Die Gartenlaube (1896)/Heft 16
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Nr. 16. | 1896. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Fata Morgana.
(15. Fortsetzung.)
Elsa durchschritt, nachdem sie Lady Marwood verlassen, die Flurhalle und trat auf die Terrasse hinaus; auf einmal zuckte sie leicht zusammen. Die auffallend hohe Gestalt des Mannes, der da an der Seite ihres Verlobten den Gang heraufkam, das dunkel gefärbte Antlitz, die charakteristischen Züge, das alles hatte sie schon gesehen, freilich nur im hellen Mondlicht und auf wenige Minuten, aber sie erkannte den nächtlichen Eindringling, der so verwegen den Weg über die Mauer genommen hatte.
Sonneck gewahrte seine Braut und eilte ihr entgegen. Er küßte sie auf die Stirn – seit seiner Werbung hatte er sich noch keine andere Liebkosung erlaubt – und wandte sich dann, ihre Hand in der seinen haltend, zu seinem Freunde.
[262] „Da bringe ich Dir meinen Reinhart, Elsa!“ sagte er mit vollster Innigkeit. „Laß ihn keinen Fremden für Dich sein, wenn Du Dich auch seiner nicht mehr erinnerst.“
Reinhart verneigte sich mit jener ritterlichen Artigkeit, die er den Frauen gegenüber stets zeigte.
„Ich bin nicht so kühn, einen Platz in Ihrer Erinnerung zu beanspruchen, mein gnädiges Fräulein, die Zeit liegt allzuweit zurück. Aber als Lothars Freund darf ich wohl hoffen, von Ihnen nicht als völlig fremd angesehen zu werden. Wollen Sie mir erlauben, Ihnen meinen Glückwunsch auszusprechen?“
Seine blitzenden Augen streiften dabei mit einem halb fragenden Ausdruck das Antlitz des jungen Mädchens, als erwartete er irgend ein Zeichen des Wiedererkennens, irgend eine Bemerkung über jene nächtliche Begegnung. Aber Elsas Lippen waren fest zusammengepreßt, mit einem eigentümlich herben Ausdruck, und als sie sich endlich öffneten, geschah es nur zu jenen kühlen, förmlichen Worten, mit denen man den Glückwunsch eines Fremden erwidert.
„Ich danke Ihnen, Herr Ehrwald. Es ist wohl selbstverständlich, daß mir Lothars Freund willkommen ist.“
Sonneck sah etwas enttäuscht aus, er kannte ja die Schweigsamkeit und Zurückhaltung seiner jungen Braut andern gegenüber, hier aber hatte er doch eine wärmere Begrüßung erwartet. Elsa wußte es ja, was ihm Reinhart war, er hatte ihr oft genug davon gesprochen.
„Lady Marwood ist bei Dir?“ fragte er. „Wir sahen ihren Wagen und den Hassan draußen. Ich hatte es ihr geschrieben, weshalb wir unseren Besuch vorläufig noch aufschieben mußten. Komm, Reinhart, Du mußt sie doch auch begrüßen!“
Er bot Elsa den Arm und führte sie in das Haus. Reinhart stand noch unten im Garten und blickte auf die alten moosbewachsenen Stufen nieder, auf denen jetzt der helle Sonnenschein lag. Es sah fast aus, als scheute er sich, sie zu betreten, dann aber setzte er plötzlich wie in aufflammendem Trotz den Fuß auf die verwitterten Steine und stieg mit raschen, festen Schritten hinauf.
Lady Marwood begrüßte die Eintretenden oder vielmehr Sonneck mit der gewohnten Vertraulichkeit, denn die Begrüßung galt ihm allein. „Sie sehen, ich habe den Zugang gefunden zu Ihrem verborgenen Schatz, wenn Sie ihn auch hinter Gittern und Mauern verschließen,“ rief sie ihm entgegen. „Ja, lächeln Sie nur, ich kam in der schlimmen Absicht, Ihnen etwas davon zu rauben. Der künftige Herr und Gemahl wird freilich Alleinherrscher sein wollen in seinem Reiche, aber ich beanspruche auch einen Platz darin. Nicht wahr, meine süße Elsa?“
Sie zog das junge Mädchen schmeichelnd neben sich nieder und schien es dabei ganz zu übersehen, daß noch jemand eingetreten war, der hinter Sonneck stand. Dieser lächelte in der That, als er erwiderte: „Ich bin durchaus nicht so tyrannisch angelegt, wie Sie voraussetzen, ich beanspruche nur den ersten Platz bei meiner Elsa. Doch nun gestatten Sie mir, Zenaide, Ihnen einen alten Bekannten zuzuführen, der Sie jetzt auch auf deutschem Boden begrüßen möchte. Sie wußten ja, daß ich ihn erwartete.“
Er sprach im unbefangensten Tone, aber sein Blick ruhte dabei forschend auf den beiden, die sich jetzt zum erstenmal wiedersahen seit jener Trennung in Luksor. Sie waren freilich beide auf dies Wiedersehen vorbereitet.
„Ah, Herr Ehrwald!“ Zenaide streckte mit nachlässiger Grazie die Hand aus. „Das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen hier in Kronsberg! Ich glaube, wir haben uns sehr lange nicht gesehen.“
Sie sah in der That aus, als entsänne sie sich dieser Zeit kaum mehr. Reinhart kam ihrem Gedächtnis zu Hilfe.
„Volle zehn Jahre, Mylady,“ erwiderte er, seine Lippen auf die dargereichte Hand drückend. „Ich hatte bei meiner öfteren Anwesenheit in Kairo leider nie das Glück, Sie dort wieder zu treffen.“
„Ich bin auch seit drei Jahren nicht dort gewesen. Und Sie haben sich also herbeigelassen, einmal wieder nach Europa zu kommen? Sie hielten es wohl für notwendig, sich leibhaftig inmitten der Civilisation zu zeigen, damit Sie für das Publikum nicht ganz und gar zur Sage werden, zum Märchenhelden aus ‚Tausend und Eine Nacht‘.“
„Sie scherzen, Mylady,“ sagte Ehrwald, den Spott mit ruhiger Artigkeit parierend.
„Nun, was die Zeitungen von Ihnen berichten, grenzt doch oft genug an das Märchenhafte, zumal der letzte Zug, den Sie allein gegen den rebellischen Wüstenstamm unternahmen. Herr Sonneck war ja wohl damals schon in Deutschland.“
„Ja, da war er so recht in seinem Elemente,“ nahm Lothar das Wort. „Keine Verhandlungen und Rücksichten wie sonst, wo man immer erst den gütlichen Weg versuchen muß! Da hieß es, nur vorwärtsgehen und niederwerfen, was sich nicht ergab. Das ist von jeher der Gegensatz zwischen uns beiden gewesen. Ich war immer nur der Forscher, der Entdecker, der die Kämpfe und Gefahren beim Vorwärtsbringen als eine harte Notwendigkeit ansah. Reinhart ist der Eroberer, der alles mit stürmender Hand nehmen möchte und dem das auch meistenteils glückt. Ob es nun gegen feindliche Stämme geht, gegen die Elemente oder die Schrecken der Wüsten und Urwälder, das gilt ihm gleich, wenn er nur kämpfen und siegen kann. Wie oft habe ich ihm den Zügel anlegen müssen und wie ungeduldig hat er das stets ertragen!“
„Aber doch nur im Anfange,“ warf Reinhart ein. „An Deiner Seite habe ich bald genug Ruhe und Besonnenheit gelernt.“
„Mußten Sie das wirklich erst lernen, Herr Ehrwald?“ fragte Zenaide. „Ich glaube, Sie waren immer sehr – besonnen, sobald Sie nur wollten.“
„Sobald ich mußte, Mylady. Es giebt Fälle, wo die Besonnenheit zur Pflicht wird.“
Die Augen der beiden begegneten sich und ruhten einige Sekunden lang ineinander. Sie dachten wohl beide an die Stunde, in der sie sich zum letztenmal gesehen hatten, in den Tempelhallen von Luksor, wo das geisterhafte Licht des Mondes hinflutete über die alte Opferstätte und die steinernen Riesenbilder niederblickten auf die beiden jungen Menschenkinder, die damals voneinander gingen. Der eine hinaus in die Wüste, in die glühende Tropenwelt, die andere wenige Monate später in die kalten Nebel des Nordens! Eine endlose Ferne hatte sich zwischen sie gelegt und jetzt saßen sie sich wieder gegenüber, so nahe und so fremd!
Sonneck mochte wohl die geheime Bedeutung der letzten Worte ahnen, denn er lenkte rasch ab und sprach von anderen Dingen. Das Gespräch wurde allgemein, doch Lady Marwood beherrschte es vollständig. Sie sprühte jetzt wieder von Feuer und Leben und riß die beiden Herren zu der gleichen Lebhaftigkeit fort. Sie schilderte das Leben in Rom, wo sie den Winter zugebracht und, wie es schien, in der Gesellschaft den Ton angegeben hatte; sie spottete über die Verbannung in Schnee und Eis, zu der man sie verurteilte, und über die biederen Kronsberger, die sich bei jeder Gelegenheit auf ihren Weltkurort beriefen und dabei so unendlich spießbürgerlich seien. Sie neckte Elsa wegen ihrer Schweigsamkeit und erklärte lachend, sie werde das „Trappistengesetz“ von Burgheim ein für allemal durchbrechen. Das ging wie in atemloser Hast von einem Gegenstande zum andern, streifte jeden und hielt keinen einzigen fest: ihr Geplauder blitzte nur so von übermütigem Spott und geistreichen Bemerkungen.
Endlich brach sie auf und reichte zum Abschiede Sonneck die Hand. „Nun aber lasse ich keine Entschuldigung mehr gelten. Professor Helmreich ist außer Gefahr, wie ich höre, jetzt verlange ich den versprochenen Besuch.“
„Wir kommen morgen,“ versicherte Lothar, sie lächelte und wandte sich zu Reinhart.
„Und Sie, Herr Ehrwald? Werde ich das Vergnügen haben, auch Sie bei mir zu sehen?“
Er verneigte sich mit vollendeter Artigkeit.
„Sie haben nur zu befehlen, Mylady. Ich werde es als eine Gunst betrachten, wenn Sie mir erlauben, Ihnen meine Aufwartung zu machen.“
„Also auf Wiedersehen, meine Herren!“ Lady Marwood neigte das Haupt gegen beide und ging dann, von Elsa geleitet. Draußen in der Flurhalle aber blieb sie stehen und sah mit einem seltsam dunklen Blick auf die geschlossene Thür des Wohnzimmers.
„Noch ganz der alte!“ sagte sie halblaut. „So ritterlich und so eisig, trotz all’ des Feuers, das da zu flammen scheint. Wie findest Du diesen Ehrwald eigentlich, Elsa? Gefällt er Dir?“
„Nein!“ Das Wort kam ohne jedes Zögern, aber mit so herber Entschiedenheit von den Lippen des jungen Mädchens, daß Zenaide sie betroffen ansah.
„Sieh, wie energisch! Da blitzte endlich wieder etwas auf von meiner kleinen Elsa. Aber nimm Dich in acht, Kind, das wird den ersten Streit mit Deinem Verlobten geben, er vergöttert seinen Freund.“
[263] Elsa blieb die Antwort schuldig, ihre Augen hingen an der schönen Frau, die ihr mit jeder Minute rätselhafter wurde. Sie hatte sich vorhin fast gar nicht an der Unterhaltung beteiligt, aber mit immer größerem Erstaunen zugehört. War das noch dieselbe Frau, die vor einer Viertelstunde neben ihr gesessen hatte, aus deren Innern es hervorbrach wie ein Aufschrei der tiefsten Qual und Verzweiflung und die nun so übermütig lachte und spottete? War denn diese Zenaide ein Doppelwesen? Sie lachte auch jetzt und brach mitten darin ab, um beide Hände gegen die Brust zu pressen, als fehlte ihr auf einmal der Atem. Dabei wurde ihr Gesicht totenbleich und sie lehnte sich wie halb ohnmächtig gegen die Wand.
„Um Gotteswillen – was ist das?“ rief Elsa erschrocken, indem sie beide Arme um die Wankende legte.
„Nichts, nichts!“ murmelte Zenaide. „Aengstige Dich nicht – es geht vorüber!“
Ihr Haupt sank auf die Schulter des jungen Mädchens und ein heißes, halbersticktes Schluchzen rang sich aus ihrer Brust hervor. Elsa fragte nicht und rief nicht um Hilfe, sie fühlte instinktmäßig, daß man da drinnen nichts ahnen durfte von diesem Zufall.
Er dauerte freilich nur wenige Minuten, dann richtete sich Zenaide auf und versuchte zu lächeln, aber ihre Lippen zuckten, als sie abgebrochen sagte: „Ein nervöser Anfall, nichts weiter – ich habe wieder zuviel gesprochen, mich zu sehr erregt – der Hofrat hat mich ja gewarnt davor. Sage den beiden Herren nichts davon, ich bitte Dich darum – und nun leb’ wohl, wir sehen uns ja morgen wieder!“
Das junge Mädchen fühlte noch einen heißen Kuß, dann riß sich Lady Marwood los und eilte, jede fernere Begleitung abwehrend, davon. Hassan stand bereits da und öffnete seiner Herrin den Wagenschlag; sie winkte noch einen Gruß zurück, dann brauste das Gefährt davon und die gläuzende Erscheinung war verschwunden, so schnell und blitzähnlich wie sie gekommen war.
Eine halbe Stunde später schritten die beiden Herren durch den Garten. Sie waren in lebhaftem Gespräche, aber zwischen Ehrwalds Brauen stand eine tiefe Falte und in seiner Stimme klang eine unverkennbare Gereiztheit, als er sagte: „Gieb Dir doch keine Mühe, Lothar, das abzuleugnen! Ich werde nun einmal nicht zu Gnaden angenommen bei Deiner Braut, ich dächte, das hättest Du so gut gesehen wie ich.“
Die Bemerkung mußte wohl Grund haben, denn Sonnecks Antwort verriet einige Verlegenheit.
