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Die Gartenlaube (1896)/Heft 18

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[293]

Nr. 18.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (17. Fortsetzung.)

Es war bereits spät geworden und die Gäste der Lady Marwood fingen an aufzubrechen. Einer nach dem andern trat heran, um sich zu verabschieden, es wurde stiller und leerer in den glänzenden Räumen. Zenaide schritt gerade durch den Salon, als auch Ehrwald sich ihr nahte, um Abschied zu nehmen.

„Darf ich mir die Ehre geben, Ihnen morgen mittag meine Aufwartung zu machen, Mylady?“ fragte er in gedämpftem Tone. Sie sah ihn etwas befremdet an.

„Warum denn so förmlich? Es bedarf doch keiner Anmeldung. Sie sind mir immer willkommen.“

„Aber ich darf wohl kaum darauf rechnen, Sie allein zu finden, und diese Gunst möchte ich mir erbitten.“

„Allein? Haben wir uns wirklich noch etwas zu sagen?“ fragte Zenaide mit bitterem Spott.

„Vielleicht doch – darf ich auf die Erfüllung meiner Bitte hoffen?“

„Da Sie es so feierlich verlangen, werde ich wohl die erbetene Audienz bewilligen müssen, aber das kann schon heute geschehen. In einer Viertelstunde werden die Gäste fort sein, dann bin ich allein.“

Reinhart warf einen Blick auf die Uhr, die bereits auf Mitternacht zeigte. „Wäre es nicht besser, Mylady, wenn ich morgen –“

„Nein, wer weiß wann und wie ich dann in Anspruch genommen bin. Heute sind wir ungestört, bleiben Sie, Herr Ehrwald!“

Das war wieder der herrische, übermütige Ton, mit dem Lady Marwood stets über ihre Umgebung verfügte. Reinhart hörte ihn freilich zum erstenmal. Er verneigte sich und trat zurück, aber sein Auge folgte der schönen Frau, die sich nach dem kurz und leise geführten Gespräch wieder zu den anderen Gästen wandte.

Ja, sie war blendend schön, als sie da unter dem Kronleuchter stand. Das Licht der Kerzen spielte in den schweren Falten des mattgelben Atlasgewandes und blitzte in den kostbaren Juwelen, die Hals und Arme schmückten. Der herrliche Kopf mit dem bläulich schwarzen Haar und den dunklen Augen hob sich so stolz und siegesbewußt und die Lippen lächelten, die Augen strahlten, die ganze Erscheinung war wie aus Licht und Glanz gewoben. Aber Reinharts Blick war jetzt geschärft, er sah das nervöse Zucken dieser Lippen, den fieberhaften Glanz dieser Augen, das Unnatürliche, Krampfhafte in dieser sprudelnden Lebhaftigkeit. Jawohl, das Morphium that seine Schuldigkeit – aber wie lange noch?

Eben verabschiedeten sich die letzten Gäste, zu denen Herr von Verden und der Baron gehörten. Sie waren vorhin um die Unterhaltung mit der afrikanischen Berühmtheit gekommen und wollten das nun nachholen.

„Wir gehen wohl zusammen, Herr Ehrwald?“ sagte Verden. „Unser Weg führt an der Villa des Hofrats vorbei, und wenn Sie uns gestatten –“

„Herr Ehrwald bleibt noch hier,“ fiel Zenaide ein. „Nicht wahr? Wir wollten ja noch von alten Erinnerungen plaudern.“

„Ah, dann bitte ich um Entschuldigung,“ versetzte Verden geschmeidig; aber er wechselte dabei einen sehr bedeutsamen Blick mit seinem Freunde. Das schien ja eine merkwürdig intime Bekanntschaft zu sein. Dieser Afrikaner hatte unglaubliches Glück bei Mylady, die sonst ihre ganze Umgebung mit souveräner Gleichgültigkeit behandelte.

Ehrwald sah diesen Blick, der sein Blut in Wallung brachte. Er runzelte die Stirn und sagte, als jene auch gegangen, mit unterdrückter Heftigkeit: „Ich that doch wohl unrecht, zu bleiben, Mylady!“


Schloß Mespelbrunn im Spessart.

[294] „Weshalb?“ fragte sie nachlässig, sich in einen Sessel werfend.

„Weil es mißdeutet werden kann. Ich fürchte, da wird eben eine Klatscherei hinausgetragen, die vielleicht morgen die Runde durch ganz Kronsberg macht.“

„Haben Sie wirklich Zeit und Lust, sich um Klatschereien zu kümmern?“ fragte Zenaide mit einem verächtlichen Achselzucken.

„Wenn es Sie betrifft, allerdings.“

„Nun, ich thue es nicht. Was kommt’s darauf an, was solche Nullen denken oder schwatzen!“

„Und doch umgeben Sie sich täglich mit solchen Nullen?“

„Mein Gott, man braucht doch ein Gefolge, wenn man in der Welt auftritt. Zu Schleppenträgern sind diese Menschen gut genug. Wenn sie lästig werden, verabschiedet man sie einfach.“

„Und dann rächen sie sich durch die giftigsten Verleumdungen. Sie sollten doch nicht so gleichgültig sein gegen das Urteil der Welt, Mylady.“

„Das Urteil der Welt?“ Zenaide lachte laut auf, aber es war ein hartes, höhnisches Lachen. „Haben Sie etwa noch Respekt davor? Ich bin längst fertig damit. Ich kenne sie zur Genüge, die große Komödie, die wir uns da Tag für Tag vorspielen, und die im Grunde so kleinlich und erbärmlich ist. Wer es nur versteht, zu heucheln und sich hinter die sogenannten Anstandsregeln zu verschanzen, der darf sich alles erlauben, alles, und wird geehrt und gepriesen. Wer es wagt, sich frei und offen zu geben, wie er ist, der wird verhöhnt und verlästert, wird gehetzt und gequält. Da giebt es mir ein Mittel, man muß dieser Gesellschaft den Fuß auf den Nacken setzen und ihr zeigen, wie tief man sie verachtet – dann beugt sie sich!“

Es war ein Ausbruch furchtbarer Bitterkeit, den Ehrwald nur zu gut verstand. Er wußte ja, wie man in der englischen Gesellschaft über Lady Marwood urteilte, wußte, daß sie nahezu ausgestoßen war aus den Kreisen ihres Gemahls. Jetzt ließ sie auch ihm gegenüber die Maske fallen, die sie vor der Welt trug; aber was war aus dem zarten sanften Mädchen mit den großen sehnsüchtigen Augen geworden! Es traf ihn wie ein Vorwurf.

„Und doch leben Sie freiwillig in dieser Welt, die Sie so tief verachten?“ fragte er endlich. „Doch verzehren Sie sich darin! Bertram hat mir erst vorhin diese Befürchtung ausgesprochen.“

„Ah, mein Tyrann, der Doktor! Hat er mich auch bei Ihnen verklagt, wie bei Sonneck? Ja, dieser liebenswürdige, lustige Hofrat kann verzweifelt ernst sein, wenn er den Arzt herauskehrt. Er ängstigt mich oft grausam mit seinen düsteren Prophezeiungen.“

„Und erreicht trotzdem nichts damit, Sie folgen seinem Rate nie.“

„Ich kann nicht!“

„Mylady!“

„Ich kann nicht!“ wiederholte Zenaide mit voller Heftigkeit, indem sie aufsprang. „Er will mich zu einem Trappistendasein verdammen und das halte ich nicht aus. Ich habe es ja versucht, wochenlang, aber ich bin fast wahnsinnig dabei geworden! Kommen Sie binaus auf die Veranda! Es ist erstickend schwül hier, ich muß einmal im Freien aufatmen!“

Sie schritt nach der Balkonthür, die auf eine mit wildem Wein umrankte Veranda führte, es war in der That noch sehr heiß im Salon, trotz der weit geöffneten Fenster. Draußen umfing die Beiden die kühle weiche Nachtluft in ihrer köstlichen Frische, auch Reinhart atmete auf, als er ins Freie trat.

Kronsberg lag bereits still und finster da, nur hier und dort schimmerte noch Licht in einzelnen Fenstern, aber über der dunklen Erde leuchtete der Sternenhimmel in seiner funkelnden Pracht. Es war so ganz anders als damals auf der Terrasse des Osmarschen Hauses, wo die berauschenden Düfte aus dem Palmengarten emporstiegen und fernher der Straßenlärm Kairos brauste. Hier war alles so still, so ernst und feierlich. Dunkel und mächtig blickten die Riesengestalten der Berge in das Thal nieder, und im matten Sternenglanz schimmerten die Schneefelder dort oben. Es war eine nordische Sommernacht in ihrer ganzen ruhigen Schönheit.

Lady Marwood war an die Brüstung getreten, und Ehrwald stand einige Schritte entfernt; aber in dem gedämpften Lichtschein, der durch die Glasthür auf die Veranda fiel, erschien die helle Gestalt in dem Atlasgewande, mit den Juwelen und Spitzen fast noch schöner als vorhin im blendenden Glanze des Kronleuchters. Sie stand zur Hälfte abgewendet und es vergingen Minuten, ohne daß ein Wort gesprochen wurde, endlich sagte Reinhart halblaut: „Zenaide – warum spielten Sie heute gerade diese Weise?“

War es ihr Name auf diesen Lippen oder der Ton, mit dem er ausgesprochen wurde, Zenaide zuckte leicht zusammen, sie wandte sich langsam um, aber ihre Antwort klang in bitterem Spott: „Kennen Sie die Melodie wirklich noch? Ich glaubte, Sie hätten sie längst vergessen.“

Er kam einige Schritte näher und stand jetzt neben ihr, sein Auge suchte das ihrige, als er, ohne auf den Spott zu achten, fortfuhr: „Zenaide – ich habe Ihnen damals wehe gethan –“

„Ja!“ sagte sie mit herber Aufrichtigkeit und es lag etwas wie verhaltener Groll in dem Worte.

„War das meine Schuld allein? Sie wissen es ja, was zwischen uns trat. Ihr Vater –“

„Mein Vater war zu gewinnen und ich war zu jedem Kampfe bereit, aber Sie wollten ja nicht um mich kämpfen, Reinhart. Sie wollten nur hinaus in die Freiheit, in die Weite und sich das Glück erjagen. Haben Sie es denn nun gefunden, dies unermeßliche Glück, Ihre lockende winkende Fata Morgana?“

„Nein!“ sagte Ehrwald schwer und dumpf.

„Also auch dort nicht, in Wüsten und Urwäldern! Ich habe es gesucht in der Welt, unter den Menschen, aber da ist’s auch nicht. Trösten Sie sich, wir teilen das gleiche Los.“

„Und Sie hatten längst schon das Los über Ihr Schicksal geworfen. Zenaide – wie konnten Sie sich einem Marwood zu eigen geben!“

Sie sah ihn nur an, aber in diesen großen düsteren Augen lag die Antwort, lag ein so schwerer Vorwurf, daß er wie ein Schuldbewußter das Haupt senkte.

Wieder trat eine lange Pause ein, dann richtete sich Lady Marwood empor, mit einer so heftigen, jähen Bewegung, als wollte sie irgend etwas von sich werfen.

„Da sind wir wieder mitten in den alten Erinnerungen und in der alten Sentimentalität!“ sagte sie mit jenem harten Lachen, das dem Ohre wehe that. „Und wir beide sollten doch längst darüber hinaus sein. Wir sind ja alt und vernünftig geworden, o, so sehr vernünftig! Und übrigens haben Sie mir immer noch nicht gesagt, weshalb Sie diese Unterredung wünschten. Wollten Sie mir etwas mitteilen?“

„Nein, ich wollte nur eine Bitte an Sie richten – Zenaide, um Gottes willen, was haben Sie, was ist Ihnen?“

Zenaide hatte plötzlich mit beiden Armen die Brüstung umklammert, als wollte sie sich daran festhalten. Sie schwankte und wäre zu Boden gesunken, wenn Reinhart sie nicht rasch umfaßt hätte. Halb bewußtlos, mit geschlossenen Augen lag sie in seinen Armen, ihr Antlitz war zur Totenfarbe erblaßt, die Brust rang schwer und angstvoll nach Atem und das Herz pochte in so wilden unregelmäßigen Schlägen, als wollte es jeden Augenblick stille stehen.

Das dauerte freilich nur Minuten. Als Ehrwald sie zu einem Sessel trug und darin niedergleiten ließ, schlug sie bereits wieder die Augen auf und ihr Blick traf den des Mannes, der sich angstvoll über sie beugte.

„Ich will Hilfe rufen,“ sagte er hastig. „Ich werde die Kammerfrau –“

Zenaide schüttelte den Kopf, und eine matte Bewegung ihrer Hand verbot ihm das Forteilen.

„Nein – niemand! Es geht vorüber – ich weiß es!“

Es ging in der That vorüber, der Anfall schwand fast so schnell, wie er gekommen war. Die Farbe kehrte in ihr Antlitz zurück und der Atem wurde ruhig. Ehrwald stand stumm und finster neben ihr. Wenn er wirklich noch an den Worten des Arztes gezweifelt hätte, hier sah er den Beweis.

„Habe ich Sie erschreckt?“ fragte Zenaide, jetzt wieder mit voller Selbstbeherrschung. „Es ist nicht von Bedeutung, ich mache solche Anfälle oft genug durch.“

„Und ein solcher Anfall wird Sie schließlich töten!“ fiel er stürmisch ein. „Sie vernichten sich ja mit diesem Leben, das Sie Tag für Tag führen, Sie hören auf keinen Rat, keine Warnung und machen es Ihrem Arzte unmöglich, Sie zu retten. Zenaide! Können Sie sich denn nicht schonen?“

„Für wen?“ fragte sie herb. „Vielleicht für Lord Marwood? Ich habe den Mann, der mein Gatte heißt, hassen gelernt, denn er hat mich nur gequält und gemartert. Mein Kind ist mir genommen, es kennt die Mutter nicht einmal mehr, mein Vater ist tot und die Menschen, die mich täglich umgeben, möchte ich am liebsten mit dem Fuße von mir stoßen. Einen Freund habe ich [295] noch, einen einzigen, aber Sonneck hat ja jetzt sein junges Weib, sein neues Glück, da bleibt für mich höchstens das Mitleid übrig, und ich will kein Mitleid. Ich will auch das Leben nicht, das sich so öde, so endlos vor mir ausdehnt wie eine Wüste, ich weiß es ja, daß ich endlich darin verschmachten und verderben muß! Es lohnt auch gerade der Mühe, sich dafür zu schonen!“

„Nun denn, so thun Sie es um – – meinetwillen!“

Es ging wie ein Beben durch die Gestalt der furchtbar erregten Frau, ihr Auge heftete sich groß und fragend auf Ehrwald, der sich jetzt zu ihr niederbeugte und leise wiederholte: „Um meinetwillen, Zenaide! Ich bitte Sie darum.“

Da fuhr sie auf und aus ihrer Brust rang es sich empor wie ein Weheruf. „Reinhart – warum hast Du mich damals verlassen?“

„Weil ich ein Thor war,“ sagte er dumpf. „Ein Thor, der einem Phantom nachjagte und darüber das Glück nicht sah, das an seiner Seite stand. Zenaide, ich fühle es jetzt erst, was ich Dir gethan habe, aber laß mir nicht diesen Vorwurf auf der Seele! Versprich mir, dem Arzte zu folgen! Versprich mir, dies unselige Mittel von Dir zu werfen, mit dem Du Dich elend machst und das Dir noch den Tod giebt! Du sollst nicht untergehen, Du mußt leben. Ich fordere es von Dir!“

Es sprach heiße Angst aus den Worten. Zenaide antwortete nicht, regte sich nicht, nur ein paar schwere Thränen rollten über ihre Wangen, auf welchen ein leises, glückliches Lächeln dämmerte.

„Das Versprechen!“ wiederholte Reinhart, ihre Hand fest in die seine schließend. „Du giebst es mir?“

„Ja!“ flüsterte sie kaum hörbar.

Er beugte sich nieder und drückte seine Lippen auf die Hand.

„Dank! Ich baue darauf – gute Nacht, Zenaide!“

Er ging, Zenaide blieb allein. Sie preßte das Antlitz in die Polster des Sessels und weinte; aber das war nicht jenes wilde Schluchzen, das sich bei ihr sonst wie in einem Krampfe Luft machte, das waren erlösende Thränen, die Ruhe und Schlaf brachten, Thränen, die sie seit Jahren nicht geweint.




Fast zwei Monate waren vergangen, der Hochsommer ging zu Ende und in Kronsberg begann es stiller zu werden, wenn es auch immer noch eine stattliche Zahl von Gästen aufweisen konnte.

