vermittler“ der freundlichen Beachtung unserer Leser. Die Anzeigen sind an die Anzeigen-Administration der „Gartenlaube“ (Annoncen-Expedition Rudolf Mosse), also nicht an den unterzeichneten Verlag, zu richten. Der Verlag der „Gartenlaube“. 

[500 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]