„Elsa ist eben eine spröde, eigenartige Natur, die langsam gewonnen sein will. Ueberdies hat sie nie mit Menschen verkehrt, da ist es doch am Ende natürlich, daß sie sich scheu und zurückhaltend zeigt.“
„Ob es gerade Scheu ist, was mir Fräulein von Bernried zeigte? Ich habe es für Abneigung gehalten und das sollte mich eigentlich nicht überraschen. Sie duldete ja schon als Kind von mir nicht die geringste Liebkosung, während sie die Deinigen ruhig hinnahm, und als ich das erzwingen wollte, strafte mich die kleine Hand in sehr nachdrücklicher Weise. Ich habe auch jetzt nicht das Glück, ihr zu gefallen, aber Du wirst mir zugeben, daß die Schuld diesmal nicht auf meiner Seite liegt. Ich habe alle Register verbindlicher Artigkeit gezogen, allein umsonst.“
„Und das hast Du verwöhnter Herr natürlich sehr übelgenommen,“ scherzte Lothar. „Ich glaube freilich, es ist das erste Mal, daß Dir dergleichen passiert. Aber im Ernst, Reinhart, Du hast immer noch das trotzige, eigenwillige Kind von einst im Gedächtnis. Die Jahre und die Erziehung haben aus Elsa etwas ganz anderes gemacht, das solltest Du doch sehen.“
„Glaubst Du denn wirklich, daß solche Naturanlagen sich vernichten lassen?“ fragte Ehrwald mit leisem Spott. „Sie können unterdrückt, gebannt werden, vielleicht auf Jahre hinaus, und Deine Elsa steht auch unter solch einem Bann. Dies Starre, Leblose, das in ihrem ganzen Wesen liegt, ist geradezu unheimlich bei einem Mädchen von achtzehn Jahren. Hältst Du das etwa für ihre wirkliche Natur? Laß nur einmal den Sonnenschein hereinbrechen in ihr Leben, gieb ihr nur einmal Glück und Freiheit zu kosten – und sie wird erwachen!“
„Da hört man wieder den alten Phantasten!“ rief Sonneck lachend. „Du hast ja schon damals in Kairo mir und Zenaide vorgeschwärmt von Deinen Bergsagen mit ihren gebannten Zauberwesen, die auf Erlösung harren, und der erlösende Held warst natürlich immer Du in Deinen Jugendträumen. Damals hättest Du den Traum vielleicht verwirklichen können, aber Du wolltest ja den Schatz nicht heben, der Dir so verheißungsvoll entgegenblinkte, und da ist er versunken. Zenaide wäre als Dein Weib eine andere geworden, als sie jetzt ist. Bei meiner Elsa müßte ich nun freilich das erlösende Wort sprechen, aber sie ist Gott sei Dank kein solches Rätselwesen, da ist alles klar und hell.“
Sie standen jetzt am Gitterthor, um Abschied zu nehmen, denn Sonneck wollte bis zum Abend hier bleiben. Vor dem Ausgange lag Wotan, der heute übler Laune war, weil er fortwährend zurückgehalten und zur Ruhe verwiesen wurde. Er wußte, daß er sich still verhalten mußte, wenn die Hausbewohner oder Sonneck mit jemand verkehrten, bei dem Nahen Ehrwalds jedoch erhob er sich, ließ ein zorniges Knurren hören und machte Miene, auf ihn loszugehen.
„Was hast Du denn, Wotan?“ fragte Lothar unwillig. „An den Herrn hier mußt Du Dich gewöhnen, es ist ein Freund.“
Er legte wie zur Bestätigung die Hand auf Reinharts Schulter. Das genügte sonst stets, um Wotan zur ruhigen Duldung eines Fremden zu veranlassen, aber diesmal half es nichts. Der Hund erkannte zweifellos den nächtlichen Eindringling wieder, dessen Hand ihn mit so eisernem Griff an der Kehle gepackt und fast erwürgt hatte. Er murrte dumpf und drohend und ließ sich offenbar nur durch Sonnecks Nähe von einem Angriff abhalten. Ehrwald lachte, aber seine Stimme klang fast schneidend, als er sagte: „Laß doch dem Tier sein Vergnügen! Es folgt ja nur dem Beispiel seiner Herrin, sie zeigen nur beide, wie wenig willkommen ich in Burgheim bin. Leb’ wohl, Lothar!“
Er reichte ihm die Hand, und sich rasch umwendend, schlug er den Weg ein, der in das Thal hinabführte.
Im Hochgebirge hatte der Frühling nun endlich seinen Einzug gehalten. Er war spät gekommen, nun kam er aber auch in seiner ganzen Herrlichkeit. Die Alpenmatten waren wie übersät mit goldenen Himmelsschlüsseln und tiefblauem Enzian, die Wälder standen in voller Lenzespracht, auf allen Höhen, an allen Felswänden grünte und blühte es, und von den Gletschern und Schneefeldern stürzten die Bäche, befreit von den eisigen Fesseln des Winters, mit brausendem Ungestüm zu Thal.
Einige Stunden oberhalb Burgheim lag auf weiter grüner Matte ein einsamer Hof, ein altes, wetterfestes Haus, mit steinbeschwertem Dache, dessen Besitzer eine kleine Bergwirtschaft eingerichtet hatten. Der Ort suchte allerdings an Schönheit seinesgleichen in der ganzen Umgegend. Tief unten lag das Kronsberger Thal, mit der Stadt und der alten Feste, ringsum standen die Berge mit ihren schroffen Wänden und düsteren Schluchten, und darüber hinaus hoben sich die Hochgipfel mit ihren schneegekrönten Häuptern.
Es war ein Blick in die Alpenwelt, der es an Großartigkeit mit den berühmtesten Aussichtspunkten aufnehmen konnte. Dennoch wurde der Ort nicht allzuhäufig besucht. Der Aufstieg war steil und beschwerlich und die Bewirtung sehr einfach. Das war nichts für die verwöhnte Badegesellschaft von Kronsberg, die ihre Ausflüge meist nur zu Wagen oder zu Pferde unternahm und dabei keine der gewohnten Bequemlichkeiten entbehren wollte.
Sonneck hatte im vorigen Sommer auf einer seiner Streifereien den Ort entdeckt und ihn jetzt wieder in Begleitung seiner Braut und seines Freundes aufgesucht. Sie waren am frühen Morgen aufgebrochen und wollten noch vor Abend zurück sein, Helmreichs wegen, der die Teilnahme seiner Enkelin an dem Ausfluge überhaupt nur sehr ungern zugelassen hatte. Am Nachmittage brach jedoch ein heftiges Gewitter aus, das mehrere Stunden anhielt und den an sich schon beschwerlichen Abstieg geradezu gefährlich machte. Es war nicht ratsam, den Weg in der Dunkelheit und in Begleitung einer Dame zurückzulegen. So entschloß man sich denn, oben zu bleiben und mit der sehr bescheidenen Unterkunft bis zum nächsten Morgen vorlieb zu nehmen. Professor Helmreich wußte seine Enkelin ja im Schutze der beiden Herren und erwartete sie gewiß heute abend nicht mehr.
Es war noch in der ersten Morgenfrühe und im Hause regte sich noch nichts, als Elsa aus der Thür trat. Ringsum lagerte dichter Nebel und über die Matte jagten feuchte Dunstwolken hin, das junge Mädchen kannte jedoch die Wetterzeichen hinreichend, um zu wissen, daß gerade dieser dicht verhüllte Nebelmorgen einen Sonnentag verhieß. Sie wandte sich der mächtigen alten
[264][265] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [266] Tanne zu, die einige hundert Schritte weit am Abhang stand, mit sturmzerzaustem Wipfel, aber mit frisch grünenden Aesten.
Von dort hatte man den vollen Ausblick über das Thal und die ganze Umgebung.
Elsa hatte sich auf der kunstlos gezimmerten Bank niedergelassen. Sie war in einen dunklen Regenmantel gehüllt, hatte aber auf den kurzen Weg den Hut nicht mitgenommen. Den Kopf an den Stamm des Baumes gelehnt, blickte sie hinaus in das Nebelwogen, das die ganze Landschaft noch in dichte Schleier hüllte.
Seit vier Wochen war sie Sonnecks Verlobte, allein die junge Braut blickte noch immer so kühl und ernst aus den blauen Augen wie sonst und der herbe Zug um die Lippen war nicht gewichen. Es hatte sich ja freilich auch wenig genug geändert in ihrem Leben, nur daß der Großvater sie nicht mehr so rücksichtslos behandelte und mit seinen Launen quälte, weil ihr Lothar schützend zur Seite stand. Aber dieser war doch immer nur auf Stunden in Burgheim und mußte den äußerst reizbaren Kranken schonen, der keinen Widerspruch vertrug. Sonneck hatte längst eingesehen, daß jetzt, wo ihm noch nicht die Autorität des Gatten zu Gebote stand, jedes tiefere Eingreifen nur eine Reihe von peinlichen und nutzlosen Kämpfen mit dem Professor heraufbeschwören würde, aber er hatte es erreicht, daß die Vermählung schon für Anfang Juli festgesetzt war.
Vermählung! Hochzeit! Der Gedanke, der jede Braut mit heimlicher Glückseligkeit durchschauert, hatte für Elsa kaum eine andere Bedeutung als der Eintritt in einen neuen Kreis von Pflichten. Sie blickte noch immer mit scheuer Bewunderung zu ihrem künftigen Gatten auf, konnte es noch immer nicht fassen, daß der Mann, der durch seine kühnen Forschungsreisen sich Weltruhm errungen, den selbst der ewig grollende, mit der ganzen Welt zerfallene Großvater „Einen von den Besten!“ nannte, gerade sie gewählt hatte, die in ihrer Jugend, in ihrer vollsten Unbekanntschaft mit dem Leben ihm so gar nicht ebenbürtig war. Er freilich sah mit froher Zuversicht in die Zukunft. Was er suchte, war ein stilles häusliches Glück, fernab von der Welt, in deren Kampf und Treiben er so lange gestanden! Jetzt wollte er ausruhen davon an der Seite seines jungen Weibes, im Frieden seines Hauses, und da konnte er keine bessere Gefährtin wählen als das ernste, schweigsame Mädchen, das, in vollster Einsamkeit aufgewachsen, die Welt und ein Leben voll Abwechslung gar nicht vermissen würde.
Noch wenige Wochen, dann war sie sein Weib – und dann ging auch Reinhart Ehrwald, der nur noch der Vermählung seines Freundes beiwohnen und dann nach Berlin reisen wollte! Elsa atmete unwillkürlich auf bei dem Gedanken – die Nähe dieses Mannes lag nun einmal auf ihr wie ein Schatten. Er hatte zwar nach jenem ersten Besuche, der so kühl verlief, keinen Versuch gemacht, ihr irgendwie näher zu treten. Lothars Bitten, selbst seine leisen Vorwürfe hatten es nicht erreicht, daß seine Braut die seltsame, fast beleidigende Zurückhaltung aufgab, die der stolze, empfindliche Ehrwald nur zu gut fühlte.
Es war das erste Mal, daß Elsa einem Wunsche ihres Verlobten widerstrebte, aber sie wehrte sich dabei halb unbewußt gegen die quälende Empfindung, die immer wieder aufwachte unter jenem Blick und jener Stimme, gegen die undeutlichen, verworrenen Bilder und Gestalten, welche sein Erscheinen in ihr wachgerufen, die nach Klarheit zu ringen schienen und doch nicht klar werden wollten. Sie waren nicht zur Ruhe gekommen seitdem und lasteten wie ein schwerer Traum auf ihr, den man fühlt und aus dem man doch nicht erwachen kann.
Der Nebel geriet jetzt in eine unruhig wallende Bewegung. Das öde gestaltlose Grau wurde lichter, es ballte sich zusammen in einzelnen Wolkenzügen und wie durch einen Schleier blickte einer der hohen eisumstarrten Gipfel hindurch, nur auf eine Minute, dann flossen Nebel und Wolken wieder darüber hin. Durch die tiefe Morgenstille klang das Tosen des Wildbachs, der, vom Gewitterregen geschwellt, dort drüben in der Schlucht niederstürzte. Man sah ihn nicht, denn die Schlucht war noch dicht verhüllt, aber sein Brausen klang fern und geheimnisvoll herüber.
„Guten Morgen, mein gnädiges Fräulein!“ sagte eine Stimme in unmittelbarer Nähe des jungen Mädchens. „Sie sind schon wach und im Freien? Ich glaubte, der Erste heute morgen zu sein.“
Elsa war leicht zusammengefahren beim Klang dieser Stimme; sie wandte sich um und entgegnete dann ruhig: „Ich wollte den Sonnenaufgang erwarten. Der Nebel fällt gewöhnlich um diese Jahreszeit, sobald die ersten Strahlen durchbrechen. – Schläft Lothar noch?“
„Er erwachte, als ich aufbrach, ich habe ihn aber zu einer längeren Morgenruhe bestimmt. Er soll sich ja noch schonen und der gestrige Aufstieg war schon genug für die Kräfte eines eben erst Genesenen. Der feuchte Nebelmorgen könnte ihm schädlich werden.“
„Das fürchtete ich auch, deshalb verriet ich nichts von meinem Wunsche, sondern ging allein.“
„Ich kam in der gleichen Absicht, der Nebel scheint in der That zu weichen – warten wir es ab!“ Er richtete die Augen forschend in die Höhe.
Elsa schien nicht gerade angenehm berührt von diesem Zusammentreffen. Sie erwiderte nichts, aber in ihrem Gesichte erschien wieder jener Ausdruck verhaltener Ablehnung, und das gerade reizte ihn, zu bleiben. Er machte keinen Versuch, die Unterhaltung fortzusetzen, er ging aber auch nicht, sondern lehnte sich mit verschränkten Armen an den Stamm des Baumes. Dabei senkte er den Blick mit gespanntem Ausdruck auf sie.
Wie konnte Lothar dies Mädchen nur für scheu und willenlos halten! Sah er denn nicht jenen Zug energischer Willenskraft, der sich einst schon in dem Kinde verriet und der jetzt wohl verschleiert, aber nicht verschwunden war? Und war es etwa Scheu gewesen, mit der das junge Mädchen einem Unbekannten standhielt, der um Mitternacht in ihren Garten eindrang, und ihm dann so verächtlich den Weg über die Mauer wies? Dem Verlobten, dem künftigen Gatten war es nicht gelungen, den Bann zu brechen, der wie ein eisiger Hauch über dem ganzen Wesen seiner jungen Braut lag. Sollte es deshalb unmöglich sein? Es kam auf die Probe an!
Elsa hatte sich wieder in ihre gewohnte Schweigsamkeit gehüllt, aber sie mußte wohl den Blick fühlen, der so unverwandt auf ihr ruhte, denn sie wandte jetzt den Kopf und sagte: „Ein solcher Nebelmorgen ist Ihnen wohl etwas sehr Ungewohntes?“
„Ungewohnt – ja, aber nicht unwillkommen,“ entgegnete Reinhart, der in vollen Zügen die feuchte Nebelluft einatmete. „Wie oft habe ich mich unter der glühenden afrikanischen Sonne gesehnt nach Sturm und Wolken, nach Eis und Schnee, gesehnt wie ein Verschmachtender nach dem frischen Trunke. Es gab Stunden, wo ich all die Palmenwälder mit ihrer ganzen tropischen Herrlichkeit hingegeben hätte für eine einzige schneebedeckte Tanne in ihrer herben Pracht!“
Das junge Mädchen streifte ihn mit einem halb verwunderten Blicke bei diesem Ausbruch leidenschaftlicher Empfindung.
