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Die Gartenlaube (1895)/Heft 40

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[669]

Nr. 40.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Die Lampe der Psyche.

Roman von Ida Boy-Ed.


1.

Jn der Verandaecke saß René Flemming und sah auf die vor ihm liegende Wochenrechnung nieder. Er hatte die Ellbogen aufgestützt und hielt seine Wangen mit den Händen umrahmt. Hinter ihm war die gläserne Seitenwand; durch die von Leisten in längliche Vierecke geteilten Scheiben sah man in eine stille Schweizerlandschaft hinaus. Rechts von ihm stand die Hausmauer und links von ihm ward der Blick durch nichts gehemmt als durch einige Holzsäulen, die das Verandadach trugen und das schöne Bild der Gegend hart überschnitten.

Entwischt.
Nach einem Gemälde von P. Reiffenstein.

[670] Es war ein sonniger Morgen, mit mehr Frische als Wärme in der Luft. Um die Gipfel der grauzackigen Berge, die im Kranze das enge Hochthal umschrankten, zogen, gleich dünnen weißen Schleierfetzen, kleine Gewölle hin und wieder. Die Tannen, die vom winzigen See inmitten der Thalsohle noch ein Streckchen bergan stiegen, standen kerzengerade und regungslos; Winde ließen die Felsenwächter nicht in diese schmale Tiefe. Die Natur hatte hier zu ihrem Bilde nur graue, grüne, weiße Farben gewählt und den leuchtend blauen Himmel darüber gespannt.

Als René Flemming vor vier Wochen angekommen war, hatte er entsetzt zu der Wirtin gesagt: „Auf ein bißchen mehr Originalität glaubte ich doch hoffen zu dürfen. Die Gegend habe ich ja schon tausendmal gesehen. Unter anderem noch zuletzt auf dem Neuruppiner Bilderbogen, den der Sohn meiner Hausfrau hat, und auf dem Oeldruck, der bei meinem Schuster an der Wand hängt. Wissen Sie, meine Gute, hier bleibe ich nicht.“

Und nun studierte er schon die vierte Wochenrechnung. Sieben Tage Pension à 7 Franken – Sonntag den 19. August 5 Liter Veltliner? Donnerstag den 23. noch einmal 5 Liter Veltliner? Er besann sich. Am Sonntag waren ein paar lustige italienische Burschen dagewesen und hatten mit Gesang und Mandoline konzertiert. Und am Donnerstag zogen einige stämmige Kerle vorbei, Holzfäller, die mit rauhen Kehlen beleidigend johlten.

Das Bemühen Renés, die Zahlen der merkwürdig großen Rechnung zu addieren, war ein wiederholtes aber immer vergebliches.

Sein Ohr horchte auf den einzigen Laut, der die Morgenstille durchdrang. Neben dem Hause, rückwärts, da wo die aufsteigende Berglehne einem kleinen Wirtschaftshof Raum bot, hämmerte der Hausknecht an einem Faß die Reifen fest. Er that immer vier Schläge hintereinander, und die hallten stark und klingend durch die Luft.

René pfiff einigemal summend im Takte mit! Die Regelmäßigkeit des Geräusches ärgerte ihn. Plötzlich schwieg es. Aber der Nachhall lag ihm im Ohr und in seiner Phantasie wandelte es sich plötzlich, erhielt einen besonderen Rhythmus und ward ein scharfes, herrisches Motiv.

Er erhob das Haupt, sah einige Sekunden ins Leere, mit einem gesammelten, sehr aufmerksamen Gesichtsausdruck, wie jemand, der nach innen horcht, und griff dann nach einem Bleistift, der neben seiner Tasse gelegen hatte. Die Rückseite der Rechnung bedeckte sich mit Noten.

Unterdessen trat die Wirtin aus der Thür, die vom Innern des Hauses in die Veranda führte. Sie sah ihren Pensionsgast schreiben und wartete respektvoll, wobei sie die Hände vor dem Magen faltete.

Dann, als René den Bleistift fortlegte, kam sie breit und behäbig näher, ein Lachen im glatten Gesicht.

„Frau Wirtin,“ sagte René, „dies ist eine Urkundenfälschung.“

Er wies auf den Kopf der Rechnung, allwo „Hotel und Pension Seehof“ in schloßartiger Pracht abgebildet war, mit einer Terrasse davor, auf welcher ein Springbrunnen emporsprudelte zwischen üppigsten Blumenanlagen. In Wirklichkeit glich das saubere, außen und innen mit hellem Holz getäfelte Haus einem landläufigen Schweizerhaus in etwas größeren Raumverhältnissen und in Wirklichkeit war das kleine Plateau vor dem Hause mit schwärzlichem Steingeröll bedeckt, von wo ein gänzlich ungepflegter, abschüssiger kurzer Pfad zu dem kleinen See hinabführte.

„Wir hoffen eben,“ meinte die Frau, „daß wir’s mit der Zeit einmal so herrichten können.“

„Nun, wenn hier erst ein Springbrunnen ist, komme ich gewiß nicht wieder und so ist dies vermutlich die letzte Wochenrechnung, die ich in meinem Leben an Sie zahle,“ sagte René mit ernsthaftem Gesicht.

„Ach, der Herr Hofkapellmeister machen alleweil Spaß,“ sprach sie. „Sie werden doch noch bleiben?“

Er stand auf und reckte sich.

René Flemming war ein großer, schlanker Mensch; sein heller Sommeranzug, zu dem er keine Weste, sondern ein weißseidenes Hemd mit faltigem Gürtel trug, gab ihm etwas Burschikoses. Sein dunkles Haar, im Nacken kurz verschnitten, lag ein bißchen wirr über der Stirn. Die gebräunten Farben standen dem klugen, energischen Gesicht wohl an; um den feinen Mund, der sich mit schmalen Lippen fest zu schließen pflegte, spielte ein Lächeln und aus den dunklen, großen Augen blitzte fröhlichste Lebenslust.

Er griff in die Tasche und holte eine Hand voll Geld heraus: Gold, Siber, Nickel – französisches und deutsches Geld durcheinander.

„Schauen Sie ’mal nach, Wirtin, ob’s noch reicht.“

Die Wirtin fing an, mit dem Zeigefinger die Zwanzigfrankenstücke herauszusondern.

Renés feines Ohr hörte dann plötzlich ein Rauschen und Knistern. Er wandte sich um.

„Richtig,“ rief er, „diese winterliche Musik konnte nur die eine verursachen.“

Er ging einer Dame entgegen, die in majestätischer Trauerkleidung herankam. Die Dame trug den Kopf, der für die große, volle Gestalt fast zu klein erschien, sehr hoch. Die vorspringende Nase, die lebhaften grauen Augen gaben dem etwas blassen Gesicht einen kühnen Ausdruck, wie auch Gang und Haltung von ungewöhnlichem Sicherheitsgefühl zeugten.

Sie ließ sich die Hand küssen und sah ihm mit einer heiteren, mütterlichen Zärtlichkeit ins Gesicht.

„Guten Morgen, René. Ah, man rechnet? Ein trüber Moment.“

„Ein vollkommen gleichgültiger,“ sagte er lachend.

Die Wirtin hatte sich ihren Betrag herausgesucht. René strich den Rest zusammen und steckte ihn ein. Im Davongehen machte die Wirtin einen nicht sehr anmutigen, aber sehr unterthänigen Knix und sprach ihr: „Guten Morgen, Madame von Eschen.“

„Die arme Frau ist von Ihrer Persönlichkeit und Ihrer rauschenden und glitzernden Trauerpracht immer ganz eingeschüchtert. Einen so vornehmen Gast hat der Seehof noch nie gesehen; Ihr Anblick fordert ja förmlich die schleunige Anlage des hier lithographierten Luxus heraus.“

Hortense von Eschen zuckte die Achseln. „Ich habe kein Talent, mich populär zu machen,“ sagte sie.

„Und ist es denn wirklich nötig, hier in dieser Gebirgseinsamkeit den alten Herrn von Eschen so pomphaft zu betrauern?“ fragte René.

Sie trat an das Geländer der Veranda, lehnte sich mit der Schulter gegen eine der Holzsäulen und seufzte ein wenig.

„Ach, René,“ sprach sie langsam, „wie oft im Leben betrauert man mit heimlichen Verzweiflungsthränen einen Verlust, ohne daß man sich ein schwarzes Kleid anziehen darf. Sie wissen doch, was der Dichter sagt: Gefühl ist alles! Zu dem alten Herrn hat mich keines hingezogen; da ich ihm den innern Tribut der Liebe nicht geben konnte, soll’s an dem äußern der Achtung nicht fehlen. Sie schau’n mich wieder so spitzbübisch an – ja wohl, mein Kind – simple schwarze Wolle thät’s auch und thäte es vielleicht besser. Aber sie kleidet so abscheulich.“

Sie lachten beide.

Hortense nahm ihren zusammengerollten Sonnenschirm wagerecht unter die Achsel und fing an, sich ihre Handschuhe anzuziehen.

„Wohin gehen Sie? Darf ich Sie begleiten? Und wo ist Magda Ruhland?“ fragte René und sah den weißen Fingern zu, die langsam an dem Leder hinstreiften.

„Natürlich sollen Sie mich begleiten, denn Sie haben mir etwas zu beichten. Ich gehe die Straße entlang, denn Sie wissen, ich hasse die Kletterei. Und bei dem Weg zur Sägemühle dürfen Sie mir Adieu sagen; weil dort unten jemand wartet, der Ihnen amüsanter ist als Ihre alte Freundin,“ sagte sie und streckte ihm die Rechte hin, damit er die Handschuhknöpfe schließe.

„Beichten!“ rief er und ein Ausdruck von Unbehagen glitt über sein Gesicht.

„Pst,“ machte sie und fuhr mit ihrer Linken leicht über seine Züge, als wollte sie den unwilligen Ausdruck fortwischen, „mir gegenüber nur keine Selbstherrlichkeit! Ich habe Sie lieb, René, und Sie sind ein toller Junge, der froh sein soll, daß er eine verständige, erfahrene Frau weiß, mit der er alles besprechen kann. Ich fürchte, ich fürchte, Sie haben mir das Herzchen meiner Magda beunruhigt. Und Magda ist – wie soll ich im Gegensatz zu all den glänzenden lustigen, lebensdurstigen Damen Ihrer Welt, der großen Welt und der künstlerischen Welt sagen? – kurz, Magda ist ein schwerer Mensch! – Also? –“

René griff nach seinem Hut und schritt ein wenig ungeduldig neben der Frau her, deren beabsichtigte Einmischung in eine Herzensangelegenheit ihm halb ärgerlich, halb erwünscht war.

„Eins begreife ich nicht,“ sagte er, „daß ich Fräulein [671] Ruhland bei uns in Leopoldsburg nie getroffen habe, nicht einmal in Ihrem Hause, dem sie so nahe steht, offenbar näher noch als ich. Soll ich auf den Verdacht kommen, daß Sie Fräulein Ruhland immer mit der ‚zweiten Garnitur‘ einladen?“

Hortense blieb einen Augenblick stehen und lachte.

„Ihr Selbstbewußtsein ist naiv. Auf den Gedanken kommen Sie gar nicht, daß ich Sie ……“

Er fiel ihr in die Rede.

„Da ich immer so ziemlich die ‚Spitzen‘ unserer Residenz bei Ihnen treffe, kann ich nicht auf den Gedanken kommen.“

„Es giebt überhaupt keine ‚zweite Garnitur‘ für mich. Aber da mein Kreis so groß ist, daß ich niemals alle Bekannten bei mir sehen kann, habe ich sie eingeteilt in Serie 1a und 1b; bestimmend war die Rücksicht auf die vorhandenen oder muthmaßlichen Interessen meiner Freunde. Und da die alte Excellenz Ruhland nicht Musik liebt, lud ich sie zu den mehr wissenschaftlich gefärbten Abenden. Dies ist geblieben für Magda allein, auch nachdem die Excellenz nicht mehr fähig war, auszugehen.“

Sie schritten auf der Straße dahin, die den Thalwindungen folgte und langsam stieg. Wie Coulissen schoben sich die Felsabhänge von rechts und links in das Thal, das sich hochwärts in einer öden Wildnis verlor. Von dort kam ein weißschäumendes Bergwasser, das sich im steinigen Bett neben der Straße quirlend thalwärts stürzte. An den Hängen klebten neben den braunen Holzhütten der Dorfbewohner hier und da weiße Villen. Der kümmerliche Hirtenort hatte seit einigen Jahren begonnen sich in eine Sommerfrische umzuwandeln. Durch den Tannenwald, der den Fuß der Felsen umkleidete, zogen sich gute, neu angelegte Spazierwege. Da auf diesen indes immer ein Steigen und Absteigen nötig war, pflegte Frau von Eschen mit einer erstaunlichen Unermüdlichkeit nur die Hauptstraße zu benutzen.

„Die alte Excellenz; Ihr Ton wird immer beinahe scharf, wenn Sie seiner erwähnen. Es ist die Last, an der Magdas junges Leben trägt,“ sagte er fragend.

Sie war eine schnell denkende und feinfühlende Frau. Sie verstand, daß René über Magdas Verhältnisse genau unterrichtet zu sein wünschte. Vielleicht hatte er noch kein entscheidendes Wort gesprochen und vielleicht war es noch Zeit, ihn davon zurückzuhalten. Denn Hortense von Eschen hielt dafür: besser ein kurzer, großer Schmerz, als ein langes unentschiedenes Hoffen. An dem ersteren kann ein kraftvoller Mensch sich entwickeln und zu freierer Höhe gelangen – an dem zweiten versiegt der Lebensmut. Sie kannte das.

„Eine Last, die Magda sich nie eingesteht, die man ihr nicht tragen helfen kann, von welcher nur der Tod des Alten sie befreien wird. Er war ein Pedant, ein Philister, ein Nörgler und Streber sein Leben lang. Er hat seine Carriere sozusagen ausgetüftelt. In dem ganzen Mann gab es keinen genialen Zug. Er machte auch in früheren Jahren immer den Eindruck wie eine keifende alte Frau. Und sein Weib hat er gequält! Wie es geschah, daß sie ihn einst überhaupt nahm? Was weiß ich. Die Natur hat so ihre Schliche. Werbende Männer und liebende Frauen umgoldet sie zuweilen mit einem gewissen Zauber. Nachher, wenn der Zweck erfüllt ist, der Mann die Gefährtin, das Weib den Gatten fand, fällt der Zauber ab wie Schaumgold. Magdas Mutter war meine Freundin gewesen, sie müßte gerade wie ich jetzt ihre Neunundvierzig oder Fünfzig haben. Aber so recht ausgesprochen hat sie sich nie, trotz der Freundschaft. Als Ruhland das „Große“ erreicht hatte, als er Minister unsres Herzogs wurde und nach Leopoldsburg zog, war seine Frau schon eine Sterbende. Mir kam es manchmal so vor, als ob sie sich über die Kleinlichkeiten ihres Gatten zu Tode geschämt hätte. Und er fing wenige Jahre nachher an, leidend zu werden – da!“

Sie deutete auf ihren Kopf und fuhr fort.

„So ein Gehirn, durch das nie der frische Sturmwind eines großen Gedankens braust, muß ja auch am Ende vertrocknen. Ich war um jene Zeit schon längst im Winter immer in Leopoldsburg, denn meinen Mann, wie Sie wissen, habe ich schon vor zwanzig Jahren verloren und mein alter Schwiegerpapa verlangte, gottlob, nur im Sommer meine Gegenwart in der Eschenhöhener Einöde. Wenn man sich das so vorstellt – nun erst, infolge seines Todes, kann ich einmal ein bißchen in die Welt hinaus, wenn sie grünt und blüht! Und auch für Magda freut mich’s. Sonst war Eschenhöhe ihre einzige Sommerlust. Wenn ich sie nicht immer zwänge, vier Wochen mit mir zu gehen, käme sie nie heraus. Und nur von der Erkenntnis aus, daß sie nachher ihre Pflegerpflicht frischer erfüllt, läßt sie sich zwingen.“

„Kein Wunder, daß sie so ernst ist,“ sprach René. „Ich habe Excellenz Ruhland nur einmal kurz gesehen – als ich nach Leopoldsburg kam, war er noch im Amt. Aber ich darf sagen, ich hatte genug an dem einen Mal.“

„Ja, wäre Ruhland ganz um den Verstand! Aber er hat gerade noch genug, von seinem Lehnstuhl aus, in welchem er gelähmt sitzt, sein Kind zu plagen. Da er in der Ehe nicht eine besondere Quelle des Glücks gefunden, malt er ihr eine Heirat als ein Schrecknis aus, wobei vielleicht auch der heimliche Furchtgedanke mitspielt, daß er seine Pflegerin verlieren könnte. Obenein sind die Verhältnisse karg – die Pension eines Ministers in unserem Herzogtum! Das können Sie sich vorstellen! Magda verdient ein bißchen dazu mit ihrer Malerei. Armes Kind!“

In René Flemmings Gesicht stieg eine starke Röte. Eine lebhafte Bewegung ging über seine Züge. Er wollte etwas sagen. Sie ergriff seinen Arm.