Es war an einem schönen Augusttage, in den Nachmittagsstunden, als Fräulein Ulrike Mallner durch die Straßen des Kurortes schritt, in der Rechten ihren unzertrennlichen Begleiter, den großen Sonnenschirm, in der Linken eine Tasche von gleichfalls ziemlich bedeutendem Umfang. An ihrer Seite ging ein kleiner Herr, im grauen Touristenanzuge, mit einem sehr gutmütigen und freundlichen Gesicht. Er hatte ein großes Fernglas umgeschnallt und trug einen Schleierhut, der sich hier in dem nordischen Bergorte etwas komisch ausnahm. Aufmerksam hörte er der Dame zu, die eben sagte: „Ich glaube, es giebt nachgerade keinen Menschen, der nicht in Kronsberg gewesen ist. Wir haben im Sommer alle möglichen Sorten hier gehabt, Potentaten und Minister, Millionäre und Künstler, Engländer und Afrikaner – nun sind Sie auch noch da, Herr Ellrich, aber doch wohl nicht als Kurgast?“

„Nein, ich befinde mich Gott sei Dank ganz wohl,“ versetzte Herr Ellrich, der sich in den zehn Jahren kaum verändert hatte, nur sein Haar war grau geworden. „Ich habe eine Reise ins Gebirge gemacht und da wollte ich mir das jetzt so vielgenannte Kronsberg doch auch ansehen, um so mehr, als Hofrat Bertram hier Badearzt ist. Ich habe ihn in all den Jahren nicht gesehen, aber öfter von ihm gehört; es heißt ja, daß der Badeort vor allen ihm diesen schnellen Aufschwung verdankt.“

„Ja, er ist ein ‚großes Tier‘ geworden und spielt hier die erste Geige,“ bemerkte Ulrike trocken. „Die reichen und vornehmen Patienten laufen ihm nur so zu und der Hof hat vollends einen Narren an ihm gefressen. Kürzlich bekam er schon wieder einen Orden – der Mensch hat von jeher mehr Glück als Verstand gehabt!“

„Ich glaube, Doktor Bertram hatte stets Glück und Verstand,“ erlaubte sich der kleine Herr zu erwidern. „Er hat bereits einen Namen in der Wissenschaft und wird zweifellos später eine Berühmtheit werden.“

„Sind Sie noch immer so versessen auf die Berühmtheiten?“ fragte Fräulein Mallner, ärgerlich über das Lob, das ihrem alten Widersacher erteilt wurde. „Die wimmeln förmlich bei uns in Kronsberg! Sonneck ist hier, Ehrwald ist hier und die beiden können Sie gleich heute nachmittag anschwärmen, denn Ehrwald wohnt bei uns und Sonneck wollte mit seiner jungen Frau kommen. Sie wissen doch, daß er vor sechs Wochen geheiratet hat?“

„Ich weiß, es hat ja in allen Zeitungen gestanden, und er hat eine junge schöne Frau – der Glückliche!“

„Ja, das ist er!“ bestätigte Ulrike. „Man braucht ihn nur anzusehen, der Mann geht umher wie verklärt und thut, als ob er mitten im Paradiese säße. Nun, dem gönne ich es, dem allein auf der ganzen Welt, denn er verdient es!“

„Nun, Sie werden doch auch Ihrer Frau Schwägerin das Glück gönnen,“ warf Ellrich ein. „Nach allem, was ich hörte, ist die Ehe sehr glücklich und es sind auch drei liebe Kinderchen da.“

„Drei liebe Kinderchen?“ wiederholte das Fräulein höhnisch. „Jawohl, drei Kinder sind da – die gottlosesten, ungezogensten Rangen auf der weiten Welt! Natürlich, sie sind nach ihrem Vater geraten und bei dem ist von Erziehung keine Rede, der läßt sie aufwachsen wie die Wilden. In dem Hause wird überhaupt nur gelacht und die Lustigkeit reißt gar nicht ab vom Morgen bis zum Abend. Und Selma ist immer mitten darunter und prügelt ihre Jungen, daß es nur so eine Art hat.“

„Die Frau Hofrätin – prügelt?“ fragte Herr Ellrich ganz bestürzt. Er hatte immer noch die blasse kleine Frau im Sinne, die vor Schüchternheit gar nicht wagte, die Augen aufzuschlagen.

„Ja, das hat sie gelernt und es thut auch not,“ sagte Ulrike mit Anerkennung. „Aber helfen thut es nichts, diese wilde Berserkerbande tobt durch Haus und Garten, daß einem Hören und Sehen vergeht. Aber jetzt habe ich sie unter die Fuchtel genommen und das gründlich. Ich weiß schon, wie ich ihnen den Mund stopfe, ganz genau weiß ich das!“

Sie sah unendlich grimmig aus bei der Erklärung und schwenkte triumphierend ihre große Tasche. Der kleine Herr schielte ängstlich darauf hin; diese Tasche barg zweifellos verschiedene Strafinstrumente für die armen Kleinen, die vielleicht etwas ausgelassen waren. Er begriff nur nicht, wie der Hofrat es dulden konnte, daß seine Kinder so behandelt wurden, er hatte sich doch bei seiner Verlobung so energisch gezeigt der herrschsüchtigen Dame gegenüber und nun schien sie ihn und sein ganzes Haus unter der Fuchtel zu haben. Jedenfalls war sie in einer gefährlichen Stimmung und Herr Ellrich kannte das noch von früher her, wo seine verehrte Landsmännin wochenlang einem Pulverfaß mit brennender Lunte glich. Er versuchte deshalb vorsichtig abzulenken.

„Es war doch eine schöne Zeit damals in Aegypten,“ hob er wieder an. „Diese Palmenlandschaften, diese Tempel und Pyramiden, dieses Volk in seiner malerischen Ursprünglichkeit –“

„Nun, diese malerische Ursprünglichkeit können Sie auch hier genießen,“ unterbrach ihn Ulrike. „Wir haben das schwarze Ungetüm, den Achmet, im Hause, und drüben in der Villa der Lady Marwood sitzen auch ein paar von den braunen Affengesichtern. Sie hat sich einen ganzen orientalischen Hofstaat mitgebracht! Es fehlen nur noch die Kamele, dann haben wir das Wüstenland leibhaftig hier in Kronsberg.“

„O, das ist ja höchst interessant!“ rief Ellrich erfreut. „Da werde ich meinen Aufenthalt doch verlängern. Ich komme immer noch früh genug in mein einsames Heim. Ich trage mich freilich mit gewissen Zukunftsplänen –“

„So? Wollen Sie wieder nach Aegypten?“

„Das nicht, ich bin so viel gereist und fange nun an, mich nach Ruhe zu sehnen, aber was mir fehlt, ist eine Häuslichkeit, ist –“ Herr Ellrich seufzte und blickte verschämt zu Boden, als er leise hinzufügte: „eine Lebensgefährtin.“

„Sie sind wohl nicht bei Troste!“ fuhr ihn Ulrike an. „Sie haben reichlich Ihre fünfzig Jahre auf dem Rücken, haben schon graue Haare und wollen noch einen solchen Unsinn begehen!“

„Herr Sonneck hat ihn doch auch begangen,“ versetzte der kleine Herr empfindlich, „und er ist zwei Jahre älter als ich.“

„Herr Sonneck ist eben Herr Sonneck!“ erklärte Fräulein Mallner mit Nachdruck. „Der kann sich das erlauben. Sind Sie ein berühmter Afrikaforscher? Haben Sie die Nilquellen entdeckt?“

„Nein, aber eine Inschrift habe ich in Theben entdeckt, damals, als ich dem seligen Professor Leutold bei seinen Forschungen half. Ich fand sie zuerst und der Professor entzifferte sie dann. Sie gab uns sehr wertvolle Aufschlüsse über Ramses und Seti und über die Dynastien von –“

[296] Es half dem armen Ellrich gar nichts, daß er mit seiner von dem Professor Leutold aufgeschnappten Wissenschaft seiner Begleiterin zu imponieren versuchte. Fräulein Mallner ließ sich nun einmal nicht imponieren, sie fiel ihm ärgerlich ins Wort.

„Bleiben Sie mir mit den vertrackten Namen vom Leibe, Sie wissen, ich kann die alten Mumien nicht leiden! Also heiraten wollen Sie noch auf Ihre alten Tage? Mein seliger Martin hat es freilich auch so gemacht, aber dafür mußte er es noch im Grabe erleben, daß seine Witwe wieder heiratete und jetzt drei Jungen hat, die sich den ganzen Tag prügeln. Das hatte er davon! Aber wenn sich die Männer einmal eine Dummheit in den Kopf setzen, dann hilft es nichts, wenn man ihnen Vernunft predigt – die Dummheit wird gemacht!“

Herr Ellrich schwieg tiefgekränkt, er wurde schon wieder schlecht behandelt von der rücksichtslosen Dame, die in den zehn Jahren nicht das Geringste von ihrer Grobheit eingebüßt hatte, eher schien sie Fortschritte darin gemacht zu haben. Aber er war doch bedenklich geworden: das Schicksal des seligen Martin, „der im Grabe noch so etwas erlebte“, schien ihm nicht gerade beneidenswert.

Man war inzwischen bei der Bertramschen Villa angelangt, aus deren Garten lauter fröhlicher Lärm ertönte. Die drei Jungen spielten natürlich wieder „Wilde“ und hatten sich dazu mit dem nötigen afrikanischen Beiwerk ausgestattet. Sogar der kleine Hans trug einen Büschel von alten Hahnenfedern auf dem Kopfe und bemühte sich, die allerentsetzlichsten Grimassen zu schneiden, während er eine kleine Gartenspritze als Mordinstrument schwang. Bei dem Anblick des Fräulein Mallner jedoch wurde das Spiel unterbrochen und die ganze Gesellschaft stürzte mit lautem Hallo der Tante entgegen, umringte sie und begann eine Art Kriegstanz um sie herum aufzuführen. Ulrike drohte ihnen scheltend mit dem Sonnenschirm und versuchte, ihre Tasche in Sicherheit zu bringen, aber gerade darauf hatte es die wilde kleine Bande abgesehen, sie mochte wohl schon ihre Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht haben.

„Tante ist die Karawane,“ kommandierte der Aelteste. „Die überfallen und plündern wir. Eins – zwei – drei – Hurra!“

„Hurra!“ schrieen auch die beiden anderen und dann stürzten sie sich gemeinsam auf die Karawane, die in aller Form geplündert wurde und das Gepäck hergeben mußte. Es wurde allerdings nicht ernstlich verteidigt und die Sieger fielen schleunigst über die eroberte Beute her.

Herr Ellrich traute seinen Augen nicht, als aus der Tasche, die ihm so gefährlich erschienen war, allerhand gute Dinge zum Vorschein kamen. Ein großes Paket Chokolade, verschiedene Tüten mit Kuchen, ein Körbchen mit überzuckerten Früchten und zuletzt ein Bilderbuch. Jeder einzelne Gegenstand wurde mit lautem Freudengeschrei begrüßt und Fräulein Ulrike stand dabei, sah mit grimmigem Behagen zu und fragte dann, zu ihrem Begleiter gewendet: „Nun, habe ich nicht recht? Sind es nicht gottlose ungezogene Rangen?“

„Die Kinder scheinen nicht gerade Furcht vor Ihnen zu hegen,“ meinte Herr Ellrich, der maßlos erstaunt war.

„Diese heillose Bande hat vor niemand Furcht, und wenn der Gottseibeiuns in eigener Person käme, sie würde ihn auslachen,“ sagte das Fräulein entrüstet. „Jetzt teilt Euch in den Kuchen, das übrige wird bis morgen aufgehoben und das Bilderbuch gehört dem Hansel, verstanden?“

Damit marschierte sie nach dem Hause und winkte ihrem Begleiter, zu folgen. In der Veranda fanden sie denn auch Bertram und seine Frau, die beim Kaffee saßen und mit freudiger Ueberraschung den alten Bekannten begrüßten.

„Herr Ellrich!“ rief der Hofrat, ihm die Hand hinstreckend.

„Das ist brav, daß Sie Wort halten und uns einmal in Kronsbcrg besuchen. Wie ist es Ihnen denn ergangen?“

Herr Ellrich hatte seine Höflichkeit ebenso unverändert bewahrt wie Fräulein Mallner ihre Grobheit. Er sprach in wohlgesetzten Worten seine Freude über das Wiedersehen aus, war entzückt über das blühende Aussehen der Frau Hofrätin, gratulierte zu den drei Jungen, deren Bekanntschaft er soeben gemacht habe, und nahm dann den angebotenen Platz ein.

„Ja, ich habe ihn unterwegs aufgefischt,“ sagte Ulrike. „Ich kam gerade von Birkenfelde. Uebrigens ist die Sache dort abgemacht, wir sind handelseins geworden.“

„Bravo!“ rief Bertram, „Sie werden mit dem Kaufe zufrieden sein,“ und zu Ellrich gewendet, fügte er erläuternd hinzu: „Fräulein Mallner ist im Begriff, sich hier anzukaufen und unsere hochverehrte Mitbürgerin zu werden – sie kann nämlich nicht leben ohne meine Jungen, und nur um in ihrer Nähe zu bleiben, kauft sie Birkenfelde.“

„Dergleichen Scherze verbitte ich mir!“ fuhr Ulrike zornig auf. „Sie wissen doch am besten, daß ich nur fortgehe, um Ruhe im Hause zu haben. Hier macht Ihre Berserkergesellschaft ja einen Lärm, daß man aus der Haut fahren möchte. Aber in Birkenfelde bin ich Herr und Meister, da sollen mir die Jungen nur kommen, ich werde ihnen die Wege weisen!“

Sie nickte dräuend mit dem Kopfe, unterbrach sich aber plötzlich und horchte auf, denn draußen im Garten gab es in der That schon wieder Lärm, die drei hoffnungsvollen Sprößlinge waren einander in die Haare geraten. Hansel hatte sich in aller Bescheidenheit die allergrößte Portion Kuchen zugeeignet, und als seine Brüder ihm dieselbe wieder abnehmen wollten, wehrte er sich und schrie aus vollem Halse: „Tante Ulrike! Tante Ulrike!“

Diese säumte denn auch nicht, ihrem Liebling zu Hilfe zu kommen, sie ließ ihren Kaffee im Stich und schoß wie ein Stoßvogel davon und mitten hinein in die streitende Gruppe. Sie hatte sich längst den praktischen Griff angewöhnt, mit dem Frau Selma bei ihren Jungen Ruhe zu stiften pflegte, und so faßte sie denn auch jetzt den Adolf mit der Rechten und den Ernst mit der Linken und schüttelte sie, daß ihnen Hören und Sehen verging. Dann nahm sie den triumphierenden Hansel samt seinem Kuchen auf den Arm und trug ihn nach der Veranda.

„Fräulein Mallner scheint sich ja ganz merkwürdig verändert zu haben,“ sagte Herr Ellrich, der sich noch immer nicht von seinem Erstaunen erholen konnte. Bertram lachte.

„Ja, sie stellt sich noch grimmig genug an, allein sie ist ganz unschädlich geworden, und das haben unsere Jungen zustande gebracht. Sie zankt zwar den ganzen Tag mit ihnen, aber dabei verzieht und verwöhnt sie sie in der unglaublichsten Weise und der Hansel hat sie nun vollends zu seiner Sklavin gemacht.“

Die beiden ältesten Knaben schienen sich in der That nicht viel aus der empfangenen handgreiflichen Zurechtweisung zu machen, denn sie hingen wie die Kletten an der Tante, als diese mit hochrotem Gesichte wieder erschien und dem Hofrat erklärte, er könne es vor Gott und den Menschen nicht verantworten, daß er der Welt eine so heillose Bande erziehe.

„Ja, das sind auch meine Jungen – das ist das Gesetz der Vererbung!“ sagte Bertram, ihr freundschaftlich zunickend, während Selma drängte: „So erzähle uns doch von Birkenfelde, Du liefst ja mitten in dem Berichte davon.“

„Nun, da ist nicht viel zu erzählen, die Sache ist in Ordnung,“ erklärte Ulrike. „Dein Mann hatte ganz recht, mir den Kauf anzuraten, die Besitzung ist sehr preiswert, das Haus hübsch und geräumig und gerade so viel Landwirtschaft dabei, um nicht aus der Uebung zu kommen. Morgen wird der Kaufvertrag unterzeichnet und in vier Wochen ziehe ich hinaus. – Ja, ja, Ihr Jungen, dann gehe ich fort und komme nicht wieder.“

Die Jungen machten große Augen bei dieser Ankündigung und die beiden älteren erhoben sofort leidenschaftlichen Wiederspruch. Hansel aber, der noch auf dem Schoße der Tante saß, nahm die Sache sehr gemütsruhig und erklärte mit großer Entschiedenheit: „Ich gehe mit!“

„Das wirst Du bleiben lassen,“ sagte der Vater strafend. „Die Tante geht überhaupt nur fort, weil sie Euren Lärm und Eure Ungezogenheiten nicht mehr aushalten kann. Wenn Ihr Euch in Birkenfelde sehen laßt, wirft sie Euch zur Thür hinaus.“

„Das geht Sie gar nichts an, was ich in Birkenfelde mache,“ rief Fräulein Mallner, ihm einen wütenden Blick zuwerfend. „Sie gönnen Ihren Kindern wohl nicht das bißchen Vergnügen? Nun gerade sollen sie mich besuchen und den Hansel nehme ich überhaupt gleich mit auf acht Tage. Dann bekommt er auch einen kleinen Wagen mit zwei Ziegen, wie er ihn sich längst schon gewünscht hat, aber Sie erfüllen ihm natürlich den Wunsch nicht, da kann er lange bitten.“

Hansel jauchzte laut auf bei dieser Verheißung und strampelte vor Vergnügen, die andern beiden aber benutzten schleunigst die Gelegenheit, um der Tante nun auch verschiedene Wünsche ans Herz zu legen. Diese hielt sich die Ohren zu, der Hofrat aber sagte mit ernster Miene: „Tante Ulrike, Sie können es vor Gott und den Menschen nicht verantworten, wie Sie meine Jungen verziehen. Ich lege als Vater feierlichst Verwahrung dagegen ein.“

(Fortsetzung folgt.)