„Lothar behauptet doch, Sie hätten das Heimweh nie gekannt.“
„Ja, das glaubt Lothar. Ich habe es auch geglaubt und habe es doch mit mir herumgetragen jahrelang. Das liegt im Blut wie ein schleichendes Fieber, man weiß es nur nicht oder will es nicht wissen, und dann plötzlich bricht es aus, mit wilder verzweifelter Sehnsucht, und quält und martert Tag und Nacht und reißt uns gewaltsam zurück zu den alten Stätten. Heimweh! Man sagt, es giebt Menschen, die daran sterben – ich begreife das. Haben Sie es nie gekannt?“
„Ich? Ich bin ja in Deutschland geboren.“
„Ich weiß, aber Sie haben es doch schon in den ersten Lebensjahren verlassen und Ihre ganze Kindheit in Egypten verlebt. Als Sie so ganz plötzlich in den kalten Norden versetzt wurden, haben Sie da nie Heimweh empfunden nach dem Sonnenlande?“
„Möglich! Ich weiß nichts mehr davon.“
Das klang wieder sehr kühl und abweisend, und doch war das Gesicht des jungen Mädchens nachdenklich und träumerisch geworden, während sie in die feuchten Dunstwolken schaute, die noch immer auf der Matte wallten und jetzt zu zerrinnen und zu zerfließen begannen. Sie hingen sich als schwere Tropfen an die Zweige der Tannen und sanken als leichter weißer Reif zu Boden. Auch die dichte Nebelwand, die dort über dem Thale stand, begann zu weichen. Langsam sank sie tiefer und tiefer, langsam tauchten die Bergeshäupter daraus empor, aber sie standen nicht mehr kalt und weiß im grauen Morgenlicht, es wob sich wie ein rosiger Hauch von Gipfel zu Gipfel – das aufdämmernde Morgenrot.
„Sie hatten damals noch keine Vorstellung von der Alpenwelt,“ hob Reinhart wieder an. „Ich erzählte Ihnen einmal von den hohen Bergen, die bis in den Himmel ragen, und auf deren Häuptern Eis und Schnee liegen, von den dunklen Wäldern, den stürzenden Wassern und den Stürmen, die über Berg und [267] Thal brausen. Das war in Luksor, unter den Palmen des Nils, das war in jener Stunde, wo uns die Fata Morgana erschien.“
„Fata Morgana?“ wiederholte das junge Mädchen leise und hob, wie einem geheimen Zwange folgend, die Augen zu dem Sprechenden empor. Das waren noch die großen blauen Kinderaugen und es dämmerte etwas darin wie erwachende Erinnerung. Ehrwald trat einen Schritt näher, er stand jetzt dicht an ihrer Seite und seine Stimme verschleierte sich, sie hatte einen seltsam weichen und doch leidenschaftlichen Klang, als er fortfuhr:
„Wir waren damals allein wie jetzt, über uns ragten die Palmen und um uns her lag das Schweigen der glühenden Mittagsstunde. Tief unten zogen die Fluten des Nils dahin, drüben am anderen Ufer standen die kahlen gelben Höhenzüge und in der Ferne schimmerte das Sandmeer der Wüste, und das alles flimmerte und brannte in den heißen sengenden Strahlen. Dort über dem Wüstensaum lagerte es wie eine Wolke von glühendem Dunst und da tauchte es empor, da entschleierte sich uns das Zauberreich der alten Wüstensage! Sie waren damals ein Kind, aber solch eine Stunde erlebt man nur einmal und die prägt sich auch der Erinnerung eines Kindes ein – Sie müssen sich besinnen!“
Das klang halb gebieterisch und halb in leidenschaftlicher Bitte. Elsa hörte zu, in atemlosem Lauschen, ihre Augen hingen wie gebannt an jenem heißen dunklen Blick, der den ihrigen festzuhalten schien, und als habe er wirklich die Macht, das längst Versunkene und Vergessene aus der Tiefe heraufzuzwingen, so dämmerte es langsam wieder auf, was das Kind einst geschaut hatte: die Glutwolke über der fernen Wüste, in der es leuchtete und zuckte wie von verborgenen Strahlen, in der die seltsamen Bilder auftauchten und zerflossen. Und es hob sich der Schleier von einer fremden, geheimnisvollen Welt, die hinter jenem glühenden Nebel lag.
Und das alles einte sich so seltsam mit der Wirklichkeit. Auch hier brandete ein weißes Nebelmeer in der Tiefe und seine Wogen schienen sich zu brechen an den Hochgipfeln, die jetzt aufflammten im Lichte der steigenden Sonne. Sie schwebte ohne Strahlen, wie ein roter glühender Ball in dem Gewölk, das den Osten umlagerte, und glutrot stieg auch der Morgen in das Thal nieder. Aus der wogenden, gärenden Nebelflut tauchte Bild an Bild empor, mächtige Felsenhäupter, mit schroffen Wänden und wilden Klüften, dunkle Wäldermassen und grüne Matten, und dazwischen blinkte der weiße Gischt der Wildbäche auf, die sich von der Höhe in das Thal niederstürzten.
Und an das Ohr des jungen Mädchens klang dieselbe Stimme wie damals unter den Palmen, im fernen Sonnenlande:
„Ich habe die Fata Morgana wohl seitdem öfter gesehen, wie die meisten sie erblicken, undeutlich, schleierhaft, ein bloßes Spiel der Wolken. So klar und leuchtend hat sie sich mir nur einmal entschleiert! Sie stand wie ein strahlendes, glückverheißendes Zeichen am Beginn meiner Laufbahn und wie eine Verheißung habe ich es mit mir hinausgenommen in das Leben. Sehen Sie, so dämmerte es auch damals hervor aus Glut und Nebel – will uns das Zeichen zum zweitenmal erscheinen?“
Tief unten im Thale wallten noch die weißen Schleier, schwebten hierhin und dorthin und zerflossen endlich in Duft und Licht. Jetzt tauchte das Schloß auf mit seinen Türmen und Zinnen, jetzt die alte Bergstadt mit ihren Mauern und Giebeln, aber das alles stand so seltsam fremdartig und unirdisch in dem glühenden Morgenlicht, als sei es losgelöst von seinem Boden, als sei es nur ein leuchtender Schemen, der zerrinnen mußte wie die roten Morgenwolken dort oben. Das war nicht mehr Kronsberg, das war eine Märchenstadt, von goldigem Duft umwoben, und zu ihren Füßen brandete es wie Meeresfluten, zu ihren Häupten ragten die Berge, deren Gipfel im schneeigen Glanz verschwammen. Da lag es fern in der Tiefe, nur dem Auge erreichbar, aber geisterhaft schön!
Das Gespräch auf der Matte war verstummt, wortlos standen die beiden nebeneinander. Elsa hatte sich erhoben; weit vorgebeugt, mit verhaltenem Atem blickte sie auf das Bild, das sich dort zu ihren Füßen entschleierte; aber in ihren Augen leuchtete es, als sei mit der Erinnerung auch ein Strahl des Sonnenlandes dort aufgegangen, und das Lächeln, das um die sonst so herb geschlossenen Lippen lag, hatte etwas von dem alten frohen Kinderlachen.
Da kam es endlich, das Erwachen! Reinhart sah es mit einer beinahe wilden Freude, jetzt wollte er den Bann brechen, um jeden Preis, er wollte das schöne trotzige Kind wiedersehen, das „böse, süße, kleine Ding“, das er damals in den Armen gehalten und geküßt hatte, als er das Osmarsche Haus verließ, um es nicht wieder zu betreten.
„Fata Morgana!“ sagte er, seine Stimme hatte noch immer jenen seltsam berückenden Klang, aber sie steigerte sich bis zur vollsten Leidenschaftlichkeit. „Sie kennen sie ja wohl auch, die alte Wüstensage von dem Wunderland, dem Lande voll Glanz und Licht, wo das Glück wohnt in unerreichbarer Ferne. Noch hat keines Sterblichen Fuß es je betreten und alle, die ihm nachjagten, sind verdorben, verschmachtet im glühenden Sande, im Todesschweigen jener furchtbaren Oede. Mich hat das nie geschreckt. Auch die lockende, dämonische Djinn der Wüste neigt sich zuletzt dem einen, der sie erreicht. Ich würde mich nicht bedenken, Leben und Heil einzusetzen – könnte ich es nur einmal in meine Arme schließen, das große, das grenzenlose Glück, von dem ich so oft geträumt – und dann vergehen!“
Das war wieder der alte stürmische Reinhart, der da glaubte, er könnte mit seinem trotzigen Wagemut die ganze Welt erobern, für den es keine Schranken, keine Fesseln gab. So hatte er damals unter den Palmen gestanden, als er der Fata Morgana sein jubelndes „Ich komme!“ zurief, und so stand er jetzt vor dem jungen Mädchen, das stumm, aber mit glühenden Wangen diesen phantastischen, diesen gefährlichen Träumereien lauschte.
Ein großes, ein grenzenloses Glück! Der Gedanke war noch nie in Elsas Leben getreten. In dem Dasein, das sie bisher geführt, war kein Raum dafür gewesen, und was ihr mit Lothars Werbung, mit seiner Liebe nahte, das war doch etwas anderes, etwas ganz anderes. Sie hatte nie dies leidenschaftliche Sehnen und Ringen gekannt, und doch verstand sie es in diesem Augenblick wie durch Offenbarung. Es war, als ob ein Echo antwortete in ihrer Brust.
„Sie wollten ihm ja damals nachjagen und es erreichen, das Wunderland,“ sagte sie leise. „O, ich weiß es noch!“
„Wirklich? Erinnern Sie sich daran?“ rief Reinhart aufflammend. „Ja, ich erzählte dem Kinde ein Märchen. Ich wollte die kleine Elsa vor mich nehmen auf das Roß und mit ihr hineinjagen in die Wüste, Tag und Nacht, ohne Rast und Ruhe, bis wir es erreichten, das Land der Fata Morgana. Das Kind hörte mir gläubig zu und jubelte auf dabei, und da hob ich es empor in meine Arme, hoch empor und küßte es!“
Es klang wie stürmisch ausbrechender Jubel in den Worten. War es dieser Ausbruch oder der heiße versengende Strahl, der aus den dunklen Augen blitzte – Elsa wich plötzlich zurück, als flüchtete sie vor einer Gefahr. Das sonnige Leuchten in ihren Zügen erlosch, und sich hoch aufrichtend, sagte sie kalt und ernst: „Das Kind ist jetzt die Braut Ihres Freundes – das haben Sie wohl vergessen, Herr Ehrwald.“
Er zuckte zusammen. Jawohl, er hatte alles vergessen in den letzten Minuten, alles, sogar den Freund und dessen eben erst geknüpftes Band!
„Ich bitte um Verzeihung, mein gnädiges Fräulein,“ sagte er, sich rasch fassend. „Ich glaube nicht, daß es Lothar beleidigen kann, wenn ich seiner Braut von Erinnerungen spreche, die in ihrer frühesten Kinderzeit liegen.“
Elsa schwieg, es waren ja nicht die Worte, es war der Blick, der Ton gewesen, die sie mit so rätselhafter Angst durchschauerten. Noch verstand sie ihn nicht, es war nur die dunkle Ahnung von etwas Schwerem, Unheilvollem, das da drohte, sie floh instinktmäßig davor.
„Es ist wohl Zeit, daß ich gehe,“ sagte sie gepreßt. „Guten Morgen, Herr Ehrwald!“
Sie neigte leicht das Haupt und wandte sich dem Hause zu. Reinhart stand unbeweglich und sah ihr nach; sein dunkles Antlitz war fahl geworden bei der Erkenntnis, die wie ein Blitz mit blendender, betäubender Gewalt in seinem Innern aufgezuckt war. Sie hatte ihm den Abgrund gezeigt, an dem er stand – mit der Braut seines Freundes!
Das Morgenrot verblaßte und mit ihm schwand auch der goldige Duft, der ganze traumhafte Märchenschimmer. Dort in der Tiefe verschwebten die letzten Nebel, und mit der Sonne, die sich jetzt durch die Wolken kämpfte, erwachte überall das Leben. Hoch über den Bergesgipfeln kreiste ein Adlerpaar und im Thal schossen die Schwalben hin und her. Der Morgenwind, der über die Matte hinstrich, schüttelte die Zweige der Tanne und ein Regen [268] von Tropfen, die noch an den Aesten hingen, ergoß sich über den Mann, der da so einsam und düster am Stamm lehnte. Er fuhr auf und strich mit der Hand über die Stirn.
„Ja, es war Zeit!“ sagte er halblaut. „Und auch für mich ist es hohe Zeit – zum Erwachen.“
Er wandte sich zum Gehen, dabei glitt sein Blick noch einmal über die Landschaft und ein unendlich herbes Lächeln zuckte um seine Lippen.
„Da liegt’s! Und das ist kein Luftgebilde, das ist volle Wirklichkeit, aber sie behält doch recht, die alte Wüstensage. Unnahbar, unerreichbar! Und wer sie umfassen will, dem zerfließt sie in den Armen – die Fata Morgana!“
(Fortsetzung folgt.)
Nachdruck verboten.
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Moderne Steckbriefe.
Das „Signalement“ ist die Beschreibung einer Person zum Zwecke ihrer Wiedererkennung. Diese Beschreibung wird oft angewandt und kann in den verschiedensten Lebenslagen von größter Bedeutung sein. Für einen ehrlichen Bürger kann ein flüchtiges ungenaues Signalement die unangenehmsten Folgen haben. Er weiß nicht, daß er das Unglück hat, einem Verbrecher, auf den die Polizei fahndet, ähnlich zu sehen; ein Kriminalbeamter bemerkt dies und nimmt den Mann fest, der nun oft lange Zeit hinter Schloß und Riegel verbringen muß, bis seine Identität festgestellt wird. Auf Reisen ereignen sich solche mißliebige Verwechslungen am häufigsten, weil da zuverlässige Zeugen, welche die Person des unschuldig Verdächtigten festzustellen vermögen, am Orte der Verhaftung fehlen. Entschuldbar sind aber derartige Irrtümer, die von den Kriminalbeamten begangen werden, denn die Aehnlichkeit einzelner Menschen ist oft überraschend groß. Dabei sind die gewöhnlichen Signalements, die in den Steckbriefen erlassen werden, so allgemein gehalten, daß sie auf viele Personen passen können.
Diese Mangelhaftigkeit der Signalements und die damit verbundene Schwierigkeit in der bestimmten Wiedererkennung einer Person ist den Gewohnheitsverbrechern wohlbekannt, die falsche Namen annehmen und ihr Vorleben der Polizei und den Gerichten verheimlichen. Um diese Bande, welche die öffentliche Sicherheit am ärgsten bedroht, wirksam bekämpfen zu können, haben die Kriminalbeamten zu allen Zeiten nach zuverlässigen Mitteln zur Feststellung der Identität einer Person gesucht; aber lange blieben alle diese Bemühungen nur von einem geringen Erfolge begleitet. Vor dreißig Jahren stellte man die Photographie in den Dienst der Kriminalpolizei, man photographierte die Verbrecher und legte die sogenannten Verbrecheralbums an. Es wurde jedoch mit der Zeit schwierig, sich in diesen Bildergalerien verdächtiger Menschen zurechtzufinden. Während der letzten zehn Jahre hat die Pariser Polizei über 100 000 solcher Photographien gesammelt. Wie sollte es nun möglich sein, jedes einzelne dieser 100 000 Bilder mit jeder einzelnen der 100 Personen zu vergleichen, die täglich in Paris festgenommen werden! Und würde man dies wirklich bei einem besonders verdächtigen Uebelthäter versuchen, so würde die Nachforschung eine wochenlange anstrengende Thätigkeit erfordern, nicht zu gedenken der Fehler und Auslassungen, welche eine für das Auge so langweilige und ermüdende Arbeit mit sich bringen müßte. Die Photographie kann den Beamten in seinen Nachforschungen wohl unterstützen, aber sie ist kein Mittel, das eine sichere Wiedererkennung einer bestimmten Person gewährleistet. Man suchte darum nach anderen Merkmalen, die für einzelne Menschen besonders charakteristisch sein würden, und schlug vor, zu diesem Zwecke Abdrücke der Hautzeichnungen der inneren Fläche des Daumens anzufertigen, da diese Zeichnungen bei jedem einzelnen Menschen andere Figuren ergeben. Diese Methode, die in China gebräuchlich sein soll, ist jedoch völlig unpraktisch, weil die Zeichnungen sich nicht klassifizieren lassen und das Vergleichen derselben eine unverhältnismäßige Mühe und Arbeit bereiten würde. Zweckmäßiger sind schon die Vorschläge, die Farbe und Zeichnung der Regenbogenhaut des Auges wiederzugeben oder von den Ohren eine Photographie oder einen Gipsabguß herzustellen, da diese beiden Körperteile ihre Form von der Kindheit bis ins höchste Alter fast gar nicht verändern. Aber für sich allein konnten auch diese Kennzeichnungssysteme keinen Anspruch auf völlige Sicherheit erheben.