„Halt,“ sagte sie, „ich weiß, was nun kommen soll: daß es für einen Mann, der liebt, eine herrliche Aufgabe ist, einem Wesen wie Magda Sonnenschein ins Leben zu bringen, daß es für einen Mann, der liebt, eine Wonne ist, sie aus der verborgenen Dürftigkeit in den Glanz der Freude und des Genießens zu bringen. Lieber René, die noblen Aufwallungen zieren den Menschen. Sie haben deren alle Zeit reichlich und ich bin sicher, daß Sie sogar Ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn es gilt, irgend ein anderes zu retten. Aber ob Sie jeden Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr, endlos die kleinlichen Freudlosigkeiten, den Zwang der Sorge ertragen können – das wag’ ich nicht sogleich zu bejahen.“

„Sie trauen mir wenig zu,“ sagte er mit unsicherer Stimme.

„Das Höchste!“ rief sie, „auf dem Gebiet, auf welches Sie von der Natur verwiesen sind. Daß dies nicht das Gebiet der stillen bürgerlichen Tugenden ist, wissen wir ja.“

Sie atmete ein wenig schwer. Man war doch sacht und stetig gestiegen.

„Und wenn ich es dennoch wagte, mich zu binden?“ fragte er.

Sie setzte sich auf die Bank, die am Wege stand. Er blieb vor ihr stehen.

Hortense von Eschen besann sich ein Weilchen, sie wollte nicht ganz geradeaus sagen, was sie dachte. Sie fühlte genau, was in René vorging. Heftig angezogen von Magda, dem vollkommenen Gegenspiel seines Wesens, schien es ihm unmöglich, seine Macht über ihr Herz unerprobt zu lassen, nicht von ihren Lippen ein Liebesgeständnis flüstern zu hören. Sein Temperament, seine herrische Beanlagung, vielleicht auch ein wenig künstlerische Neugier, die sich unbewußt getrieben fühlt, Seelen zu ergründen – dies alles riß ihn fort. Und doch hörte er daneben in seinem Innern die warnende Stimme des Verstandes und der Redlichkeit, die ihm zuraunte: wird dieser Bund nicht zur Kette werden? meinst du es auch ganz treu mit mir? wird sie dir fortan die Einziggeliebte sein?

Hortense sah wohl und wußte wohl, daß dem Willen eines Mannes in solchen Dingen nicht direkt entgegen zu arbeiten ist. Sie beschloß, bei Magda entsprechende Vorstellungen zu machen. Ehe sie noch dies aussprach, denn heimlich etwas zu thun, war ihr unmöglich – sagte René plötzlich: „Das entscheidende Wort ist gestern schon gefallen. Ich habe nicht gesagt: ‚Magda, willst Du mein Weib werden‘. Aber wir haben begriffen, daß wir uns lieben.“

„Was zwischen Ihnen und Magda so viel wie eine heimliche Verlobung bedeutet,“ setzte Hortense mit ergebenem Kopfnicken hinzu.

Er setzte sich neben die Freundin und beugte sich vertraulich zu ihr.

„Was ich für Magda fühle, glaube ich noch nie empfunden zu haben …“

„Das glaubt man bei jeder neuen Liebe,“ unterbrach sie ihn.

„Ich sehe mit Erstaunen, einer Offenbarung gleich, daß ich von einem Gefühl grenzenloser Achtung, Verehrung, Anbetung zu diesem Wesen voll Reinheit und stiller Größe gezogen werde,“ sagte er mit einer Stimme, die von Leidenschaft bebte. „Und dennoch – selbst in dieser Stunde voll Glück und Erhebung, schreckt mich die Fessel. Deuten Sie mir das.“

Sie lächelte.

„Männer kann man nicht verstehen. Man kann sie nur aus dem Gefühl begreifen. Gebe Gott, daß Magda begreift, daß eine letzte, innerste Freiheit Ihr unantastbares Gut bleiben muß. Daß

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Photographie im Verlag der Photographischen Union in München.
Professor Steffens begeistert seine Zuhörer für den Freiheitskrieg. 1813.
Nach dem Gemälde von Arthur Kampf.

[673] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [674] es in jedem Mann und tausendmal mehr noch in jedem künstlerischen Mann geheimnisvolle Abgründe giebt, in die das weibliche Verstehen nicht hinableuchtet. Daß es ein ganzes, grenzenloses, untrennbares Sichgehören von Seele zu Seele nicht giebt, niemals geben kann. Gebe Gott, daß Magda Sie nimmt, wie Sie sind, und nicht, wie ihr Weibersinn sich denkt, daß Sie sein sollen. An dem Ergründenwollen und an der Begier, das Ideal wie etwas Greifbares zu beleuchten und kennenlernen zu wollen, scheitert das meiste Liebes- und Eheglück.“

René küßte ihre Hand. „Sie sind die klügste Frau, die ich kenne.“

„Weisheit post festum,“ sagte sie lachend, „ich bin auch nicht glücklich gewesen. Ich wollte auch immer zu viel.“

Sie erhob sich und deutete mit ihrem Sonnenschirm auf einen schmalen Weg, der unfern zwischen den mit Tannenbart behangenen, graugrünen Bäumen herauskam und in die Straße mündete.

„Da ist Magda gegangen. Sie kennen ihren Platz. Und noch einmal, Lieber: wenn es möglich ist, löst Euch voneinander! Jetzt kostet es Thränen, später vielleicht Herzblut.“ Dann schlug sie plötzlich, wie sie oft pflegte, einen heiteren Ton an. „Und das sage ich gleich, wenn Ihr verheiratet seid, brechen wir den Verkehr ab. Ich mag nur alte Ehepaare und junge Menschen um mich haben. Junge Ehemänner sind ’was Gräßliches. Ihre Würde hat ihnen den Kopf verdreht. Wenn sie die Frauen anderer dummes Zeug machen sehen, denken sie: ‚ich würde meine Frau so erzogen haben, daß das nicht vorkäme‘; wenn sie einen guten Freund unter dem Pantoffel sehen, denken sie: ‚meiner Frau würde ich nie einen solchen Ton hingehen lassen‘. Sie wissen das Rezept einer glücklichen, verständigen, mustergültigen Ehe auswendig und blicken hochgemut auf alle unglücklichen Ehen herab. Die kleine Macht, einem Weibe und einem Hausstand zu kommandieren, macht sie größenwahnsinnig. Adieu, René!“

Sie schüttelte ihm die Hand und stieg mit Ergebung weiter die Straße hinauf. René sah ihr noch einen Augenblick nach. Die noch immer schöne Frau war seine wahre Freundin, er wußte es wohl. Sie war ehrgeizig für ihn und wollte sein Bestes. Als er vor vier Jahren die Stellung in Leopoldsburg erhalten hatte, war Hortense von Eschen es gewesen, welche die künstlerische Großthat des Herzogs gleichsam ergänzte. Der Herzog, ein fanatischer Musikfreund, wollte in seiner kleinen Residenz eine Oper und ein Musikleben haben, das die Stadt künstlerisch in eine Linie mit den großen Städten rückte. Da er politisch kaum eine Rolle spielen konnte, wollte er in der Kunstgeschichte seiner Zeit die edelste und höchste verkörpern. Seine überreichen Privatmittel gestatteten ihm, seine Träume zu erfüllen. An die Spitze der neuerbauten und mit glänzenden Kräften versehenen Oper berief er den jungen René Flemming, welcher als aufgehender Stern ihm empfohlen war. Hortense von Eschen kannte die Welt und ihre Leopoldsburger. Sie wußte, daß René Flemming auch gesellschaftlich „Mode“ sein mußte, wenn man seine Erfolge für voll nehmen sollte.

Er lachte sie oft aus und sagte, daß Leopoldsburg nur der kleine zufällige Schauplatz vorübergehenden Wirkens sei, und daß nicht Leopoldsburg, sondern die weite Welt den Ruhm zu vergeben habe. Aber sie bestand darauf, daß es zum Behagen seines Lebens nötig sei, freundliche, persönliche Anteilnahme auch in der Nähe um sich zu fühlen. Sie hatte ihn nach und nach mit „ganz Leopoldsburg“, soweit sie es für ihn wichtig hielt, bekannt gemacht. Nun war er nicht der Mensch, andere gleichgültig zu lassen, oder an andern gleichgültig vorbeizugehen. Immer erwuchsen ihm Freunde oder Feinde. So häuften die einen fast kritiklos Vorzüge auf ihn, während die andern nicht einmal seine Jugend und seine Begabung als mildernden Umstand gelten ließen, wenn sie ihn überschäumen sahen. Für alle aber war er „der bunte Hund“ von Leopoldsburg.

Ihm fiel plötzlich ein, welches Gerede seine Verlobung machen dürfte. Ein Schaudern ergriff ihn, er lachte hellauf und drehte sich auf dem Absatz um. Rasch schritt er den Waldweg dahin. Nach zwei Minuten kreuzte eine Erinnerung seine Gedanken, die knappe, charakteristische Melodie von vorhin fiel ihm ein. Er zog die Rechnung mit der Notenskizze heraus und las, was er geschrieben. Seine Lippen formten sich, als wollte er pfeifen, er summte indes nur vor sich hin. Magda Ruhland, die große Veränderung seines Lebens, die bevorzustehen schien, die Warnerstimme Hortensens, alles war so völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden, als gäbe es nichts dergleichen auf der Welt.

Der schmale Pfad mit seiner rotklebrigen Erde, die frische Arbeit von Wegebauern verriet, zog sich oft steil bergan, blieb eine Weile in gleicher Höhenlage, fiel jäh, so daß der Absteigende bei jedem Schritt einen Ruck im ganzen Körper hätte fühlen müssen, wäre er überhaupt seiner selbst sich bewußt gewesen, und blieb immer gleichmäßig von dunklen Tannen umrandet.

Eine Gesellschaft von Sommerfrischlern kam daher, zwei Herren im Bergfexkostüm, drei Damen mit hohen Alpenstöcken und kurzgeschürzt, als sollte es geradeswegs auf einen Gletscher gehen; die Menschen wichen zur Seite und ließen René vorbei.

Er hatte sie gar nicht gesehen, sein Blick hatte sie gestreift, aber es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß das Leute waren, die mittags mit ihm an der Table d’hote saßen und daß er sie hätte grüßen müssen.

So schritt er lange dahin, ohne zu merken, ob er steige oder bergab laufe. Plötzlich drang ein starkes Rauschen an sein Ohr. Ein Wildbach tobte aus einer engen Spalte zwischen ragenden, geknickten und umgestürzten Tannen hervor, in seinem steinigen Bett waren rote Stämme wie Schwefelhölzchen zwischen Steinkolosse geklemmt. Das Wasser war ein Bild der Zerstörung. Erst ein Streckchen weiter hatte es sich von der übergreifenden Umarmung des Waldes freier gemacht und schoß unter einem Brückchen dahin. Von ihr aus sah man hinab auf die Sägemühle, die mit ihrem Gehäuse gelber Bretter und ihrem wetterdunklen Blockhaus wie ein Idyll inmitten einer kleinen Lichtung lag. Darüber hinaus verschränkten neue Felsenwände die Welt.

Vor der Sägemühle stand unter einer großen, phantastisch verästelten dunklen Eibe eine Bank. Magda Ruhland liebte den Platz, sie konnte dort lange dem Rauschen des Wassers zuhören, das der Sägemüller in einem Holzkanal aufgefangen hatte, der auf Trägern von Baumstämmen sich geradeaus von der Bergwand bis zum großen Treibrad vorstreckte. Jetzt war das Rad festgestellt und die Wasser rannen teils frei zur Seite ab, teils rieselten sie in Schleiern und Tropfen über das schwarze Rad und seine Speichen.

René hatte die weibliche Gestalt da unten gesehen – im grauen Lodenkleid, das war Magda. Er that einen Juchzer und schwenkte den Hut. Die Menschenstimme verhallte aber in dem Lärm des Wassers. Er lief bergab und stand nach zwei Minuten vor Magda Ruhland. Und als sie sich sahen, wechselten sie beide die Farbe. Er konnte so leicht erröten, wenn er jemand wiedersah, mit dem seine Gedanken sich zweifelnd beschäftigt hatten. Nach Magdas beiden Händen fassend, küßte er sie beide und wiederholt und sah ihr tief in die Augen.

Sie zitterte am ganzen Körper. Wie ein Zaudern ging es durch ihre Seele, dann neigte sie die Stirn und lehnte sie gegen seine Schulter. Es war so viel hilflose Ergebenheit in dieser Gebärde, daß es ihn tief ergriff.

„Magda, meine Magda,“ sagte er innig und schloß sie in seine Arme. Sie ließ sich küssen.

Dann führte er sie weiter, ihren Arm in den seinen legend. Die rauschende Begleitung des Wildbschs war ihm unbequem beim Sprechen. Erst als das tobende Geräusch sich hinter ihnen zu melodischem Gemurmel abdämpfte, fragte er zärtlich: „Mit was für Augen hat mein Lieb denn heute morgen die Welt angesehen?“

Sie erhob den Blick zu ihm und schwieg.

„Mit so unergründlichen und ernsten?“ fragte er weiter. „Und ich dachte, das lachende Glück sollte herausstrahlen.“

„Muß das Glück immer lachen?“ fragte sie leise. „Mir ist es mit tausend Bangigkeiten gekommen.“

„O weh,“ rief er scherzend, „Zaghaftigkeit kann ich nicht leiden. Ich glaube an meinen Stern – ich habe so ein Vorgefühl, daß mir im Leben alles gut ausgeht: in meinem Liebes- wie in meinem Berufsleben. Das mußt Du teilen. Froher Glaube, tüchtige Arbeit, das ist der Sieg! Das macht uns zu Herren des Schicksals.“

Magda Ruhland antwortete nicht gleich. Sie hatte immer das Bedürfnis, vorher schweigend zu überdenken, was sie sagen wollte.

Ihr Gesicht, oval und von regelmäßigen Zügen, trug die Spuren einer schlaflosen Nacht. Ihre blauen Augen waren umschattet, der Mund mit den weichen, schön gezeichneten Lippen fast schmerzlich verzogen. Die Gestalt, schlank und ebenmäßig gebaut, schien von Müdigkeit gedrückt. Weil sie ein wenig Kopfschmerzen hatte, trug sie den Hut in der freien Hand und ließ sich den Bergtannenduft um die Stirn wehen. Ihr kastanienfarbenes Haar war, nach der Mode der Zeit, griechisch und sehr kleidsam geordnet, auch der blütenweiße Stehkragen und der zierliche Schnitt des überaus [675] einfachen Kleides bewiesen, daß sie bei aller Bescheidenheit Wert auf eine gefällige Erscheinung lege.

„Wir haben doch auch mit den uns umgebenden Verhältnissen zu rechnen, die wir weder durch fröhlichen Glauben noch durch tüchtige Arbeit ändern können,“ sagte Magda endlich langsam.

„Aendern können wir sie nicht, aber heiter tragen,“ sprach er. „Herzchen, Du denkst an Deinen kranken Vater und willst mir von ihm sprechen. Nur heraus mit allen schwarzen Gedanken, damit ich sie davonjage.“

„Frau von Eschen hat Dir angedeutet …“ begann Magda.

„So einigermaßen.“

Welche Erleichterung! Magda hatte in schweren Stunden über eine richtige Einleitung nachgegrübelt.

„Papa ist sehr elend,“ sprach sie schnell, als wollte sie das Schreckliche nur erst hinter sich haben. „Wenn er gesund wäre, würde er gütig, liebevoll, bedeutend sein, wie er – ja wie er früher gewesen ist. Und Du dürftest einen gerechten Stolz empfinden, Dich seinen Schwiegersohn nennen zu können. Aber jetzt ist er nur ein Schatten seines Selbst. Er hat kein Gedächtnis mehr für die Ehren und Freuden, die das Leben ihm einst gebracht. Er haßt die Menschen, er kann niemandes Anblick vertragen außer dem meinen und etwa ein paar Menschen, an die er gewöhnt ist, wie Hortense, unseren Freund Nicolai, das Dienstmädchen und den Doktor. Wenn ich ihm sagte, daß ich mich verheiraten wolle – so auf einmal, mit jemand, den er nie sah – das gäbe fürchterliche Erregungen. René, ich hätte gestern Deine süßen Worte nicht anhören dürfen, Dir nicht sagen dürfen, daß ich Dich liebe, denn ich kann Dein Weib nicht werden – noch nicht. Du mußt auf mich warten, lange vielleicht, sehr lange.“

Sie brach in Thränen aus. Sie stand und weinte in ihr Taschentuch. Der eigene Schmerz, die Gewißheit, das holde, schöne Glück, das ihr so nahe schien, noch für unsichere Zeitfernen von sich zurückweisen zu müssen, mischte sich mit der Angst, wie er diese Offenbarung aufnehmen werde. Er würde an ihrer Liebe zweifeln und den Zwang der Kindespflicht nicht ganz verstehen. Er würde voll Leidenschaft das Geschick verwünschen, das ihn zum Warten verdammte. Sie zitterte vor seinem ersten Wort. Wenn es eins des Zornes wäre! Wenn sie ihn verloren geben müßte, den kaum Gewonnenen und namenlos Geliebten!

Er schloß sie in seine Arme und zog ihr das Taschentuch vom Gesicht.