[297]

Mit vereinter Kraft.
Nach dem Gemälde von J. Vesin.

[298]

Gesundheitliche Winke für Bureauarbeiter und Stubengelehrte.

Von Dr. A. Kühner.

Die Weisen aller Zeiten haben Arbeit und Mäßigkeit als die bewährtesten Mittel zur Erreichung eines hohen Alters erkannt. In der That ist Müßiggang nicht nur die Quelle aller Laster, sondern auch ein Erzfeind der Gesundheit; denn die lebendigen Kräfte, die der gesunde Körper entfaltet, erheischen Bethätigung, und Organe, die man nicht benutzt, nicht arbeiten läßt, verkümmern, werden schwach und siech. Selbstverständlich muß aber die Arbeit in vernünftiger, den Lebensgesetzen angepaßter Weise geregelt werden; thun wir es nicht, so bringt das Schaffen Schädlichkeiten mit sich, die schließlich auch die stärkste Gesundheit untergraben. Das gilt nicht nur für diejenigen Leute, die im Schweiß ihres Angesichtes durch körperliche Arbeit ihr Brot verdienen, sondern auch für die große Klasse der geistigen Arbeiter, die, während ihr Körper ruht, den Geist anstrengen. Unsere Kulturverhältnisse haben es mit sich gebracht, daß die Zahl der geistigen Arbeiter bedeutend gestiegen ist. Nicht nur die Schar der Gelehrten hat sich vergrößert, auch das Heer der Beamten ist gewachsen; Handel und Gewerbe fesseln Millionen Angestellter an die enge Bureaustube. Alle diese Menschen verrichten keine schweren körperlichen Arbeiten, sie sitzen oder stehen stundenlang an ihrem Schreibtisch und arbeiten vornehmlich mit dem Gehirn. Niemand behauptet heute, daß diese Arbeit eine „leichte“ wäre; die Erfahrung hat zur Genüge gelehrt, daß das Uebermaß geistiger Leistung aufreibend, zerrüttend auf den Körper einzuwirken vermag, und die medizinische Statistik zeigt, daß unter den geistigen Berufsarbeitern gewisse Nerven- und Gehirnkrankheiten, Geistesstörungen, Selbstmord zehnmal mehr Verwüstungen anrichten, als auf Rechnung der Professionen mit körperlicher Beschäftigung zu setzen ist. Es erscheint darum als eine wichtige Aufgabe der Aerzte, diesen Schattenseiten unseres Kulturlebens entgegenzutreten und der großen Anzahl der geistigen Arbeiter Ratschläge zu erteilen, wie sie die Schädlichkeiten ihrer Berufsthätigkeit nach Möglichkeit verringern können.

Schwierig ist es allerdings, für alle diese Menschen allgemein gültige Verhaltungsmaßregeln aufzustellen. Die geistige Leistung läßt sich nicht so genau abmessen und in Zahlen ausdrücken, wie dies bei der körperlichen der Fall ist. Wir wissen nicht, wie viel Stoff ein Gedanke im Gehirn verbraucht, welchen Ersatz wir für diese Ausgabe an Kraft dem Körper bieten müssen. Dabei ist das Maß geistiger Leistungsfähigkeit von den persönlichen Anlagen des Einzelnen abhängig. Spielend löst der eine die schwierige Aufgabe, welche dem andern Kopfzerbrechen und Müdigkeit bereitet; mit Lust und Freude füllt ein mit passender Begabung ausgerüsteter Mann eine Stellung aus, in der sein Vorgänger sich aufgerieben hat. Alltäglich können wir solche Erfahrungen machen und sie belehren uns, daß ein allgemein gültiges Maß geistiger Leistungsfähigkeit nicht gefunden werden kann, daß der Einzelne seine Kräfte selber prüfen muß, daß die Grenze der geistigen Ueberanstrengung für einzelne Menschen in verschiedenen Höhen gelegen ist.

Aber selbst das geschickteste Genie kann mit der Fülle der geistigen Kraft, die ihm zu Gebote steht, Mißbrauch treiben, und dann treten auch bei ihm die schädlichen Folgen der Ueberanstrengung ein. Niemals soll diese Grenze der geistigen Leistungsfähigkeit auf die Dauer überschritten werden! In der Erfüllung seines Berufs soll der Mensch Freude und Genugthuung empfinden, die Arbeit soll für ihn ein Lebensreiz, eine Quelle der Erstarkung bilden! Darum sind auch Unlustgefühle, Abspannung, Benommenheit, die sich zunächst leise, fast unmerkbar einstellen, Warnungszeichen, die dem geistigen Arbeiter melden, daß er seine Kräfte übermäßig angestrengt hat.

Wir müssen also bestrebt sein, den Eintritt dieser Erschlaffung zu verzögern, und sobald sie fühlbar wird, dem Geiste Ruhe und Erholung bieten. Wie dies durch passende Wahl des Berufes, durch weise Mäßigung in Uebernahme von Aufgaben, die für die vorhandenen Kräfte zu hoch sind, erreicht werden kann, soll hier nicht erörtert werden. Vergessen soll man aber nicht, daß eine gute Lebensmoral, eine frohe Lebensphilosophie einen der beachtenswertesten Grundpfeiler für die Hygieine der geistigen Arbeit bildet. Vom ärztlichen Standpunkte möchten wir vielmehr unsern Lesern einige Lehren über die gesundheitsgemäße Art geistigen Arbeitens erteilen, ihnen zeigen, wie man geistig schaffen kann, indem man das Gehirn schont. Denn stets müssen wir uns vergegenwärtigen, daß jede geistige Leistung mit körperlichen Vorgängen innig verbunden ist. Vielfache Beobachtungen an Menschen und Tieren haben ergeben, daß an der Oberfläche des Gehirns bei einem Erwachsenen in der Zahl von etwa fünf Millionen verbreitete mikroskopisch kleine Gebilde, sogen. Ganglienzellen, die großartige geistige Werkstätte bilden. Es unterliegt ferner keinem Zweifel, daß die verschiedenen Arten geistiger Leistung: Empfindung, Denken, Handeln, auf verschiedenen Bahnen und Verbindungen jener Zellen zu stande kommen, so daß das Gehirn als eine Stätte betrachtet werden kann, innerhalb welcher ein feines, viel verzweigtes Telegraphennetz sich verbreitet. Aus dieser Vorstellung erwächst die wichtige Weisung, daß nicht nur Ruhe für geistige Arbeit erwünschte Erholung gewähre, sondern daß dem angestrengten Denker für die ersehnte Ruhe eine Ablenkung der Gedanken notwendig ist. Geistesthätigkeit, in eine andere Bahn gelenkt, in eine andere Richtung geleitet, vermag bis zu einem gewissen Grade die Ruhe zu ersetzen. Jedermann weiß, daß eine noch so interessante Rede oder musikalische, theatralische Aufführung, wenn sie stundenlang andauert, den Zuhörer ungemein ermüdet, während ein Wechsel der Beschäftigung den betreffenden in Anspruch genommenen Gehirnbahnen eine Erholung gewährt. Diese ruhen, während andere in Thätigkeit treten, eine Lehre, die Voltaire ausnutzte, in dessen Arbeitszimmer fünf Pulte mit verschiedenen begonnenen Arbeiten standen, zwischen denen er wechselte.

Das Hinübergreifen innerhalb der centralen Werkstätte von einer Bahn auf die andere bietet bisweilen nicht geringe Schwierigkeiten. Das Unterbrechen einer gelehrten Arbeit gelingt nicht so leicht, wie dies bei einer körperlichen der Fall ist. Man kann das Buch weglegen, den Schreibtisch verlassen, aber nur langsam und allmählich kann man dem Gedankenspiel entrinnen, in das man sich vertieft hat. Diese Fertigkeit muß erlernt werden; sie zu erlernen, das Denken durch irgend eine poetische oder selbst prosaische Zwischenbeschäftigung zu unterbrechen, muß eine Hauptaufgabe des Stubengelehrten bilden. Der Bureauarbeiter ist in der Wahl des Arbeitsstoffes mehr beschränkt, das Arbeitspensum wird ihm zugetheilt oder durch den Geschäftsgang bestimmt; immerhin ist auch er oft in der Lage, eine Abwechslung in der Art der Beschäftigung herbeizuführen, und soll davon öfter Gebrauch machen.

Von großer Bedeutung für die Gesundheit des geistigen Arbeiters ist weiter, daß die geistige Centralstation des Gehirns in Verbindung steht mit unzähligen Endstationen, von denen jeder Eindruck, die leiseste Störung, der geringste Schmerz, selbst eine Unbehaglichkeit, ein unbestimmtes Uebelbefinden, dessen Begründung sich erst herausstellen soll, nach dem Centrum gemeldet wird. Dieses großartige, uns in seinem vielgestaltigen, verwickelten, wunderbaren Mechanismus nur zum Teil erschlossene Telegraphennetz, dessen Fäden jede Provinz unseres Organismus durchziehen, leitet nicht nur in Form der sogenannten Empfindungsnerven gewisse Eindrücke von außen zum Gehirn. Dieser Nervenapparat sendet vielmehr auf der Bahn der Bewegungsnerven auch gewisse Antriebe nach außen. Selbst das reine ruhige Denken ruft gewisse Veränderungen in körperlichen Vorgängen hervor, beeinflußt Herzschlag, Atmung, ist nicht gleichgültig für Aufnahme von Speise und Trank, Verdauung und Absonderung.

Diese Bahnen, welche von und zu der geistigen Werkstätte verlaufen, bilden für diese ein mächtiges Ableitungsgebiet, dessen Bethätigung wir beherrschen, nach Belieben steigern oder herabsetzen können. Wenn man bedenkt, daß zahllose feine Aeste der Empfindungsnerven sich in der uns umgebenden Haut verzweigen, wenn man die eigentümlichen Empfindungen des Angenehmen und Wohlbehagens, die geistige Erfrischung und Umänderung ermißt, welche durch die verschiedenen Anwendungsformen des Wassers, nach einem Spaziergang, insbesondere bei regnerischem, stürmischem Wetter, nach Wärmeverlusten oder Wärmezufuhr bedingt [299] werden, so wird es begreiflich, daß eine geeignete Pflege der Haut und der sich in ihr verbreitenden Gefühlsnerven von großer Wichtigkeit für geistiges und körperliches Wohlbefinden ist. Luft und Wasser, die bei ungeeigneter Einwirkung uns feindlich gegenübertreten, müssen in ihrer gehörigen Verwendung die besten Freunde des an die Stube gefesselten geistigen Arbeiters sein und bleiben.

Noch wichtiger für das geistige Leben sind dessen Beziehungen zu den Bewegungsnerven. Dem Stubenmenschen drohen in dieser Beziehung gewisse Nachteile der sitzenden Lebensweise überhaupt. Unvollkommenes Atmen, verlangsamte Herzthätigkeit mit allen ihren schädlichen Folgen für Blutbewegung und Blutverteilung in den verschiedensten Organen, namentlich des Unterleibs, kommen hier in Betracht. Geistige Ueberanstrengungen steigern diese Gefahren. Geordnete Körperbewegung trägt am sichersten dazu bei, jene Nachteile geistiger Arbeit zu begleichen und Gesundheitsbeschädigungen vorzubeugen. Wer hätte nicht an sich selbst nach ausgiebiger Körperbewegung das Gefühl von Wohlbehagen erfahren, die Schaffenslust, den leichten Fluß der Gedanken, die geistige Frische, Erquickung und Erstarkung! Die Art der Körperbewegung kann sehr verschieden und wird dem Einzelfall anzupassen sein. In erster Linie gehören hierher das Gehen, namentlich Bergsteigen, das Schwimmen, sowie insbesondere gewisse Freiübungen in Form der Zimmergymnastik. Des weiteren sind sehr geeignet Bewegungen unter Benützung besonderer Hilfsmittel oder mechanischer Vorrichtungen, das Reiten, Turnen, Schlittschuhlaufen, Rudern, Radfahren. Unter allen Umständen ist es von großem Wert, einzelne gymnastische Uebungen nach angespannter Gehirnarbeit einzuschieben. Gute gangbare Bücher enthalten in Menge Belehrungen über die allgemeinen Regeln für den Betrieb der Hausgymnastik bezüglich der Zeit der Vornahme, der Dauer, Regelmäßigkeit der Uebungen und anderer hierbei in Betracht zu ziehender Umstände. Selbstverständlich darf auch die körperliche Uebung nicht bis zur Uebermüdung getrieben werden, oder unmittelbar vor geistiger Beschäftigung stattfinden.

Sowie eine abwechselnde Uebung der geistigen und körperlichen Kräfte eine unerläßliche Bedingung zum Erhalten der Gesundheit, ebenso ist Abwechslung bei allen Körperbewegungen von größter Wichtigkeit, wenn solche den Zweck erfüllen sollen, der beabsichtigt wird. Für alle Einflüsse, die auf den Menschen wirken, gilt das Gesetz der Angewöhnung. Derselbe Lebensreiz, welcher in einem Fall eine entschieden günstige und – ungünstige Wirkung entfaltet, bleibt bei öfterer Wiederholung ohne wesentliche Wirkung, ist oft von ganz geringem Erfolg. Uebung kommt hier namentlich in Betracht. Besteigen wir eine bestimmte Anhöhe, einen Turm, so erreichen die Wirkungen der Körperbewegung auf Atmung, Blutumlauf, Muskelanstrengung, Ermüdung, Absonderung etc. einen gewissen Grad, der bei häufiger und gewohnter Uebung weit geringer ausfällt, oder der beabsichtigte Erfolg bleibt bei fortgesetzter Gewohnheit gänzlich aus. Der Stubengelehrte oder Bureauarbeiter kann diesem Gesetz durch geeignete Auswahl und Abwechslung der Körperbewegungen entsprechen.

Ein weiteres Gesetz ist ganz neuerdings von Lagrange in einem hochinteressanten wissenschaftlichen Werk erwiesen worden. Nach diesem läßt sich im allgemeinen sagen, daß der Mensch vom vierzigsten Jahre an sich aller körperlichen Uebungen, welche Atemlosigkeit herbeiführen, enthalten und sich dafür den Ausdauerübungen zuwenden soll, für welche er noch vollkommen befähigt ist. Pferde, die nicht mehr an Wettrennen teilnehmen können, sind noch viele Jahre für langsamere Gangarten zu gebrauchen. Auch der Mensch kann bis ins späte Alter stundenlang ganz erhebliche körperliche Arbeit leisten, vorausgesetzt, daß dieselbe mit einer gewissen Langsamkeit ausgeführt werde. Unter den besten Bergführern befinden sich Leute, welche fast das sechzigste Jahr erreicht haben und im Steigen die jüngsten Touristen übertreffen. Aber es ist auch allgemein bekannt, daß die erfahrensten unter ihnen sehr langsam steigen, und daß unter dieser Bedingung ihre Leistungsfähigkeit eine außerordentliche ist. Sie vermeiden durch ihr langsames Gehen die übermäßige Beschleunigung des Pulses und Belastung der Herzthätigkeit. Lagrange konnte in dieser Beziehung sehr lehrreiche Beobachtungen machen während des Krieges von 1870/71, als man in Frankreich überall Reserve-Nationalgarden errichtete, in welche Leute von verschiedensten Altersstufen eintraten. Es befanden sich darunter viele Vierziger, welche indes bei den längsten Uebungsmärschen nicht hinter ihren jüngeren Gefährten zurückblicken, im allgemeinen sogar eine größere Ausdauer bewiesen. Dies änderte sich jedoch bezüglich der Schnelligkeitsübungen. Der „Laufschritt“ war der Schrecken der vom besten Willen beseelten Alten. Schon nach wenigen Minuten traten sie aus den Reihen, erschöpft und atemlos, während die Jugend die Laufübung noch lange Zeit ohne Ätembeschwerden fortsetzte. Es ereigneten sich bei diesen Uebungen sogar schwere Unfälle, wenn die befehlenden Offiziere im Uebereifer ihre Leute zwangen, trotz Atemlosigkeit die rasche Gangart fortzusetzen. Unfälle ähnlicher Art werden von den Tagesblättern häufig gemeldet.