Die vollendetste Lösung der Aufgabe lieferte erst Alphons Bertillon in Paris; seine Methode, die unter dem Namen das „anthropometrische Signalement“ bekannt wurde, wird seit etwa einem Jahrzehnt in Paris und anderen Städten angewandt und hat in der That ausgezeichnete Erfolge aufzuweisen. Die Wiedererkennung der einmal festgenommenen Uebelthäter geschieht mit solcher untrüglichen Sicherheit, daß sie zu einem wahren Schrecken der Gewohnheitsverbrecher geworden ist. In seinem Werke „Das anthropometrische Signalement“[1] führt Bertillon folgendes Beispiel an: „Die Kategorie der internationalen Taschendiebe hat sich seit Einrichtung unseres Dienstes in Paris jährlich vermindert. Diese Industrieritter haben die Gewohnheit, jedesmal ihren Namen zu wechseln, um der Strafe des Rückfalles auszuweichen. Seitdem
[269][270] sie sich nun überzeugt haben, daß dieser Kniff nichts mehr nützt, entschließen sie sich zur Auswanderung; ihre Anzahl betrug 65 im Jahre 1885, fiel 1886 auf 52, dann nacheinander auf 34, 19 und im Jahre 1890 auf 14. Wenn man bedenkt, wie viel der Bevölkerung einer Stadt die Erhaltung dieser Leute kostet, welche rein nur vom Diebstahl leben, so kommt man zum Schluß, daß die auf diesen Titel allein erzielte Ersparnis die Kosten der anthropometrischen Einrichtung deckt.“
Wie nun schon der Name andeutet, beruht die Methode Bertillons in der Hauptsache auf der Messung verschiedener Teile des menschlichen Körpers. Die Person, deren Signalement aufgenommen werden soll, wird einer Reihe von Messungen unterworfen, und zwar in der Art und Weise, wie dies auf unseren Abbildungen dargestellt ist. Der Beamte stellt zunächst in der bekannten Weise die Körperlänge fest, alsdann bestimmt er vermittelst eines an der Wand angebrachten Apparates die Spannweite der ausgestreckten Arme. Hierauf wird an einem dritten Apparat die Sitzhöhe des Betreffenden ermittelt. Mit Hilfe eines Zirkels mißt dann der Beamte die Kopflänge und die Kopfbreite. Ein anderer Maßstab wird rasch in die Hand genommen und mit ihm die Länge und Breite des rechten Ohres festgestellt. Den Schluß bilden Messungen an Gliedern. Man bestimmt die Länge des linken Fußes, des Mittelfingers, des kleinen Fingers und des Vorderarmes. Selbstverständlich werden diese Messungen stets in gleicher Weise, mit gleich gearbeiteten Apparaten, nach genau gegebenen Vorschriften vollzogen und nehmen bei einiger Uebung nur wenige Minuten Zeit in Anspruch.
Der hohe Wert dieser Messungen für das Signalement ist leicht zu erklären. Es giebt wohl viele Menschen, die dieselbe Körperlänge besitzen, aber nur bei einem Bruchteil derselben wird auch die Spannweite dieselben Maße aufweisen und ein noch geringerer Bruchteil wird zugleich dieselbe Sitzhöhe haben. Es giebt aber schwerlich auf der Erde zwei Menschen, bei denen die elf ermittelten Maße: 1. Körpergröße, 2. Spannweite, 3. Sitzhöhe, 4. Länge des Kopfes, 5. Breite des Kopfes, 6. Länge des rechten Ohres, 7. Breite des rechten Ohres, 8. Länge des linken Fußes, 9. Länge des linken Mittelfingers, 10. Länge des kleinen Fingers, 11. Länge des linken Vorderarmes, genau dieselben sein würden. Man hat Hunderttausende von Menschen in dieser Art gemessen, aber zwei gleiche noch nicht gefunden, und man wird sie schwerlich jemals finden, ebensowenig wie in der Natur zwei völlig einander gleiche Blätter vorhanden sind.
Auf Grund solcher Messungen wird die Behörde die Identität einer Person, die einmal festgenommen und gemessen wurde und deren Signalement aufbewahrt wird, jederzeit feststellen können. Umständlich erscheint nur das Auffinden eines Signalements unter den Tausenden, die im Laufe der Zeit auf einem Fahndungsbureau sich ansammeln; aber die sinnreiche Registratur beseitigt die Schwierigkeit. Bertillon giebt darüber in seinem Buche folgende Auskunft: Im Laufe der ersten zehn Jahre sind die anthropometrischen Messungen bei 120 000 Personen erhoben worden, die in jener Zeit die Pariser Gefängnisse bevölkert haben, und wurden auf Blättern von 146 mm Höhe und 142 mm Breite notiert, welche in kleinen offenen Schachteln aufgehoben werden. Die Grundzüge für die Registratur dieser enormen Anzahl Signalementskarten sind folgende:
Die Männer und Weiber sind voneinander getrennt; die letzteren, hier viel weniger zahlreich als die Männer, erreichen die Zahl 20 000. Von den 100 000 männlichen Signalements fallen noch etwa 10 000 jugendliche unter einundzwanzig Jahren weg, weil sie eine besondere Registratur notwendig machen.
Die noch verbleibenden 90 000 Signalements sind vorerst nach ihrer Kopflänge in drei Abteilungen geschieden:
1. Abteilung der kleinen Kopflängen, enthaltend etwa 30 000 Signalements,
2. Abteilung der mittleren Kopflängen, enthaltend gleichfalls etwa 30 000 Signalements,
3. Abteilung der großen Kopflängen, enthaltend dieselbe Zahl Signalementskarten.
Jede dieser drei großen Abteilungen wird nun auf Grund der Kopfbreite in drei Klassen geschieden und nun kommen auf die Unterabteilungen der kleinen, mittleren und großen Kopfbreiten je 10 000 Signalements. Diese Klassen werden auf Grund der Mittelfingerlängen wieder in drei Gruppen gesondert, von denen jede nur noch 3300 Signalements enthält. Auf Grund der weiteren Maße erfolgen neue Scheidungen, bis zuletzt Päckchen von je 60 Signalements erzielt werden. Diese werden zuletzt nach der Augenfarbe in Päckchen von je 12 Signalements zerlegt und diese Zettel sind unter sich nach der Länge des Ohres geordnet.
Nehmen wir nun an, wir hätten zu erforschen, ob eine festgenommene Person, die sich als gerichtlich unbeanstandet erklärt, schon vorher unter einem anderen Namen registriert worden ist! Hierzu werden wir uns an der Hand der sofort aufgenommenen anthropometrischen Signalements zuerst an die Abteilung wenden müssen, welche die Signalements ihrer Kopflänge enthält, dann die Unterabteilung ihrer Kopfbreite suchen und in gleicher Weise nacheinander zu den weiteren Unterabteilungen ihres Mittelfingermaßes, Fußmaßes und Vorderarmmaßes übergehen. So gelangen wir schrittweise zum letzten Paket, welches das von uns gesuchte Signalement enthalten muß, wenn, wohlverstanden, die verhaftete Person schon vorher bestraft und gemessen worden ist.
Selbstverständlich ist dieses System nur für erwachsene Personen, bei welchen sich die Größen der Körperteile nicht mehr oder nicht wesentlich verändern, anwendbar; als Grenze wird dabei das zwanzigste Lebensjahr angenommen. Vervollständigt wird noch das anthropometrische Signalement durch eine „Personenbeschreibung“, die gleichfalls nach bestimmten Regeln vorgenommen wird. Sehr wichtig sind in dieser Hinsicht die Feststellungen der Augenfarbe und der Ohrformen, auf die wir in einem besonderen Artikel zurückkommen werden. Auch etwaige besondere Kennzeichen, wie Narben, Leberflecken u. dergl., die jeder Mensch an sich hat, werden sorgfältig berücksichtigt, und alle diese Merkmale liefern in ihrer Gesamtheit ein so getreues Signalement der betreffenden Person, daß eine Verwechslung völlig ausgeschlossen und die Wiedererkennung gänzlich gesichert ist.
Das anthropometrische Signalement ist auch geeignet, nicht nur bei Bekämpfung der Gewohnheitsverbrecher, sondern auch in anderen Fällen Nutzen zu bringen. Von großem Wert würde eine weitere Verbreitung desselben für die Lebensversicherungsgesellschaften sein. Hofmann erzählt in seinem Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin folgenden Vorfall. Im April 1880 wurde im Walde bei Neusohl in Ungarn die verstümmelte Leiche eines Mannes gefunden, der dort ermordet worden war. Bei dem Ermordeten wurden Kleider und Notizen des Viehhändlers G. aus Z. gefunden und in der Leiche wurde die Person des abgängigen G. wiedererkannt. Auch G.s Frau hatte sofort die Leiche für die ihres Mannes erklärt. G. hatte bei zwei Pester Assekuranzgesellschaften sein Leben versichert, und zwar bei der einen mit 10 000 Gulden, bei der anderen mit 5000 Gulden, welche Summen nach seinem Ableben seiner Frau ausbezahlt werden sollten. Eine der Versicherungsgesellschaften leitete jedoch genauere Nachforschungen ein, und nun stellte es sich heraus, daß G. selbst noch am Leben war; er hatte im Walde bei Neusohl einen unbekannten Mann ermordet, demselben einen Teil seiner eigenen Kleider angezogen und auf den Namen G. lautende Notizen in dessen Tasche gesteckt, um die Behörden irrezuführen, augenscheinlich zu dem Zwecke, daß seiner Frau die erwähnten Lebensversicherungsprämien anstandslos ausbezahlt würden. Solche Verbrechen sind wiederholt vorgekommen, auch hat man Leichen fremder Personen untergeschoben, um Lebensversicherungsgesellschaften zu betrügen.
Würden nun die letzteren bei Aufnahme der Police stets ein anthropometrisches Signalement des Versicherten erheben lassen, so würde die Feststellung der Identität der Leichen ungemein erleichtert werden und kein Mensch würde mehr versuchen, Verbrechen wie die obengeschilderten zu begehen, da er im voraus wissen würde, daß er sein Ziel nicht erreichen könnte.
Sehr empfehlenswert würde auch die Einführung des anthropometrischen Signalements bei Pässen und anderen Legitimationspapieren sein. Ein Mißbrauch von seiten unberechtigter Personen, die solche Papiere zufällig auffinden oder stehlen, könnte nicht so leicht vorkommen, und der Unbescholtene könnte mühelos seine Person feststellen lassen, wenn er auf Grund äußerer Aehnlichkeit von einem fahndenden Kriminalbeamten mit einem Gauner verwechselt werden sollte.
[271]
Förderer der volkstümlichen Blumenpflege.
In einer Reihe deutscher, besonders thüringischer und rheinischer Städte besteht die schöne Sitte, daß alljährlich an die Schulkinder Topfpflanzen zur Pflege verteilt werden, um Sinn und Verständnis für die Blumenpflege bei den Kindern zu erwecken und ihnen für ihre freien Stunden eine nützliche und edle Beschäftigung zu überweisen. Diejenigen Kinder, deren Blumenstöcke am Ende des Sommer- oder Winterhalbjahrs am besten gepflegt und am weitesten entwickelt sich zeigen, erhalten Preise, die von den Gartenbauvereinen oder der Gemeindebehörde eigens dazu bewilligt worden sind.
So wurden z. B. in der Gartenstadt Erfurt, wo diese Einrichtung schon lange mit erfreulichem Erfolg besteht, im letzten Jahre über 3000 Topfpflanzen von Schülern und Schülerinnen gezüchtet und gepflegt, und bei der mit einer kleinen Feier verknüpften Preisverteilung konnte seitens der Preisrichter und sachverständigen Handelsgärtner den kleinen Blumenzüchtern das hohe Lob ausgestellt werden, daß fast alle Pflanzen zur schönsten Entwicklung gebracht waren. An die Knaben wurden 81, an die Mädchen 93 Preise ausgeteilt, und zwar in Form von allerlei nützlichen Gegenständen, die man für den zur Verfügung stehenden Betrag von 120 Mark angeschafft hatte.
In allen Städten, wo man diese Einrichtung getroffen hat, ist man mit dem Erfolg zufrieden, und es wäre zu wünschen, daß man noch in recht vielen anderen Orten diese lobenswerte Sitte nachahmte, deren Verbreitung die „Gartenlaube“ bereits in früheren Jahren (vergl. u. a. Jahrg. 1889, Nr. 2 und Jahrg. 1894, Nr. 39) wiederholt warm befürwortet hat.
Wer ist nun der Vater dieses sinnigen und pädagogisch so wichtigen Gedankens, einen Blumenstock zum Pflegling und Erzieher des Kindes zu machen?
Es ist ein Mann, der bei den Lesern der früheren Bände der „Gartenlaube“ (vergl. Jahrg. 1857 bis 1864) durch eine Reihe anmutig geschriebener naturwissenschaftlicher Aufsätze und durch seine anziehenden „Bilder vom Thüringer Wald“ noch in gutem Andenken steht, Dr. Berthold Sigismund.
In der „Cornelia“, Zeitschrift für häusliche Erziehung, herausgegeben von Dr. K. Pilz in Leipzig, erschien im Jahre 1863 von B. Sigismund ein Aufsatz, betitelt „Die pädagogische Benutzung eines Blumenstöckchens“. Die schlichte Ueberschrift läßt kaum die Fülle der anregenden, sinnigen und verständigen Gedanken vermuten, welche der kurze, nur fünf Seiten umfassende Artikel enthält. Man lese nur die erste Seite und man wird erkennen, daß der Verfasser ein echter Pädagog und Kinderfreund, ein Kenner der Kindesseele ist, man wird gefesselt und gewonnen sein von seiner herzigen und überzeugenden Redeführung.