„Nun siehst Du, da können wir gleich den fröhlichen Glauben brauchen, für die Zukunft, an die Zukunft. Vielleicht ist es besser so, auch für mich. Denn ich bin ein schlechter Haushalter gewesen, ich muß es gestehen, es kann sogar sein, daß ich Schulden habe. Und meinem Frauchen will ich doch das Leben leicht und glänzend gestalten. Und das bißchen Namen, das ich habe, ist mir auch noch zu gering. Es sprießt erst eben in Keimen, das Lorbeergrün – und es soll eine ganze, volle Krone sein davon, die setz’ ich Dir dann auf. Ich habe ’was vor – ’was Großes! Mir ist, als müßte ich’s erreichen – ein Musikdrama. Das erzähle ich Dir ein andermal. Nun lache nur, habe mich lieb. Alles andere findet sich. Dein Vater gewöhnt sich an mich. Ich spare und schaffe. Und endlich wirst Du mein, ich Dein.“

Er brachte das alles sich überstürzend hervor und bedeckte Magdas Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen.

Sie blieb wie betäubt. Das Erstaunen über seine unerwartete Haltung mischte sich seltsam mit der Glücksempfindung, die seine Leidenschaft ihr gab. Und auch als er sich ein wenig beruhigt hatte, hinderte die ihr eigene Bedenklichkeit sie, ihre Furcht und nachherige Ueberraschung auszusprechen. Sie ahnte nicht, daß ihre Bedenklichkeit ihm gegenüber größte Klugheit war und daß er nichts mehr haßte, als Aufschlüsse über sein Wesen geben zu sollen.

Sie streiften weiter durch den Wald. René war von einem unbändigen Freudegefühl erfaßt; seine Heiterkeit ging wie Sonnenglanz auch auf Magda über. Sie sprachen hundert thörichte und einige verständige Sachen.

Daß man sich in Leopoldsburg nur mit einiger Vorsicht sehen wolle, in Magdas Atelier und in Hortenses Haus, damit die gute Residenz sich nicht vorzeitig über die Verlobung aufrege und diese dann als noch nicht dagewesene Ueberraschung wirke; daß Magda jedesmal in die Oper gehen solle, wenn René dirigiere – sie war so selten dagewesen bis jetzt und zumeist wenn Herr Viebig, der zweite Kapellmeister, am Pult stand, denn Hortense schenkte ihren Logenplatz nie weg, wenn René zu thun hatte. Aber nun wollte Magda leichtsinnig werden und sich manchmal eine Theaterkarte kaufen. Hierüber entstand ein Streit, denn René beanspruchte es als sein Recht, ihr die Karten zu schicken, was Magda nie anzunehmen sich verschwor. Sie versöhnten sich schnell und mit den heißesten Küssen. Dann fragte René mit einer Strenge, die Magda beseligte, nach Nicolai, von dem sie als „ihrem Freund“ gesprochen. Ob es der Maler, der verrückte Nicolai sei.

Ja, er war es und die Freundschaft war durch die Ateliernachbarschaft entstanden.

René zog die Geliebte näher an sich, sie saßen grade auf einem gestürzten Baumstamm nebeneinander am Wege und René hatte mit seinen nervösen, schlanken Fingern ein Farrnblatt zerpflückt. Er warf die Reste von sich und rief: „Das freut mich nun, daß Du mit dem armen Nicolai gut bist. Ich kenne ihn genau, und ich bin einer von denen, die ihm keine Furcht machen. Sonst ist seine feine Seele immer zitternd – überall fühlt sie sich roh angegriffen. Er ist ein besonderer Mensch und er wird nicht verstanden, was schließlich das Alltagslos der Besonderheit ist. Wie er die Welt sieht und wie er sie malt, das wird von vielen komisch gefunden. Mich erschreckt es und dauert es. Nicolai ist nicht robust genug, um das Leben auszuhalten, er wird wund, wenn es sich an ihn herandrängt. Armer Kerl! Die Menschen untereinander, das ist im Grunde etwas Fürchterliches, Herzensliebste! Du hast mit Deinen Frageaugen noch so wenig in das Getriebe geblickt. Ich sage Dir, eine Persönlichkeit haben, heißt tausend Verleumder, Neider und böswillige oder dumme Mißversteher haben. Und keine Persönlichkeit haben, heißt wiederum: nicht leben. Zartheit und Güte allein findet man in dem Herzen, das uns liebt.“

Magda sah ihn glücklich an. Ihr schien es, als habe er gute und kluge Worte gesprochen.

„Und Dir thut die Welt nicht weh?“ fragte sie.

„Zuweilen – ganz kurz. Ich habe kein Talent zum Leiden. Ich schlage wieder, wo es nötig ist, um mir Bahn zu schaffen. Sonst laß ich die Angreifer und den Tagesärger neben mir herlaufen wie ein kläffendes Hündchen, das mich nicht beißt.“

Magda wünschte ihm zu sagen, daß sie ihm eines Tages allen Aerger aus dem Wege zu schaffen hoffe, daß sie ihn ganz verstehen, ganz in ihm aufgehen werde. Aber ehe sie dazu kam, sprang er auf, sah nach der Uhr, und mahnte: „Wir müssen heim.“

Er ging neben ihr, den Hut ein bißchen im Genick, daß die dunklen Haare vorn unter dem Rande hervorquollen, und hakte sie ein.

So schlenderten sie in übermütiger Stimmung dahin, sich loslassend, wenn der schlechte Weg es forderte, sich eiligst wieder erfassend, wenn sie zu Zweit schreiten konnten.

Vor dem „Seehof“ ging Hortense von Eschen schon auf und ab, das freie Haupt mit dem aschblonden Haar durch einen Sonnenschirm schützend, dessen Stiel über ihrer Schulter lag und dessen Rand sie an der einen Seite erfaßt hatte.

„Nun, Kinder,“ sagte sie, „zu fragen brauche ich nichts.“

Magda fiel ihr um den Hals. Ueber den braunen Kopf hinweg sah Hortense in Renés Augen, ernst und bittend. Er nickte ihr ein Versprechen zu. Sicher, Magda sollte den Tag nicht bereuen, er hoffte es von Herzen.

Nun setzten die Beiden ihr auseinander, wie sie die Beschützerin der möglicherweise langen heimlichen Verlobung sein solle.

„Da mutet Ihr mir etwas Schreckliches zu,“ sagte sie voll Unbehagen. „Das wird eine Intimität zwischen uns Dreien geben, die das Ende der Freundschaft heraufbeschwört.“

Das wollte weder René noch Magda für möglich halten.

„Ganz gewiß,“ versicherte Hortense mit ihrer drolligen Ernsthaftigkeit, „ich darf nicht intim werden. Sie sind sozusagen mein Schützling, René – ein dummes Wort, denn ein Mann, der ’was kann, fördert sich immer selbst und die Anteilnahme ist nur Ernte, die sein Können hält. Ja, was wollte ich sagen: also ich habe Sie sozusagen auch lieb, obgleich Sie ein Schlingel sind und es nicht immer verdienen. Und Magda ist mir so ein Vermächtnis von ihrer Mama und ich hab’ Dich auch lieb, Kind – aber intim waren wir schließlich nicht. Seht, so wie ich jemand nahe bin, mit gegenseitigen Rechten, fängt bei mir die Leidenschaft zu regieren an. Ich bin zu herrschsüchtig, es muß nach meinem Kopf und nach meinen Erfahrungen gehen. Und dann ist bald der Krach da.“

„Wir wollen gehorchen,“ bat Magda.

[676] „Im Gegenteil, wir wollen trachten, Ihnen die Herrschsucht abzugewöhnen,“ sagte René.

Sie drohte ihm mit dem Finger.

Daß man an einem solchen Tage nicht mit den anderen Gästen des Hauses zusammen essen konnte, verstand sich von selbst. Hortense ließ einen kleinen Tisch in der fernsten Saalecke herrichten und da nur Champagner unbekannter Marke auf der Weinkarte stand, bestellte sie Asti spumante. Der kräuterige, schäumende italische Wein schmeckte Magda köstlich. Die Jugendfreude, die zu Haus immer gewaltsam niedergehaltene, leuchtete ihr aus den Augen und ihr Lachen erscholl zuweilen klingend durch den Saal. René war ganz verliebt in ihr schönes Lachen und in ihre sanfte schwingende Stimme.

Hortense stieß mit ihnen an.

„Einen Rat, Kind, nimm gleich,“ sagte sie, „so eine heimliche Verlobung bringt Situationen mit sich, in denen René sich Dir wenig widmen kann. Frag’ ihn nie, quäl’ ihn nie, ‚liebst Du mich, liebst Du mich noch‘.“

„Sie sind ein Engel,“ rief René, „einen besseren Ratgeber kann ich meiner Braut nicht wünschen.“

„Mir scheint, Du nimmst im ganzen den Mann gegen die Frau in Schutz,“ sprach Magda, „das finde ich unrecht.“

Hortense sah fest in Renés vor Uebermut lodernde Augen.

„Ich finde,“ sagte sie, „daß die Frauen im ganzen unleidlich wenig Verstand in ihrem Verkehr mit dem geliebten Mann an den Tag legen. Wenn aber ein Mann eine feinfühlige Frau gewonnen hat, eine, die nicht zu viel fragt und nicht zu viel klagt, eine, die blind vertraut, nicht aus Dummheit, sondern weil sie an die Noblesse des Mannes glaubt, dann soll er solchen Schatz mit heiligem Ernst hüten und jeden Tag neu verdienen.“

„So, nun habe auch ich meinen Rat weg,“ rief René lachend.

„Weißt Du noch,“ sagte Magda, „wie Du ärgerlich warst, hier Bekannte zu treffen? Wir sahen es Deinem Gesicht gleich an, als Du ankamst und gedacht hattest, in dem kaum entdeckten Graubündener Bergneste fändest Du niemand und könntest einmal so recht aufatmen. Hortense allein, das wäre noch gegangen, aber das fremde, stille Mädel, das mit ihr war! Du machtest ein schönes Gesicht an mich hin. Und nun ist alles so geworden!“

„Ja, das Schicksal hat mich ereilt,“ seufzte er unartig.

Magda lachte. Sie wurden sehr lustig und es schien beinahe, als ob Magda einen ganz, ganz kleinen Schwips bekäme.

Es fiel ihnen gar nicht ein, daß etwa die Menschen an der Haupttafel sie beobachten könnten. Hortense fühlte sich immer so ganz hinaus über das Interesse an den X’ens und Y’ns, daß es ihr nie in den Sinn kam, die X’ens und Y’ns könnten sich für sie interessieren. Und wenn auch – es war ihr ganz egal. Ebenso hatte René durch Anlage und Gewöhnung die Fähigkeit, die Nähe beobachtender Menschen nicht zu fühlen. Und Magda sah nichts, dachte nichts als ihr junges, märchenhaftes Glück.

Am Abend dieses Tages stand Magda auf dem Balkon, der wie eine kleine Holzkrippe vor ihrem Zimmer an der Hauswand klebte.

Alles war zur Ruhe gegangen. Im Hochthal zwischen den Tannen herrschte Nacht, die schwarze, harte Dunkelheit, in welche undurchsichtige Körper versinken. Der Himmel darüber aber war, trotz seiner nächtigen Tiefe, gleichsam von innen heraus durchleuchtet. Seine Dunkelheit war klar, als könne der Blick sich ziellos in sie hinein verlieren. Die weißglänzenden Sterne, die ihn durchwirkten, standen in ruhigem Licht. Leises Gewölk lag um die Felsenhäupter und verbarg ihre scharfen Zackenlinien.

Magda träumte in die Nacht hinaus. Ihre Nerven waren noch zu erregt, um schon zur Ruhe kommen zu können. Der glücklichste Tag ihres Lebens lag hinter ihr.

Und ihre Gedanken bauten nun ein ganzes Zukunftsgebäude auf. Sie hatte in ihrem jungen Leben schon zuviel Ernstes erfahren, um zu glauben, daß fortan alle Tage ihr so wonnig lachen würden wie der heutige. Dies war auch schon ausgeschlossen durch die zunächst unverändert bleibenden Verhältnisse.

Aber ein Bild, das auf Goldgrund gemalt ist, macht doch einen andern Eindruck als eines, das vor grauem Hintergrund steht.

Das Bewußtsein, zu lieben, geliebt zu sein, hoffen zu dürfen, mußte alle Pflichten und Geschäfte des Lebens zu einer Spielerei machen. Mit wie neuer Freudigkeit wollte sie sich der Pflege des Vaters widmen, mit wie heißerem Eifer ihrer Kunst nachgehen. Bis jetzt war ihr das Talent, welches sie besaß, nur die Quelle einer für das Behagen ihres Vaters notwendigen Nebeneinnahme gewesen, denn die Pflege des leidenden Mannes, der einen Diener und trefflichste Ernährung brauchte, kostete viel Geld. Aber nun wollte sie noch einmal so viel zu verdienen suchen, um für die Aussteuer zurückzulegen und sich ein bißchen reicher zu kleiden, denn René liebte an Frauen schöne Gewänder. Auch regte sich ein bescheiden ehrgeiziger Gedanke in ihr. In der Dunkelheit der Nacht errötete sie darüber: René sollte sehen, daß sie auch etwas könne. Es war in seiner Gegenwart nur so ganz flüchtig die Rede davon gewesen, daß sie male, Stunden gab und auch schon manches Bild verkauft hatte. Es schien, er hatte kaum darauf gehört. Um so mehr würde er sich freuen, ihr Können achten zu dürfen. Wie glücklich, wie harmonisch sollte die Zukunft werden!

Seine Erfolge, um die sie sich bisher kaum gekümmert, machten ihr Herz vor Stolz erbeben. Sie konnte gar nicht fassen, daß sie jahrelang so gleichgültig über den Namen René Flemming hingehört hatte, der ihr jetzt der schönste, stolzeste, wichtigste von der Welt erschien. Und später würde sie heimlich teil haben an seinen Erfolgen. Er würde sie in seine Arbeiten einweihen, sie würde durch die Götterkraft der Liebe zum Verständnis derselben emporwachsen und im Geiste eins mit ihm sein.

Sie erinnerte sich, von klatschenden Damen zuweilen den Namen Renés mit einem Ausdruck nennen gehört zu haben, als müsse man sich vor ihm bekreuzigen. Er mochte manchen tollen Jugendstreich verübt haben, er gab es selbst zu. So hatte das Schicksal sie ausersehen, sein guter, vielleicht sein rettender Engel zu sein.

Dieser holde und thörichte Mädchengedanke erschütterte sie so sehr, daß Thränen in ihre Augen traten und ihre Seele gleicherweise von Dankbarkeit wie von heiligen Gelöbnissen erfüllt ward.

Wenn es ihr doch nur gegeben wäre, so recht beredt ihm alles zu sagen, was sie empfand! Aber ihre Zunge war nie schnell gewesen, und es schien immer, als schüchtere sie etwas in Renés Wesen ein, als warne sie etwas in seinem Blick, wenn er auf sie gerichtet war, viel von ihren und seinen Gefühlen zu sprechen.

Aber der Wunsch, sich ihm ganz mitteilen zu können, ihr ganzes Innere in das seine überströmen zu können, keine, gar keine Schranke mehr zwischen sich und ihm zu empfinden, wuchs in ihr.

Zu ihrer eigenen Ueberraschung blieb die letzte, die Schlußempfindung dieses Tags, der ihr das Glück gegeben, nicht eine gesättigte Dankbarkeit, sondern ein heißes Sehnen. Die Sehnsucht, sein Wesen, seine Seele, sein Inneres zu erfassen, es halten und zerlegen zu können, wie man ein Kleinod mit tastenden Fingern ergreift.

(Fortsetzung folgt.)



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Das Haar als Zeuge vor Gericht.

Von C. Falkenhorst.

In früheren Jahrhunderten spielte das Haar vor den Gerichten eine wichtige Rolle. Bart und Haar waren Rechtssymbole, Zeichen und Tracht des Standes der Freien. Darum rührten schwörende Männer Bart und Haar an, während schwörende Frauen die Finger der rechten Hand auf ihre Haarflechten legten. Darum wurde den Knechten das Haar kurz geschoren und auch ein Freier konnte sich durch Uebergabe seines abgeschnittenen Haares in die Knechtschaft eines anderen begeben. Wurde ein Erwachsener an Kindesstatt angenommen, so wurde ihm der Bart abgeschnitten. Anderseits bedeutete das Abscheren von Bart und Haar auch eine entehrende Strafe und unsere Vorfahren kannten eine Gerichtsbarkeit „zu Haut und Haar“, die kleinere Missethäter betraf und den Gegensatz zu der schwereren Gerichtsbarkeit „zu Hals und Hand“ bildete. Damit sind aber die Beziehungen des Haares zu dem Richterstuhl nicht erschöpft; denn der Aberglauben der damaligen Zeiten legte den Haaren besondere Eigenschaften bei, die auch für den Richter von Interesse waren. Weit verbreitet war die Ansicht, daß Kraft und Haarwuchs miteinander zusammenhingen; man fand dies auch in der Bibel durch die Geschichte von Simson bestätigt, und so waren viele Gerichtshöfe der Ansicht, daß Angeklagte, denen

[677]

Abendandacht bei Chioggia.
Nach einem Gemälde von Hermann Corrodi.