In größeren Städten bietet sich immer mehr Gelegenheit, in vortrefflich eingerichteten medico-mechanischen Instituten an der Hand von Apparaten und unter Ueberwachung von Aerzten geeignete Körperübungen vorzunehmen, um geistige Anstrengungen zu begleichen.

Eine sehr förderliche und wichtige Folgeerscheinung der Bethätigung der Bewegungsnerven und der ihr folgenden Muskelübungen ist ein gesunder ruhiger stärkender Schlaf, der seinerseits einen ungemein günstigen Einfluß aus das gesamte körperliche Befinden und mit ihm auf die Energie des geistigen Lebens ausübt. Wenn Uebungen der Bewegungsnerven ebenso wie der Gefühlsnerven gewissermaßen das Gegengewicht bilden, um den ruhigen Fortgang geistiger Arbeit zu begleichen, so ist der Schlaf die Spannkraft, die das Ganze in Gang bringt und hält. Ausgiebiger Schlaf muß der treueste Freund eines jeden sein, der geistig arbeitet, denn im Schlaf ruht das Gehirn und andauernde Schlaflosigkeit ruft in diesem hochwichtigen Organe die schlimmsten Verwüstungen hervor.

Um einen angemessenen Wechsel zwischen geistiger und körperlicher Thätigkeit einerseits, sowie Schlaf auf der andern Seite zu erzielen, ist eine geeignete Wahl der Zeit zum Schlaf von nicht geringem Einfluß. Diese Wahl in ihrer Ausführung wirkt begünstigend oder störend. Es ist durchaus nicht ein Zufall, wenn in dem tierischen Leben zumeist das Wachen mit der Tageszeit, das Schlafen aber mit der Nacht zusammenfällt. Was die Nacht im ganzen Erdenleben, das bedeutet der Schlaf beim Einzelnen, gleichwie im Gegensatz hierzu der Tag der großen Natur auch für die tierischen Wesen die Zeit des Wachens ist. Dieser Wechsel der Vorgänge bei allen Geschöpfen und in der Schöpfung überhaupt, der Zusammenhang des Schlafes mit der Achsendrehung der Erde bedingt ein inniges Abhängigkeitsverhältnis von: Nervensystem zum Sonnensystem insgemein. Die Spannkraft der Jugend mag die Nacht zum Tag, den Tag zur Nacht vielleicht ohne auffällige Nachteile machen. Mit zunehmendem Alter, erwächst die Erfahrung, daß jene naturgemäße Ordnung sich nicht so leicht durchbrechen läßt, sowie, daß, wenn sie durchbrochen wird, nachteilige Folgen namentlich auch für einen heilsamen Schlaf unausbleiblich sind.

Aus diesen Betrachtungen erhellt, daß nur durch naturgemäße Mittel eine nach geistiger Berufsthätigkeit eintretende Ermüdung wirksam und ohne Gesundheitsschädigung beglichen werden kann. Der geistige Arbeiter hat sich vor allem jedes Reizmittels zu enthalten, das dazu dienen soll, die verlorene Spannkraft oder die erschütterte Gemütsruhe wieder herzustellen. Alle Reizmittel, so mannigfach sie auch sonst wirken mögen, stimmen darin überein, daß sie das Nervensystem befähigen, mehr zu leisten, beziehungsweise zu erdulden, als die gewöhnliche Lebensweise zu leisten vermag. Der Kulturmensch hat es verstanden, sich eine Menge von Stoffen für den Genuß dienstbar zu machen, Lebensreize, welche, am rechten Ort, zu rechter Zeit und in richtigem Maße verwendet, manches Gute äußern, aber bei unzeitiger und unmäßiger Anwendung nur zu leicht die nachteiligsten Wirkungen hervorbringen. Beim geistigen Arbeiter finden in zweifacher Weise derartige Reizmittel eine Verwendung, als Arbeitsmittel und als Schlafmittel. Da jedoch die durch den Genuß derselben, in welcher Form sie auch gebraucht werden mögen, bewirkte Erregung immer kürzer anhält, je fortgesetzter der Gebrauch ist, und da die zunehmende Erschöpfung des Nervensystems immer stärkerer Reizmittel bedarf, so werden durch deren gewohnheitsmäßigen Genuß leicht die verderblichsten Folgen für Körper und Geist hervorgerufen. Dies gilt vor allem von dem Alkohol und gewissen Betäubungsmitteln. Wer nach anstrengender Geistesarbeit den Gedankenfluß stocken, das Urteil ermatten fühlt, sollte daraus entnehmen, daß er die Zinsen [300] seines Kapitals an Nervenkraft verbraucht hat und nun der Erholung, Ablenkung, Ruhe oder des Schlafes, kurz, naturgemäßer Mittel bedarf, um den Zinsverlust zu decken. Nimmt er so lange und so viel Reizmittel, bis er die volle Frische, vielleicht noch belebt durch das trügerische Gefühl einer behaglichen Angeregtheit, wieder erlangt hat, so lebt er vom Kapital der Nerven. Ein solches Kapital, eine gewisse Summe von Nervenkräften, groß oder klein, bringt jeder Mensch mit sich, als ererbt von seinen Eltern und Voreltern. Mit diesem Kapital muß er wirtschaften das ganze Leben hindurch. Er kann es vermehren und vergrößern durch Einnahmequellen kleiner und größerer, aber sämtlich natürlicher Art, wie wir sie vorgezeichnet. Er kann es verkleinern, ja erschöpfen durch Ausgaben künstlicher Art. Wer mehr von seinen Nervenkräften ausgiebt, als er einnimmt, der ist auf der schiefen Ebene angelangt, die zur Erschöpfung führt, und wer seine Nervenkräfte dauernd erschöpft, der ist bankerott, und wenn er auch ein Millionär wäre.

Die besten Genuß- und Stärkungsmittel für geistig arbeitende und mehr oder weniger an die sitzende Lebensweise gebundene Menschen sind geeignete Nahrungsmittel. Angestrengtes Denken, selbst die geistigen Genüsse bewirken ebensosehr Ermüdung, erfordern ebenso reichlich die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses wie körperliche Arbeit. Nur muß dieselbe in zweckmäßiger Weise erfolgen. Als man einen berühmten englischen Dichter fragte, warum er nichts mehr schaffe, antwortete er: „Ich bin zu fett geworden.“ Dies giebt uns eine Lehre. Wir müssen unsere Einnahme von Nahrung mit unseren Ausgaben vor allem an Körperbewegung in Einklang bringen, wenn nicht ein für geistige und – körperliche Leistung, für geistiges und körperliches Wohlbefinden nachteiliger Ueberschuß sich in unserem Körper anhäufen soll. Darum sind für den Stubenhocker die leicht verdaulichen Nährmittel empfehlenswert. Gut ausgebackenes Brot, die leichteren und fettärmeren Fleischspeisen, vermischt mit den an Nährsalzen reichen und leicht bekömmlichen jungen Wurzel- und Stengelgemüsen, sind angestrengten Denkern zuträglich, während fettes Fleisch, fette Mehlspeisen, schweres, an Kleie reiches Brot ihm weniger dienlich sind und von ihm weniger gut vertragen werden. Zusatz von Früchten, Kompott ist sehr zu empfehlen. Man hüte sich vor künstlichen Reizmitteln bei träger Verdauung. Natur verlangt nur Natur.




Christian Hengst,
der Gründer des Pompier-Corps
in Durlach i. Baden.

Ein Jubeltag der deutschen Feuerwehr.

(Mit dem nebenstehenden Bilde.)

Die deutschen Städte, wie lebensfreudig blühen sie; wie gedeihen sie im Schatten des Rechts, das Leben und Eigentum aller beschirmt, wie können sie in tiefem Frieden die Wohlthaten der Kultur ihren Bürgern vermitteln! Im vollen Genuß dieser hohen Errungenschaften der Neuzeit können wir uns kaum in die Vergangenheit zurückversetzen, uns kaum vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten einst unsere Altvordern kämpfen mußten, um ihr Hab’ und Gut zu bewahren. Wer das Städteleben des Mittelalters nur aus dichterischen Schilderungen kennt, in denen eine träumerische Romantik die vergangenen Zustände im Glanze ihrer verklärenden Auffassung darstellt, ahnt wenig, wie viel Not und Elend die hohen, in ihrem Verfall so malerischen Stadtmauern umgaben. Um so mehr muß eine strenge, wahrheitsliebende Geschichte davon singen und sagen. Hinter turmgekrönte Mauern, hinter Wall und Graben mußten sich einst die Städter flüchten, um Schutz vor äußeren Feinden zu finden; aber sie wurden auch dort von inneren Feinden verfolgt, und eine der schlimmsten elementaren Mächte, welche ihr Gedeihen hinderte, war die Feuersbrunst. Mit Recht hat man im Mittelalter dem Feuer den düstern Beinamen des „Städtefressers“ beigelegt. In der That giebt es keine größere Stadt, die in früheren Zeitläuften unter gewaltigen Schadenbränden nicht aufs empfindlichste gelitten hätte, und wie viele wurden nicht von den fressenden Flammen ganz und gar zerstört!

Jahrhunderte hindurch kämpfte die civilisierte Menschheit gegen dieses feindliche Element an und Jahrhunderte hindurch mußte sie den kürzeren ziehen. Erst in der Neuzeit gelang es, durch treffliche, schlagfertige Organisation die Schrecken und Gefahren der Feuersbrünste zu mildern und Hab’ und Gut, dessen Wert sich auf viele Millionen beziffert, alljährlich vor Vernichtung zu bewahren. Die Feuerwehr, wie sie heute jeden Augenblick kampfbereit dasteht, ist zweifellos eine der größten Errungenschaften der modernen Kultur. Soweit Deutschland in Frage kommt, schickt sie sich an, in diesem Jahre das Jubelfest ihres fünfzigjährigen Bestehens zu begehen. Das ist fürwahr eine denkwürdige Jubelfeier, an der im Geiste die wertesten Kreise der Bevölkerung teilnehmen sollten. Es sei uns darum gestattet, in die Geschichte des Löschwesens zurückzublicken und zwischen sonst und jetzt einen Vergleich anzustellen. Die Thatsachen werden deutlich für sich sprechen und uns die Größe des Errungenen zeigen.

Mit der ersten Blüte der Städte begann die Organisation des Feuerlöschwesens. Schon im Mittelalter wurden überall „Feuerordnungen“ erlassen, in denen auf Grund sorgfältigster Erwägungen eine Menge Vorschriften gegeben war, die einerseits die Verhütung der Feuersbrünste, anderseits eine zweckmäßige Rettung bei Bränden bezweckten. Was nun die letztere Aufgabe, die eigentliche Feuerwehr, betrifft, so ging man überall von dem Grundsätze aus, daß jeder Einwohner verpflichtet sei, in Zeiten der Gefahr helfend einzugreifen, und darum wurde auch die Teilnahme am Rettungswerk gleichmäßig über alle Bürger verteilt. Jedes Haus mußte mit den notwendigsten Rettungsgeräten alter Zeit, mit Ledereimern und Leitern, versehen sein; auf dem Rathaus waren gleichfalls Ledereimer, Handspritzen, Feuerhaken u. dergl. aufbewahrt; jeder Zunft war je nach ihrem Handwerk eine besondere Pflicht auferlegt und bei jedem Feuerlärm wurde die gesamte Bevölkerung vom Bürgermeister bis zum einfachsten Manne aufgeboten. Die Thätigkeit jedes einzelnen war auf dem Papier genau vorgesehen. Gaben nun die Sturmglocken oder Hornsignale der Wächter das Lärmzeichen, so war die Stadt mit einem Schlage in Kriegszustand versetzt. Sofort schloß man die Stadtthore und besetzte sie mit Wächtern, um das Eindringen von Raubgesindel zu verhüten, und mitten in der Stadt eilte alles auf die im voraus bestimmten Posten. Brach das Feuer in der Nacht aus, so mußten die Bürger vor ihren Häusern Pechfackeln oder Laternen aufstellen und so eine Straßenbeleuchtung schaffen und die „Feuerherren“ des Rats eilten auf die Brandstätte, um die Leitung des Rettungswerks zu übernehmen. Die Geschichte lehrt jedoch leider, daß es ihnen selten gelang, des Feuers „Herr“ zu werden und die Ausbreitung der Brunst zu verhüten. Daran waren zweifellos verschiedene Umstände schuld: die Bauart der Häuser war lange Zeit derart, daß sie leicht Feuer fingen, und die Löschgeräte der Vorzeit waren im Vergleich zu den unsrigen recht unzulänglich. Das sind Thatsachen, durch welche die geringen Erfolge der alten Pflichtfeuerwehr wohl schon hinreichend erklärt werden können.

Der Hauptgrund war aber ein anderer. Durch die Feuerordnung wurde eine große Volksmasse auf den Brandplatz entboten; mochte sie auch von den besten Absichten beseelt sein, so blieb sie doch ein regelloser, ungeübter Haufe, der sich schwer leiten ließ. Ihm fehlte die Zucht und nur laß wurden die Befehle der „Feuerherren“ ausgeführt, die meisten der Rettenden waren in der Handhabung der Geräte ungeschickt, einer störte den andern und gar oft herrschte um die brennenden Häuser die heilloseste Verwirrung. Die allgemeine Feuerwehr taugte wenig, weil sie von

[301]

Dem Nächsten zur Wehr – Gott zur Ehr’!
Gedenkblatt zur 50jährigen Jubelfeier der Freiwilligen Feuerwehr zu Durlach.
Nach einer Originalzeichnung von St. Grocholski.

[302] der Löschtaktik nichts verstand, und so bewährte sie sich auch in späteren Zeiten nicht, als die Löschgeräte vervollkommnet wurden, als die Feuerspritze mit Windkessel und beweglichem Schlauch ihren Siegeslauf durch die Welt nahm. Vielerorts geriet diese Pflichtfeuerwehr noch in einen ganz besonderen Verfall; viele behäbige Bürger, fleißige Handwerker wollten von der Mühe und Unbequemlichkeit, bei jedem Feuerlärm auszurücken und in ihrer Arbeit gestört zu werden, entlastet werden, und so wurden Leute in Pflicht genommen, die gegen eine bestimmte geringe Entschädigung zum Rettungswerk erscheinen sollten. Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß es nicht gerade die besseren Elemente der Stadtbevölkerung waren, die sich zu diesem Dienste herandrängten. Der Belohnung wegen stellten sie sich auf den Brandplätzen ein, aber es fehlte ihnen sowohl der Gemeinsinn als das Geschick, thatkräftig einzugreifen. So wüteten die Brände in den Großstädten, bis endlich, endlich eine bessere Einsicht einkehren sollte. Bis dahin wurde das Löschwesen lediglich als ein „Nebengeschäft“ betrieben: aber in Wirklichkeit ist es eine schwierige Kunst, die wie jede andere gelernt und geübt sein will. Wie man dem Feinde im Kriege nicht einen regellosen Haufen, sondern ein wohlgeschultes Heer entgegenschickt, so muß man auch dem furchtbaren Feuerelemente eine Truppe entgegenstellen, welche in allen Einzelheiten des Rettungswerkes wohlgeübt ist und seinem Führer mit militärischer Pünktlichkeit gehorcht. Diese Grundsätze sind uns heute so geläufig, daß sie uns selbstverständlich erscheinen, aber wie lange mußte man warten, bis sie in der Kulturwelt sich Geltung verschafften!

Einzelne Stimmen, die in diesem Sinne Wandel zum Besseren schaffen wollten, erhoben sich bereits gegen das Ende des vorigen und im Anfang dieses Jahrhunderts, aber sie predigten zumeist tauben Ohren. Nur wenige Großstädte Europas, wie London, Paris und Mailand, hatten ihre ständigen, wohlgeschulten Feuerbrigaden. Auch in Deutschland zeigte sich hier und dort das Bestreben, Besseres zu leisten. Wie Magirus in seiner trefflichen „Geschichte des Feuerlöschwesens“ berichtet, war Meißen eine der ersten Städte, die mit gutem Beispiel vorangingen. Dort wurde am 7. Juli 1841 ein „Freiwilliges Lösch- und Rettungscorps“ errichtet, das aus einer Rettungsschar, einer Löschschar und einer Wachtschar bestand. Erster Hanptmann war der Seifensiedermeister Kentzsch; der Hauptmann und sein Adjutant hatten als Abzeichen den jetzt allgemein gewordenen weißen Roßhaarbusch auf dem Helm. Die Mannschaft hatte als Uniform den grauen Leinenrock mit farbigem Kragen. Die erste Abteilung war mit Helm, Beil, Seil und Laterne ausgerüstet. Das weitere Material bestand aus einer Anzahl Leitern, einem Wasserzubringer und vier großen Spritzen. Schon im Jahre 1842 hatte dieses Corps Gelegenheit, seine Tüchtigkeit bei großen Bränden in rühmlichster Weise zu bethätigen.