„Die höchste Freude,“ heißt es in der Einleitung, „fühlen fast alle Kinder, wenn sie etwas Lebendiges geschenkt erhalten. Ein Lämmchen ist dem Mädchen, ein Hund dem Knaben lieber als das prunkendste Staatskleid, als die bilderreichste Naturgeschichte oder Robinsonade. Es ist schon viel wert, wenn das Geschenk den Schein des Lebens trägt, wenn das hölzerne Lämmchen quiekt, wenn die Puppe die Augenlider regt. Im Notfall dichtet dem ganz leblosen Dinge die Phantasie Leben an und verwandelt mit ihrem Zauberstabe einen Stock in ein Pferd, einen Stiefelknecht in ein Schaf.“ – Nun sind aber, wenigstens in den größeren Städten, die modernen Haushalte so beschränkt, daß sie für ein lebendiges Spielzeug wenig oder keinen Raum haben, daher muß man, um das Verlangen der Kinder nach „etwas Lebendigem“ dennoch zu befriedigen, nach einem Ersatz greifen, nach einem Wesen, das dem Kinde nicht bloß ein Kamerad, sondern ihm auch ein Lehrer und Bildner sein kann, und das ist eben nach B. Sigismunds Ueberzeugung und Empfehlung ein Blumenstöckchen.
Wie er die Pflege einer Zimmerblume, einer Topfpflanze zu einer lieben Pflicht des Kindes machen will, wie das Wachsen, Blühen und Gedeihen der dankbaren Blumen zu einer Quelle reinster und lohnendster Freude und ersprießlicher Thätigkeit wird – das in jenem Aufsatz nachzulesen, lohnt sich für jeden Pädagogen wie für jedes Elternpaar, dem eine gehaltvolle Kindererziehung am Herzen liegt.
Aehnliche Gedanken wie in der „Cornelia“ hatte B. Sigismund schon in den „Deutschen Blättern“, Beigabe zur „Gartenlaube“, herausgegeben von B. Auerbach, Jahrgang 1863, entwickelt, unter der Ueberschrift „Vögel und Blumen, eine Frühlingsmahnung“. In diesem kleinen gar warm geschriebenen Aufsatz beklagt der Verfasser den namentlich unter Knaben vielverbreiteten Brauch, die freiheitsliebenden Vögel ohne genügende Beachtung ihrer Lebensbedürfnisse in trauriger Einzelhaft zu halten, und zeigt, wie man ohne Eingriff in die Freiheit der Tiere als Naturfreund sich fast kostenlos edle Freuden schaffen kann.
Wie leicht lassen sich Singvögel zur Ansiedlung im Garten, im Hof und am Hause bewegen, wenn man ihnen durch Futterstreuen und Darbieten von Nistkästchen Gastfreundschaft entgegenbringt! „Ein Brettersims unter dem Dache lockt Schwalben zum Nestbau an; in einem Brutkästchen oder in einem Topfe, der auf Bäumen, Büschen oder an Hausgiebeln angebracht, siedeln sich Stare, Meisen, Rotschwänzchen an. Was sind das für nützliche und liebenswerte Mietsleute! Sie reinigen den Garten von Ungeziefer und gewähren hundertfache, gefällige Unterhaltung. Der zarte Gesang des Rotschwänzchens, der beim ersten Morgengrauen ertönt, das geschwätzige Plaudern der Schwalben, die sich über ihre Eier, über die Erziehung der Jungen, über die bevorstehende Reise besprechen, die drolligen Faxen des Stares, wenn er die Thüre seiner Mietwohnung ausmißt, sie gegen Spatzen verteidigt, oder sein possierliches Lied losläßt, die eifrige Geschäftigkeit eines die Jungen ätzenden Meisenpärchens, der herrliche Gesang der im Stachelbeerbusch nistenden Grasmücke – das sind Freuden, die einem Freunde der Tierwelt, wenn nicht vollen Ersatz, so doch reiche Entschädigung für den Zimmergesang bieten.“
Nun ist es freilich nicht allen Menschen möglich, den traulichen Vögeln im Bereich des Hauses ein gastliches Heim zu bereiten. Wie wäre das den Bewohnern der Städte möglich, die „im engen Pferche von Gasse und Gäßchen“ hausen? Doch auch hier weiß B. Sigismund wieder Rat und wir kennen schon, was er meint:
„Für solche Naturfreunde, denen eine derartige Gastfreundschaft ganz unmöglich ist, giebt es ein anderes Ersatzmittel, das nicht bloß ihnen zu empfehlen ist. Sie müssen Pflanzenpfleger werden. Blumenzüchter sollte jeder Stubenmensch sein, vor allem der Einsame. Es ist eine köstliche Erquickung, eine kleine blühende und grünende Welt in und vor dem Fenster zu haben. Wie manches vereinsamte Herz hat sich an einem Resedenpflänzchen, einem Myrtensträuchlein, einem Epheustock gelabt und getröstet! Und doch giebt es noch so viele Stuben, welche keinen dieser angenehmen Zimmergenossen beherbergen. Bei manchem rührt das von Unempfänglichkeit her, das mag sein; aber bei vielen auch von mangelnder Kenntnis und dem Unvermögen, sich Blütenpflanzen zu verschaffen. Ich meine nun, man müsse zur Blumenliebhaberei anregen und das geschehe am besten, wenn den Lehrern an Volksschulen Samen und Stecklinge von schön blühenden Topfpflanzen zur Verteilung an ihre Zöglinge gegeben würden. Die Kinder, welche alle die Pflanzenpflege lieben, würden vom Lehrer Anleitung zur Behandlung dieser Gewächse erhalten und bald die edle Liebhaberei in Hütten und Dachstuben verbreiten. Und die Liebe zur Blumenpflege würde gewiß wirksam beitragen, manchen, der sonst ein Vogelsklavenhalter geworden wäre, zu einer harmlosen Neigung zu bekehren.“
Soweit Sigismunds „Mahnung“.
Und wer war Berthold Sigismund? Die „Gartenlaube“ hat bereits im Jahre 1865 (Nr. 34) den Lebenslauf ihres treuen Mitarbeiters ausführlich geschildert und auch ein Bildnis Sigismunds gebracht.[2] Geboren in Stadtilm im Schwarzburgschen am 19. März 1819, verlebte er seine Jugendzeit zumeist in dem schönen Blankenburg. Hier in der herrlichen Gegend lebte das empfängliche Gemüt des Knaben inmitten der Romantik von Felsgründen und Waldesschluchten auf; bei Wellen- und Waldesrauschen keimten in ihm die ersten dichterischen Regungen. Und bald zog die heimatliche Natur auch den Verstand des reiferen Knaben an. Wie reich ist gerade jener Teil Thüringens an Tier- und Pflanzenformen, an Fels- und Steinarten! Auf Schritt und Tritt wurde da sein sinniger Geist zur Naturbeobachtung, zum Selbstforschen angeregt. So bildete ihn die Heimat von Anfang an zum Dichter und zum Naturfreunde aus. Nachdem Sigismund in Rudolstadt das Gymnasium besucht hatte, studierte er Medizin zu Jena, Leipzig und Würzburg und ließ sich dann in Blankenburg als praktischer Arzt nieder. Bald jedoch vertauschte er seinen ärztlichen Beruf mit dem Amt eines Jugenderziehers, das er schon in seinen Studienjahren bei längerem Aufenthalt in der Schweiz und in England geübt hatte.
Als Lehrer für Naturwissenschaften und Englisch am Gymnasium und an der Realschule zu Rudolstadt wirkend, starb Professor B. Sigismund 1864 im frühen Alter von 45 Jahren nach einer reichgesegneten pädagogischen und schriftstellerischen Thätigkeit. Ein Denkmal, das ihm in Rudolstadt von seinen dankbaren Mitbürgern errichtet wurde, ehrt sein Gedächtnis. Ein bleibenderes Denkmal hat er sich aber durch seine Schriften gesetzt, von denen neben seinen gediegenen Aufsätzen in „Auerbachs Volkskalender“ (1860–65) besonders seine Bücher „Kind und Welt“ (Braunschweig, Vieweg, 1856) und „Die Familie als Schule der Natur“ (Leipzig, Keil, 1857) zu nennen sind. Daneben sollen seine schönen und eigenartigen Gedichte, die „Lieder eines fahrenden Schülers“ (Hainburg, Hoffmann u. Campe, 1853) und die „Asklepias, Bilder aus dem Leben eines Landarztes“ (Leipzig, Wöller, 1857) nicht vergessen sein.
Vierzehn Jahre nach Berthold Sigismunds Tode wurde sein Gedanke durch einen andern Freund und Mitarbeiter der „Gartenlaube“ praktisch verwirklicht.
Im Jahre 1878 gab Wilhelm Schwab, damals Vorsitzender des Gartenbauvereins in Darmstadt, die Anregung, die Blumenpflege in Arbeiterfamilien der Großstädte einzuführen, indem er deren hohen die Sittlichkeit hebenden Wert betonte. In Darmstadt fand zunächst die Verteilung von Pflanzen an Arbeiter und die Prämiierung der bestgepflegten Blumen statt. Im Jahre 1889 machte der Gartenbauverein zu Bonn a. Rh. einen weiteren Schritt, indem er im Sinne Sigismunds die Blumenpflege durch Schulkinder in den Familien verschiedener Stände einführte. Viele andere Städte folgten dem Beispiel.
Allen denjenigen, die den sinnigen Gedanken in noch weitere Kreise tragen und einen Blumenstock zum Erzieher der Jugend machen möchten, sei ein vor kurzem erschienenes Büchlein „Die Blumenpflege in Schule und Haus“ von Bernhard Cronberger (Frankfurt a. M., H. Bechhold) empfohlen. Sie finden darin erprobte praktische Winke, wie man solche Pflanzenverteilungen und -Prämiierungen einrichten, und welche Belehrungen über Blumenpflege man den Kindern geben soll. M.
- ↑ Von diesem Werk ist kürzlich im Verlage von A. Siebert in Bern und Leipzig eine deutsche Ausgabe erschienen, die Dr. v. Sury, Professor der gerichtlichen Medizin an der Universität Basel, besorgt hat.
- ↑ Vergl. auch das Büchlein „Berthold Sigismund. Sein Leben und Schaffen als Arzt, Pädagog, Dichter und Volksschriftsteller“ von Dr. Karl Markscheffel (Jena 1894, F. Maukes Verlag).
[272]
Ein Buchstabe!
An hellen Sommertagen sieht man von dem breiten, auf einem Pfahlgerüst ruhenden Holzstege aus, der in dem Ostseebade Cranz fünf Minuten weit über den Seestrand geführt ist, fern im Nordosten die weißen Sanddünen der Kurischen Nehrung aufleuchten.
Keinen trostlos öderen und weltverlasseneren Strich Landes kann es geben als den dort zwischen den beiden großen Wassern – Sand, Sand und Sand, bis zweihundert Fuß hoch aufgeschüttet, im Sturme wandelnd, alles Leben begrabend!
Ich schlenderte mit dem alten Regierungsrat v. D. da über den Steg, als im Sonnenschein einige der entfernten Kuppen blitzten. Er hatte eben Hans Hoffmanns grandiose Erzählung „Der Landsturm“ gelesen, die in dem schrecklichen Winter von Anno Zwölf zwischen jenen Sanddünen spielt, und konnte nicht müde werden, die wahrhaft dichterische Schilderung dieser grausig erhabenen Einsamkeit in immer wechselnden Stimmungsbildern von erstaunlicher Anschaulichkeit zu rühmen. „Der hat’s gesehen,“ sagte er. Er erinnerte dann auch daran, daß ein anderer Hoffmann – Theodor Amadeus, der Verfasser des „Kater Murr“ und der „Kreisleriana“ – auch eine in seiner Jugend vielgelesene, jetzt vergessene Novelle, „Das Majorat“, geschrieben habe, in welcher das Schloß den Namen Rossitten führe. Eine Dorfschaft Rossitten liege dort hinter den Sandbergen auf der Haffseite, „übrigens auf dem einzigen etwas ausgedehnteren Plan fruchtbareren Landes,“ fügte er hinzu. „Die Geologen behaupten, diese sich noch heute weit vorbuchtende Oase habe einst Zusammenhang mit dem gegenüberliegenden Festlande gehabt, sei dann durch die Seefluten als Insel abgesprengt und endlich durch zwei Sandbänder nördlich und südlich gleichsam festgebunden worden. Von alters her befanden sich da Wohnstätten. Der Deutsche Orden baute ein festes Amtshaus und eine Kirche; zum Sprengel gehören die elenden Fischerdörfer auf und ab, deren Insassen aus meilenweiter Entfernung Sonntags sich zum Gottesdienst einzufinden pflegen, oft eine stürmische Bootsfahrt, im Winter eine Schlittenreise über das gefrorene Haff nicht scheuend.“
Nachdem er dann eine Weile nachdenklich neben mir hergegangen war, schien ihm etwas sehr Vergnügliches einzufallen, denn er fing halblaut zu lachen an. „Ich könnte Ihnen auch eine Geschichte von Rossitten erzählen,“ nahm er dann wieder das Wort, „in der ich einmal – es sind viele Jahre darüber vergangen – selbst mitgespielt habe. Sie hat den Vorzug, von Anfang bis zu Ende wahr zu sein, wenn das in Ihren Augen ein Vorzug ist.“
Ich bat natürlich darum.
„Eine Geschichte ist’s eigentlich kaum zu nennen,“ schränkte er sich sogleich ein, „nur eine kuriose Begebenheit, die aber so recht charakteristisch für diesen ganz einzigen Erdenwinkel ist.
Der Tourist findet in Rossitten des Bemerkenswerten genug, um sich ein paar Stunden oder auch einen halben Tag recht gut zu unterhalten. Zur Sommerfrische möchte schon nicht leicht jemand den Ort wählen. Gar Sommer und Winter dort zu hausen, so fast gänzlich abgesperrt von der Welt, dazu muß schon, wenn man nicht zu den eingeborenen Bauern und Fischern gehört, die zwingendste Notwendigkeit nötigen. So eine zwingendste Notwendigkeit bestand aber für zwei Männer, von denen der eine studiert, der andere wenigstens eine gute Bürgerschule durchgemacht hatte: für den Geistlichen und für den königlichen Rentmeister, der zugleich Polizeiverwalter war. Sie repräsentierten in diesem Orte so ungefähr Staat und Kirche.