[678] das Haupthaar abgeschoren ist, durch die Folter leichter zum Geständnis ihrer Schuld gebracht werden können, ja man schrieb gelehrte Abhandlungen, in welchen die Richtigkeit dieser Anschauung bewiesen wurde. Das abergläubische Volk vermutete, daß in verschiedenen menschlichen wie tierischen Haaren geheime, zauberische Kräfte stecken; berühmt war in dieser Hinsicht namentlich das Katzenhaar; mit diesem konnten Uebelwollende ihren Nächsten vielfachen Schaden beibringen, und Paulus Zacchias, ein berühmter Gerichtsarzt, der zu Anfang des 17. Jahrhunderts lebte, schreibt noch von dem Gifte der Katzenhaare als einem der Gifte, welche gewöhnlich als solche nicht richtig erkannt werden. Heutzutage versucht in dem civilisierten Europa kein Bösewicht mehr, seinen Feind oder sein auserkorenes Opfer mit Katzenhaaren umzubringen. Nur noch unter wilden oder wenig von der Kultur beleckten Völkern, wie z. B. unter den Malayen, besteht der Brauch, daß Uebelwollende feingeschnittene Haare, namentlich Tigerhaare, in schleimigen Getränken anderen beizubringen suchen, um sie zu vergiften.

Mit solchen Verbrechen befassen sich unsere deutschen Gerichte nicht mehr. Oft aber spielt das Haar in Gerichtsverhandlungen eine sehr wichtige Rolle, indem einige wenige gefundene Härchen dazu dienen können, den Angeklagten der Schuld zu überführen. Diese Bedeutung hat jedoch das Haar erst in neuerer Zeit, in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts erlangt, seitdem es der Wissenschaft mit Hilfe des Mikroskops gelungen ist, die verschiedensten Haarsorten voneinander zu unterscheiden. Einer der ersten berühmten Fälle, die in dieser Art auf die Spur der Verbrecher leiteten, war der Massenmord, der in der Nacht vorn 10. auf den 11. Mai des Jahres 1861 in einer Mühle bei Chursdorf, zwei Meilen von Soldin entfernt, vollführt wurde. Dort fand man sechs Menschen ermordet, den Mühlenbesitzer und seine Frau, drei Kinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren und das sechzehnjährige Dienstmädchen. Alle diese Leichen zeigten Kopfwunden, die nach Ansicht des Gerichtsarztes nur mit den Oehrteilen von Aexten, Handbeilen oder Hämmern geschlagen werden konnten.

Fig. 1.

a Kopfhaar vom Menschen. b Haar vom Kinde. c Haar vom Marder. d feines Rattenhaar. e stärkeres Rattenhaar. f Hasenhaar, 430mal vergrößert.

Am 18. Mai wurde in Pommern, in dem Warsiner Forst, einige Meilen von Chursdorf entfernt, eine Höhle mit verschiedenen höchst wahrscheinlich geraubten Sachen entdeckt. Unter den letzteren befanden sich drei Handbeile die bei genauer Vergleichung mit der Mehrzahl der Kopfwunden der zu Chursdorf Ermordeten in Einklang zu bringen waren und sämtlich an ihrem Oehrteile zahlreiche dunkel- und schwarzrote glänzende Blutflecke hatten. Außerdem wurden an den Beilen noch 10 menschliche Haare gesunden, die mit Haarproben der Ermordeten verglichen wurden. Lender, der untersuchende Arzt, stellte nun fest, daß 3 schwarze Beilhaare mit den Haupthaaren des Mühlenmeisters, 2 dunkelblonde Haupthaare mit denjenigen der Kinder und die anderen mit den Haaren der Magd übereinstimmten. Unter den Beilhaaren befand sich aber keins, das zu den Haaren der ermordeten Frau gepaßt hätte. Dieser Umstand konnte nun zwar seine Erklärung darin finden, daß die Frau eine Haube aufgehabt hatte, allein es war auch keines der drei Beile so groß, daß es zu den Wunden am Kopfe der Frau gepaßt hätte: bei der Mordthat wurde also noch ein viertes Beil verwendet, das dem Untersuchungsrichter nicht vorlag.

Durch seine sorgfältigen Prüfungen stellte Lender jedoch nicht nur die Uebereinstimmung der an Beilen gefundenen Haare mit denen der Ermordeten fest, sondern zeigte auch, daß in ihnen geschlagene oder zerschlagene Haupthaare vorlagen, daß dieselben mit den betreffenden Beilen auf Schädeln lebender Menschen zerschlagen wurden und daß dabei auch jene Menschen erschlagen wurden. Die zehn Haare bezeugten so deutlich den Tod von mindestens drei Menschen, daß Lender den Ausspruch that: „Wären die Höhlenbeile nicht aufgesucht, sondern ohne Beziehung auf irgend ein Verbrechen aufgefunden worden, so würde die Kriminalpolizei die Pflicht gehabt haben, nach den Leichen derer zu forschen, die mit den Höhlenbeilen ermordet worden waren!“

Die weiteren Nachforschungen führten zur Entdeckung der Verbrecher, in deren Besitz auch das vierte Beil, mit dem die Frau erschlagen worden war, gefunden wurde.

In anderen Fällen gelingt es der Wissenschaft, unschuldig Angeklagte von dem schweren Verdacht des Mordes zu reinigen. Im Besitze eines Mannes wurde ein mit Blut und Haaren beschmutzter Stock gefunden und der Mann als vermutlicher Urheber einer Mordthat, die sich soeben in der Nähe ereignet hatte, verhaftet. Gegen ihn sprachen die Blutflecke und Haare an dem Stock; er entschuldigte sich mit der Aussage, daß er damit einen Hasen erschlagen hätte. In der That konnte der Gerichtsarzt die betreffenden Haare als Hasenhaare bestimmen und der Mann wurde dadurch entlastet.

So hängt oft das Wohl und Wehe der Menschen oder die Möglichkeit der gerechten Vergeltung von einem winzigen Härchen ab, und der Sachverständige, der dieses Härchen untersuchen soll, muß mit der größten Peinlichkeit vorgehen, um nicht in einen schwerwiegenden Irrtum zu verfallen. Die Methoden der gerichtlichen Haaruntersuchung sind darum aufs sorgfältigste ausgearbeitet und einige derselben sind auch für weitere Leserkreise nicht ohne Interesse; denn ihre Betrachtung öffnet uns belehrende Einblicke in verschiedene naturwissenschaftliche Gebiete.

Werden dem Gerichtsarzte Haare zur Untersuchung übergeben, so hat er zuerst zu entscheiden, ob dieselben vom Menschen oder einem Tiere herstammmen. Darüber giebt uns die Betrachtung der Haare durch das Mikroskop Aufschluß. Bei genügender Vergrößerung bemerken wir, daß ein ausgebildeter Haarschaft aus drei Teilen besteht. Den äußersten Rand bildet das Oberhäutchen, unter diesem liegt die Rindenschicht und die Mitte des Haarschaftes nimmt der Markstrang oder der Achsenstrang ein. Beim menschlichen Haar ist das Oberhäutchen, wie aus der nebenstehenden Abbildung, Fig. 1 a zu ersehen ist, glatt und dünn, so daß es wie eine Konturlinie erscheint. Die Rindenschicht ist verhältnismäßig breit, sie bildet die Hauptmasse des Haarschaftes und besitzt ein gestreiftes Aussehen, in dieser Schicht ist auch der Farbstoff eingelagert. Der Markstrang ist verhältnismäßig dünn; er nimmt etwa ein Fünftel, höchstens ein Viertel der ganzen Haarbreite an; er hat ein körniges Aussehen und besteht in Wirklichkeit aus kleinen Zellen, die jedoch so ineinander verfilzt sind, daß wir sie als solche ohne besondere Hilfsmittel nicht zu erkennen vermögen.

Tierhaare bestehen aus denselben drei Teilen, aber dieselben sind ganz anders beschaffen. Bei manchen Tierarten ist das Oberhäutchen des Haarschaftes nicht glatt, sondern gezahnt, wie z. B. bei feinem Rattenhaar, das in Fig. 1 d abgebildet ist. Am wichtigsten ist aber das Verhalten des Markstranges. Die Rindenschicht erscheint in Tierhaaren sehr wenig entwickelt, der Markstrang füllt oft fast das ganze Haar aus. Schon dann können wir behaupten, daß wir ein tierisches Haar vor uns haben, wenn die Breite des Markstranges mindestens ein Drittel der Breite des ganzen Haarschaftes beträgt. Außerdem aber sieht derselbe nicht körnig wie beim menschlichen Haar aus, sondern wir können in ihm noch deutlich den Bau der einzelnen Zellen erkennen, und da diese bei verschiedenen Tierarten verschieden gestaltet sind, so vermögen wir auf Grund der Bilder, die er darbietet, auszusagen, von welchem Tiere ein bestimmtes Haar stammt. Unsere Abbildungen in Fig. 1 führen dem Leser einige solcher charakteristischen Tierhaare vor. Soweit ist die Antwort auf die Frage, ob Menschen- oder Tierhaare vorliegen, nicht schwierig. Es kommt allerdings manchmal vor, daß namentlich junge Haare keinen Markstrang enthalten; wenn dann auch das Oberhäutchen glatt ist, so muß der Gerichtsarzt die Frage [679] unentschieden lassen und erklären, daß die betreffenden Haare sowohl vom Menschen wie von einem Tiere herstammen können.

Ist es nun gelungen, festzustellen, daß die zur Untersuchung abgegebenen Haare menschliche sind, so fragt man den Gerichtsarzt weiter, von welcher Körperstelle dieselben kommen, ob man Haupt-, Barthaare u. dergl. vor sich hat.

Fig. 2.

Spitzen von Frauenhaar.
70mal vergrößert.

In dieser Hinsicht ist die Untersuchung nicht mehr so leicht. Wir wissen zwar, daß die Haare auf verschiedenen Körperstellen verschieden stark sind; die größte Dicke besitzen Barthaare; denn bei ihnen kann der Durchmesser 0,15 mm erreichen, während weibliche Haupthaare die dünnsten sind und einen Durchmesser von nur 0,06 mm haben können. Es ist aber bekannt, daß einzelne Menschen besonders grobes, andere wieder sehr feines Haar haben, und so kann man auf die Messung der Dicke allein kein sicheres Urteil begründen. Man muß noch andere Merkmale in Betracht ziehen. Man achtet auf das Haarende. Dieses läuft bei normalem Haar in eine Spitze aus. Da aber das Haar vielfach der Reibung durch Kleidung, Druck und Stoß ausgesetzt ist, so wird die Spitze oft zerstört, und alsdann sieht das Haarende mehr oder weniger zerfasert, wie ein Pinsel aus. So sind oft die Spitzen von Frauenhaaren beschaffen (vergl. Fig. 2). Haare, die regelmäßig verschnitten werden, zeigen an ihrem Ende eine mehr oder weniger glatte, mit nur geringen Zacken versehene Schnittfläche. Auf Grund aller solcher Merkmale kann man schließlich wenigstens mit annähernder Bestimmtheit angeben, von welcher Körperstelle die betreffenden Haare stammen. In dieser Hinsicht kann auch bei vergleichenden Untersuchungen der Querschnitt des Haarschaftes verwendet werden. Wenn wir das Haar mit bloßem Auge betrachten, so erscheint es uns drehrund wie ein Draht. Das ist aber in Wirklichkeit nicht immer der Fall, oft sind die Haare, namentlich die vom Barte, kantig. Die Abbildung Fig. 3 führt uns eine Anzahl solcher Querschnitte von Haaren in starker Vergrößerung vor.

Wiederholt sollten Gerichtsärzte erklären, ob Haare, die man ihnen vorlegte, ausgefallen oder ausgerissen waren. Anlaß dazu geben Klagen wegen Raufereien, namentlich unter Weibern, die sich leicht bei den Haaren zu fassen pflegen. Die Entscheidung ist hier durch die Beobachtung der Haarwurzel möglich, da die Wurzel eines Haares, das mit Gewalt ausgerissen wurde, in der Regel anders aussieht als die des Haares, das seinen Lebenslauf beendet hat und von selbst ausgefallen ist.

Daß Mädchen aus Rache oder anderer Niedertracht unversehens Zöpfe abgeschnitten wurden, ist schon oft vorgekommen. Manchmal war es nötig, um den Thäter zu überführen, auch festzustellen, mit was für einem Instrumente, Schere, stumpfem oder scharfem Messer, der Zopf abgeschnitten wurde. Dies gab Anlaß zu Versuchen über Durchschneiden von Zöpfen mit einem gewöhnlichen Taschenmesser, einer gut schneidenden Schere und einem haarscharf geschliffenen chirurgischen Messer.

Mit dem Taschenmesser konnte der Zopf nur mit Mühe, bei starker Anspannung und wiederholtem Hinundhersägen losgetrennt werden. Die Haarenden zeigten bei mikroskopischer Untersuchung einen hohen Grad der Splitterung. Mit einer gewöhnlichen gut schneidenden Schere, wie sie sich im Nähtische der Frauen findet, konnte weder der ganze Zopf, noch eine einzelne Flechte auf einen Schnitt durchtrennt werden, sondern dies war nur schichtenweise durch eine größere Zahl einzelner Scherenschnitte möglich; die so gewonnenen Schnittenden der Haare boten durchaus nicht die scharf konturierte Trennungsfläche, wie man sie bei einem einzelnen mit der Schere durchtrennten Haare wahrnimmt, sondern es war eine deutliche Zähnung der Schnittlinien zu bemerken. Mit einem haarscharf geschliffenen chirurgischen Messer war es dagegen möglich, mit einem einzigen Zuge die stark angespannten sämtlichen Flechten des Zopfes zu durchtrennen. Die Schnittflächen der Haare waren glatt und ließen selbst bei 300facher Vergrößerung nur eine sehr feine Zähnung bemerken.

Die Färbung der Haare kann gleichfalls den Gegenstand gerichtsärztlicher Untersuchung bilden, da Verbrecher oft ihre Haare färben, um ihre Wiedererkennung zu erschweren. Ein gefärbtes Haar läßt sich unter dem Mikroskop von dem natürlichen unterscheiden. Interessant war früher die Frage, ob man dunkle Haare hell färben kann. Der Gerichtsarzt Orfila bewies zuerst, daß man dies durch Behandlung des Haares mit Chlorwasser erreichen kann. Dieses Bleichen ist jedoch sehr umständlich und wegen der scharfen Chlordämpfe nicht so leicht auszuführen. Die Neuzeit verfügt über ein bequemeres Mittel, das Wasserstoffsuperoxyd, das in der That dunkle Haare hell macht und das zu kosmetischen Zwecken vielfach verwendet wird.

Das Haar widersteht ungemein lange der Verwesung und deswegen wurde es auch zur Feststellung der Person beim Ausgraben von Leichen verwendet. Ganz zuverlässig ist es jedoch in dieser Hinsicht nicht; denn wiederholt hat man beobachtet, daß es in der Erde seine Farbe verändert, bald heller, bald dunkler wird.

Fig. 3.

Querschnitte verschiedener Menschenhaare. Stark vergrößert.

Schließlich wollte man das Haar längst Begrabener zur Entlarvung von Giftmorden verwerten. Man behauptete nämlich, daß Arsenik aus dem Körper in die Haare übergehe und in diesen jahrelang nach dem Tode der Vergifteten nachgewiesen werden könne. Von dem berühmten, vor kurzem verstorbenen Chemiker Hoppe-Seyler wurden Ueberreste einer nach elf Jahren wieder ausgegrabenen Frau auf Arsenik untersucht; einzig und allein in dem Kopfhaar wurde das Gift gefunden. Der Fall bildete ein unaufgeklärtes Rätsel, bis sich später herausstellte, daß man der Verstorbenen einen Kopfputz von künstlichen Blumen und Blättern mit ins Grab gegeben hatte. Diese konnten aber mit arsenikhaltigcn Farben gefärbt sein. Auf ähnliche Vorkommnisse lassen sich wohl auch andere Fälle zurückführen, wo man in Haaren Arsenik gefunden hatte. Wenigstens ist es bis jetzt nicht gelungen, nachzuweisen, daß der Stoff wirklich aus den Körpersäften ins Haar übergehe, obwohl man Haare von Kranken, die große Mengen Arsenik einnahmen, mit peinlichster Sorgfalt chemisch daraufhin untersuchte.

Aus diesen Beispielen mögen unsere Leser ersehen, wie mannigfaltig sich die gerichtsärztlichen Haaruntersuchungen gestalten können, zugleich aber, wie verwickelt sie sind. Der Gerichtsarzt muß wohl in seinen Schlüssen vorsichtig sein. Frühere Aerzte haben mitunter unter dem Mikroskop zu viel gesehen und auf Grund der Untersuchung von zwei oder drei Härchen ein Signalement des Verbrechers gegeben, wie z. B.: der Träger der betreffenden Haare ist ein kräftiger, zur Korpulenz geneigter, in den mittleren Jahren stehender Mann mit schwarzen und graumelierten, neuerdings kurz verschnittenen Haaren und beginnender Glatze. – Mitunter haben sich solche Signalements richtig erwiesen, oft aber trafen sie gar nicht zu. Das Haar kann bei sachverständiger Prüfung dem untersuchenden Richter wertvolle Fingerzeige geben, es kann vieles aussagen, aber es darf nicht geschwätzig werden.