Ganz Deutschland wurde indessen durch ein großes Unglück aus seiner Lauheit in allen das Feuerlöschwesen betreffenden Angelegenheiten aufgerüttelt. In den Tagen vom 5. bis 8. Mai 1842 wütete der große Brand in Hamburg, durch den gegen 33000 Menschen obdachlos wurden (vgl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1892, S. 314). Nun schickte man sich in vielen Städten an, die Feuerwehren zu reformieren. Eine der ersten Städte, in welchen diese Reformprojekte wirklich in die That umgesetzt wurden, war Durlach in Baden. Dort gründete am 1. Mai 1846 der Baumeister Christian Hengst eine Feuerwehr, die den Namen „Pompiercorps“ erhielt und militärisch eingeübt wurde. In demselben Jahre bezog die Stadt eine neue Spritze von dem um das Löschwesen sehr verdienten Fabrikanten Karl Metz in Heidelberg und das Corps wurde von diesem in deren Handhabung besonders unterrichtet. Schon wenige Monate nach seiner Begründung, am 28. Februar 1847, hatte das Pompiereorps Gelegenheit, seine erste Feuerprobe abzulegen, die es unter der tüchtigen Leitung seines Gründers aufs rühmlichste bestand. An jenem Tage brach in der Residenzstadt Karlsruhe ein furchtbarer Theaterbrand aus, bei dem 68 Menschen auf schreckliche Art ums Leben kamen. Auf Anrufen des Markgrafen Wilhelm von Baden kam das Pompiercorps von Durlach im Sturmschritt herbeigeeilt, und alle Augenzeugen mußten den todesmutigen Feuerwehrmännern Durlachs die höchste Anerkennung zollen, da die kleine Schar, im Funkenregen festhaltend, mit ihren Spritzen und Schläuchen dem Feuer Halt gebot. Durch die Presse wurde der Ruhm des militärisch eingeschulten Corps von Durlach weit und breit bekannt und überall zeigte sich der Wunsch, diese Organisation nachzuahmen. Karlsruhe gründete schon wenige Tage nach dem Theaterbrande ein solches Corps, das als erstes die Bezeichnung „Freiwillige Feuerwehr“ erhielt.

Seit diesem Augenblicke verbreitete sich die Institution der militärisch organisierten wohlgeschulten Feuerwehr über alle deutschen Länder. In den Großstädten wurde in demselben Sinne später eine ständige Berufsfeuerwehr organisiert. Der Segen der neuen Schutztruppe, die über Stadt und Land sich ausgebreitet hat, ist ein unermeßlicher geworden und der grimme „Städtefresser“ hat viel von seinem Schrecken eingebüßt. Behufs Förderung und Ausbildung des Feuerwehrwesens im Deutschen Reiche und in Deutsch-Oesterreich wurde im Jahre 1854 unter der Leitung von C. D. Magirus, dem damaligen Kommandanten der Feuerwehr in Ulm a. D., der „Deutsche Feuerwehrverband“ gegründet, dem gegenwärtig über 10 000 Feuerwehren mit etwa 750 000 aktiven Mannschaften angehören.

Die Feuerwehr zu Durlach beabsichtigt, demnächst das Jubiläum ihrer Gründung festlich zu begehen. Sie wird dabei der großen Verdienste ihres ersten Hauptmanns, des Baumeisters Christian Wilhelm Hengst, gedenken, der am 5. Dezember 1805 zu Durlach das Licht der Welt erblickte und am 5. April 1883 sein im gemeinnützigen Sinne so thatenreiches Leben beschloß. Ein Denkmal soll dem verdienten Manne in Durlach errichtet werden.

Der Gedenktag der Gründung der Durlacher Feuerwehr ist aber, wie wir gesehen haben, ein Festtag, der in ganz Deutschland mitgefeiert werden sollte. Er ist der Ausgangspunkt einer großen segensreichen Bewegung gewesen; die Gründung jenes „Pompiercorps“ war eine Kulturthat ersten Ranges, welche im Kampfe wider die zügellose Macht des Feuers die erhebendsten Heldenthaten gezeitigt hat! Müssen wir nicht mit dankbarer Ehrfurcht zu dem todesmutigen Schutzheere emporblicken, das uns der Zeitgeist des 19. Jahrhunderts in der modernen Feuerwehr beschert hat? Heil ihr, die opferfreudig ihr Leben einsetzt: „Dem Nächsten zur Wehr – Gott zur Ehr’!“ W. Hoepfner.     


Teckel auf Reisen.

Eine Hundegeschichte von Hans Arnold.

     (Schluß.)

Es schien übrigens, als wenn sich Männes Leben im Seebad erträglicher gestalten sollte, als es zuerst den Anschein gehabt hatte.

Jeden Morgen wurde er von den Jungen aus seiner Pension – einem leeren Schuppen – abgeholt und losgebunden; er mußte leider die Nacht über an einem Strick schlummern, da er sonst weggelaufen wäre.

Wurde die unwürdige Fessel gelöst, so benahm sich Männe jeden Morgen ungefähr wie ein Mensch, der zweimal hintereinander das große Los gewonnen hat – er sprang seinen Besitzern bis an die Nasenspitze und gebärdete sich, als wenn er sie seit vielen Jahren nicht gesehen hätte.

Dann lief er mit ihnen an den Strand, wo er sich herrlich amüsierte, mit rasendem Eifer Quallen ein- und ausgrub, die Wellen anbellte oder unter dem brausenden Beifall einer großen Zuhörerschaft eine wilde, oft viertelstundenlange Treibjagd auf seinen eigenen Schwanz zum besten gab.

Hatte er sich dann müde gespielt, so legte er sich platt vor dem Strandkorb seiner Eigentümer oder vor demjenigen nieder, in dem der „eingehakte Pastor“ und seine Frau gemeinsam der Lektüre irgend eines Buches oblagen.

Dann sah Männe mit der Kennermiene eines tiefen Sachverständigen zu, wie Karl und Ludwig mit gleichgesinnten Freunden die schönsten Burgen und Bauten im Sande errichteten, und fühlte sich behaglich.

Nur eine entsetzliche Stunde hatte jeder Tag für Männe, und das war diejenige, wo seine beiden Herren badeten und in den hochaufspritzenden Wellen auf Sekunden verschwanden. Dann heulte Männe jedesmal wie eine Windsbraut und rang, nach Ludwigs Versicherung, am Ufer die Pfoten vor Angst um die [303] beiden Seehunde in Menschengestalt, bis sie triefend und seelenvergnügt wieder auftauchten und ihn tröstend in ihre Arme schlossen.

Vermöge seiner zahllosen guten Eigenschaften und geselligen Vorzüge war es Männe nach und nach gelungen, sich in der Pension Paula vom schief angesehenen Eindringling zu einer sehr angesehenen Persönlichkeit aufzuschwingen.

Die Gesellschaft war im Augenblick aus lauter Hundefreunden – die meisten anständigen Menschen sind ja Hundefreunde! – oder aus Hundeduldern zusammengesetzt, und wer sich etwa nicht dazu rechnete, der nahm aus Freude an den beiden netten, frischen Bengeln Karl und Ludwig teil an Männe und amüsierte sich über ihn.

Der Landgerichtsrat und seine Frau söhnten sich angesichts dieser Verhältnisse mit dem dummen Streich ihrer Jungen aus und hatten sogar für den Fall, daß der Teckel sich bis zuletzt gesittet betragen würde, in verlockende Aussicht gestellt, daß sie, wie sich der Vater ausdrückte, „ins saure Portemonnaie beißen“ und die Hundereisekosten erstatten würden.

Männe war allmählich immer öfter in der Pension. Die dicke Köchin fütterte ihn mit Abfällen von der Table d’hote, bis er die Bezeichnung „wandelnde Schlummerrolle“ durch seine Korpulenz gebieterisch herausforderte. Ueberdies hatte Männe das unverdiente Glück – er hatte überhaupt Glück bei Damen! – daß sich ein altes Fräulein sterblich in ihn verliebte und sich den kalten Aufschnitt und den Zwieback für ihn vom Munde absparte.

Als diese Dame sich stark erkältete und einige Tage das Zimmer hüten mußte, lud sie sogar Männe zu sich ein, um ihr die einsamen Stunden zu kürzen.

Es muß leider hier zugestanden werden, daß Männe sich bei dieser Gelegenheit sehr undankbar, ja fast gemein benahm. Erstens wollte er nie freiwillig zu seiner Verehrerin gehen, sondern mußte, so oft sie seine anregende Gesellschaft wünschte, strampelnd und unwillig auf dem Arm zu ihr getragen werden. Dann war er so lange liebenswürdig und verbindlich, als sie ihn mit Albert–Cakes fütterte – gähnte aber sofort nach dem Versiegen dieser Genußquelle bis zum lauten Quietschen und entschlüpfte bei erster Gelegenheit wieder an den Strand, was sehr egoistisch genannt werden muß!

Abends – denn soweit hatte Männe es noch nicht gebracht, daß er in der Pension schlafen durfte – abends wurde er von einer zahlreichen Gesellschaft, die diese Gelegenheit zum Spaziergang benutzte, nach seinem Schuppen gebracht. Sogar „Pastors“ – natürlich eingehakt! – wohnten öfter dem schmerzlichen Augenblicke des Anbindens bei. Diese Schlafverhältnisse waren ja nicht sehr behaglich, aber da in Sommerwohnungen sogar der Mensch auf manchen Komfort verzichten muß, so fand sich Männe auch mit Seelengröße in diesen Zustand, um so mehr, als er bei dem Fuhrmann einen Standesgenossen, einen kleinen Spitz Namens Max, gefunden hatte, mit dem er viel verkehrte.

Kurz, Männes Himmel im Seebad war im ganzen wolkenlos, was den Liebhaber poetischer Gerechtigkeit, in Anbetracht der gesetzwidrigen Art, wie Männe an die See gelangt war, stutzig machen sollte.

Und bald zeigte es sich, daß das Verhängnis nur geschlummert hatte und der Friede für Männe sowie der Friede in der Pension nur ein Waffenstillstand gewesen war!

Die Gesellschaft saß eines Abends fröhlich vor dem Hause auf der Freitreppe zusammen, die zu malerischer Gruppierung sehr geeignet war.

Man wartete auf das Eintreffen des Dampfers, was täglich ein aufregender Augenblick war. Die Pensionsmutter, die Hand über die Augen gelegt, spähte nach dem Gesellschaftswagen aus. „Wir bekommen heute noch neue Gäste, meine Herrschaften!“ verkündete sie mit gastfreiem Lächeln, „Frau Schulze, eine Mama mit Töchterchen, und dann ein einzelner Herr, Direktor Langentrott – ich habe ein Tischchen ansetzen müssen!“ Erwartungsvoll spähte alles nach dem Wagen, der schon näher rückte und aus dem von weitem ein Geschrei ertönte, wie man es sonst nur hört, wenn Hühner geschlachtet werden, und welches Männes Leistungen in dieser Hinsicht in den tiefsten Schatten stellte.

„Na“, meinte der Landgerichtsrat, „nun bin ich bloß neugierig, ob das Töchterchen so schreit oder der Direktor – das scheint ja ein belebender Zuwachs zur Geselligkeit zu werden!“

Der Wagen hielt und ihm entstieg eine Mama, die ein sehr kleines, sehr dickes und entsetzlich schreiendes Kind auf dem Arme hielt und es mit dem beständigen Zuruf: „Sei gutchen, Brunhilde!“ zu freundlicherer Auffassung der Situation zu ermutigen suchte. Brunhilde war aber nicht „gutchen“, sondern namenlos „böschen“ und kreischte sich braun, so daß eine Verständigung mit der Pensionsmutter vorläufig nur durch leidenschaftliche Pantomimen möglich war. Wurde unsere Gesellschaft schon durch diesen Vorgang peinlich berührt, so stieg der Schrecken wenigstens einiger Anwesenden bis zu schwindelnder Höhe. Das waren unsere Landgerichtrats, die „eingehakten Pastors“ und Männe! Denn als zweiter Gast entstieg der angekündigte Direktor dem Wagen, ebenso kirschbraun vor Wut wie Brunhilde, wenn auch nicht schreiend, und das war kein anderer als der brummige Reisegefährte von vor vierzehn Tagen!

„Der Unausstehlius!“ brachte der Landgerichtsrat, gegen seine Frau gewandt, tonlos hervor, „Luise, wollen wir nicht abreisen?“

Luise winkte beschwichtigend, während Männe, von düsteren Erinnerungen beim Anblick des alten Herrn bewältigt, sich hinter den Luftkegelpfahl verkroch und nicht mehr zu sehen war.

Der Direktor begrüßte kurz und mürrisch die Anwesenden und führte sich mit der reizenden Wendung ein: „Hier scheint’s ja stopfvoll zu sein! Ich bin von N. abgereist, weil man da keinen Schritt gehen konnte, ohne auf Menschen zu treten, und hier ist’s noch schlimmer! Das ist echt! Das kann auch nur mir passieren!“ Dann nickte er dem Landgerichtsrat wütend zu.

„Wir kennen uns! Ich will mich übrigens beschweren! Kleine Kinder brauche ich hier nicht zu dulden – wo kann ich mich beschweren?“

Damit ging er ins Haus.

Die Eigentümerin der schreienden Brunhilde hatte inzwischen diesem Götterweibe ein Papagenoschloß in Gestalt eines Fläschchens mit Gummipfropfen vor den Mund gelegt und vertrat wortreich ihr gutes Recht.

Kindern unter einem Jahr war der Zutritt verboten und Brunhilde war vor acht Tagen ein Jahr alt geworden! Es hätte demnach ein neuer Gesetzesparagraph für die Pension Paula gemacht werden müssen, und bis ein solcher in Wirksamkeit trat, konnte Brunhilde nach juristischen Erfahrungen schon sechzehn Jahre alt geworden sein und einen Siegfried gefunden haben.

Brunhilde wurde also als notwendiges Uebel von den Einwohnern der Pension angesehen und, da sie, von ihrer Brüllerei abgesehen, ein niedliches Kind war, auch freundlich behandelt. Nur der Direktor hatte ihr Rache geschworen, was zum Glück seine Aufmerksamkeit zunächst von Männe ablenkte.

Der Direktor – man mochte über ihn denken, wie man wollte – war in einem Punkt anzuerkennen, insofern jemand für achtungswert und interessant gelten muß, der eine Spezialität bis zur Vollendung ausgebildet hat. Der Direktor hatte dies gethan – er war Virtuose in der Unliebenswürdigkeit und wußte ihr immer neue Seiten abzugewinnen.

Gleich am ersten Abend nach seiner Ankunft, als alles friedlich beim Thee saß und sein Nachbar, ein schüchterner Student, ihm mehrfach von den Speisen der Abendtafel anbot und schließlich die Butter hinreichte, schnob der alte Herr ihn an: „Ich bin hier ja nicht bei Ihnen zu Gast; ich werde mir schon nehmen, wenn ich Hunger habe! Außerdem darf ich keine Butter essen und da halten Sie mir sie gerade vor die Nase – das ist echt!“ setzte der liebe Mann knirschend hinzu. Und er warf zwischen jedem Bissen, den er in den Mund steckte, seinem armen Nachbar solche Wutblicke zu, daß dieser unmittelbar nach dem Thee zur Pensionsmutter ging und, an allen Gliedern schlotternd, um einen andern Tischplatz bat.

Der Direktor, dessen Beiname „Unausstehlius“ sich bald in der ganzen Pension eingebürgert hatte, bekam auf diese Weise ein recht abwechslungsreiches Leben. Einen Tag beschwerte er sich über einen Tischnachbar und wurde weggesetzt – den nächsten Tag beschwerte sich ein Tischnachbar über ihn und er bekam einen neuen. So hatte er bald neben jedem gesessen und, wie das Mädchen aus der Fremde, jedem eine Gabe, aber an Grobheit, ausgeteilt; nur die Mutter mit Brunhilden war bisher ausgenommen. Sie saß in dem tief beschämenden Gefühl, daß sie ein Kind unter zwei Jahren besaß, bescheiden und gedrückt mit der Kleinen an einem Nebentisch und beschwor Brunhilden zwischen jedem Löffel Suppe, „gutchen“ zu sein – leider oft vergeblich.

[304] Der Unausstehlius lebte namenlos unglücklich mit diesem Kinde. Das tückische Schicksal hatte das kleine Wesen neben sein Zimmer quartiert und man kann sich die Folgen ausmalen. Brunhilde nahm öfter schon morgens um fünf Uhr – bisweilen sogar nachts um zwei irgend etwas tödlich übel und pflegte dann in ein schmetterndes Geschrei auszubrechen. Dies währte so lange, bis ihre Mutter sich mit ihr in Trab setzte und etwa eine halbe Stunde lang mit der eintönigen und beruhigenden Versicherung, daß Gänschen gewöhnlich keine Schuhe tragen, Brunhilden und den Direktor zugleich einsang. Nach einer solchen Nacht – wie sie eben heute gewesen war – war die Laune des letzteren geradezu unbeschreiblich und er versicherte jedem, der ihm begegnete, daß er am liebsten den Kalk von den Wänden kratzen möchte, eine Zerstreuung, die ihm mit einem kühlen „Bitte!“ widerspruchslos zugestanden wurde.