Ich will keine Namen nennen. Der Rentmeister war einmal Feldwebel gewesen und hier eingesetzt worden, wo ein Mann des unbedingten Vertrauens gefordert wurde. Er hatte diesen Posten nun schon länger als zwanzig Jahre zur Zufriedenheit der Regierung und auch seiner Untergebenen verwaltet und sich in den Gedanken hineingelebt, in ihm auch sein Dasein zu beschließen. Er war kein großer Geist, aber ein starker Charakter und von unerschütterlicher Rechtlichkeit, starrköpfig und gutmütig zugleich und an selbständiges Handeln nun schon so gewöhnt, daß er sich in einer engeren Bureaustellung neben andern Subalternbeamten und unter steter Kontrolle eines sich seiner Würde bewußten Vorstehers kaum noch denken konnte. Hier in Rossitten war er den Leuten mehr als irgend ein Herr Regierungsrat in Königsberg oder selbst als der Oberpräsident, und sie dachten sich eigentlich den König gleich über ihm, an den aber nicht so leicht zu appellieren war. Er that auch gewiß keinem wissentlich unrecht und verlangte nur, daß nicht viel räsonniert würde, da er ja doch immer nur anordnete, was dem Ganzen nützlich und nach seiner langen Erfahrung den besonderen Verhältnissen der Ortschaft gemäß war. Man hütete sich in Königsberg auch, ihm dreinzureden, weil man’s ja unmöglich besser verstehen konnte, und stärkte so das Bewußtsein seiner diktatorischen Unfehlbarkeit. Es ist wahr, er verfuhr mitunter etwas despotisch, aber immer aus aufrichtigem Wohlwollen; so strenge er sein konnte, wenn die Ordnung aufrecht zu halten war, so freundlich nahm er sich auch der armen Insassen mit Rat und That an, wenn sie in Not waren, und verstand gelegentlich durch die Finger zu sehen, wenn der Buchstabe des Gesetzes nicht beachtet wurde.
Mit einem Wort: er regierte patriarchalisch, und das ließ man sich gern gefallen, schon weil die weite Reise vom Beschwerdeführen abschreckte. Er wußte mit den Leuten in ihrer Sprache zu reden, und das will nicht nur gelernt sein, sondern fordert besondere Anlagen. Von Geburt war er ein Litauer. Da er nun meinte, daß er sich nirgends in der Welt in amtlicher Stellung so wohl fühlen könnte als in Rossitten, auch durch einen Orden ausgezeichnet wurde, der ihm in seinem Wirkungskreise womöglich noch mehr Ansehen gab, so schaute er längst schon nicht mehr ehrgeizig über seinen Amtsbezirk hinaus und setzte seinen besonderen Stolz darein, da, wo er war, für unentbehrlich zu gelten. Alles in allem: das Muster eines Beamten vom alten preußischen Schlage, zu dem vor mehr als hundert Jahren der zweite König den sicheren Grund gelegt hat.
Anderer Art war der Herr Pfarrer, ein noch jüngerer Mann. Aus Neigung mochte er schwerlich hierher auf die Kurische Nehrung gegangen sein, zumal das geistliche Amt ihm und seiner Familie knapp genug den notwendigen Unterhalt schaffte. Er besaß keine geringe theologische Gelehrsamkeit, war sogar Licentiat und philosophischer Doktor und arbeitete emsig für Fachblätter. Später sind von ihm auch selbständige theologische Streitschriften ausgegangen, die seinen Namen in weiteren Kreisen bekannt machten. Er gehörte also nicht recht unter die Bauern und hatte die Pfarre auch wohl nur angenommen, weil sie ihm angeboten wurde und die Möglichkeit gab, seine langjährige Braut heimzuführen. Nun predigte er aber schon so manchen Sommer und Winter in der Kirche zu Rossitten, taufte, segnete ein und begrub, immer seiner Gemeinde nicht ganz verständlich, wenn er sich selbst ein Genüge leistete, aber um so mehr von ihr als ein großes geistliches Licht angestaunt und in Ehren gehalten. Er merkte auch bald, daß er keine Gefahr lief, zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn er seine Predigten in nicht zu langen Zwischenräumen wiederholte, und fand es dann überflüssig, den Vorrat zu vermehren, benutzte aber um so eifriger die freie Zeit zu gelehrten Bibelstudien und pries in voller Gottergebenheit sein Schicksal, an diesen einsamen Ort verschlagen zu sein, der ihm seinen Liebhabereien nachzugehen gestattete. Uebrigens scheute er keine Fahrt durch den glühenden Dünensand und keine stürmische Winterreise, wenn sein geistlicher Beistand erfordert wurde. Die Nehrunger gaben zu, daß sie einen tapfern Pfarrer hätten, auf den jederzeit Verlaß sei. Von seinen Sporteln ließ er sich freilich ungern etwas abbetteln; er war aber auch selbst arm und ging meist wie ein Bauer gekleidet.
Der Rentmeister und der Pfarrer waren gute Freunde. Nicht daß sie in ihren Lebensgewohnheiten und Lebensanschauungen durchaus übereinstimmten. Der Rentmeister war ein Praktiker, der Pfarrer ein Theoretiker. Der ehemalige Unteroffizier und Feldwebel hatte sich früher einschränken müssen und führte dagegen hier, bei aller Bescheidenheit der Haushaltung, ein gewisses Wohlleben. Seine treffliche, aber wenig gebildete Frau spielte ihre eigene Köchin, hatte ihre Kuh im Stall und auf der Weide, ihr Schweinchen im Koben, ihre Hühner auf dem Hof und ihre Gänse und Enten auf dem Teich. Der Rentmeister fühlte sich „herrschaftlich“, während er sonst zu den Honoratioren nicht gehört hätte. So erschien er sich denn als der wohlhabende Mann, während der Pfarrer, wenn er seine Lage mit der vieler seiner Amtsbrüder verglich, immer genötigt war, sich ein wenig unter seinen Stand zu ducken, seiner kränklichen Frau auch keine schweren Haus- und Wirtschaftslasten
[273][274] aufbürden konnte. Freilich war er der studierte Mann, las die alten Klassiker in der Ursprache und hatte die neueren in seiner Bibliothek stehen, durfte aber auf der anderen Seite kein sonderliches Interesse für diese Dinge voraussetzen und mußte daher im Umgang ein paar Stufen hinuntersteigen, um den ungefähr gleichen Boden zu gewinnen. Der Rentmeister wieder bildete sich etwas auf seinen gesunden Menschenverstand ein und war sehr geneigt, ihn überhaupt höher zu schätzen als alle Buchgelehrsamkeit, mit der man doch nicht ‚den Hund vom Ofen locke‘. Ganz ohne Litteraturkenntnis war aber auch er nicht und liebte es, gelegentlich im Gespräch ein Citat anzubringen, das nur öfters den Fehler hatte, nicht gut zu stimmen. Auch brauchte er gern Fremdwörter, mitunter mit größtem Ernst in sehr sonderbarer Bedeutung, worüber der geistliche Herr innerlich lachen mußte. Aber es gab doch auch viel Vereinendes: ihre persönliche Tüchtigkeit, ihre gut preußische Gesinnung, politische Uebereinstimmung im großen Ganzen, Gutmütigkeit und Menschenfreundlichkeit, die jeder auf seinem Gebiet und mit seinen besonderen Mitteln bewährte. Sie tranken beide gern „gemütlich“ ein Glas Bier oder ein Glas Grog, was nur innerhalb ihrer vier Wände geschehen konnte, waren mit den Frauen, die sich gut vertrugen, gerade die erforderlichen Vier zu einer Bostonpartie, spielten auch Domino und Puff und rauchten einen kräftigen Tabak, den sie gemeinsam bezogen, aus langen Pfeifen. Und was sie ganz besonders innig und dauernd vereinigte: jeder hatte einen anderen Thätigkeitsbezirk und keiner konnte dem anderen in die Quere kommen, während bei geselligen Zusammenkünften jeder etwas dem andern Neues mitzuteilen vermochte. Staat und Kirche verkehrten in bestem Einvernehmen, und an eine Trennung dachte gewiß keiner von ihnen. –
Große Verwunderung war daher bei der Regierung, als eines Tages beim Präsidenten ein Brief aus Rossitten einlief, in welchem der Rentmeister so bestimmt seine Versetzung beantragte, daß an der Ernstlichkeit seines Willens gar nicht gezweifelt werden konnte. Es war auch der Grund dieses dringenden Wunsches angegeben. Er hätte sich mit dem Herrn Pfarrer veruneinigt; und da sie beide in Rossitten doch die einzigen Menschen wären, die gesellschaftlich miteinander verkehren könnten, er sich jetzt aber das Pfarrhaus verschlossen habe und in dieser Düneneinsamkeit doch unmöglich als ein Einsiedler leben könne, so bleibe ihm nichts übrig, als eine andere Heimstätte zu suchen. Jedes Amt sei ihm genehm, nur bitte er, recht schnell von der Qual befreit zu werden, dem Herrn Pfarrer in Rossitten aus dem Wege gehen zu müssen.
Das war doch wundersam! Der Rentmeister, der mit der Kurischen Nehrung so fest zusammengewachsen schien, daß man ihn nach seinen Wünschen zeitlebens versorgt geglaubt hatte, wollte plötzlich fort? Ein dort ganz unersetzlicher, höchst pflichttreuer Beamter! Und aus welchem Grunde? Mit dem Pfarrer hatte er sich überworfen, der doch, wie man wußte, sein bester Freund gewesen war! Und gleich so arg, daß er meinte, mit ihm nicht mehr dieselbe Luft atmen zu können! Das war ja ganz unglaublich! Der Präsident berief den Rat, der das Decernat in Angelegenheiten der Kurischen Nehrung hatte, mich selbst nämlich, und schickte mich erst einmal nach dem Konsistorium, dort Rücksprache zu nehmen, was denn in aller Welt geschehen sein könnte, und wie etwa auf den geistlichen Herrn einzuwirken sei, damit der anscheinend tief gekränkte Rentmeister sein Versetzungsgesuch zurücknehme.
Der Präsident des Konsistoriums ließ sich den Fall vortragen, nahm dann aber statt aller Antwort einen Brief amtlichen Formats von seinem Tisch auf und reichte ihn mir lächelnd zu. Ich mußte hell auflachen, als ich ihn gelesen hatte. Der Pfarrer von Rossitten bat darin in Ausdrücken, die seine ganz verzweifelte Stimmung kennzeichneten, um seine schleunigste Versetzung in irgend eine andere Stelle. Er sei bereit, jede anzunehmen, und bitte, über ihn zu verfügen. Nur in Rossitten könne er nicht länger bleiben. In Rossitten seien ‚er und der Rentmeister die beiden einzigen Menschen, die gesellschaftlich miteinander verkehren könnten‘. Sie wären vorher die besten Freunde gewesen. Nun aber sei etwas zwischen sie getreten, was jeden außeramtlichen Verkehr zur Unmöglichkeit mache und selbst den amtlichen aufs äußerste erschwere. Er sei weit entfernt, über den hochgeachteten und in seiner Weise hochverdienten Mann Klage erheben zu wollen, wünsche aber, ihm aus dem Wege zu gehen, möge damit für ihn selbst auch die schwerste Einbuße verbunden sein. Er habe zum Anachoreten keine Anlage und glaube, Gott nicht in rechter Weise dienen zu können, wenn er sich in Feindschaft mit dem einzigen Menschen wisse, auf dessen Umgang er in dieser Einöde angewiesen sei.
Welche sonderbare Uebereinstimmung auch in den Motiven! Einzelne Sätze erschienen fast wie abgeschrieben.
Nun kamen die beiden Präsidenten schnell überein, ich solle nach Rossitten geschickt werden, den bösen Fall an Ort und Stelle zu untersuchen und festzustellen, an wem eigentlich die Schuld dieses Zerwürfnisses liege.
So geschah es denn auch. Da ergab sich denn folgendes:
Die früheren Freunde waren wirklich gegeneinander ganz so erbittert, wie das ihre Schreiben annehmen ließen, aber zugleich auch sehr verwundert, zu erfahren, daß sie zu gleicher Zeit auf den Gedanken gekommen, ihre Abberufung zu verlangen.
Ich verhandelte mit jedem einzeln. Und da zeigte denn der Rentmeister ein verlegenes Gesicht und meinte, die Sache selbst sei ja eigentlich nicht der Rede wert und hätte unter anderen Umständen auch wirklich keine Bedeutung. Die kränkende Absicht habe aber doch zu deutlich zu Tage gelegen und er dürfe sich so etwas in seiner amtlichen Stellung nicht gefallen lassen. Er wisse ja, daß der Herr Doktor ihm in gelehrten Dingen weit über sei; deshalb hätte er ihn aber doch nicht als einen ungebildeten Menschen hinstellen und verspotten dürfen. Und das habe er gethan. Der Pfarrer wieder leitete seine Verteidigung ebenso ein, meinte dann jedoch, der gute Rentmeister sei gar zu empfindlich und vertrage auch nicht die sanfteste Zurechtweisung. Ein geringfügiger Anlaß habe nun beiden die Ueberzeugung verschaffen müssen, daß zwischen ihnen ein Spalt klaffe, der nur mit trügerischen Decken so lange verborgen gehalten sei. Er fügte hinzu, daß er freilich mit christlicher Liebe alle ihm in maßloser Weise zugefügte Unbill verzeihen könne und wolle, daß es ihm aber nicht länger möglich sei, mit einem im Grunde so ungebildeten Mann auf gleichem Fuß zu verkehren. Ein Ausgleich sei schon deshalb undenkbar, weil der Rentmeister ihn hasse und nie die kleinste, wenn auch wohlverdiente Demütigung verzeihen werde.
Nach und nach kam’s denn heraus. Der Rentmeister hatte vor einiger Zeit an das Pfarramt ein Schreiben gerichtet, in welchem er aufs höflichste zu bedenken gab, ob es nicht möglich sei, von der Kanzel herab gewissen Unordnungen der Kirchgänger zu steuern, die gewöhnt wären, nach dem Gottesdienst sofort im „Kruge“ vorzusprechen und dort nach überreichlich genossenen Spirituosen tumultuarisch zu hausen, was bei den ruhigen Einwohnern Aergernis errege. Er habe letzten Sonntag Ordnung zu schaffen gesucht, sei aber mit seiner Autorität nicht durchgedrungen.
Dieses unglückliche Wörtchen „Autorität“ hatte den Zwist entzündet. Wie war das möglich gewesen?
Der Rentmeister hatte es mit einem h in der Mitte – Authorität – geschrieben, und der Pfarrer, der selbstverständlich den Unfug in der Schenke nicht billigen konnte, aber vielleicht den Vorwurf herausfühlte, daß seine Predigt sich nicht wirksam genug erweise, hatte in seiner eigentlich ganz überflüssigen Antwort zwar ein heiliges Donnerwetter für den nächsten Sonntag versprochen, am Schluß jedoch angefügt, übrigens erlaube er sich ganz ergebenst zu bemerken, daß das Wort Autorität ohne h geschrieben werde.
Diese Rüge war dem biederen Rentmeister in die Krone gefahren. So harmlos die Bemerkung scheinen konnte, er witterte böse Absicht. Sie gehörte wirklich nicht in das amtliche Schreiben und mochte trotz der gegenteiligen Versicherung des Pfarrers die Bedeutung eines sanften Stachels gehabt haben sollen.
Jedenfalls setzte sich der Rentmeister, statt eine freundschaftliche Aussprache herbeizuführen, sofort mit rotem Kopf hin und schrieb eine Entgegnung, in der es etwas spöttisch hieß, er danke für gütige Belehrung, glaube aber im besten Recht zu sein, auch künftig und bis an sein hoffentlich seliges Ende Authorität zu schreiben, da er das Wort so wohl hundertmal im Amtsblatt gelesen habe, welches ihm eine bessere Authorität sei als der Herr Pfarrer, dessen Gelehrsamkeit er sonst durchaus in Ehren halten wolle.