[680]

Sturm im Wasserglase.

Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts.
Von Stefanie Keyser.

 (6. Fortsetzung.)


In den nächsten Tagen war dann ein geheimnisvolles Kommen und Gehen in allen ansehnlichen Bürgerhäusern zu verspüren. Ein Schriftstück wurde von Hand zu Hand gegeben von bedeutungsvollen Reden begleitet, wie: „Es muß jeder das Seine thun, auf daß das gemeine Wesen nicht in Unfall gerät!“ und „Hilf Dir selbst, so hilft Dir Gott!“

Für die Frauen gestaltete sich das Geheimnis abermals zu einem drohenden Vorzeichen, das Fieke in die Erzählung zusammen faßte: „Die Rathausuhr ist abgelaufen und hat eine Glockenstunde lang geschlagen, ohne daß man ihr hat Einhalt thun können.“

Struve aber arbeitete ein Bittschreiben aus, darin die Bürgerschaft bei allem schuldigen Respekt vor ihrem Fürsten und Herrn den Erbprinzen von Sondershausen bat, sich in diesem besonderen so unglücklich verwickelten Falle durch seine Fürsprache in Weimar ihrer anzunehmen.

Mit Genugthuung sah der Sekretarius auf die lange Reihe von Unterschriften. Kein angesehener Mann der Stadt fehlte, und auch kleine Leute, die durch Thatkraft, hellen Kopf und flottes Mundwerk sich Anhang verschafft hatten, waren vertreten.

Er packte die Schriftstücke mit einer klaren Darstellung der Sachlage von seiner Hand in einen starken Umschlag, und zuletzt schob er seine Abhandlung über einen gütlichen Vergleich mit Weimar hinein.

Dann berief er Märten und verriegelte die Thür.

„Märten, willst Du Deiner Vaterstadt einen Dienst erweisen?“

„Nee, Struve, lieber einen Streich spielen.“

„Nun, dann thust Du mir vielleicht einen Gefallen?“

„Das weißt Du, Struve.“

„Du sollst einen Brief nach Sondershausen an den Erbprinzen tragen. ob er uns vielleicht von der schweren Belastung befreien kann. Ich gehe weit über meine Befugnisse hinaus. Aber wir sind in der Notwehr.“

Märten nickte. Das Gesetz von der Notwehr kannte er von den vielen kleinen Untersuchungen her, in denen er gesteckt hatte.

„Es kommen immer einmal Zeiten,“ fuhr Struve fort, „wo Rechte und Gesetze, die doch nur unvollkommenes Menschenwerk sind, zu Fesseln werden, die man sprengen muß.“

Märten war ganz einverstanden. „Das hat mein Ur-Ur-Urgroßvater auch gedacht. Die Rädleinsführer wehrten sich mit der Mistgabel, Ihr Studierten mit dem Gänsekiel. Er wurde“ – Märten fuhr sich mit der Hand um den Hals.

„Und mir droht – Absetzung,“ antwortete Struve, „vielleicht auch Schlimmeres. Aber mögen mich die Folgen treffen! Ich kann nicht länger die Hände in den Schoß legen. Für jetzt gilt es, das Vorhaben geheim zu halten. Du bist als Bote der einzige, dem ich unbedingt vertrauen kann.“

Märten klopfte ihn auf die Schulter. „Sei ruhig, Struve; wir wollen die Sache schon miteinander in Ordnung bringen. Morgen früh gehe ich mit der Hacke hinaus in Deinen Berggarten, und in ein paar Tagen komme ich wieder. Fieke sage ich, ich hätte Deine Kirschen vor den Spatzen gehütet.“

Struve händigte ihm den Brief, einen Paß und ein Zehrgeld ein. „Willst Du irgend eine Waffe für den langen einsamen Weg?“ Märten lachte von einem Ohr zum andern. „Mein Jungeichener ist genug.“

Als Marten voraussichtlich aus dem Weichbild der Stadt entschwunden war, begab Struve sich in die Wohnung des Kanzlers, um diesem den gewagten Schritt frei einzugestehen.

Er war auf seine Amtsenthebung gefaßt.

Aber er wurde abermals nicht vorgelassen. Der Herr Kanzler sollte in eine „unempfindliche Schlafsucht“ verfallen sein. Waren dem schlauen Diplomaten Gerüchte zu Ohren gekommen?

Dann ging Struve zu Magdalene. Ihr gegenüber mußte er sich aussprechen. Er durfte ihr die Gefahren nicht verhehlen, die seine Handlung auf ihren Lebensweg heraufbeschwor.

Es war Abend. In dem lauschigen Winkel, den sich das Brautpaar zum Plaudereckchen erkoren hatte, saßen sie, fest umschlungen. Die Seite nach dem Fenser beschattete das reich belaubte Myrtenbäumchen des jungen Mädchens, die andere schloß das braune Gehäuse der großen Standuhr ab.

Das müdgedachte Haupt an Magdalenes Schulter gelehnt, schüttete er sein ganzes Herz aus.

Dann ihr tief in die Augen blickend, sagte er: „Nun sprich Du das Urteil. Ich weiß, daß bei so bewandten Dingen ich mit meinem Herzenswunsch mich noch bescheiden muß. Denn welches Haus ist nun der gesichertste Platz für Dich: das elterliche, oder das Deines zukünftigen Ehemannes? Ueber beiden schwebt das Schwert der Justitia, und – die Göttin ist blind.“

Leise strich ihre Hand über sein Haupt. „Die reine kluge Stirn!“ sagte sie in kosendem Tone. Dann küßte sie ihn lange und heiß auf die beredten Lippen. In der Verborgenheit gab es keine zärllichere Braut; sie war einmal ein stilles Wässerchen. „Ich soll die Entscheidung sprechen? So komm, mein einziges Herz!“

Sie zog ihn sich nach in die Nebenstube, wo ihr Vater die Feierstunde mit einem Pfeifchen genoß, die Mutter Johannisbeeren von den Träublein zu einem Kuchen in eine große bunte Schüssel streifte.

„Wenn es meinen geliebten Eltern recht ist,“ sagte sie mit ihrer gleichmäßigen klaren Stimme, „so setzen wir die Hochzeit auf heut’ über vierzehn Tage fest. Die schlimmen Zeitläufte erklären die Beeilung des wichtigen Werkes. Und es wird um deswillen auch genügen, wenn wir ein für allemal aufgeboten werden.“

Hochehrwürden dachte nach. Die Mutter rief: „Aber die Ausstattung! Und gerade in der schweren Zeit!“

„Wir sind recht fleißig,“ sagte Magdalene, „und ich gehe ja in das alte Struvesche Familienhaus.“

Ihr Vater aber fügte hinzu: „Wollte man auf dieser Erde mit seinem Fürhaben warten, bis alle Wasser der Trübsal sich verlaufen haben – es würde nichts vollbracht. Ich bin mit meinem Kinde einverstanden.“

„Bist Du zufrieden mit meinem Beschluß?“ fragte das junge Mädchen und sah lächelnd zu Christian auf.

„Magdalene!“ rief er und schloß sie fest in seine Arme. –

Nun hob ein Hämmern, Fegen, Bürsten im Struveschen Haus an.

Es fiel in dem Treiben nicht auf, daß auch Märten eines Abends sich hindurchwand bis zur Studierstube.

Hinter der abermals verriegelten Thür trennte er aus seiner Zwilchjacke ein Schreiben und überreichte es Struve.

Das Gesicht desselben wurde heiter, während er las. „Du hast uns allen einen großen Dienst erwiesen,“ sagte er. „Ich bleibe einstweilen in Deiner Schuld.“

„Hast’s nicht nötig, Struve; ich bin in Deiner.“

Dann ging wieder alles seinen Gang.

Nach reichlicher Mahlzeit half Märten die neu gebohnte Kommode mit den blitzenden Messingbeschlägen in das Zimmer der zukünftigen Hausfrau schaffen.

Krainsberg rasselte vorüber und schaute neugierig in die saubere Stube.

„Ist die Hachzeit var der Thür?“ fragte er den Hausherrn, der sorgsam ein krummbeiniges Nähtischchen aufstellte.

„Die erste Festivität steht bevor,“ erwiderte Struve knapp.

Krainsberg pflanzte sich fest auf.

„Kranzbinden?“

„Nein.“

„Brautsuppe?“

„Nein.“

Krainsberg meisterte kaum seinen Zorn. So oft er davon gesprochen hatte, der Brant seines Quartiergebers die Visite machen zu wollen, war Struve ausgewichen. Er wollte sie endlich sehen, und wenn er die Superintendentur stürmen sollte – mille tonnerres!

„Darf man nicht seine Teilnahme dabei beweisen?“ attackierte er von neuem.

„Nur Demoiselles versammeln sich,“ gab Struve umständlicher

[681]

Der Glockenguß.
Nach einer Originalzeichnung von R. Starcke.

[682] Auskunft. „Jedes männliche Wesen ist ausgeschlossen. Nicht einmal der Bediente darf präsentieren. Erst nachdem die feierliche Handlung vorüber ist, wird mir gestattet, meine Aufwartung zu machen.“

Während dieser Erklärung hatte eine Ordonnanz von dem die Besatzungstruppen kommandierenden Major ein Schreiben mit dem weimarischen Siegel gebracht.

Und auch dieses Schreiben entwölkte die Stirn des Lesenden. Krainsberg lächelte rätselhaft, als er es in seine Brusttasche steckte.

Dann fragte er: „Wann findet die geheimnisvolle Handlung bei Seiner Demoiselle Braut statt?“

„Uebermorgen abend.“

Darauf klirrte der Husar pfeifend in sein Zimmer.


Auch Bärbchen Marei war zu der Festlichkeit geladen worden.

Magdalene hatte darauf bestanden; sie wollte gern ihre eifersüchtige Anwandlung gut machen. Und Bräuten wird immer der Wille gethan.

Die Preiselbeerröte der Wangen Bärbchen Mareis war vergangen in den wenigen Wochen.

Keine Nachricht war von Mühlhausen gekommen. Aber der Vetter blieb lange aus; das ließ vermuten, daß seine Sache – gut stand, dachte sie, während ihr Herz sich zusammenzog.

Wo hätte auch der Sebastian sich vergeblich angeboten?

Während sie geräuschlos hin und her flog, ihren bescheidenen Staat zu ordnen – die Strümpfe mit den bunten Zwickeln, die Schürze aus weißem Nesseltuch erinnerte noch an ihre ländliche Herkunft – dachte sie daran, daß vielleicht auch in Mühlhausen jetzt eine glückliche Braut sich putzte, um den Verspruch mit dem einzigen Sebastian zu feiern.

Sie mußte sich schmal machen in den Altjungfernstübchen der Muhme; denn diese bedurfte des ganzen Platzes. Die Wedemannin war die kunstfertigste Haubenmacherin für die Bürgerfrauen der Stadt. Keine andere verstand so feindinnig die Haubenfleckchen zu wählen: für die junge lustige Frau einen beflitterten Schmetterling, für die alte Witwe ein Zweiglein Singrün.

Alle Stuhllehnen hingen voll schwarzseidener breiter Bänder, die mit dem nötigen Leim bestrichen waren; die schwarzen Spitzenbarben zischten auf dem Tisch unter dem Brenneisen.

Auf dem Deckel eines Clavicords, das dicht in die Fensterecke geschoben war, hatte das junge Mädchen einen Waldstrauß ausgebreitet, den die Botenfrau von Gehren ihr mitgebracht hatte. Sie band zarte Heideblüten zu einem kleinen Kopfschmuck zusammen und in das Sträußchen am Mieder fügte sie ein paar Fichtenzweiglein. Die hatten hoch vom Berg herab geschaut auf das bemooste Schindeldach der Schule, wo sie unter Sang und Klang aufgewachsen war, auf die Kirche, deren Orgel ihr zuerst die mächtigen Gedanken Sebastians in die Seele gebraust hatte, und auf die stillen Ruhestätten der Eltern. Ein Thräne fiel auf das Sträußchen.

„Ist das ein armseliger Kopfputz, den Du da zusammen stoppelst!“ tönte es vom Tische her, wo die ehrsame Jungfrau nun vor einem Haubenkopf saß, der die Mütze trug. „Die Waisenmutter schenkte Dir gewiß aus dem Garten ein paar Blumen. Es blüht so schöne feuerrote Männertreu dort – freilich, die hält sich nicht.“ Sie sagte es ohne Bosheit. Sie war ja ganz darein vertieft, daß die Schleifen recht bolzgerade auf die Haube kamen.

Bärbchen Marei, die vor dem kleinen Spiegel die Heidezweige ausprobiert hatte, ließ, wie von einem Schlag getroffen, die Arme sinken.

„Man sitzt gar zu eng in der Stube, seitdem Dein Clavicord darin steht,“ mäkelte die Muhme, ein langes Band in den ausgebreiteten Armen ausspannend. „Daß Du es aber auch immer mit Dir herumschleppst! Verkaufe doch den alten Kasten.“

Bärbchen Marei hielt beide Hände über das kleine Instrument. „Ich das Clavicord verkaufen, das der Vater selbst gebaut hat?“ rief sie. Darüber durfte sie doch wenigstens offen weinen.

Sie setzte sich davor und strich über die Tasten; ein leises Getön antwortete.

Da flüchtete sie sich mit ihrem Jammer dahin, wo ihrer Sippe Heimat war: in die Welt der Töne.

Leise griffen ihre Hände klagende Akkorde, stille Weisen, die das braune Gehäuse unter ihres Vaters Händen schon ausgehaucht hatte.

Das Fenster war geöffnet. Zuweilen zog auf warmer Luftwelle der Duft der Sommerblumen im Waisenhausgarten herein – der zarte Geruch der schnell vergehenden Männertreu. Er that ihr weh.

In schmerzliche Gedanken versunken, fand sie, fast ohne es zu wollen, die Melodie, die ihr damals auf dem Pfarrhof aus Sebastians Stube entgegengetönt war.

Die Thränen rannen unaufhaltsam über ihre Wangen.

Da – sang plötzlich eine schöne Baßstimme, richtig einsetzend: „Siehe, ich stehe vor der Thür und klopfe an.“

Ihre Hände blieben in der Luft schweben – einen Augenblick nur – dann antwortete jubelnd das Waldvöglein: „Sei willkommen, Du edler Gast.“

Die Thür fuhr auf, Sebastian herein. Sie umarmten sich, noch die letzte Strophe auf den Lippen. Und als sie in der Seligkeit mit der linken Hand aussetzte, schlug er mit kräftigem Finger den Baß an.

„Ich bin Kantor in Mühlhausen, und Du wirst meine kleine Kantorin.“

Die Muhme stand mit aufgehobenen Händen hinter ihrer fertigen Haube. „Und die Töchter von dem alten Kantor?“

Er lachte auf. „Der brave Mann hat nur Jungen gehabt.“

„Und Du, Bärbchen Marei, willst es wirklich wagen mit diesem Musikanten, der nirgends Ruhe hält?“

Bärbchen lächelte ihren Schatz selig an. „In einem Tannennest bin ich aufgewachsen, auf einem schwanken Zweiglein habe ich hier Unterschlupf gefunden; nun baue ich mir – beliebt’s Gott! – wie die Schwalbe ein Nest an der Kirche in Mühlhausen.“


Als der wichtige Abend herein dämmerte, trugen zwei Diener die Portechaise des Kanzlers nach der Superintendentur.

Kiliane saß darin mit flackernden Augen und glühenden Wangen.

Ja, sie hatte sich wieder hineingestürzt in die Komödie des Lebens. Wie ein schöner wilder Kobold wirbelte sie unter dem Hofstaat der Augustenburg herum.

Sie wußte, daß sie seit jener denkwürdigen Kirchenfahrt bei ihrer Durchlaucht schlecht angeschrieben war. Aber es berührte sie nichts mehr. Ihre Lippen kräuselten sich zu spöttischem Lächeln, wenn Augusta Dorothea ihr ungnädig den von großer Watteaufalte umrauschten Rücken zukehrte; sie lachte, als der blasse Severin ein Kreuz vor seinen düstren Augen schlug, da sie, vom leichten Pudermantel umflattert, im Korridor an ihm vorüber flog; und am grellsten lachte sie über den Junker von Eichfeld.

Es wollte ihr zwar ins Herz schneiden, wenn sie den verzehrenden Blick der grauen Augen so voll Schmerz auf sich ruhen sah. Aber sie wandte sich kalt von ihm ab: der armselige Wicht verdiente kein Mitleid.

Auch heute hatte sie ihn durch ihre Nichtbeachtung gequält, während sie ihren erbittertsten Widersacher, den ersten Kammerherrn, so lange umschmeichelte, bis er nicht mehr widerstehen konnte und ihr zu einer Fahrt in die Stadt bei der Oberhofmeisterin Urlaub erwirkte.

Verfallen, blaß schaute Konrad zu, wie der stelzbeinige Mann sie nach der Kutsche geleitete, ganz berauscht von ihren schmachtenden Augen.

Als das lange Gefährt sich in Bewegung setzte, rief sie zum Fenster hinaus: „Ich fahre zu einer Brautvisite in die Superintendentur.“ Wie wurde das eben noch schmunzelnde Gesicht der falschen Hofschranze grünlich vor Wut!