Es hatte sich schon eine gewitterschwüle Atmosphäre um den Direktor gebildet, der die allgemeine Gemütlichkeit so arg beeinträchtigte, und erst vorsichtig und leise, dann immer unverhohlener begann die Ansicht Platz zu greifen, daß man aus Gründen der Selbsterhaltung etwas gegen diesen Störenfried thun müßte. Aber was?

Man hatte erst den Versuch gemacht, den alten Brummbär, wie eine knarrende Thür, durch Liebenswürdigkeit zu ölen – da dies aber absolut nicht gelang, tauchte der Wunsch, ihn aus den Angeln zu heben, immer deutlicher auf.

Die Unterhaltungen über diesen zarten Punkt wurden schließlich immer unvorsichtiger und öfter in Gegenwart von Männe geführt, der sie sich hinter seine Schlappohren schrieb und seine Entschlüsse demgemäß faßte. Am heutigen Morgen hatte, wie gesagt, der Direktor seinen bösesten Tag. Gleich nach dem Frühstück erschien er bei Landgerichtsrats am Strande und quetschte sich mit einem brummend hingeworfenen: „Ist’s erlaubt?“ in ihren Strandkorb – ein Verfahren, das schon bei sympathischen Menschen von zweifelhaftem Wert ist.

„Schauderhaft sitzt sich’s hier!“ bemerkte er liebenswürdig.

„Dann gehen Sie wo anders hin!“ meinte der Landgerichtsrat kurz.

„Nein!“ erwiderte der Unausstehlius zartfühlend, „allein mag ich nicht sitzen – das ist noch schauderhafter!“

Der Landgerichtsrat zuckte die Achseln und vertiefte sich in seine Zeitung.

„Die ganze Nordsee ist schauderhaft!“ fuhr der alte Herr fort, „und dafür schwärmen die Leute nun! Das ist echt! Was kann sie denn? Entweder ist Ebbe – da kriecht sie so feige weg wie ein geprügelter Hund – oder es ist Flut – da macht sie ‚Buu!‘ und kommt wütend auf mich zugerannt!“

Dieses letztere schien der Sprecher als einen Eingriff in seine heiligsten Rechte anzusehen, die er sich, allem Anschein nach, als Spezialität vorbehalten hatte.

Der Landgerichtsrat legte resigniert seine Zeitung zusammen.

„Ich will Ihnen einen guten Rat geben,“ sagte er dann, „wenn Sie wieder einmal an die See gehen, dann gehen Sie an die Ostsee – die gefällt Ihnen vielleicht besser, und Sie ihr auch! Komm, Luise – wir wollen spazieren gehen!“

Damit ließ er den Direktor im Genuß seines Strandkorbes, und dieser, im frohen Bewußtsein, den rechtmäßigen Eigentümer hinweggeekelt zu haben, ließ es sich für eine Weile wohl sein.

Dieser heutige Tag sollte übrigens das Verhältnis zwischen Brunhilde und dem Unausstehlius krönen und zugleich die Feindseligkeiten mit Männe offiziell eröffnen.

Der Unausstehlius saß bei Tisch wie ein wutschnaubender Robinson Crusoe an einem Tischeckchen, wo noch ein Platz frei war. Da fügte es sich durch eine besondere Schiebung, daß die Mutter mit Brunhilden an dieselbe Ecke wie an eine unwirtliche Küste verschlagen wurde, und daß Brunhilde an diesem Tage in Bezug auf gesellschaftliche Umgangsformen entschieden nicht ihren glücklichen Tag hatte, haben wir schon erfahren.

Sie griff mit den Händchen erst in den mütterlichen Suppenteller, dann ins Salzfaß, fiel zweimal vom Stuhl, schrie, sollte angebunden werden, wollte sich nicht anbinden lassen und mußte von der verzweifelten Mutter zwischen jedem Gange hinausgetragen und beschwichtigt werden.

Der Direktor, in dieser allerdings unliebsamen Weise in seinen Speisefreuden gestört, nachdem ihm Brunhilde schon den Schlummer geraubt hatte, befand sich infolge dieser Zwischenfälle begreiflicherweise in einer Stimmung, daß er ohne weiteres als Ehrenmitglied in ein Komitee für den bethlehemitischen Kindermord hätte gewählt werden können, und kam aus dem Fletschen überhaupt nicht mehr heraus. – Männe hätte nun auf diese heut’ wirklich entschuldbare Gemütsverfassung des Unausstehlius Rücksicht nehmen können, aber er war durch die allgemeine Duldung so verwöhnt, daß er sich schon allerlei kleine Freiheiten herausnahm und bisweilen sogar während der Mahlzeiten in der Pension erschien.

Heute – es gab Kotelette, sein Leibgericht, wie ich als mildernden Umstand für Männe anführen möchte – hatte er sich wieder eingefunden und die Unbescheidenheit sogar so weit getrieben, daß er sich einen Freund eingeladen hatte, den vorerwähnten Spitz Max, mit dem er sich nun unter Karls Stuhl – in unmittelbarer Nachbarschaft des Unausstehlius – aufhielt, wo er auch schon ein Stückchen Fleisch erschnappt hatte.

Da entdeckte die unselige Brunhilde das Freundespaar und machte es mit dem jauchzenden Ruf „Wauwau“ kündbar! Ein Gemurmel „Der Hund ist hier – zwei Hunde!“ durchlief die Tafelrunde; der Direktor trat wild um sich und verabfolgte Männe mit seinem Absatz einen wohlgezielten Puff.

Männe entfloh unter lautem Aufheulen, Max hinterher – und der Unausstehlius erklärte, unbekümmert um die vorwurfsvollen Blicke der Anwesenden, „wenn er in eine Hundehütte gehen wollte, brauchte er nicht fünfunddreißig Mark Pension zu bezahlen!“

Karl, als verantwortlicher Redakteur, stürzte nun auf den gestattenden Wink des Vaters hinter den Hunden her, beförderte Max mit einem Tritt in die freie Natur hinaus und band Männe, bis man ihn mit an den Strand nehmen könnte, an den Luftkegelpfahl, der unweit des Hauses stand. Männe fühlte sich daselbst unglücklich und brach sofort in ein langgezogenes, mißtönendes Geheul aus, das er mit einer Ausdauer fortsetzte, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre.

Landgerichtsrats thaten natürlich so unbefangen, als ob sie gar nichts hörten, und das Gespräch der Tischgesellschaft, das den bedauerlichen Vorfall mit mehr oder weniger Humor behandelte, wurde für die nächste Zeit so lebhaft, daß Männe sich wieder einmal als maître de plaisir für die allgemeine Unterhaltung hätte betrachten können, wozu ihm in seiner augenblicklichen Lage nur leider die nötige Objektivität fehlte. Unmittelbar nach Tisch begab man sich zum Kaffeetrinken auf die Veranda. Der Direktor erlöste die Gesellschaft für eine Weile von seiner Gegenwart, indem er sofort auf sein Zimmer ging, um ein Schläfchen zu thun.

Die anderen atmeten erleichtert auf.

„Wie ideal könnte der Aufenthalt hier sein,“ nahm einer der Badegäste das Wort, „wenn man diesen Kerl weggraulen könnte! Herr Landgerichtsrat – Sie sind Jurist – fällt Ihnen kein gesetzmäßiges Mittel ein?“

Der Angeredete schüttelte den Kopf.

„Ich bin Partei – wegen Männe!“ sagte er lachend, „ich muß den Direktor ertragen!“

„Wenn wir ihn ersäuften!“ schlug ein anderer nachdenklich vor.

„Es wäre das Einfachste,“ meinte der Landgerichtsrat, „aber es könnte am Ende darüber gesprochen werden!“

„O, wie böse sind die Herrschaften!“ warnte der „eingehakte Pastor“, dessen Ehehälfte mit unsäglichen Schwierigkeiten an seinem Arm Kaffee trank, „wir sollten doch lieber in Güte versuchen, durch die, wie ich gern zugebe, rauhe Schale des alten Herrn zu dem vielleicht sehr edlen Kern durchzudringen!“

Während alle noch beschämt diesem Uebermaß von Menschenliebe gegenüber in Schweigen verharrten, ertönte lautes Stimmengeräusch und der Direktor, mit einem vom Schlaf geröteten Bäckchen, das Sofakissen wurfbereit in der Hand, erschien und erklärte, fast erstickt vor Zorn, er könnte kein Auge zuthun. „Der Hund der Herrschaften“ – mit einem Wutblick auf den Landgerichtsrat – „ist unter meinem Fenster angebunden und heult, daß man rasend werden möchte! Wenn ich die Bestie nicht eines schönen Tages vergifte, kann sie von Glück sagen,“ setzte der alte Herr fauchend hinzu, dessen Seelenzustand übrigens in diesem Fall erklärlich war.

Der tief beschämte Landgerichtsrat stürzte ohne ein Wort der Entgegnung nach dem Thatort und schnitt Männes Strick durch,

[305]

Aufzug des Groppenkönigs beim Frühlingsfest in Ermatingen.
Nach einer Originalzeichnung von M. Annen.

[306] um möglichst rasch der Situation ein Ende zu machen. Der Direktor verlangte mit Entschiedenheit eine Tracht Stockprügel für den Heulmeier und Karl und Ludwig rasten hinter Männe her, der seine Fessel nachschleifte und in großen Sätzen in der Ferne verschwand.

Von diesem Tage an begann der Guerillakrieg zwischen Männe und dem Direktor. Männe, der genau merkte, daß die Sympathien der Pension auf seiner Seite waren, wurde immer frecher. Er war des Abends nicht zu finden, als man ihn nach seiner Pension bringen wollte, und mußte bis um 12 Uhr mit der Laterne und dem Nebelhorn in den Dünen gesucht werden. Als man ihn da auch nicht fand, triumphierte der Unausstehlius bereits, in der Hoffnung, daß die See am Ende mal energisch „Buu!“ gemacht und seinen Feind verschlungen hätte.

Als aber die landgerichtsrätliche Familie zu Bett war, nachdem sie zuvor die ganze Pension für die Verzögerung der Schlafenszeit flehentlich um Entschuldigung gebeten hatte, hörte Karl unter seiner Lagerstätte tiefes, regelmäßiges Atmen. Er griff zu; da packte er Männes weiches Fell und zog den Uebelthäter hervor, der sanft und süß da geschlafen hatte, während alles nach ihm die Dünen abrannte.

Beide Jungen, die sich in diesem unvorhergesehenen Fall nicht zu benehmen wußten, tappten nun im Nachtkostüm aus den Betten und weckten die Eltern mit der Frage: „Was sollen wir machen?“

Der Landgerichtsrat weinte fast vor Empörung. Er sah aber die Unmöglichkeit ein, den Teckel jetzt, nachts um Zwölf, in seinen Schuppen zu bringen, und beförderte Männe und Jungen mit der ingrimmigen Versicherung: „Dazu bin ich nicht in Ehren grau geworden, um wie ein Schmuggler in beständiger Angst zu leben,“ in ihre Schlafkammer.

„Beschwert sich morgen jemand über den Männe,“ setzte er mit großer Entschiedenheit hinzu, „so reist Ihr beide ohne Gnade mit dem Hunde ab und kommt zum Ordinarius in Pension!“

Karl und Ludwig wankten bei dieser Aussicht als an Leib und Seele gebrochene Männer davon. Die Nacht verging aber soweit ruhig, nur gegen Morgen, als sich Schritte dem Hause nahten, stieß Männe ein kurzes, zorniges: „Wuff!“ aus. Die Jungen, mit dem glücklichen Schlaf der Jugend, hatten nichts gehört – hingegen war die Mutter im Nebenzimmer erwacht und lag, in Angstschweiß gebadet, mit wild schlagendem Herzen da in der Sorge, daß jemand den gesetzwidrigen Laut gehört hätte. Es war nicht geschehen, aber die Landgerichtsrätin versicherte am nächsten Morgen, sie wäre in dieser Nacht um Jahre gealtert.

Männe empfand mit seinem ganzen Feingefühl, daß seine Stellung durch die Vorgänge der letzten Zeit erschüttert war. Er hatte sogar gesehen, daß der Landgerichtsrat auf einem gemeinsamen Spaziergang einen der wenigen auf der Insel gedeihenden Sträucher um eine biegsame Gerte geschädigt hatte, über deren Zweck er sich nicht näher aussprach und die in Männe die dumpfe, peinigende Ungewißheit hervorrief, ob sie für ihn, oder für Ludwig, oder für sie beide bestimmt sei! In jedem Fall empfand Männe die Notwendigkeit, etwas zu thun, um sich zu rehabilitieren. Er hatte wohl bemerkt, daß er bei kleinen Angriffen gegen den Direktor zwar öffentlich getadelt, aber nachher öfter mit der unvorsichtigen Wendung: „Das war recht, Männe!“ von einigen Gästen ermutigt worden war. Der Gedanke, den allgemeinen Störenfried wegzuärgern, nahm daher mehr und mehr von Männes Seele Besitz und wurde nun mit Zähigkeit ins Werk gesetzt.

Der Direktor war, neben seinen anderen angenehmen Eigenschaften, ein grenzenloser Pedant, der alles gern zur selben Stunde und nach denselben Grundsätzen ausführte und Störungen in seinen Gewohnheiten über alles haßte. Er blieb zum Beispiel immer abgezählt so lange im Wasser, bis ihm gerade drei Wellen über den Kopf gegangen waren, und lebte der festen Ueberzeugung, daß eine vierte ihm den Erfolg der ganzen Kur streitig machen würde! Ferner ging er jeden Nachmittag, „stumm und alleine“ wie das unglückselige Weib in dem Heineschen Liede mit dem Dichter am Fischerhaus saß, spazieren, und zwar in einem Tempo, als wenn er für die Meile von Staatswegen fünf Pfennig bezahlt bekäme.

Neuerdings schloß sich Männe zur namenlosen Empörung des alten Herrn öfter seinen Spazierenrennereien an und erwies sich bei dieser Gelegenheit als Besitzer eines so dicken Felles, daß ihn jedes Nilpferd hätte mit Thränen darum beneiden können. Er lief zunächst anscheinend harmlos neben dem Direktor her, und wenn dieser sich anschickte, ihn fortzujagen, machte Männe ein so unbefangenes Gesicht, als wenn er sagen wollte: „Was haben Sie denn eigentlich, verehrter Herr? Ich amüsiere mich hier auf eigne Hand und das kann mir am Strande niemand verbieten!“

Mit der Zeit wurde Männe aber dreister. Er schien die rasche Gangart des Unausstehlius als eine Aufforderung zu geselligen Scherzen zu betrachten – er rannte bellend und fröhlich hinter ihm drein und wollte ihn fangen.

Alsdann begann er aus seelisch unaufgeklärten Gründen eine Art kunstvoller Polonaise um die Beine des Direktors herum und zwischen denselben hindurch auszuführen, so daß der Beklagenswerte ein paarmal fast hingestürzt wäre und es als eine neue raffinierte Niederträchtigkeit der Nordsee auffaßte, daß der Seesand keine großen Steine enthielt, mit denen er Männe hätte „erwerfen“ können. Er raffte daher, in äußerster Wut, Fäuste voll Sand und Muscheln auf und warf sie nach dem Teckel, der das als einen allerliebsten Spaß auffaßte und jauchzend zur Wiederholung einer so netten Unterhaltung aufforderte.

Die Zuschauer waren im höchsten Grade belustigt durch das Schauspiel des zornigen Direktors und des fidelen Männe, der sich recht wie ein unartiger Junge benahm und sich vor Vergnügen über den ohnmächtigen Aerger des allgemeinen Unlieblings nicht zu lassen wußte.

Dem Direktor entging es natürlich nicht, daß die Badegesellschaft sich über den Zweikampf von Mensch und Teckel königlich amüsierte, und seine Widerwärtigkeit steigerte sich von Tag zu Tag, so daß man sich mit jedem neuen Morgen staunend davon überzeugte, daß man immer noch beim Komparativ sei und den Höhepunkt noch nicht erreicht habe.

Schließlich war man aber auf dem Höhepunkt wenigstens des Ertragens angekommen und erwog allseitig die fast unwiderstehlich sich aufdrängende Notwendigkeit, den Direktor auf gemeinschaftliches Risiko hinaus zu werfen.

Männe sah ein, daß ein solches Unternehmen für die ihm so wohlwollenden Menschen sehr peinliche Folgen – für ihn aber höchstens eine Tracht Prügel nach sich ziehen könnte, die er im Interesse der guten Sache mit heldenmütiger Selbstlosigkeit hinzunehmen beschloß.

Er überlegte sehr ernstlich und reiflich und er handelte schließlich nach der Eingebung des Augenblicks – stets das sicherste Verfahren für ein Genie, wenn es zum Ziele kommen will!