Der Pfarrer schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Eine solche Verstocktheit! Noch glaubte er aber nur an einen augenblicklichen Aerger des guten Freundes, der rasch verfliegen werde, wenn dieser sich erst überzeuge, daß er wirklich im Unrecht sei. Er antwortete daher in sehr ruhiger Schreibweise, der Herr Rentmeister sei doch wohl in einem allerdings leicht verzeihlichen Irrtum besangen. Das Wort Autorität stamme aus dem Lateinischen: autoritas oder auch auctoritas, was Würde, Ansehen bedeute. Sollte [275] es zu dem griechischen αύτός Beziehung haben, so sei zu bemerken, daß auch dieses mit einem τ, nicht ϑ geschrieben werde. Uebrigens müsse der Herr Rentmeister sich wohl einer Nummer des Amtsblattes erinnern, welcher ein Druckfehler untergelaufen sei; mehr als eine Nummer werde er ihm wohl als Beweisstelle nicht vorlegen können.
Nun hatte der gute Rentmeister natürlich nichts Eiligeres zu thun, als einen Band des Amtsblattes nach dem andern zu durchblättern, um das böse Wort aufzufinden. Daß er sich geirrt haben könne, war ihm undenkbar. Nachdem er bei diesem Suchen die ganze Nacht zugebracht und doch erst einen kleinen Teil des Materials, leider ohne Erfolg, bewältigt hatte, meinte er, jedenfalls nicht vierundzwanzig Stunden ohne eine gepfefferte Antwort hingehen lassen zu dürfen. Er schrieb also, es sei ihm sehr gleichgültig, ob das Wort aus dem Lateinischen, Griechischen oder Hebräischen herstamme, da es jedenfalls jetzt gut preußisch sei. Dem Herrn Doktor müsse er anheimgeben, künftig an ihn deutsch zu schreiben. Das eine Krixelkraxel könne er gar nicht lesen, von einem großen D sei aber überhaupt keine Rede, sondern von einem th, und das wolle er sich denn auch ausgebeten haben.
Den Pfarrer, Licentiaten und Doktor erfaßte ein tiefes Mitleid über die Unwissenheit und schier unglaubliche Befangenheit des alten Freundes. Er hielt es für Christenpflicht, den sonst so braven Mann aufzuklären, damit er sich nicht auch anderwärts blamiere, und so belehrte er ihn denn in einem langen, freilich etwas schulmeisterlich gehaltenen Schreiben, daß es sich um griechische Buchstaben handle, das tau (τ) unserm t, das theta (ϑ) unserm th gleichwertig sei, autos (αύτός) selbst heiße und mit einem tau geschrieben werde. Er würde sich wohl auch inzwischen überzeugt haben, daß das preußische Amtsblatt ganz unschuldig sei, da der in Aussicht gestellte Nachweis bisher nicht erbracht worden sei. Er möge also einfach seinen Irrtum eingestehen; man könne ja doch ein Ehrenmann und trefflicher Beamter sein, auch wenn man keine alte Sprache verstehe und in der Rechtschreibung einmal einen Schnitzer mache.
Dieser Brief nun, offenbar gut gemeint, aber der verärgerten Stimmung des Rentmeisters schlecht angepaßt, schlug dem Faß den Boden aus. Die Entgegnung war sackbohnengrob. Der Pfarrer möge seine Schulweisheit auskramen, wo er sonst Lust habe, solle sich aber nicht einbilden, es mit einem Schuljungen zu thun zu haben! Sein geistlicher Hochmut sei unleidlich. Uebrigens habe ein preußischer Beamter mehr zu thun als die alten Bände des Amtsblattes durchzusehen. Das überlasse er dem Herrn Pfarrer, der ja überflüssige Zeit genug habe, aber sie besser auf die Ausarbeitung seiner Kanzelvorträge als auf die Korrektur amtlicher Erlasse verwenden könne. Seine Predigten wisse Schreiber dieses schon auswendig und werde sich deshalb künftig des Kirchenbesuchs enthalten. Daß er das Pfarrhaus nie wieder betrete, verstehe sich ohnedies von selbst!
Darüber war nun wieder der Pfarrer beleidigt. Es folgte nur noch eine knappe Anzeige, daß er mit dem Abbruch aller gesellschaftlichen Beziehungen unter bewandten Umständen ganz einverstanden sei, und damit brach auch der Briefwechsel ab.
Die ergrimmten Gegner versuchten nun eine Weile, sich ohne einander zu behelfen. Mit welchem Erfolge, das hatte sich gezeigt.
Vielleicht hätten sie ein freundschaftliches Zusammengehen nicht so schwer vermißt, wenn sie wirklich Feinde gewesen wären. Aber von einer eigentlich feindlichen Gesinnung war auf keiner Seite die Rede. Im Gegenteil bewahrten sie sich beide ein starkes Gefühl von Hochachtung und bedauerten lebhaft, daß das gute Verhältnis durch so ein Nichts gestört worden sei, das sich freilich nicht wieder beseitigen ließe. Sie kamen mit ihren Gedanken gar nicht los von dem Unfall und verrannten sich immer tiefer in die Vorstellung, daß zwischen ihnen eine Scheidewand errichtet sei, die nicht mehr niedergeworfen werden könne. Natürlich standen die Frauen auf der Seite ihrer Männer und sprachen gleichfalls kein Wort mehr miteinander. Selbst die Kinder wurden in Mitleidenschaft gezogen, verhöhnten sich gegenseitig und führten im Dorf Prügelscenen auf, die bei den Bauern allerhand übles Gerede veranlaßten. Es ging so nicht weiter. Zu gleicher Zeit war man im Rentamt und im Pfarrhause zu dieser Erkenntnis gekommen, und da waren nun die beiden Schreiben abgegangen.
Ich gab mir natürlich die aufrichtigste Mühe, eine Versöhnung zustande zu bringen, mußte aber bald ihre Vergeblichkeit einsehen. Freilich reichten der Rentmeister und Pfarrer einander die Hand und versprachen amtlich, wieder in friedlicher Weise zu verkehren und der Gemeinde kein Aergernis zu geben. Aber damit war doch, wie ich sehr gut wußte, nur wenig gewonnen. Es half auch nichts, daß der Pfarrer anerkannte, nicht ganz schicklich in einer amtlichen Korrespondenz einen Schriftfehler berichtigt zu haben, und der Rentmeister zugab, in seiner berechtigten Empfindlichkeit seine Ausdrücke nicht vorsichtig genug gewählt zu haben. Das lag nur so auf der Oberfläche und deckte die Grube nicht haltbar zu. Der Rentmeister fühlte, daß nun für alle Zeit gleichsam ein Strich gezogen sei, bis zu dem er Arm in Arm mit dem Pfarrer gehen könnte, und der Raum davor dünkte ihn plötzlich eng und schmal; jenseits aber lag ein Irrgarten, in dem sein Auge sich nicht zurechtfand, der Herr Doktor sich aber ganz frei bewegte. Der Rentmeister wußte jetzt, daß es nur eine thörichte Einbildung gewesen sei, als ständen sie auf gleichem Fuße. Er hatte sich eine Blöße gegeben, und wenn er nun den Pfarrer sah, merkte er eine Kälte um das Herz herum, als ob da eine Stelle nackt sei und sich nicht verhüllen ließe. Je freundlicher der Pfarrer ihn anredete, um so eisiger wurde der Hauch, der sein Herz erkältete. Er schrumpfte zusammen und kam sich selbst so klein vor, daß er meinte, von den Bauern und Fischern nicht mehr gehörig beachtet werden zu können. Mit dem lumpigen h, das ihm der Pfarrer genommen, hatte er nach seinem Gefühl die ganze Autorität verloren, auf die er so stolz gewesen war. Nein, sagte er, ich kann mit ihm zusammen hier in Rossitten nicht leben. Denken Sie nur – mit einem, der nicht mehr ist als ich, und der doch einmal so über mich hinweggesehen hat und immer wieder es thun wird … Nein, wahrhaftig, es geht nicht!
Ich überzeugte mich, daß dieser Schwäche Rechnung getragen werden müßte. Ich berichtete den beiden Präsidenten, und diese waren menschenfreundlich genug, so schnell als möglich Wandel zu schaffen. Der Rentmeister war an dieser Stelle schwer zu ersetzen, auch mußte sein Selbstgefühl wieder gehoben werden. Er behauptete also den Platz. Der Geistliche aber wurde, gleichsam zur Entschädigung dafür, in eine viel bessere Pfarre versetzt, die ihm, so hieß es, schon lange zugedacht gewesen war. –
Als dann der Pfarrer abzog, war freilich niemand rühriger, ihm etwas Liebes zu erweisen, als der brave Rentmeister. Er hatte dafür gesorgt, daß am letzten Sonntage, an dem dieser die Kanzel der Rossittener Kirche bestieg, von den Bauern weither Tannen- und Laubäste angefahren waren, mit denen nun die Thüren und der Orgelchor und die Kanzelwand von den Weibern und Kindern geschmückt wurden. Mit den Gemeindevorstehern ging er ins Pfarrhaus und überreichte dem gerührten Seelsorger eine große Bibel in Prachteinband zum Andenken, wozu auf seine Anregung die ganze Bauernschaft gesteuert hatte.
Zur Reise wurden ihm die Wagen kostenfrei gestellt, und die vier Pferde vor jedem waren mit Birkenreis und bunten Schleifen ausgeputzt. Und als dann der Pfarrer aufgestiegen war, reichte der Rentmeister ihm die Hand zum Abschied und sagte: ‚Rossitten verliert Sie ungern, aber es ist besser so für Sie, und wir gönnen es Ihnen von Herzen. Reversieren Sie uns eine gute Erinnerung!‘ – Der Pfarrer verbiß das Lachen, beugte sich hinab, küßte ihm rechts und links die Wange und rief: ‚Ihr seid doch ein ganzer Kerl, Rentmeister! Gott mag es Euch lohnen!‘
Dicht an seinem Ohr fügte er hinzu: ‚Und daß ich es Euch nur jetzt beim Abschied verrate – ich habe in einigen amtlichen Schreiben aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts wirklich das h gefunden, und es waren sehr angesehene und gelehrte Männer, die es zum Ueberfluß und sozusagen unrichtig gebrauchten. Aber es steht gedruckt da, und wenn es Euch etwa darum zu thun ist, Euch in Königsberg zu rechtfertigen oder gegen meinen Amtsnachfolger gerüstet zu sein, will ich Euch gern den Nachweis geben.‘
‚So, so!‘ schmunzelte der Rentmeister, dem dieses Anerkenntnis sehr wohl that. ‚Also Ihr räumt nun doch gewissermaßen ein, daß ich recht hatte.‘ Es war gut, daß die Pferde anzogen und die Gemeinde ein volltöniges Hurra nachsendete, sonst wäre am Ende der Streit um das h von neuem losgebrochen.
Der Rentmeister stand seinem schwierigen Amt bis ins hohe Alter ehrenvoll vor.
Den Herrn Pfarrer habe ich erst viele Jahre nach jenem Vorfall wieder gesehen. Er hatte zu dieser Zeit ein Vollmondsgesicht und ein Bäuchlein. Die Versetzung war ihm gut bekommen. Schmunzelnd erzählte er mir, was sich beim Abschied ereignet hatte.“
[276]
Blätter und Blüten
Die neue Heilstätte für unbemittelte Lungenkranke zu Ruppertshain im Taunus. (Mit Abbildung.) Der Frankfurter Rekonvalescentenverein darf sich rühmen, dem in jetziger Zeit so lebhaft befürworteten Gedanken der Errichtung von Heilstätten für unbemittelte Lungenkranke, sog. Volksheilstätten, schon vor etlichen Jahren praktisch näher getreten zu sein. Wie in Nr. 11 des Jahrgangs 1893 die „Gartenlaube“ berichtete, hat der Verein, durchdrungen von der Notwendigkeit einer besseren Fürsorge für arme Tuberkulöse, im August 1892 zu Falkenstein i. T. eine kleine Heilstätte, die 28 Kranke aufnehmen konnte, eröffnet. Bald ergab sich, daß der zur Verfügung stehende Raum bei weitem nicht den Nachfragen Hilfe heischender Patienten genügen konnte.
Um diesem Mißstande abzuhelfen, beschloß der Verein, eine neue Anstalt ins Leben zu rufen, die vor kurzem eröffnet werden konnte. Am Südabhange des Taunus, etwa 420 m über dem Meere gelegen, fünf Minuten von dem Dörfchen Ruppertshain, eine Stunde von dem bekannten Luftkurorte Königstein i. T. entfernt, schaut die Anstalt stolz hinab in das vom Spessart und Odenwald umsäumte Mainthal, ein weithin sichtbares Zeichen von der Macht werkthätiger, opferwilliger Menschenliebe. Auf drei Seiten von prächtig bewaldeten Anhöhen umgeben, nur nach Süden und Südosten offen, erfreut sich das Anwesen schon an sich einer ziemlich windgeschützten Lage. Um aber den Windschutz noch wirksamer zu gestalten, ist die Hauptfront des Gebäudes, welche nach Südsüdost schaut, in den Flügelbauten bogenförmig gestaltet.
Das Gebäude setzt sich aus einem Hauptbau mit zwei Liegehallen und aus zwei Nebengebäuden zusammen. Das erstere hat zwei durch einen Mittelbau verbundene, symmetrische Abteilungen, von denen die eine für weibliche, die andere für männliche Kranke bestimmt ist.
Von den durch einen gedeckten Gang mit dem Haupthause in Verbindung stehenden Nebengebäuden enthält das eine Küchen neben Speisekammern, das andere Waschküche, Pferdestall, Wohnung des Kutschers, sowie den Desinfektionsapparat.
Die neue Anstalt bietet Raum für 80 Patienten. Wenn auch in erster Linie Kranke aus Frankfurt a. M. bei der Aufnahme berücksichtigt werden müssen, so ist doch bei der Menge der zur Verfügung stehenden Betten die Heilstätte für jeden auswärtigen Lungenkranken offen. Nur muß letzterer vorher ein ärztliches Attest an die Geschäftsstelle des Frankfurter Rekoncalescentenvereins, Gr. Eschenheimerstraße 45, einsenden, aus dem zu ersehen ist, ob der Brustkranke noch im Anfangsstadium der Erkrankung sich befindet; denn es sollen in der Heilstätte nur Leute aufgenommen werden, die in ihrem Leiden nicht zu weit fortgeschritten sind, die also Aussicht auf erfolgreiche Behandlung bieten. Jeder Anmeldende verpflichtet sich ferner zu einem Aufenthalt von mindestens zwölf Wochen, sodann zur Vorausbezahlung der Verpflegungskosten auf je drei Wochen. Die Kosten belaufen sich derzeit in Einzelzimmern auf fünf Mark, in den gemeinsamen Zimmern auf drei Mark für den Tag.
Möge das den Wohlthätigkeitssinn von Frankfurts Bewohnern so ehrende Werk all jenen Vereinen zur Nacheiferung dienen, die sich jetzt zahlreich in Deutschlands Gauen bilden, um durch Fürsorge für die bisher etwas stiefmütterlich behandelten unbemittelten Lungenkranken der Ausbreitung der Schwindsucht einen wirksameren Damm entgegenzusetzen, als es bisher möglich war.