Ueber Konrads bleiche Züge zuckte ein schadenfrohes Lachen. Ach, auch das wollte ihr weh thun!

Auch ihr Oheim, der Kanzler in seiner Krankenstube, machte ein langes Gesicht, als er hörte, daß sie das Haus des aufstutzigen Geistlichen betreten wolle. Sie wehte ihm mit ihrem Fächer Kühlung zu und heizte ihm zugleich mit der Sorge ein, daß sein Arbeitspferd Struve durch die Nichtbeachtung der Braut am heutigen Tage störrisch werden und dann er selbst unter einem Aktenberg ersticken müßte.

Da sah der gravitätische Mann an seiner langen Nase herab und sagte: „Man schweige und thu’, was man will. Ich weiß von nichts.“

[683] Als die Portechaise an der Superintendentur niedergesetzt wurde, kam Magdalene dem Hoffräulein entgegen, diesmal mit herzlicher Freundlichkeit.

Der harte Blick drang heute aus Kilianes Augen. Sie deutete auf die weiß und rot gestreiften Tapetenrosen, die ihr blauseidnes Kleid, die hohe Frisur überreich schmückten, und sagte: „Ein Präsent Ihres Monsieur Bräutigams.“

Aber bei dem sanften Lächeln, mit dem Magdalene antwortete, preßte sie die Lippen zusammen. So weich, so gut werden die Menschen, wenn sie glücklich sind.

Dann balancierte sie ihr Flügelkleid zur Hausfrau. „Da mein Oheim, der Kanzler, keine Töchter hat, die am heutigen Tag der Braut seines Geheimsekretärs Beistand geleistet haben würden, bitte ich mich an Stelle derselben anzunehmen.“

Die Brautmutter drückte ihr innig die Hand.

Aber Kiliane fing den dankbaren Blick nicht auf. Sie rauschte in die Visitenstube hinein, wo die jungen Mädchen versammelt waren.

Ein duftendes Sträußchen auf dem Toupet, am eckigen Ausschnitt des Leibchens und in den Händen, eine immer hübscher als die andre, saßen sie auf den Kanten der Stühle, flüsterten nur und nippten kaum an den Mandeltorteletten und dem festlichen Getränk, welches nach dem wackren Hausgerät, das man zur Bereitung brauchte, „Dreifuß“ genannt wurde.

Jetzt war es vorbei mit dem Kerzengeradesitzen. Kiliane kannte alle vom Puppenverein her, zu welchem die Fürstin zuweilen die Frauen und Töchter der Honoratioren lud.

Sie neckte die schwarzäugige Tochter des Kammerrats damit, daß sie bei dem letzten Fischfest am Schloßteich sich mit Fleiß den Fuß verstaucht habe, um von dem hübschen Kammerschreiber auf dem Schiebebock nach Hause gefahren zu werden, und die beiden blauäugigen Kinder des Amtmanns, daß sie nicht wußten, ob der junge Subkonrektor die Aelteste oder Jüngste meinte, wenn er ihnen seine Verse vorlas.

Und wie eine unternehmende Bienenkönigin, den ganzen summenden Schwarm hinter sich herziehend, flog sie in die Wohnstube hinein, wo das Werk des Abends vollbracht werden sollte.

Die Tafel in der Mitte trug die große Bibel, ein mächtiges Tintenfaß und Streifen handfesten Papieres.

Ringsum türmten sich auf Schemeln und Körben hochaufgestapelt neue Betten.

Fieke stand mitten unter ihnen, den Fingerhut aufgesetzt, die Nadel mit dem gewichsten Faden an das Kamisol gesteckt; denn die letzte Naht war an jedem Bettstück noch zuzunähen. Vorher aber mußten, altem Gebrauch gemäß, zwischen die Federn Zettel mit frommen Sprüchen versenkt werden. Das brachte Glück; die Wahl dieser Sprüche war ein ernstes Geschäft, und dazu war der Beistand der jungfräulichen Freundinnen der Braut erbeten worden.

Kiliane blies lachend in eines der mächtigen Bettstücke, daß die Flaumen herumflogen. Dann trat sie zu der großen Bibel.

Auch die andern jungen Mädchen kamen heran; es schloß sich ein Kreis um das ehrwürdige Buch.

Die Dunkelheit war früh hereingebrochen. Ueber dem steilen Dach der Oberkirche stieg eine Gewitterwolke herauf, aus der feuriger Schein zuckte.

Die Flammen der brennenden Kerzen wehten leicht in der Luft, welche durch die der Schwüle wegen geöffneten Fenster zog.

„Wollen die Demoiselles nicht lieber däumeln?“ riet Fieke flüsternd, damit es die Hausfrau in der Stube daneben nicht hörte. „Da findet man wahrsagende Sprüche.“

Magdalene wollte wehren. Däumeln war eigentlich verboten.

Aber Kiliane hatte sich schleunigst von Fieke über die Kunst unterrichten lassen, klappte schon die Bibel auf und drückte den Ballen des Daumens auf eine Stelle.

Aber sie fuhr zurück, als habe sie sich verbrannt. „Meine Harfe ist eine Klage geworden, und meine Pfeife ein Weinen,“ las sie; während ein Wetterschein über die Tafel huschte, als züngle eine blaue Flamme nach der Heiligen Schrift.

Einen Augenblick schwiegen alle erschrocken. Kiliane trat zurück.

„Ich will aufschlagen!“0 „Ich!“0 „Ich!“ rief es ringsum.

Mit glühenden Köpfchen, eiskalten Fingerchen stürzte sich die jugendliche Schar auf die Bibel.

Einen Schrei rief der Spruch der Schwarzäugigen hervor: „Du setzest sie aufs Schlüpfrige und stürzest sie zu Boden.“

Das reife Christelchen brach in Thränen aus, als ihr das Wort zuteil wurde: „Ich bin wie eine Rohrdommel in der Wüste.“ Dieser Hohn auf ihre gescheiterten Hoffnungen!

Auch Fieke schlug fürwitzig nach und las: „,Es ist genug zu diesem Leben, wer Wasser und Brot hat.‘ – Nicht einmal das Heilige Buch verlangt mehr, und ein Bürgermeister darf auf hundert Meißenschen Gülden bestehen!“ belferte sie und schob Bärbchen Marei die Bibel zu.

Aber diese schüttelte lächelnd den Kopf. „Mir ist mein Sprüchlein in die Wiege mitgelegt worden, die in dem engen Musikantenstübchen stand: ,Sehet die Vöglein unter dem Himmel.‘“

„Sie hat recht,“ sprach Magdalene mit warmem Blick auf das Kantorentöchterchen. „Weshalb suchen wir auf verbotene Weise in der Bibel, während wir einen Schatz von schönen Sprüchen aus ihr geschöpft haben?“

Sie schloß die silbernen Klammern des mächtigen Buches, faltete die Hände darüber, wie sie, der Augapfel ihrer Lehrer, stets in der Schule gethan hatte, und sprach, ohne sich zu besinnen: „Bete und arbeite!“

Die schrifterfahrenen Freundinnen des Subkonrektors griffen nach den Federn und schrieben zierlich; die noch immer zitternden Finger streckten sich dienstfertig aus, um die Zettel in die Betten zu versenken, und emsig nähte Fieke die letzten Nähte zu.

Vor den schönen kernigen Sprüchen, die alle Gottvertrauen und strenge Pflichterfüllung, Ergebung in Gottes Willen und Genügsamkeit geboten, schwand die leichtsinnige Regung, welche danach getrachtet hatte, ein Zipfelchen vom Schleier der Zukunft zu lüften.

„Und nun zum Schluß,“ sagte Magdalene mit fester Stimme, als es an das letzte Stück, ein mächtiges Kopfkissen, kam: „Ein gut Gewissen ist ein sanft Ruhekissen. Amen.“

„Amen!“ sprachen die jungen Mädchen laut und freudig nach.

Nur eine schwieg und starrte finster wie in das Leere: es war Kiliane.

Als die Mutter jetzt ihr Kind küßte, wandte sie sich jäh ab.

Das Werk war vollbracht. Die Mädchenschar zog sich wieder in die Visitenstube hinüber.

Da kam auf den Wellen der schwülen Gewitterluft, mit dem zuckenden blauen Schein ein Klirren näher, immer näher.

Jetzt rasselte es auf dem Pfarrhof, rhythmischer Schritt erklang, vor der Hausthür verstummte er plötzlich mit klirrendem Absetzen.

Es kam die Treppe herauf, ging empor nach dem Zimmer des Hausherrn.

Atemlos hatten die Frauenzimmer gelauscht.

„Da haben wir das Unglück, das sich durch die Sprüche angezeigt hat,“ sagte Fieke, welche stets zuerst die Sprache wieder bekam.

„Nein!“ lachte Kiliane gewaltsam auf, nachdem sie zum Fenster hinaus geschaut hatte. „Da haben wir die Husaren. Zwei halten die Hauspforte besetzt mit gezogenen Säbeln.“

„Zwei bewachen uns,“ flüsterte Fieke, durchs Schlüsselloch lugend.

„Was mögen sie wollen?“ fragte beklommen die Hausfrau.

Die durch das ganze Haus dröhnende Stimme ihres Gatten gab Antwort: „Der Herr Rittmeister bringt mir den Befehl Seines Herrn, des Herzogs von Weimar, daß ich denselben in das Kirchengebet schließen soll als Oberherrn dieser Stadt und Landschaft? Ich habe meinem Herrn, dem Fürsten von Schwarzburg, Treue geschworen und diesen Eid breche ich nicht. Das vermelde der Herr Rittmeister Seinem Herrn. Und damit: Gott befohlen.“

Die Schritte kamen die Treppe wieder herab, aber ganz flott und leicht. Die schroffe Abfertigung bekümmerte den jungen Offizier offenbar wenig.

Ein Kommando, mit klingender Stimme gegeben, und die Husaren marschierten ab. Dann fragte dieselbe Stimme das zusammengelaufene Gesinde: „Ist es dem Rittmeister von Krainsberg erlaubt, der Frau Superintendentin seinen Respekt zu bezeigen?“

Die Hausfrau faßte sich. Es war am klügsten, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie ging dem Eindringling entgegen und bat ihn, näher zu kommen.

Mit klirrendem Schritt, verbindlich sich verbeugend, trat er über die hohe Schwelle.

(Fortsetzung folgt.)


[684]

Beim Glockenguß zu Laucha.

Von Carl Müller-Rastatt. Mit Zeichnungen von R. Starcke.

Die Glockengießerei zu Laucha.

Gleich einem blühenden Garten grünt das anmutige Unstrutthal. Es ist ja einer der nördlichsten Vorposten des Weinbaus, und zwischen Obstgärten versteckt liegt auch das kleine Städtchen Laucha, dessen Ruf weit über die Grenzen Thüringens gedrungen ist. Seit anderthalbhundert Jahren wirkt ja in seinen Mauern ein berühmtes Geschlecht thüringer Glockengießer und von Laucha sind in den letzten dreißig Jahren allein mehr als tausend wohltönende Kirchenglocken in alle Gauen Deutschlands gewandert! Johannes Ulrich, der Stammvater dieser Glockengießer, war vermutlich schon gegen das Ende des 17. Jahrhunderts aus Hessen in Thüringen eingewandert und seine Nachkommen gründeten die berühmten Gießereien in Apolda und Laucha. Bei einem dieser Ulriche, beim Großvater des jetzigen Inhabers, soll auch Schiller seine Studien zu dem unsterblichen „Lied von der Glocke“ gemacht haben. Ein demselben zum Geschenk gemachtes Bild zu diesem Liede wird von der Familie begreiflicherweise als werthvolles Andenken in hohen Ehren gehalten. Doppelt denkwürdig erscheint also diese Werkstätte, und oft wird sie von Neugierigen aus nah’ und fern aufgesucht, denn der Glockenguß zählt sicher zu den eigenartigsten, anziehendsten Handlungen des Kunstgewerbes. Wie die Glocke entsteht – das ist fürwahr ein spannender Abschnitt aus der Geschichte der menschlichen Arbeit, der uns immer fesselt, obwohl die Fortschritte der Neuzeit an der altbewährten Kunst des Glockengießens so ziemlich spurlos vorübergegangen sind.

Das Christentum war es, das schon frühzeitig die weittönende Glocke zu gottesdienstlichen Zwecken heranzog, und mit dem Aufblühen der äußeren Pracht der christlichen Kirchen entfaltete sich die Kunst des Glockengießens zu ihrer höchsten Vollendung. Stümperhaft waren die ältesten Glocken, die noch hier und dort in Museen aufbewahrt werden. Kuhschellen ähnlich, bestanden sie aus Eisen- oder Bronzeblechen, die mit kupfernen Nägeln zusammengenietet waren. Später lernte man größere, wohltönende Glocken gießen und vor allem waren es Mönche, die diese Kunst ausübten. Erst im 13. Jahrhundert, als die Städte erstarkten und in ihnen die Gewerbe aufblühten, begannen Metallgießer nebenbei sich mit Herstellung der Glocken zu befassen, bis diejenigen, die sich besonders auszeichneten und größere Kundschaft sich erwarben, den Glockenguß als freies Hauptgewerbe ausübten. Die Geheimnisse dieser Kunst vererbten die Väter auf ihre Söhne, und so entstanden berühmte Geschlechter von Glockengießern. Damals arbeiteten diese Leute zumeist im Umherziehen; sie wanderten von Stadt zu Stadt und gossen die Glocken an Ort und Stelle, um den schwierigen Transport der gewichtigen fertigen Stücke zu ersparen. Ihr Ansehen wuchs und die Zeitläufe brachten es mit sich, daß diese Meister nicht nur von kirchlichen Herren, sondern auch von Fürsten und Königen viel umworben wurden. Das geschah, als im 15. Jahrhundert das schwere Geschütz in das Kriegswesen eingeführt wurde. Die Glockengießer waren die einzigen Kunsthandwerker, die den Kernguß großer Metallmassen verstanden, und nun gossen sie neben friedlichen Glocken auch die Verderben speienden Kanonen. Die Fürsten suchten die gewandtesten der Meister durch hohe Gehälter und Ehren an sich zu fesseln und immer mehr schmolz die Zahl der selbständigen Glockengießer zusammen. Kirchenglocken wurden zum größten Teil in staatlichen Kanonengießereien hergestellt. Die Neuzeit hat wiederum ganz veränderte Verhältnisse geschaffen. Die staatlichen Gießereien liefern keine Glocken mehr, das Fabrikwesen hat das Kunsthandwerk überwuchert, Anstalten, die allerlei Maschinen, namentlich Feuerlöschgerate, herstellen, gießen nebenbei auch Glocken und sehr selten sind größere Werkstätten geworden, in welchen ausschließlich Glocken hergestellt werden. Die hohe Blüte dieses Kunsthandwerkes ist dahin. Umsomehr also müssen wir den Männern Anerkennung zollen, die, auf überlieferte Erfahrungen sich stützend, auch in der Neuzeit mustergültige Glocken der Welt schenken, und deshalb dürfte es den Lesern nicht unwillkommen sein, wenn ich sie auffordere, mit mir im Geiste einem Glockenguß in Laucha beizuwohnen.

Es war ein herrlicher Sommertag, als mich die Seitenbahn von Naumburg ins liebliche Unstrutthal hineintrug. An dem malerisch gelegenen Freyburg vorbei, das mit seinem Schloß auf stolzer Höhe und seinen tiefen und gehaltreichen Sektkellereien schon einen eigenen Besuch lohnt, führte mich das Dampfroß in einem halben Stündchen nach Laucha, das, anmutig im Thalgrunde hingelagert, jetzt nur noch durch Bruchstücke seiner alten Ringmauer ahnen läßt, wie notwendig es in alter Zeit eines festen Schutzes gegen die ringsum auf den Berghöhen sitzenden adligen Herrn, die die Städter brandschatzten, wo sie nur konnten, bedurfte. Wo einst der breite Wallgraben sich hinzog, ist jetzt eine prächtige Promenade angelegt, unter deren schattigem Lindendach die Alten ihre müden Glieder ruhen lassen und die Kinder ihre fröhlichen Spiele treiben. Ein paar hundert Schritte ging ich in ihr dahin, dann auf der Brücke über einen trockenen Graben, und da grüßte mich, in Ostbäumen halb versteckt, die Glockengießerei, die, bescheiden genug, aus zwei unmittelbar miteinander verbundenen Gebäuden besteht, der eigentlichen Gießerei und dem daran stoßenden Schuppen, der zu vorbereitenden Arbeiten und zur Aufbewahrung der Geräte, Schablonen etc. dient.