Der Direktor badete, wie erwähnt, immer nur ganz kurze Zeit, mochten Sonne, Wasser und Luft noch so verlockend sein, und faßte jede Verzögerung seines Hinaussteigens sowie seiner Toilette als ein wahres Majestätsverbrechen auf, so daß man, mit dem anerzogenen Respekt des Menschen vor der Unausstehlichkeit, schon förmlich Spalier bildete, um ihn auf dem Wege nach dem Badekarren ja keine Sekunde aufzuhalten. Der alte Herr erfreute sich eines Paars sehr auffällig gelb und schwarz geringelter Socken, die aussahen, als wenn sie eine fleißige Tigerin an langen Winterabenden für ihren Mann gestrickt hätte. Diese Strümpfe hatte Männe schon öfter bei seinen Zweikämpfen mit dem Direktor mit Mißbilligung als geschmacklos bemerkt. Um den ihm gehörigen Badekarren zu rascher Wiederauffindung zu kennzeichnen, pflegte der Besitzer der Tigersocken dieselben auf der ersten Treppenstufe des Karrens niederzulegen. Heute, an einem besonders schönen, durch kräftigen Wellenschlag sich auszeichnenden Tage befanden sich die männlichen Mitglieder unserer Gesellschaft noch im Wasser. Karl und Ludwig, die ihr Bad eben hinter sich hatten, rollten noch ein wenig im sonnendurchwärmten Sande umher und spielten mit Männe, der sich schon an das fremde Element gewöhnt hatte und kleine Wellen zu beißen versuchte.

Der Direktor hüpfte wie ein bissiger Flußgott unweit der Jungen umher und schickte sich eben an, nach der vorschriftsmäßigen dritten Welle das feste Erdreich wieder zu gewinnen. Da erblickte ihn Männe, und die Gelegenheit freudig ergreifend, vertrat er seinem Feinde den Weg und bellte ihn an. Der Direktor stieß wütend mit dem Fuß nach Männe und wollte ihm ausweichen – Männe war aber flinker, stellte sich wieder vor ihn hin und kläffte laut und energisch, der alte Herr schrie außer sich vor Entrüstung auf die Jungen ein, die sich vor Lachen über den Anblick der beiden Kämpfer im Sande krümmten und vergeblich Männe zu rufen [307] versuchten. Da kam eine neue, meterhohe Welle – die vierte! die überzeugt zu sein schien, daß der Unausstehlius noch nicht zufrieden sei, und schlug ihn sehr freundschaftlich auf die Schultern und über den Kopf. Der Direktor, empört über dies kurwidrige Verfahren, wußte nun nicht, ob er sich gegen Männe oder gegen die Wellen zuerst verteidigen sollte. Männe aber hatte beim Anblick des Elementes sein Heil in der Flucht gesucht und war dem Badekarren zugerannt.

Dort die gelbgeringelten Socken des Direktors erblicken und mit dem linken Exemplare davon rennen, war Eins für Männe! Ohne sich umzusehen, jagte er in wahren Hechtsätzen davon, nach dem sogenannten „neutralen Strand“ zu, wo ein großer Teil der Badegesellschaft sich in Strandkörben und auf Plaids beschaulich niedergelassen hatte.

Der Anblick des wohlbekannten Männe mit der wohlbekannten Siegestrophäe wirkte so erheiternd auf alle Anwesenden, daß ein Sturm von Gelächter ertönte, wie bei einer Clownvorstellung im Cirkus. Sogar der „eingehakte Pastor“ lachte bis zu Thränen mit, und der alte Herr, der in der eiligsten Toilette, seine vier Haare gen Himmel gesträubt, hinterher gerannt kam, um seinen Strumpf wieder zu holen, wurde mit ungeteilter Heiterkeit empfangen, was ihm nicht oft passierte.

Diese Heiterkeit sollte, wie es dem echten Gelächter zukommt, erlösend wirken. Der alte Herr hatte es so übelgenommen, daß nicht allein Männe seinen Strumpf eskamotiert hatte, sondern daß seine Mitmenschen so herzlos waren, sich darüber zu amüsieren, daß er auf dem Absatz Kehrt machte, in die Pension Paula lief, seine Rechnung verlangte und mit dem nächsten Dampfer die Insel verließ. Er war schmählich von Männe aus dem Felde geschlagen und nahm noch das niederdrückende Bewußtsein mit sich fort, daß ein liebenswürdiger Hund es viel leichter hat, sich eine Stellung im Leben zu erobern und zu behaupten, als ein unliebenswürdiger Mensch.

Männes Badeaufenthalt aber gipfelte von da an in großartigen Erfolgen. Er wurde durch allgemeine Abstimmung der Gesellschaft aus Dankbarkeit für seine That und ihre Folgen zum Ehrenmitglied der Pension Paula ernannt, brauchte nicht mehr im Schuppen zu schlafen, sondern wohnte im Hause wie andere Badegäste und durfte sich sogar manchmal den Max einladen. Und am ersten Tage, den man ohne den Unausstehlius in der Pension verlebte mit dem Gefühle eines Menschen, den der Alp nicht mehr drückt, wurde für Männe, den Befreier der Insel, eine allgemeine Ovation veranstaltet, die ihresgleichen suchte.

Die ganze Gesellschaft trat mit ihren Schlafstubenleuchtern in der Hand an und brachte Männe einen Fackelzug, den dieser erst mit königlichem Anstand entgegen nahm; dann aber legte er leider sehr bald unmanierliche Langeweile an den Tag und gähnte wie ein Abgrund. Da die Feier jedoch mit Ueberreichung einer Knackwurst schloß, so war der Held des Abends hochbefriedigt, und noch heute sagen Landgerichtsrats, wenn sie von ihrem Inselaufenthalt erzählen: „Die gefeiertste Schönheit der Saison war aber doch Männe im Seebad!“



Blätter und Blüten.


Das Jubiläum der Steindruckerei. Im Jahre 1796 stellte Alois Senefelder, der Erfinder der Lithographie oder chemischen Steindruckerei, die ersten Abdrücke von hochgeätzten Steinen her. Damit trat die Steindruckkunst zum erstenmal in den Dienst der Menschheit, und wir begehen demnach im laufenden Jahre die Feier ihres hundertjährigen Bestehens. Diese Feier fand bereits im vorigen Jahre einen würdigen, wenn auch etwas verfrühten Ausdruck in der großangelegten Lithographischen Ausstellung zu Paris, die von allen Ländern beschickt war und neben den Anfängen der Steindruckerei auch bewundernswerte Leistungen der heutigen Lithographie zur Auschauung brachte.

Der Steindruck ist ebenso wie der Buchdruck eine deutsche Erfindung. Ueber ihre Geschichte sowie die wechselvollen Lebensschicksale des Erfinders berichtete schon der Artikel „Alois Senefelder und die Steindruckerei“ im Jahrgang 1892 der „Gartenlaube“. Wie viele andere Bahnbrecher, so hatte auch Senefelder mit kleinlicher Geldnot und anderen Widerwärtigkeiten zu kämpfen; sein Leben war ein beständiges, aufreibendes Ringen, das erst der Verwirklichung seiner genialen Gedanken und dann der aufgezwungenen Verteidigung seiner Erfinderrechte galt. Die Zahl seiner Erfindungen reicht über das Gebiet des Steindrucks hinaus, sie umfaßt noch einige Verfahren des Kattundruckes und des Mosaikdruckes, obwohl die Lithographie die größte seiner Schöpfungen ist, die ihm einen wohlverdienten Platz neben Gutenberg sichert.

Senefelder erfand die Lithographie in ihrem vollen Umfange; nur einige Verfahren, wie die Photolithographie, ferner den Bau vollkommener Hand- und Schnellpressen, fügte die neuere Technik hinzu. Seine erste Erfindung war das Hochätzverfahren auf Stein, mit welchem er 1796 die ersten Drucke erzeugte, hauptsächlich Noten- und Musikaliendrucke. Diese Erstlingsdrucke Senefelders gehören heute zu den Seltenheiten, sie sind fast nur noch in Privatsammlungen und Museen vorhanden. Eine Sammlung der ältesten Drucke besitzt das Museum zu München, bekanntlich diejenige Stadt, welche die Ehre hat, die Geburtsstätte der Senefelderschen Erfindung und damit auch die erste Pflegestätte der Steindruckkunst zu sein. Von München aus verbreitete sich die Lithographie nach Stuttgart, Leipzig, Offenbach und anderen deutschen Städten, sowie später auch in das Ausland.

Die Lithographie hat ihre größten Erfolge auf dem Gebiete der Vervielfältigung von Zeichnungen und farbigen Bildern erzielt, sie war Jahrzehnte hindurch die hervorragendste nachbildende Kunst und nimmt als solche noch heute eine herrschende Stellung unter den graphischen Künsten ein. Zu dieser Stellung konnte sie allerdings erst gelangen, nachdem Senefelder seine Erfindung über das zuerst erfundene Hochätzverfahren hinaus erweiterte und das eigentliche chemische Steindruckverfahren erfand, welches heute in den lithographischen Anstalten gepflegt wird. Dieses chemische Druckverfahren ist bedeutend einfacher als das alte Hochätzverfahren, es gestattet die Wiedergabe der zartesten Zeichnung und ist daher vorzüglich zur bildlichen Vervielfältigung geeignet. Die Erfindung desselben vollendete Senefelder im Jahre 1799, worauf die Lithographie begann, ihren tief einschneidenden Einfluß geltend zu machen und eine vollständige Umwälzung auf dem Gebiete der vervielfältigenden Kunst hervorzubringen.

Bis dahin hatte man nur den Holzschnitt und Kupferstich gekannt. Der Holzschnitt war von den Künstlern vernachlässigt und zum handwerksmäßigen Wert heruntergesunken, der Kupferstich war zu kostspielig, um als allgemeines Illustrationsverfahren zu dienen. Als daher Senefelder mit seiner Erfindung der Lithographie an die Oeffentlichkeit trat, füllte diese thatsächlich eine Lücke aus und fand ein reiches Gebiet lohnender Thätigkeit. Vom Notendruck ging Senefelder dazu über, Kupferstiche auf den Stein umzudrucken und dieselben in Tausenden von Abdrücken zu vervielfältigen. Diese Abdrücke wurden für wenige Pfennige in den Handel gebracht und dadurch dem Volke billige und doch künstlerische Bilder geboten. Hierauf ließ Senefelder durch Künstler Federzeichnungen lithographieren, die er vervielfältigte. Ferner erfand er die lithographische Kreidemanier, welche sich besonders auch zur Vervielfältigung von Porträts eignete. Dann führte er die Graviermanier ein, welche den Wettbewerb mit dem Kupferstiche gestattete. Endlich übte er den Tondruck aus, und auf diesen folgte der Vielfarbendruck, mit dessen Hilfe sich schon Senefelder anheischig machte, jedes Oelgemälde täuschend nachzuahmen.

Die Dienste, welche die Lithographie der Kunst, Wissenschaft und Industrie leistete, sind ganz unermeßlich. Sie brachte nicht nur einen vollständigen Umschwung auf dem Gebiete der nachbildenden Künste hervor, sondern sie war auch eine treue Gehilfin auf vielen anderen Gebieten des menschlichen Fortschrittes. Der Wissenschaft diente sie zur Herstellung belehrender Bildertafeln aller Art, ferner zur Vervielfältigung von Landkarten; der Industrie lieferte sie Drucksachen, Abziehbilder zur Verzierung der verschiedensten Gegenstände, und die neuere Blechindustrie benutzt den Steindruck selbst zur farbigen Verzierung von Blechschachteln und zur Herstellung von Blechplakaten. Die Vielfarben-Lithographie erzeugt jährlich Hunderttausende von Chromobildern, von der einfachen Gratulationskarte an bis zum kunstvollen Plakat-, Aquarell- und Oelbilddruck. Wenn man von Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks sagt, daß sie wesentlich zur Verbreitung der Wissenschaft und Litteratur beitrug, so kann man von Senefelders Erfindung der Lithographie sagen, daß sie ähnlich beitrug zur Vervolkstümlichung der zeichnenden und malenden Kunst. Die Lithographie kann daher mit Recht als eine der wichtigsten Erfindungen bezeichnet werden. E. G.     

Mit vereinter Kraft. (Zu dem Bilde S. 297.) Für Blumenschmuck schwärmen alle Schönen, und auch die slowakischen Mädchen machen keine Ausnahme. Man sieht sie in der Zeit, da Blumen blühen, selten ohne ein Sträußchen. Nicht nur in der Kirche und auf dem Tanzboden tragen sie es; blumengeschmückt pflegen sie sogar auf die Arbeit zu gehen. Ein slowakisches Mädchen ist es auch, für das sein Schatz die frische Wasserrose bricht. Die schöne Zuska hilft ihm dabei, sie hält ihn fest, damit die bösen Nixen den Blumenräuber in das nasse Element nicht hineinziehen. Um das Leben des schmucken Durko (Georg) brauchte sie zwar nicht zu fürchten, aber schade wäre es um den Sonntagsstaat, der heute auf dem Tanzboden glänzen soll. Zum Tanze in das nächste Dorf eilen ja die beiden Glücklichen, die bald vor dem Altar stehen werden. Mögen sie dann, wie sie jetzt vereint Blumen gepflückt, mit vereinter Kraft und frohem Sinn auch des Lebens Mühsal tragen! *     


[308] Das Frühlingsfest in Ermatingen. (Zu den Bildern S. 305 und S. 308.) Wie im Sechse-Läuten zu Zürich, so hat sich auch am Bodensee in Ermatingens „Groppenfasnacht“, die alljährlich am Lätaresonntag gefeiert wird, der deutlich erkennbare Rest eines altgermanischen Frühlingsfestes erhalten. Wohl brennen auch in der übrigen Seegegend am sogenannten Funkensonntag die den Lenz begrüßenden Freudenfeuer, aber eine größere Festlichkeit, wie die heute von uns geschilderte, hat sich am Bodensee nur hier behauptet. Der lieblich am idyllischen Gestade des Untersees, dem lachenden Eiland der Reichenau gegenüber gelegene Marktflecken Ermatingen ist durch die Napoleonischen Erinnerungen seines Schlosses Arenenberg weit bekannt. Doch nicht nur das historische Interesse und die Schönheit seiner landschaftlichen Lage, die es jährlich Hunderte von Städtern zum Sommeraufenthalt wählen läßt, bedingen Ermatingens Bedeutung: es bildet zugleich in der ganzen Unterseegegend den Hauptplatz des Fischfangs und Fischhandels. Und eben diese Fischer – wie überall ein zähes und an alten Sitten hängendes Volk, das ausschließlich den unteren, „Staad“ genannten und am Wasser gelegenen Teil des Ortes bewohnt – sind es, welche die Feier der „Groppenfasnacht“, die erst allmählich Gemeingut des ganzen Marktes wurde, bis auf die Gegenwart aufrecht erhalten haben.

Noch heute spricht der Anwohner des Bodensees nicht von einer Fastnacht, sondern von einer Fasenacht und bekundet damit das hohe Alter der ursprünglich heidnischen Feier, die ihren Namen vom altdeutschen faseln, d. h. närrische Reden führen, ableitete. Was die Bezeichnung Groppenfasnacht betrifft, so hängt diese aufs engste mit dem Fischfang zusammen. Die Groppen sind eine Art kleiner, gefräßiger Raubfische, die, in dem moosigen Grund des seichten Untersees wohnend, nur hier bei Ermatingen zur Frühlingszeit gefangen werden. Das große Schleppnetz der Ermatinger liefert oft auf einen Zug eine Beute von 20000 Stück dieser schmackhaften Seebewohner, die lebend bis zu ihrem Ehrentage aufgespart werden, um dann, mit Salz bestreut und in Pfannen gebraten, als seltene Delikatesse verspeist zu werden. Daß dies Fischervolk an den Groppenfang seine Frühlingsfeier knüpfte, ist durchaus natürlich. Da der wenig tiefe Untersee fast jeden Winter zufriert und dadurch den Fischfang auf das geringste Maß beschränkt, so begrüßen die Fischer mit dem Fang der Groppen noch heute den Wiedereinzug des Lenzes, der ihre eigentliche Erwerbsquelle aufs neue erschließt. In dem maskierten Umzug, der gewöhnlich den Mittelpunkt des Festes bildet, spielt daher der Groppenkönig immer die Hauptrolle. Dieser, in Gestalt einer mächtigen Groppe, wurde auch bei dem diesjährigen Festzug wieder auf einem von Zwergen und Kobolden gezogenen Wagen durch die Hauptstraßen des Ortes geführt, eine Gruppe, die der Maler unseres anschaulichen und lebendigen Bildes auf Seite 305, in den Mittelpunkt seiner Darstellung gerückt hat. Im Gegensatz zu dieser Figur, die den Frühling sinnbildlich darstellt, ward früher auch der überwundene Winter durch eine Strohpuppe symbolisiert, welche bei Ankunft des Zuges am Ufer unter allgemeinem Jubel in den See geworfen wurde.