Theaterprobe einer Wandertruppe. (Zu dem Bilde S. 264 und 265.) Vieles ist möglich bei einer wandernden Künstlertruppe, aber „Kabale und Liebe“ ohne Luise Millerin spielen, das bringt selbst sie nicht zustande. Deshalb war die Aufregung groß: die neue „Liebhaberin“ hatte den ersten Zug versäumt, der zweite meldete Verspätung, endlich, endlich um drei Uhr kam sie an, und um vier Uhr soll die Vorstellung beginnen! Man schleppte sie in den jetzt als Konversationszimmer dienenden Waschraum, hing ihr über, was die aufgerissenen Koffer als halbwegs passendes Kostüm hergaben, und jetzt: schnell, schnell nur die Hauptscenen, denn zur wirklichen Probe ist ja keine Zeit mehr! Der vor keiner Kalamität verzagende Direktor hat vor sich auf dem Pult die Blätter der Rolle und giebt Luisen soeben ein Stichwort als Lady Milford; die Kollegen sitzen im Kreis, kritisch und kühl bis ans Herz hinan.
„Nehmen Sie ihn denn hin, Mylady! Freiwillig tret’ ich Ihnen ab den Mann, den man mit Haken der Hölle von meinem blutenden Herzen riß!“ so flötet Luise schwärmerisch sentimental mit himmelndem Augenaufschlag, und die Versammlung ist sich bereits völlig klar, warum die schöne schlanke Blondine stets neu auf Engagement reist. Der neben ihr sitzende Ferdinand fühlt sich im tiefsten indigniert durch die Aussicht auf heute abend; Lady Milford, in dem für verschiedene Jahrhunderte dienstthuenden Sammetgewand, denkt sich im stillen dasselbe, was Vater Miller drüben der „Naiven“ zuflüstert; auch der „Familienvater“ auf der Holztreppe, der heute den Präsidenten spielen muß, hat seine schweren
Bedenken. Wäre nur noch ein einziger Tag Zeit, so könnte man ja sehen, aber so heißt es: „Nimm deinen Lauf, Verhängnis!“ – – Nur der Direktor bleibt unerschüttert, er hat schon Aergeres erlebt und vertraut auf die Naivetät des Dingskirchener Publikums. Wenn ihn nur diese Zuversicht nicht täuscht! Hinten am Waschfaß hat der Maler einen Teil dieses Publikums aufgestellt, und auf dem lachenden Gesicht der einen Wäscherin steht das Schicksal des Abends ziemlich deutlich geschrieben!Bn.
Ackerbestellung im Entlebuch in der Schweiz. (Zu
dem Bilde S. 269.) In allen Ländern, deren Bevölkernng den Ackerbau betreibt
und den Pflug kennt, wird dieses wichtige Kulturgerät von Tieren, von Rindern
oder Pferden, gezogen. Wo Haustiere bei der Feldarbeit fehlen, schwingt der
Ackerbauer die Hacke, vor den Pflug spannt er sich selbst
nicht ein. Ganz und gar ungewohnt ist uns darum der Anblick pflugziehender
Bauern, der uns auf unserm Bilde vorgeführt wird. Und doch hat der Maler
nach dem Leben gezeichnet. Ein solcher Brauch besteht noch heute in der
schweizerischen Landschaft Entlebuch (Kanton Luzern) und ihrer nächsten Umgebung.
Kleine Gebirgsbauern mußten seit Urväter Zeiten zu
dieser Aushilfe greifen, da ihnen Zugtiere fehlten; ihre Lage hat sich bis heute
nicht verändert und so besteht der Brauch noch immer fort. Die Bauern spannen sich in einen Strick ein, an dem ein der Länge nach zusammengerollter und an seinen Enden verbundener Sack befestigt ist. In diesen Sack schlüpfen die Männer und ziehen am Pfluge. Hier und dort dienen anstatt des Sackes Querhölzer als Handhabe. Zu bemerken ist wohl, daß die Arbeit von dem Grundbesitzer nicht mit Geld abgelohnt wird. Die Bauern helfen sich vielmehr gegenseitig aus und der eine Nachbar muß dem andern diesen Dienst gleichfalls durch Pflugziehen entgelten. *
Willkommen! (Zu dem Bilde S. 273.) Der Gartensaal ist festlich
mit Blumengewinden geschmückt, draußen lacht die helle Sonne über den
Rasenflächen und den dichten Baumwipfeln, in deren Schatten heute große
Geburtstagsfeier stattfinden soll. Gerade haben die beiden Haustöchterlein
die letzten Blumen auf den Boden gestreut, da ertönt Wagenrollen, die
Hausthür öffnet sich, ein Schwall von jungen Gästen in fliegenden weißen
Kleidern und bunten Hüten drängt herein. Willkommen, willkommen!
Das Geburtstagskind breitet fröhlich die Arme aus, und im nächsten
Augenblick wird der Gartensaal von lustigen Ausrufen und Gelächter
wiederhallen. Glückliche Backfischzeit mit ihrer Mischung von kindlicher
Spiellust und ahnungsvoller Lebensfreude! Der Maler hat sie hier in
diesen lichtumflossenen Mädchenbildern voll Anmut geschildert. Wer von
beiden einmal die Schönere und wer die Glücklichere sein wird?! .. Das
steht dahin, aber jedenfalls: heute lacht ihnen soviel noch ganz neidloses Glück
und so heller Sonnenschein, daß dieser sechzehnte Geburtstag der ältesten
wohl für alle Zeiten in ihrer Erinnerung leuchten wird! Bn.
Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (15. Fortsetzung). S. 261. – Der Topfgucker, Bild. S. 261. – Theaterprobe einer Wandertruppe. Bild. S. 264 und 265. – Moderne Steckbriefe. Kriminalistische Skizze von C. Richter. Mit Abbildungen. S. 268. – Ackerbestellung im Entlebuch in der Schweiz. Bild. S. 269. – Förderer der volkstümlichen Blumenpflege. S. 271. – Ein Buchstabe! Eine wahre Geschichte. Nacherzählt von Ernst Wichert. S. 272. – Willkommen! Bild. S. 273. – Blätter und Blüten: Die neue Heilstätte für unbemittelte Lungenkranke zu Ruppertshain im Taunus. Mit Abbildung. S. 276. – Theaterprobe einer Wandertruppe. S. 276. (Zu dem Bilde S. 264 und 265.) – Ackerbestellung im Entlebuch in der Schweiz. S. 276. (Zu dem Bilde S. 269.) – Willkommen! S. 276. (Zu dem Bilde S. 273.)
[276 a]
Die Gartenlaube.
Photographieren nach Roentgen. Im Anschluß an unsere früheren Mitteilungen über die Entdeckung der Roentgenstrahlen und deren praktische Verwertung bringen wir heute die Ansicht eines Laboratoriums, in welchem gerade eine photographische Aufnahme nach Roentgen gemacht wird. Auf dem Tische links erblicken wir einen Induktionsapparat, von dem der Strom zu einer Hittorffschen oder Crookesschen Röhre durch Leitungsdrähte hinübergeht. Unter der Röhre liegt eine gewöhnliche Kassette, in der sich eine lichtempfindliche Platte befindet. Die Dame, deren Hand photographiert werden soll, legt dieselbe einfach auf die geschlossene Kassette unter die Röhre. Läßt man nun den Apparat in Thätigkeit treten, so erstrahlt die Röhre in phosphoreszierendem Lichte, die Roentgenstrahlen dringen durch die Weichteile der Hand sowie durch das Holz, und auf der Platte kommt der Eindruck eines Schattenbildes des Knochengerüstes zustande. In gleicher Weise können kleinere Tiere und andere Gegenstände photographiert werden, indem man sie zwischen die Röhre und die Kassette bringt. Diese Art photographischer Aufnahmen wird am hellen Tage oder bei Gasbeleuchtung ausgeführt, da ja die gewöhnlichen Lichtstrahlen die schützende Masse der Kassette nicht durchdringen können. Die Entdeckung Roentgens gab Anlaß zu vielen Versuchen. Es hat sich dabei gezeigt, daß die Roentgenstrahlen nicht nur von den Crookesschen Röhren ausgehen, sondern auch unter anderen Bedingungen entstehen können. Man hat sie im Licht der elektrischen Glühlampe sowie im Licht der Auergasbrenner nachgewiesen, auch sollen sie Begleiter aller Phosphorescenzerscheinungen sein.
Sehr merkwürdige Versuche wurden ferner von Ludwig Tormin in Düsseldorf angestellt, der von der Ueberzeugung durchdrungen ist, daß sein Körper besondere magnetische Kräfte besitzt, die, wie Mesmer und Reichenbach es lehrten, durch die Fingerspitzen ausströmen. Unter anderen veranstaltete Tormin nun auch folgende Probe: In dem Deckel der Kassette wurde ein Kreuz ausgeschnitten, alsdann legte man in dieselbe, natürlich im Dunkeln, eine lichtempfindliche Platte ein, steckte die Kassette in einen Kasten und schob dessen Holzdeckel fest zu. Nun stemmte Tormin während 45 Minuten die Fingerspitzen der rechten Hand gegen den Deckel des Kastens. Bei der nachfolgenden „Entwickelung“ der Platte zeigte sich auf ihr das Bild des kreuzförmigen Ausschnitts. Dieser und andere ähnliche Versuche haben wohl bewiesen, daß von der Hand des Experimentators Strahlen ausgegangen sein müssen, die weder Licht- noch Wärmestrahlen sind. Ob diese Strahlen gleichfalls Roentgenstrahlen sind, können erst weitere Versuche lehren, deren Fortsetzung dringend erwünscht erscheint.
Ein interessanter Wettkampf fand in Amerika vor kurzem auf Anlaß der Verwaltung der Baltimore- und Ohiobahn zwischen einer elektrischen und einer Dampflokomotive statt. Seit längerer Zeit schon bezwecken die amerikanischen Techniker eine Erweiterung des elektrischen Eisenbahnbetriebes in der Richtung hin, daß sie nicht nur städtische Bahnen oder kürzere Gelegenheitsstrecken, wie Bergbahnen u. s. w., sondern auch große Fernbahnen erster Klasse durch Elektricität zu betreiben versuchen. Sie sind sogar hierbei von dem ursprünglichen Grundprinzip der elektrischen Bahnen, wonach jeder Wagen seinen eigenen Motor erhält, ganz abgewichen und bauen große elektrische Lokomotiven, welche lange und sehr schwere Wagenzüge mit der größten Geschwindigkeit befördern sollen. Diesen elektrischen Rennern werden viele gute Eigenschaften nachgerühmt, besonders aber ihre große Zugkraft bei verhältnismäßig geringem Gewicht. Die Zugkraft einer Lokomotive, von welcher neben ihrem schnellen und sicheren Anziehen beim Beginn der Fahrt besonders ihre Leistung auf Strecken mit starker Steigung abhängt, beruht nämlich weder auf ihrer Kraft noch auf ihrer Schwere allein, sondern auf einer eigentümlichen Mischung beider Eigenschaften. Der elektrischen Lokomotive soll nun hinsichtlich dieses Punktes eine besondere Leistungsfähigkeit eigen sein, und um praktisch zu erfahren, ob die Elektriker oder ihre Gegner recht hätten, wurde der folgende Wettstreit ins Werk gesetzt. Eine Dampflokomotive der schwersten Gattung und eine der neuerbauten elektrischen Lokomotiven wurden zusammengekuppelt, mit der Weisung, daß beim Anfahren die eine vorwärts, die andere rückwärts ziehen solle. Die Dampflokomotive war bald auf Volldruck gebracht, die elektrische ist stets zum Abgehen fertig, und beim Kommando gaben beide volle Kraft. Nicht lange, so half dem gewaltigen Dampfwagen weder sein Schnauben, noch das verzweifelte Drehen seiner Räder, die kleine und geräuschlose Gegnerin erwies sich ihm überlegen und schleifte den prustenden Riesen zur Freude der beteiligten Elektriker und aller Freunde des elektrischen Betriebes im Triumphe davon. Die große Dampflokomotive hatte an sich zweifellos mehr Kraft, aber die Vereinigung der vier kräftigen Motoren der elektrischen Maschine erwies sich in Hinsicht auf die Zugleistung doch wirksamer. Bw.
„Das Museum“ nennt sich ein neues, im Verlag von W. Spemann in Berlin und Stuttgart erscheinendes Unternehmen, welches sich die Aufgabe gestellt hat, die Meisterwerke der bildenden Künste aus allen Epochen der Kunstgeschichte dem Verständnis kunstsinniger Laien näher zu bringen. Das vorliegende erste Heft (jährlich sollen deren zwanzig erscheinen) gibt in geschmackvoller Ausstattung treffliche Reproduktionen von Werken alter und neuer Kunst, welche durch namhafte Kunstschriftsteller kurz und gut erläutert werden. Das Ziel des neuen Unternehmens, „Freunde zu werben für die Werke bildender Kunst, das Verständnis neuer und älterer Kunstauffassung zu fördern“, ist ein durchaus empfehlenswertes. K.
Porzellankitt. Kleinere Schäden an den Küchenschüsseln, welche die Hausfrau fast jedesmal, wenn sie die Küchenschränke revidiert, vorfindet, ohne daß der dienende Geist „eine Ahnung hat“, wie die Sachen zerbrochen und abgestoßen worden sind, lassen sich von ihr leicht kitten, und zwar am sichersten und erfolgreichsten durch den einfachen „Käsekitt“, der gerade für Glas und Porzellan vorzüglicher als alle anderen Kitte ist. Man rechnet auf 100 g frischen Käse 20 bis 25 g gelöschten Kalk. Dabei ist nur zu beachten, daß der Kitt erst unmittelbar vor seiner Verwendung durch Mischen von Käse mit Kalk zubereitet wird, da er außerordentlich rasch erstarrt und dann zum Kitten unbrauchbar wird. Man streicht von dem Kitt etwas zwischen die Bruchstellen, drückt dieselben darauf fest zusammen und umbindet den zerbrochenen Gegenstand, so daß er nicht auseinanderfallen kann, bis der Kitt starr ist. L. H.
Um den praktischen Interessen der Familie zu dienen, haben wir in dem Anzeigenteil der „Gartenlaube“ eine besondere Rubrik, den „Kleinen Vermittler“, eingeführt. In denselben werden Anzeigen, welche Stellengesuche und Stellenangebote, Unterricht und Pensionatswesen betreffen, Inserate über Kauf und Verkauf von Grundstücken, sowie überhaupt Ankündigungen aus dem täglichen Kleinverkehr zu besonders ermäßigtem Insertionspreise aufgenommen. Das Wort in gewöhnlicher Schrift kostet 15 Pf., in fetter Schrift 20 Pf. Wir empfehlen den „Kleinen Vermittler“ der freundlichen Beachtung unserer Leser. Die Anzeigen sind an die Annoncen-Expedition von Rudolf Mosse in Leipzig, Berlin oder deren Filialen, also nicht an den unterzeichneten Verlag, zu richten. Der Verlag der „Gartenlaube“.
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