Ich trat in die Gießerei, von Herrn Ulrich freundlich empfangen, und gesellte mich den schon anwesenden Herren und Damen zu, die das bevorstehende Schauspiel gleichfalls angelockt hatte. Neugierig ließ ich meine Blicke durch den weiten Raum wandern, dessen Mauern und Dachsparren vom Ruße gleichmäßig geschwärzt sind. Zum guten Teil ist er von dem riesigen, aus mächtigen Steinen aufgeführten Schmelzofen gefüllt, von dem eine flammende Hitze ausging. Davor scheinbar fester Boden, in dem sich vier spitze Erhöhungen befanden. Es war die Dammgrube, in der vier kleine Glockenformen bereit standen, das flüssige Metall in sich aufzunehmen. Denn der Glockenguß ist nicht, wie der Laie wohl denken mag, das Werk weniger Stunden; tagelange, mühevolle Arbeit geht dem eigentlichen Guße voraus, Arbeit, die mit peinlichster Sorgfalt gethan werden muß, weil das leiseste Versehen, die geringste Versäumnis, den Erfolg des Werkes nicht nur, sondern auch Leib und Leben der Arbeiter gefährdet. Für jeden Guß muß eine besondere Gußform hergestellt werden. Sie wird in der Dammgrube aufgemauert, die sich vor dem Schmelzofen befindet und je nach der Größe der zu gießenden Glocke so tief ausgegraben wird, daß die Spitze der Form über ihren oberen Rand nicht hinausragt. Das Material, dessen man sich dazu bedient, ist Lehm. Auf dem Boden der Grube wird aus Lehmziegeln das Fundament für die Form aufgemauert, mit Kanälen versehen, die den Luftzutritt zu dem in der Form zum Trocknen befindlichen Feuer gestattet. Auf dem [685] Fundament wird dann um eine eiserne Spindel der Kern der Form aufgemauert und mit Lehmschichten überzogen. Dann befestigt man an der Spindel die Schablone, ein Brett, dessen nach innen gekehrte Schmalseite nach dem Profil, das die Glocke erhalten soll, ausgeschnitten ist. Indem nun diese Schablone um die Spindel beständig gedreht wird, erhält die Lehmmasse – der Kern – die richtige Form. Ist das geschehen, so wird der Kern mit einer Fettschicht überzogen, damit die später aufzusetzende Lehmschicht nicht an ihm anhaftet, und alsdann in langsamem Kohlenfeuer gründlich ausgetrocknet. Damit ist der erste Teil der Arbeit zu Ende gebracht.

Nun wird von der inneren Seite der Schablone das Holz in der Stärke heruntergeschnitten, welche der Wandstärke der zu gießenden Glocke entspricht, und mit der so veränderten Schablone eine neu aufgetragene Lehmschicht abgedreht. Diese letztere, die also genau die Form und Gestalt der Glocke hat, führt in der Handwerkssprache den Namen „das Hemd“. Auf dem Hemd, das sich vom Kern stückweis abheben läßt, werden in Wachs oder stark gefettetem Lehm die Inschriften und Verzierungen aufgesetzt, die den Schmuck der Glocke bilden sollen. Ist auch das geschehen, so geht es an die Herstellung des dritten Teiles der Form, des Mantels. Auch er besteht aus mehreren Lehmschichten, aber in seinem Inneren birgt er ein Gerippe aus gebogenen Eisenstäben, das ihm festen Halt giebt. Ist auch er durch langsames Feuer gründlich ausgetrocknet – bliebe in ihm Feuchtigkeit zurück, so wäre unter Umständen eine Explosion zu befürchten – so wird er an den vorstehenden Stabecken des Gerippes in die Höhe gewunden, nachgesehen und verputzt. Alsdann wird das Hemd, das nun seine Schuldigkeit gethan hat, zerschlagen und der Mantel über den Kern gesetzt. Der leere Raum, der sich an Stelle des Hemdes zwischen den beiden jetzt befindet, ist nun die Form, in welche die Glocke gegossen wird. Oben in den Mantel wird schließlich das sogenannte Kronenstück angesetzt, das die Eingußkanäle für das flüssige Metall und Oeffnungen enthält, durch die die eingeschlossene Luft entweichen kann. Dann ist die Herstellung der Gußform vollendet.

Schmelzen des Metalls (Geschützrohre).   Bau der Gußrinne: Eindämmen der Form.
Vor dem Guß.

Das alles war schon längst geschehen, als wir die Gießerei betraten. Die vier Formen standen fertig in der Dammgrube und diese selbst war von den Arbeitern des Herrn Ulrich mit Sand und Lehm angefüllt und fest zugestampft. Im Schmelzofen aber brodelte und zischte in weißer Glut das Metall, aus dem die Glocken gegossen werden sollten, das Glockengut.

Die Mischung der Metalle, aus welchen die Glocken gegossen werden sollen, beschäftigten einst sehr lebhaft die Fachleute. Man stellte allerlei Versuche an, bis man schließlich fand, daß Kupfer und Zinn allein genügen, um den schönsten Wohllaut zu erzielen. Im allgemeinen nimmt man heute auf 8 Teile Kupfer 2 Teile Zinn, während in älteren Glocken die Mischungsverhältnisse andere sind und außerdem manchmal noch Beimengungen von Blei, Zink, Eisen oder Nickel nachgewiesen wurden. Sehr verbreitet war ehemals die Ansicht, daß eine Zugabe von Silber den Wohllaut und die Reinheit des Glockentones erhöhe; man hat aber nur ausnahmsweise in der Metallmasse alter Glocken Spuren von Silber nachweisen können und die Annahme ist sehr berechtigt, daß Glockengießer, die Silber von ihren Auftraggebern annahmen, dieses einfach unterschlugen.

Sehr häufig geschah es auch, daß Kanonen zu Glocken umgegossen wurden; diese Sitte kam im siebzehnten Jahrhundert auf und so überließ Tilly elf bei Magdeburg eroberte Kanonen der Kirche Mariä Himmelfahrt in Köln zum Glockengusse. Da jedoch die Geschützbronze wenig Zinn enthält, muß in solchen Fällen dem Material vor dem Gusse noch Zinn zugesetzt werden. So gab zum Gusse der großen Glocke für St. Stephan in Wien Kaiser Joseph I. im Jahre 1711 330 Centner Kanonenmaterial von 180 eroberten türkischen Geschützen und der Magistrat der Stadt Wien 40 Centner reines Schlaggenwalder Zinn. Andrerseits wurden in Kriegszeiten Glocken zum Gießen von Kanonen verwendet.

Schon im Jahre 1414 sah sich Kurfürst Friedrich I. von Brandenburg genötigt, im Kampfe gegen den märkischen Adel Glocken der Marienkirche zu Berlin in Büchsen umgießen zu lassen. [686] Am schlimmsten wurde jedoch gegen die Kirchenglocken zu Zeiten des National-Konvents in Frankreich gewütet. 1793 erschien ein Dekret, das die Gemeinden ermächtigte, die Glocken in Kanonen umzuwandeln. Mit wahrem Fanatismus ging man ans Werk; es wurden, wie Otte in seiner „Glockenkunde“ berichtet, besondere Maschinen erfunden, um die schweren Glocken von den Türmen herabzuschaffen, und acht Mann arbeiteten sechs Wochen lang an der Zertrümmerung der aus dem Jahre 1472 herrührenden 25000 Pfund schweren zweiten Glocke von Notre-Dame zu Paris.

Da die Bronze ein verhältnismäßig kostspieliges Material ist, war man bemüht, für ärmere Kirchengemeinden Glocken aus billigerem Metall zu schaffen. Schon seit dem 17. Jahrhundert versuchte man Glocken aus Eisen zu gießen. Ihr Ton war stark, aber rauh und wenig klangreich, Später goß die ehemalige Königl. Eisengießerei in Berlin eiserne Glocken für arme Kirchengemeinden. Man ist jedoch von der Verwendung des Gußeisens abgekommen, weil derartige Glocken zu leicht zerspringen. Bessere Erfolge erzielte man in neuerer Zeit mit Glocken aus Gußstahl, doch stehen sie im Klange guten Bronzeglocken wesentlich nach.

Der Schmelzofen der Lauchaer Gießerei wird selbstverständlich mit der altbewährten Glockenspeise gefüllt und manche Kanone wurde in ihm geschmolzen. Erst vor Jahresfrist – am Reformationsfeste 1894 – wurde die 115 Centner schwere Dreikaiserglocke des schönen Naumburger Domes aus dem Geschützmaterial gegossen, das Kaiser Wilhelm II. dafür stiftete. Der Schmelzprozeß hatte frühmorgens 3 Uhr begonnen; um 3 Uhr nachmittags konnte der Guß vor sich gehen und dauerte 7 Minuten.

Nach dem Guß: Ausgraben der Form.

Doch wenden wir unsere Aufmerksamkeit wieder der Gegenwart zu. Einen prüfenden Blick wirft der Meister noch in den Schmelzofen, einen zweiten auf die gefüllte Dammgrube. Er und seine Gesellen haben das ihrige gethan, damit das Werk gelinge – „doch der Segen kommt von oben“. Ein kurzes Wort an die Arbeiter, sie ergreifen die langen, vorn gekrümmten Stangen, mit denen sie dem flüssigen Metall den Weg erleichtern, Meister Ulrich ergreift gleichfalls eine – durch die kleine Versammlung geht ein erwartungsvolles Aufatmen. Und jetzt –

„stoßt den Zapfen aus,
Gott bewahr' das Haus!" –

in schimmernder Glut entquillt das flüssige Glockengut dem Schmelzofen und quillt durch die Kanäle den Oeffnungen der Kronenstücke zu, in denen es rauchend und brodelnd verschwindet. Der weite Raum ist von sengender Hitze erfüllt; mit glühenden Wangen stehen wir und sehen das kostbare Metall die ihm gewiesene Straße ziehen, erst mächtig, dann spärlicher, bis es endlich ganz in die Formen geflossen ist. Bis jetzt ist alles gut gegangen. Aber der Meister weist unsere Glückwünsche zurück. Noch ist es ja nicht gewiß, ob der Guß auch wirklich gelungen ist. Und wenn jemand von uns erwartet hatte, das nun gleich die Glocken blank und schön der Dammgrube entsteigen würden, der sah sich arg enttäuscht. Ehe daran gedacht wurde, sie aus der Form zu schälen, verging noch geraume Zeit. Zuvor mußte das flüssige Metall erstarren und sich abkühlen. Derweil pilgerten wir zum Ratskeller, um uns dort bei einem kühlen Trunke gütlich zu thun.

Aber unsere Glückwünsche waren, wenn auch verfrüht, doch nicht verfehlt gewesen, denn als wir zurückkehrten und die Grube geleert und die Formen zerschlagen wurden, sahen wir mit Freude trotz der den Glocken noch anhaftenden Lehmstücke, was Schiller singt:

Wie ein goldner Stern,
Aus der Hülse, blank und eben,
Schält sich der metallne Kern
Von dem Helm zum Kranz
Spielt’s im Sonnenglanz.
Auch des Wappens nette Schilder
Loben den erfahrnen Bilder.

Und wir schieden von der Gießerei mit der Ueberzeugung, daß der Meister samt seinen Gesellen ein Recht habe, stolz zu sein auf die glücklich vollendete Arbeit und das schön gelungene Werk.

Freilich, mit dem Guß ist noch nicht alles gethan; es kostet noch Mühe und Arbeit, bis die Glocke glücklich zu dem Glockenstuhl emporgewunden ist, wo sie „als Nachbarin des Donners schweben“ soll „und grenzen an die Sternenwelt“. Aber hat sie dort erst ihren Platz gesunden, so bleibt sie ihm auch treu. Nur ein gewaltiges Unglück könnte sie von dort entfernen. Das Volk freilich weiß es anders. Es erzählt von der Glockenfahrt, die alljährlich am Mittwoch vor Ostern stattfindet. Da fliegen die Glocken nach Rom zum Papst und kehren erst am Sonnabend zurück. Die Entstehung dieser Sage liegt klar am Tage; sie führt einfach darauf zurück, daß in der katholischen Kirche die Glocken vom Gründonnerstag bis Karsamstag schweigen. Aber die wandernde Glocke spielt auch sonst eine Rolle, wie z. B. in der von Goethe behandelten Sage, wo sie das kirchenflüchtige Kind verfolgt. Andre Sagen berichten von Glocken, die, von ihrem ursprünglichen Platz entfernt, auf diesen zurückverlangten. So die Glocke von Berndsweiler in Baden, die im Schwedenkrieg im Wald vergraben worden war. Hundert Jahre später von Wildschweinen ausgewühlt, wurde sie nach Sinnbronn in die Kirche gebracht. Aber wenn man sie dort läutete, rief sie immer:

„Anne Susanne,
Zu Berndsweiler an der Stange
Will ich hange“

bis man sie nach Berndsweiler zurückbrachte, wo sie ihren alten, schönen Klang erhielt. Auch von versunkenen Glocken weiß die Sage zu erzählen, die noch immer fort läuten. So heißt es von [687] der Pfarrkirche zu St. Agatha in Aschaffenburg, daß dort nebeneinander zwei Glocken hingen, die eine Marianne, die andere, die von Silber war, Susanne geheißen. Im dreißigjährigen Krieg raubten die Schweden die silberne Glocke, luden sie in ein Schiff und wollten sie den Main hinaufführen. Aber als sie an die Stelle kamen, wo die Stadtmauer an den Main stieß, sprang die Glocke in den Fluß und liegt noch da. Und wenn jetzt die Marianne geläutet wird, so ruft sie:

„Bimbam, bimbam, wo ist die Schwester Susann?“

und die ferne Stimme der silbernen Glocke antwortet:

„Bimbam, bimbam, da bin ich, Schwester Mariann!“

Diese Sagen beweisen jedenfalls, wie die Volksseele von früh an sich mit den Glocken beschäftigte und in ihnen gewissermaßen lebende Wesen sah. Das war nicht nur in einzelnen Gegenden der Fall; die Sage von den versunkenen Glocken findet sich überall in unserem deutschen Vaterlande, vom Bodensee bis hinauf zu den Gestaden der Ostsee, wo aus der Tiefe des Meeres die Glocken von Vineta herauftönen, die Wilhelm Müller so schön besungen hat:

Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde
Klingen Abendglocken dumpf und matt,
Uns zu geben wunderbare Kunde
Von der schönen, alten Wunderstadt.

In der Fluten Schoß hinabgesunken
Blieben unten ihre Trümmer stehn,
Ihre Zinnen lassen goldne Funken
Wiederscheinend auf dem Spiegel sehn.

Und der Schiffer, der den Zauberschimmer
Einmal sah im hellen Abendrot,
Nach derselben Stelle schifft er immer,
Ob auch rings umher die Klippe droht.



Blätter & Blüten.


Professor Steffens begeistert seine Zuhörer für den Freiheitskrieg. (Zu dem Bilde S. 672 und 673.) Als das Napoleonische Joch schwer auf Deutschland lag, da wußten auch Männer der Wissenschaft und Lehrer der akademischen Jugend in dem Herzen ihrer Zuhörer den Funken vaterländischer Begeisterung zu entzünden. Während draußen der Marschschritt der französischen Regimenter ertönte, hielt der Philosoph Fichte in den Berliner Hörsälen seine „Reden an die deutsche Nation", um durch geistige Kräftigung derselben eine künftige Erhebung vorzubereiten. Als aber Napoleon mit seinem geschlagenen Heer aus Rußland zurückgekehrt und General York mit der preußischen Hilfsmacht zu den Russen übergegangen war, als der König von Preußen am 3. Februar den Aufruf an sein Volk erlassen, da schlug auch die Beredsamkeit der akademischen Lehrer andere Töne an, da galt es alle Waffenfähigen in die Kriegslager, zu den Waffen zu rufen. Einer der begeistertsten Redner war Heinrich Steffens in Breslau, ein Naturphilosoph der Schellingschen Schule, Norweger von Geburt, aber in Deutschland eingebürgert, ein geistvoller Denker mit schwärmerischen Neigungen, in späteren Lebensjahren auch als Romanschriftsteller bekannt und beliebt. Der Aufruf des Königs hatte ihn aufs tiefste ergriffen. Am Morgen des 8. Februar sollte er ein Kolleg halten; er sagte zu seinen wenigen unaufmerksamen Zuhörern: „Ich sollte um elf Uhr einen zweiten Vortrag halten, ich will aber dann mit Ihnen über einen Gegenstand sprechen, der von größerer Wichtigkeit ist. Se. Majestät hat die Jugend aufgefordert, sich freiwillig zu bewaffnen. Dieser Aufruf wird noch heute an Sie ergehen; er wird der Gegenstand meiner Rede sein. Machen Sie meinen Entschluß allenthalben bekannt; ich erwarte so viele als der Raum fassen kann." Als er nach zwei Stunden wiederkam, war der Hörsaal gedrängt voll; in den Fenstern, der geöffneten Thür, im Flur, auf der Treppe, bis weit in die Straßen hinein, wimmelte es von Menschen. Alt und jung hatte sich versammelt, Studenten, Beamte, Bürger, Arbeiter. Das Bild von Arthur Kampf zeigt uns anschaulich diese vielköpfige aus allen Ständen gebildete Hörerschaft. Steffens, der ja eine eingehende Selbstbiographie herausgegeben, berichtet über seine Anrede: „So trat ich unter die Menge und bestieg mein Katheder. Was ich sprach, ich weiß es nicht; selbst wenn man nach dem Schlusse meiner Rede gefragt hätte, ich würde keine Rechenschaft davon haben ablegen können. Es war das drückende Gefühl unglücklich verlebter Jahre, welches jetzt Worte fand; es war das warme Gefühl der zusammengepreßten Menge, welches auf meiner Zunge ruhte. Nichts Fremdes verkündete ich. Was ich sagte, war die stille Rede aller und sie machte eben deswegen wie ein Echo aus der Seele eines jeden einen tiefen Eindruck. Daß ich, indem ich die Jugend so aufforderte, zugleich meinen Entschluß erklärte, mit in den Kampf zu ziehen, versteht sich von selbst." In der That ließ sich der vierzigjährige Professor Steffens mit 200 Studenten bei den freiwilligen Jägern einschreiben und er machte den Feldzug von 1813 und 1814 bis zum Einmarsch in Paris mit. Als der Professor sich bei dem Schöpfer der preußischen Landwehr, Scharnhorst, meldete, sagte dieser zu ihm: „Steffens, ich wünsche Ihnen Glück; Sie wissen nicht, was Sie gethan haben." Damals ging von Breslau die nationale Erhebung aus.