Die Hinrichtungsscene beim Frühlingsfest in Ermatingen.

Diesmal war an die Stelle des kalten Unholds ein prosaischer Räuberhauptmann getreten, der mit seiner Bande in die Häuser drang und wie der wirkliche Winter den Leuten allerlei Schabernack spielte. Seinem Charakter entsprechend endete er, nicht wie der Winter bei der Züricher Frühlingsfeier in lodernden Flammen, sondern am Galgen. Bei der dem Charakter eines Mummenschanzes entsprechenden humoristischen Färbung der Scene, die unser obenstehendes Bild wiedergiebt, fehlte auf dem am See errichteten Schafott natürlich auch der rote Seewein nicht, ohne den es die Thurgauer einmal nicht thun und der den Richtern bei ihrer schweren Arbeit sichtlich mundete. Der Ertrag des Herbstes ist überhaupt jeweilig maßgebend für den Umfang der Feier, und in diesem Jahre, dem die Reben am Untersee einen reichlichen und süßen Tropfen lieferten, hatte man keine Kosten gespart, den Umzug glänzend zu gestalten. Während im Jahre 1894 der Festzug in zahlreichen historischen Gruppen die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte von Ermatingen darstellte, spielte heuer wieder die politische Satire eine Rolle und waren die Italiener wie König Menelik von Abessinien mit seinen schwarzen Scharen in prächtigen Reitergestalten vertreten. Wie gewöhnlich hatte das in der ganzen Thurgauischen Seegegend beliebteste Volksfest Tausende von Zuschauern aus nah’ und fern herbeigezogen, die erst am späten Abend mit Extrazügen und Dampfern, oder zu Fuß über den waldigen Seerücken wieder in ihre Heimat pilgerten. Franz Wichmann.     

Schloß Mespelbrunn im Spessart. (Zu dem Bilde S. 293.) Wie es in der natürlichen Beschaffenheit eines großen Waldgebirges begründet liegt, gehört der Spessart zu den geschichtsarmen Gegenden des deutschen Vaterlandes. Wo noch heute die Ansiedlungen der Menschen sich beschränken auf größere oder kleinere Lichtungen, die im Lauf der Jahrtausende den dichten Waldbeständen abgerungen wurden, wo noch heute die Axt des Holzhauers das vornehmste Werkzeug ist, mit dem sich der Mensch sein täglich Brot verdient, da kann die städteliebende Kultur keine Geschichte gehabt haben. Und ebenso haben die politischen Bewegungen der Völkerwelt Halt gemacht vor dem Walle dieser endlosen Buchen- und Eichenwälder, die sich nördlich vom Main in dem offenen Viereck zwischen Gemünden, Wertheim, Miltenberg und Aschaffenburg ausdehnen. Nur hier und da einmal wurde auch der Spessart berührt von Krieg und Kampf, nur hier und da einmal tosten in der feierlichen Stille seiner Laubhallen Kampfgewühl und Waffenlärm. Dafür haben ihn Sage und Dichtung gern zum Schauplatz ihrer Träume gemacht. Im Nibelungenlied ziehen die Helden zur Jagd in seinen Revieren. Simplicius Simplicissimus erhielt vom Dichter auf einem Bauernhofe im Spessart die Stätte seiner Geburt und seiner Jugend angewiesen, und wer hätte nicht in seinen jungen Jahren „Das Wirtshaus im Spessart“ von Hauff gelesen und mit dem Goldschmied ein geheimes Grausen gespürt vor dem großen finstern Wald, in dem noch Räuber und Mörder ihr Wesen treiben sollten! Der Spessart ist – verglichen mit dem Harz, dem Thüringer Wald, oder auch der benachbarten Rhön – noch wenig erschlossen, erst neuerdings ist es dem Spessartklub gelungen, die Aufmerksamkeit der Reisenden in höherem Maße auf die Schönheiten des Gebirges zu lenken, das im Geiersberg seine höchste Erhebung hat. Zugänglich ist der Spessart am bequemsten von Aschaffenburg oder Klingenberg aus. Sein Reichtum an Wild ist auch heute noch infolge sorgfältiger Hege sehr groß. Der jagdliebende Prinzregent von Bayern hat sich denn auch mitten im Spessart, in Rohrbrunn, ein villenartiges Schlößchen gebaut und kommt in jedem Herbst mit seinen Jagdgenossen, um dem Weidwerk hier obzuliegen. Ein Ausflug nach Rohrbrunn ist auch für den Naturfreund eine lohnende Tour.

Romantischer noch ist Schloß Mespelbrunn im westlichen Spessart gelegen. Als vor einem Dutzend Jahren die Universität Würzburg ihr dreihundertjähriges Bestehen festlich beging, wurde der Name des sonst wenig genannten Schlosses in weiteren Kreisen bekannt; denn dasselbe ist der Stammsitz jenes Fürstbischofs Julius Echter von Mespelbrunn, dem die Stiftung der fränkischen Hochschule zu danken ist. Weltentlegen, in einem engen Waldthal, ohne jeden sichtbaren Bezng zu den Erinnerungen, welche der Name weckt, tritt dem Wanderer das malerische alte Schloß aus seiner waldigen Umgebung entgegen. Türme und Zinnen spiegeln sich im klaren Wasser eines ihm vorgelagerten Forellenteichs. Stimmungsvoll schmiegt sich die ganze Umgebung zum Bilde: das epheunmsponnene Häuschen links vom Schloß, in welchem man gastliche Aufnahme findet, der grüne Wiesengrund, der sich thalabwärts zieht, und auch die Brunnenfigur des Landsknechts, die im Schloßhof Wache hält. Die Weihe tiefsten Friedens ruht über dem Schlosse, dessen Inneres besichtigt werden kann und durch seine altertümliche Ausstattung anspricht. G. Z.     


Kleiner Briefkasten.
(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Lesekränzchen in Hannover. Die Vermutung, die in Ihrem Kränzchen aufgestellt wurde, ist durchaus unzutreffend. Hans Arnold, dem die „Gartenlaube“ so viele lustige und anmutige Erzählungen verdankt, hat mit dem „Spiritisten“ Hans Arnold nichts gemeinsam. Das hätten Sie sich eigentlich selber sagen können, daß in diesem Falle zwei verschiedene Personen zufällig denselben Namen tragen; denn in den packenden lebensfrohen Erzählungen unseres Hans Arnold finden sie doch nicht die geringste Spur spiritistisch-mystischer Anwandlungen.


Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (17. Fortsetzung). S. 293. – Schloß Mespelbrunn im Spessart. Bild. S. 293. – Mit vereinter Kraft. Bild. S. 297. – Gesundheitliche Winke für Bureauarbeiter und Stubengelehrte. Von Dr. A. Kühner. S. 298. – Ein Jubeltag der deutschen Feuerwehr. Von W. Hoepfner. Mit Bildnis. S. 300. – „Dem Nächsten zur Wehr – Gott zur Ehr’!“ Bild. S. 301. – Teckel auf Reisen. Eine Hundegeschichte von Hans Arnold (Schluß). S. 302. – Aufzug des Groppenkönigs beim Frühlingsfest in Ermatingen. Bild. S. 305. – Blätter und Blüten: Das Jubiläum der Steindruckerei. S. 307. – Mit vereinter Kraft S. 307. (Zu dem Bilde S. 297.) – Das Frühlingsfest in Ermatingen. Von Franz Wichmann. S. 308. (Zu den Bildern S. 305 und 308.) – Schloß Mespelbrunn im Spessart. S. 308. (Zu dem Bilde S. 293.) – Kleiner Briefkasten. S. 308.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 18. 1896.


Ein neues Kriegsfahrrad. Die Fahrradfabrik Seidel und Naumann in Dresden bringt ein Fahrrad in den Handel, das sich von den bereits vorhandenen wesentlich unterscheidet und zum Gebrauch im Kriege besonders geeignet erscheint. Dieses Militär oder Kriegsrad ist zusammenklappbar, und man kann es wie den Tornister auf dem Rücken tragen. Dank einer sinnreichen Konstruktion läßt es sich ohne Anwendung eines Schlüssels durch einen einfachen Handgriff in kaum ½ Minute in Gebrauchszustand versetzen oder wieder zusammenklappen. Die Räder sind mit „Militärpneumatik“ versehen und so niedrig gehalten, daß der Fahrer, wenn er die Füße herunternimmt, sofort stehen kann und nicht nötig hat, abzusteigen. Für Kriegszwecke ist dies von besonderem Vorteil. Das Rad wurde dem Könige von Sachsen vorgeführt, der sich über die handliche und sinnreiche Konstruktion lobend ausgesprochen hat.

Ein neues Kriegsfahrrad.

Wozu alte Schuhe gut sind. Unter den Abfällen der französischen Hauptstadt, die ja durch ihre Schuhfaçons auch heute noch bald mehr, bald minder tonangebend ist, befindet sich selbstverständlich auch eine Unmenge von alten ausgedienten Fußhüllen. Ein solcher Schuh wird von seinem bisherigen Besitzer als zu nichts mehr tauglich auf den Kehrichthaufen geworfen, aber nur, um desto sorgfältiger von anderer Hand wieder aufgehoben zu werden: der Schuh kommt zum zweitenmal in den Handel. Je nach seiner Verfassung wird er entweder aufrepariert und bildet dann mit vielen seinesgleichen eine Zierde irgend eines Trödlerladens, oder er geht als Lederabfall in eine der zahlreichen Fabriken, die sich mit der Fabrikation von Lederkohle beschäftigen. Diese Lederkohle, deren Herstellung noch heute als eine Art Geschäftsgeheimnis betrachtet wird, ist nämlich zum Härten von Eisen, von Feilen, von Achsen und gewissen Maschinenteilen unentbehrlich. Französische Lederkohle geht in großen Mengen auch nach Deutschland. In dieser Form muß gar mancher Schuh, der einst das graziöse Füßchen einer Pariser Schönen bekleidet hat, zur Verbesserung der Fabrikate unserer Maschinenfabriken dienen. Tausende freilich gehören dazu, um einen einzigen Zentner Lederkohle herstellen zu können, und dieser kostet dann höchstens 5 bis 6 Mark.

Markthallenzüge der Berliner Stadtbahn. Zu den vielen Nebenfunktionen, welche die Hauptpulsader des Verkehrs von Berlin außer dem Transport der Millionen Passagiere, die sie unaufhörlich aus dem Osten und Westen ins Zentrum und aus dem Zentrum wieder in die äußeren Viertel bringt, noch zu verrichten hat, gehört vor allem auch die Beförderung ungeheurer Gütermassen in die Zentralmarkthalle von Berlin. Hier, wo täglich Tausende von Zentnern aller nur denkbaren Genußmittel ge- und verkauft, wo jährlich ganz unermeßliche Werte umgesetzt werden, erweist sich der Straßentransport trotz der Hunderte von Fuhrwerken, die von Mitternacht an in gedrängtem Zuge zum Alexanderplatz rasseln, ganz unzulänglich. Hier mußte die Eisenbahn mit ihren Güterzügen eingreifen. Wer vom Stadtbahnzuge aus beim Passieren des Bahnhofs „Alexanderplatz“ einen Blick aus dem Fenster wirft, bemerkt neben der Halle ein ungewöhnliches Durcheinander von Geleisen, Rampen, Ladestellen u. s. w. und sieht auch gelegentlich einen langen Güterzug hier anhalten. Es ist einer der Markthallenzüge, die vom Viadukt der Stadtbahn ihren Inhalt direkt vor die Stände der Halle bringen. Sie haben außer dem Transport der Hallengüter keinen weiteren Dienst im öffentlichen Frachtverkehr zu verrichten, und dennoch mußten schon 1892 täglich zwei solcher Züge in den regelmäßigen Fahrplan eingestellt werden, während ein bis zwei Bedarfszüge dazwischen, je nach dem Güterandrang, eingelegt werden mußten. Die Gütermenge, die in jenem Jahr diese Markthallenzüge bewältigten, belief sich auf rund eine Million Zentner, oder an jedem Wochentage auf 3200 Zentner. Seit 1888 hatte dieser Verkehr um das Dreifache seines Umfanges zugenommen; heute dürfte er, wenn er im gleichen Maße gewachsen ist, schon gegen zwei Millionen Zentner betragen. Der Stadtbahn erwuchs dadurch eine Einnahme von beinahe 800000 Mark, fast der fünfte Teil der Einnahmen des gesamten Personenverkehrs auf der Berliner Stadtbahn im gleichen Verwaltungsjahre. Bw.     

Universalkleiderraffer nennt sich eine für die Schneiderstube sehr praktische Neuheit aus der Posamentenfabrik von Anton Oehler in Leipzig. Was bisher die besseren Schneiderinnen als Zug in den Damenröcken etwas mühsam herstellten: eine Reihe von Schnüren, die von außen am Rockbund hochgezogen werden, das ist hier fabrikmäßig und praktisch, zum Gebrauch fertig auf einer Karte beisammen. Die Ringchen zum Anheften auf die Rockbahnen sind ebenso vorhanden wie die Zugeinrichtung selbst, das schildartige Gurtband ist dem Rockbund einfach einzunähen. Man kann mittels dieses Rockraffers das Kleid dann von außen mit einem Griff höher oder tiefer aufziehen und es schnell wieder ganz sinken lassen. Der kleine Apparat ist sehr solide aus gutem Material gearbeitet, nicht teuer, und empfiehlt sich durch seine Zweckmäßigkeit hauptsächlich allen zu Hause schneidernden Damen als Mittel bedeutender Zeit und Müheersparnis.

Die chemische Reinigung farbiger Stickereien läßt sich durch das folgende einfache und billige Verfahren sehr gut ersetzen. Man kocht 125 Gramm Weizenkleie, die man billig in Getreidehandlungen kauft, langsam mit reichlich Wasser mehrere Stunden. Die dann gewonnene Brühe wird langsam durch ein Leinwandsäckchen geseiht und vollkommen erkalten gelassen. Erst dann wäscht man die Stickereien zweimal in solcher Lauge durch, spült sie darauf mehrmals in klarem Wasser und läßt sie so weit trocknen, bis man sie, ohne sie einfeuchten zu müssen, auf der linken Seite plätten kann. Das Stärken der in Kleienwasser gewaschenen Sachen ist unnötig, da dieses den Dingen die nötige Appretur gibt. Die so behandelten Sachen werden wie neu. L. H.     


Hauswirtschaftliches.

Immer weniger Wohlgeschmack zeigen die Kartoffeln, je weiter der Frühling ins Land kommt, und die Hausfrau thut gut, sie zu allerhand Gerichten, zu Brei, Krusteln, Bällchen zu benutzen, oder, wo es irgend angeht, sie mit pikanten Saucen zuzubereiten. Immerhin aber wird es vielfach unmöglich sein, die Kartoffeln anders denn als „Salzkartoffeln“ zu servieren. Zu diesem Falle ist die folgende Kochweise sehr empfehlenswert, die den wässerigen oder seifigen Geschmack der Kartoffeln aufhebt und ihnen einen guten Geschmack verleiht. Die Kartoffeln werden wie gewöhnlich in Salzwasser gekocht, doch nur halbgar, dann gießt man sie rasch ab und schüttet sie sofort in einen anderen Kochtopf mit bereitstehendem kochendem Wasser, in dem sie fertig gekocht werden. Man gießt sie sorgfältig ab, schwenkt sie trocken und bestreut sie beim Anrichten mit gewiegter Petersilie. L. H.     

Die Behandlung der Wäsche nach den neuesten Erfahrungen schildert eine Schrift von O. Radeck (Selbstverlag, Polsnitz in Schlesien). Der Verfasser, früher Dirigent der kgl. Musterbleiche Sohlingen, gibt in diesem gut geschriebenen, durch Abbildungen bereicherten Büchlein wertvolle Anweisungen, wie unter Benutzung der technischen und chemischen Hilfsmittel unserer Zeit ein Bedeutendes an Arbeit und Kosten für die Wäsche erspart werden kann. Er bespricht eingehend die in kleineren Haushaltungen immer noch nicht nach Gebühr gewürdigten Wasch- und Wringmaschinen und erklärt ihren Gebrauch so deutlich, daß auch die ungeübteste Hand sich damit zurechtfinden kann. Außerdem aber findet das althergebrachte Waschen mit der Hand für weiße und farbige Stoffe, das Bleichen, Stärken und Plätten, sowie das Kapitel der Fleckenvertilgung eingehendste Behandlung. Für junge Hausfrauen insbesondere, aber auch für erfahrene, die sich mit den städtischen Raumverhältnissen abfinden müssen, ist dieses Kompendium der Wäschekunst als wertvoller Ratgeber zu empfehlen.

Rußflecke, die ein unglückliches Mißgeschick, durch blakende Lampen oder anderes Ungefähr, auf weißes Tischzeug oder tadellos saubere weiße Schürzen gebracht hat, lassen sich völlig ohne Wäsche entfernen, wenn man sie leicht und rasch mit der Krume von frischem Schwarzbrot abreibt. He.     

[308 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]