Das lebensvolle Bild von Arthur Kampf läßt uns auch den tiefen Eindruck erkennen, den die begeisterte Rede des Professors auf seine Hörer machte: neben den aufmerksam Lauschenden, den freudig Begeisterten sieht man auch viele Gesichter, in welche sich tief der Unwille und die Verbitterung über die langerlittene Schmach eingegraben und die sich kaum dem Strahl einer freudigen Hoffnung zu erschließen vermögen.†     

Ein neuer Schachkönig. Das bedeutendste aller bisherigen internationalen Schachturniere fand im Monat August in Hastings am englischen Südstrande statt: die Augen der Schachfreunde der ganzen Welt waren auf das Turnier gerichtet, wo die berühmtesten Schachkämpen der Gegenwart, Tschigorin, Tarrasch, Steinitz, Lasker, Blackburne u. a., sich im hartnäckigen Kampfe maßen. Fast jeder Schachspieler hatte einen Kandidaten für den ersten Preis in Aussicht genommen, je nach seiner Ueberzengung von der Bedeutung des berühmten Spielers, dem er die Siegeskrone aufs Haupt zu setzen hoffte. Und da es beim Schachspiel nicht allein auf die Kunst des Spielers ankommt, sondern auch auf das Schlachtenglück, das sich oft recht launisch erweist durch kleine Unfälle, womit es die Kämpfer heimsucht, so war auch hier für Wetten jeder Art die schönste Gelegenheit geboten. Indes gewann keiner der anerkannten Meister den ersten Preis, sondern ein junger, zweiundzwanzigjähriger Nordamerikaner, Pillsbury, aus Boston gebürtig, welcher die ruhmreichsten Veteranen des Schachspiels besiegte. Pillsbury hatte bei dem New Yorker Meisterturnier im letzten Jahre über neun Mitstreiter den Sieg errungen; doch hatte ihm wohl niemand das Horoskop gestellt, daß er in Hastings den ersten Preis davon tragen würde; er scheint als zweiter Morphy das Sternenbanner auf den Feldern des Schachbretts zu Ehren zu bringen. Sehr heiß war der Kampf um die ersten Preise und die Entscheidung schwankte hin und her, je nachdem einer oder der andere der höchststehenden Preiskandidaten von einem der zunächst Nachdrängenden geschlagen wurde. Bald stand Tschigorin an der Spitze, bald Lasker, bald Pillsbury, welcher zuletzt die Oberhand behielt, nachdem Tarrasch Lasker geschlagen hatte. Dieser erhielt den dritten, Tschigorin den zweiten Preis; als vierter Preisträger folgte Tarrasch, der Sieger in den vier letzten großen Turnieren, als fünfter Steinitz, der lange Zeit das Schachscepter der Welt gehalten hatte, bis zwei junge Stürmer und Dränger es ihm entrissen. Bei der Verteilung der Gewinne wie bei der Reihenfolge der Preissieger hat natürlich auch der Zufall seine Hand im Spiele. Sicher aber und vom Zufall unabhängig ist der große Gewinn, den das Schachspiel selbst durch die ausgezeichneten Leistungen der Meister, durch ihre Musterpartien davonträgt. Neue Wendungen der Eröffnung, neue Spielweisen, neue glänzende Kombinationen, besonders im Endspiel, wirken gesetzgeberisch auf die Theorie und anregend auf die Erfindungskraft aller übrigen Schachspieler.†     

Entwischt. (Zu dem Bilde S. 669.) Zweifellos ist von allem heimischen Getier Meister Reineke am bekanntesten und jedermann weiß dies oder jenes von seinen Thaten zu erzählen. Aber Wahrheit und Dichtung haben ihn in einer Weise verherrlicht, daß kaum der Jäger, der doch oft Gelegenheit hat, ihn zu beobachten, die poetische Umhüllung von seinem Lebensbilde abzustreifen weiß. Von allen seinen Eigenschaften ist es die Schlauheit, die am meisten hervorgehoben wird und ihn in einem Lichte erscheinen läßt, als stände er in Bezug hierauf dem Menschen nahe oder überträfe ihn sogar noch. Zweifellos handelt er öfters mit Ueberlegung und es macht seinem Verstande alle Ehre, daß er sich z. B. tot stellt, wenn sein teures Ich in großer Gefahr schwebt, und dann im günstigen Augenblicke seinen Balg zu retten weiß. Allein seine Veranlagung steht doch in anderen Punkten der manchen Wildes nach.

Reineke kann z. B. den an einem Baum lehnenden oder auch unbeweglich frei sitzenden Jäger nicht erkennen, während das Alttier (Hindin) und die Ringeltaube sofort durch ihre Flucht bekunden, daß sie die Gefahr erkannt haben. Ich sah einmal vom Deister aus auf weite Entfernung einen Fuchs im Felde mausen. Um so nahe heranzukommen, daß ich ihn „reizen", d. h. durch Nachahmen von Hasengeschrei heranlocken konnte, mußte ich durch einen Hudekamp, der rings von dichten Hecken umschlossen war. Durch diese führten zwei Triftlücken. Mitten im Kampe sah ich, daß Reineke ventre á terre auf die untere Einfahrt zu galoppierte, er war von einem Dünger fahrenden Bauern durch Peitschenknall beim Mausen gestört. Rasch entschlossen kniete ich nieder, stützte den linken Ellbogen aufs Knie, stach die Büchsflinte ein und erwartete meinen Freund. Dieser ließ auch nicht lange auf sich warten – aus seiner raschen Gangart war Trab geworden und er kam durchs Heckenloch spitz auf mich zu. Auf 70 Schritt blieb er stehen, drehte sich um, aber es schien ihm alles so sicher, daß ich noch nicht schoß – und Reineke fing auch wirklich wieder an, auf mich zuzuschnüren. Auf 15 Schritt blieb er stehen und fing an, mich zu mustern. Ich schloß die Augen so weit, als es ging, um noch sehen zu können, da alles Wild den Jäger am [688] leichtesten an den Augen erkennt. Jetzt äugte der Fuchs mir ins Gesicht. Ich sah, daß er seinen gelblich braunen Augenstern auf den meinigen richtete. Doch das nur einen Augenblick, dann war sein Blick wieder ins Unbestimmte gerichtet und er machte eine Viertelrechts-Wendung und trabte ruhig weiter. Ich bin überzeugt, daß er auf drei Schritt an mir vorübergetrabt wäre und mich erst durch den Wind erkannt hätte – – wenn meine Flinte nicht gewesen wäre.

Auch der uns vom Künstler auf dem Bilde „Entwischt“ vorgeführte Fuchs gehört nicht zu den schlauesten seiner Sippe. Er war nicht nahe genug herangeschlichen und wußte die Entfernung zwischen ihm und Wildente nicht richtig zu schätzen, sonst würde er die Beute im Sprunge ergriffen haben und brauchte sich nicht mit der Feder zu begnügen. Tröste dich, Reineke, mit anderen Jägern! Auch sie schießen vielfach, daß die Federn stieben, und schauen dann gerade so sehnsüchtig hinter dem Braten her, wie du es thust. Karl Brandt.     

Abendandacht bei Chioggia. (Zu dem Bilde S. 677.) Wie in den Kanälen Venedigs, wenn uns die Gondel über sie hinfährt, so empfinden wir auch draußen im offenen Wasser der Lagune die Lautlosigkeit der uns umgleitenden Flut als einen eigentümlich ergreifenden Zauber. Der natürliche Wall des langgestreckten Lido und der künstliche Damm der Murazzi läßt die Wellenbewegung des Meers nur ganz abgeschwächt hereindringen. Und obgleich dicht vor der Insel Chioggia dieser Damm auf eine kurze Strecke durchbrochen ist, durch welche das Meer mit frischem Wogenschwall flutet, so macht sich doch auf der Lagunenseite der starkbewohnten Fischerinsel jener Zauber ganz besonders geltend. Wenn dann nach heißem Tag des Abends sanfte Kühlung sich auf Insel und Flut senkt und das geräuschvolle Treiben der Fischer und Schiffer an den Landungsplätzen der Ruhe weicht, dann herrscht eine Stille hier, die das Herz im Innersten ergreift. Und dringt durch dieses träumerische Schweigen vom Lande her der feierliche Klang der Abendglocken an unser Ohr, während die untergehende Sonne tiefe Gluten über das Wasser breitet, so öffnet sich die Seele weit der Andacht, von welcher rings die große Natur erfüllt ist. Das schöne Bild von Hermann Corrodi vergegenwärtigt die Poesie dieser Stimmung ganz meisterhaft. Auch die schlichte Andacht der Fischer, welche von ihrem Boot aus dem nahen Madonnenbild am Ufer ihr „Ave Maria“ darbringen, ist von ihrem Schimmer verklärt.

Ein schwäbischer Volksdichter. Im Jahr 1885 kam zu Stuttgart unter dem Titel „Märchenerzähler, Brahmine und Seher“ eine Gedichtsammlung heraus, die in weiten Kreisen Schwabens Aufsehen erregte, als man erfuhr, der Verfasser, Christian Wagner, sei ein einfacher Bauer und lebe einige Stunden von der württembergischen Hauptstadt entfernt in dem Dorfe Warmbronn. Bald ließ der aus seiner Stille hervorgetretene Volksdichter „Sonntagsgänge“, dann „Balladen und Blumenlieder“ erscheinen, denen 1893 eine neue Sammlung, „Weihegeschenke“ und im vorigen Jahr der „Neue Glaube“ folgte. Einen immer weiteren Kreis von Freunden gewann sich Christian Wagner durch diese mannigfaltigen poetischen Gaben, zu denen er bald mehr in epischem Ton anmutige Blumenmärchen erzählte, bald als Gedankendichter im Gewande des Brahminen für die Schonung alles Lebendigen eintrat, bald Lieder von einfacher echter Lyrik bot. Jene schlichte Beschaulichkeit, jenes intime Leben mit der Natur, jene Fülle in der Beschränkung, die den schwäbischen Dichtern überhaupt eigentümlich sind – das alles findet sich mehr oder weniger auch bei Christian Wagner. Er ist nie über sein engeres Heimatland hinausgekommen, ja sein Dorf ist eigentlich seine ganze Welt, aber er weiß aus dieser Enge das weiteste Feld für seine Muse zu gewinnen, indem er auch das Kleine und Unscheinbare erweckt zu poetischem Leben.

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Christian Wagner.
Nach einer Zeichnung von H. Schroedter.
( gemeinfrei ab 2028)

Christian Wagner, dessen Bildnis wir nebenstehend bringen, hat vor kurzem seinen 60. Geburtstag gefeiert. Er wurde am 6. August 1835 zu Warmbronn geboren und erhielt zunächst seinen Unterricht in der Volksschule seines Heimatdorfes. Später bestimmten ihn seine Eltern zum Lehrer und brachten ihn in die Vorbereitungsschule des Lehrerseminars zu Eßlingen; Wagner gab jedoch diesen Plan infolge von Kränklichkeit wieder auf und kehrte nach Warmbronn zurück. Er wurde nun Bauer und ist es geblieben bis heute. An mancherlei Anerkennung hat es ihm nicht gefehlt, am meisten aber hat ihn wohl die Ehrung durch die Deutsche Schillerstiftung gefreut, die ihn vor drei Jahren mit einer Ehrengabe bedachte. Von seiner poetischen Art möge den Lesern der „Gartenlaube“ das folgende Gedicht eine Probe geben.

  Blumenwache.
Gartenwinden, strahlig und geflammt,
Eingefaßt von blauem Seidesamt
Braune Nelken, brechend aus der Hülle
Ihrer Kelche in der Düfte Fülle:
Ringelblumen, so wie Flittergold,
Das die Julisonne aufgerollt;
Bohnenblüten, an des Zweigs Geschwinge
Scharlachrote kleine Schmetterlinge;
Gartenwicken, himmelblau beschwingt
Wie ein Falter, der zum Aether dringt,
Hehr und glanzvoll seine Flügel spaltet,
Wieder sie zur Ruh’ zusammenfaltet –
Standen da vor mir in einem Glas,
Da ich krank in meinem Bette saß:
Mußt’ nicht frisches Leben sich entfachen
Unterm Segen dieser Blumenwachen?

Beim Lawn Tennis-Spiel. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wird sie ihn treffen – den Ball, der eben, von der Hand ihres Partners geschlagen, in hohem Bogen zu ihr niedersaust? Wie sie so dasteht, den Blick scharf auf das Ziel gerichtet, in jeder Bewegung der graziösen Glieder bekundend, daß sie sich auf das Spiel gar meisterlich versteht, da kann uns kaum ein Zweifel daran beschleichen. Und doch! Es hängt ja nicht allein von ihr ab. Auch von dem Schlag, mit welchem der Partner den Ball ihr zugeworfen. Und wenn wir bedenken, wie der Anblick des Mädchens mit den dunklen großen Feueraugen im lockenumrahmten Gesicht, in all ihrer jugendlichen Munterkeit und Frische, dem Reiz, den jeder ihrer Bewegungen das Spiel verleiht, auf diesen Partner wirken kann, so ist da ein Zweifel berechtigt. Wer weiß, mit welcher Wucht er in seines Herzens Ueberschwang den Ball emporgetrieben hat, so daß er nun über das Ziel hinausschießen wird!


Kleiner Briefkasten.

Liebhaberphotograph in Twer. Die Litteratur für Liebhaberphotographen ist schon zu einer kleinen Bibliothek herangewachsen. Als ein ganz vortreffliches Handbücklein hebt sich aus der Masse heraus das „Photographische Notiz- und Nachschlagebuch für die Praxis“ von Ludwig David und Charles Skolic (Halle a. d. S., Wilhelm Knapp), das Ihnen in allen Fällen wohl den besten Rat geben wird.


manicula 0 Hierzu Kunstbeilage XI: „Lawn Tennis-Spielerin“. Von Aug. Mandlick.

Inhalt: Die Lampe der Psyche. Roman von Ida Boy-Ed. S. 669. – Entwischt! Bild. S. 669. – Professor Steffens begeistert seine Zuhörer für den Freiheitskrieg. 1813. Bild. S. 672 und 673. – Das Haar als Zeuge vor Gericht. Von C. Falkenhorst. S. 676. Mit Abbildungen S. 678 und 679. – Abendandacht bei Chioggia. Bild. S. 677. – Sturm im Wasserglase. Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts. Von Stefanie Keyser (6. Fortsetzung). S. 680. – Beim Glockenguß zu Laucha. Von Carl Müller-Rastatt. S. 684. Mit Abbildungen S. 681, 684, 685 und 686. – Blätter und Blüten: Professor Steffens begeistert seine Zuhörer für den Freiheitskrieg. S. 687. (Zu dem Bilde S. 672 und 673.) – Ein neuer Schachkönig. S. 687. – Entwischt. Von Karl Brandt. S. 687. (Zu dem Bilde S. 669.) – Abendandacht bei Chioggia. S. 688. (Zu dem Bilde S. 677.) – Ein schwäbischer Volksdichter. Mit Bildnis. S. 688. – Beim Lawn Tennis-Spiel. S. 688. (Zu unserer Kunstbeilage.) – Kleiner Briefkasten. S. 688.



In dem unterzeichneten Verlag ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

E. Werners gesammelte Romane und Novellen.
Illustrierte Ausgabe.
Siebenter Band: Um hohen Preis. 0 Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Die Band-Ausgabe von E. Werners Romanen erscheint vollständig in 10 reich illustrierten Bänden zum Preise von je 3 Mark elegant geheftet, 4 Mark elegant gebunden.

Inhalt der Bände: 1. Glück auf! Illustr. von W. Claudius. – 2. Am Altar. Hermann. Illustr. von A. Zick. – 3. Gesprengte Fesseln. Verdächtig. Illustr. von R. Gutschmidt. – 4. Frühlingsboten. Die Blume des Glückes. Illustr. von Erdmann Wagner. – 5. Gebannt und erlöst. Illustr. von C. Zopf. – 6. Ein Held der Feder. Heimatklang. Illustr. von R. Reinicke und Th. Rocholl. – 7. Um hohen Preis. Illustr. von Fritz Bergen. – 8. Vineta. Illustr. von W. Claudius. – 9. Sankt Michael. Illustr. von Fritz Bergen. – 10. Die Alpensee. Illustr. von Oscar Gräf.

Auch in 75 Lieferungen zum Preise von je 40 Pfennig zu beziehen. (Alle 14 Tage eine Lieferung.)

Bestellungen werden jederzeit in beinahe allen Buchhandlungen angenommen. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die

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Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.