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Die Gartenlaube (1895)/Heft 32

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[533]

Nr. 32.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Vater und Sohn.

Wahrheit und Dichtung.
Von Adolf Wilbrandt.
(5. Fortsetzung.)


8.

Sechs Tage später, am nächsten Sonntag, saßen Helene und Toni wieder an ihrem runden Dichtertisch, in dem schwarzbehängten Zimmerchen, ihre „Musenrosse“, wie Toni die Schreibfedern nannte, in der rechten Hand. Auch während der Woche hatten sie nicht ganz gefeiert: an den schulfreien Nachmittagen des Mittwochs und des Sonnabends (damals gab es noch Nachmittagsschule) hatten sie auch ein paar Stunden „getagt“ und den Entwurf des Dramas beendet, die Ausarbeitung des zweiten Aufzugs begonnen. In Toni fehlte aber heute das Feuer, mit dem sie sich am ersten Sonntag die Wangen heißgedichtet hatte. Ehe sie noch zur dritten Scene kamen, fing sie an zu gähnen; sie sah oft zum Fenster hin, auf das alte Giebelhaus

Photographie im Verlage von Ant. Karg in Kufstein.
Die Elmauer Haltspitze im Kaisergebirge.

[534] drüben („das langweilige!“ dachte sie), oder kaute am Federstiel. Für diesen zweiten Akt hatte sie kein Herz: Arabella kam nicht drin vor; welcher Unsinn! Dagegen lauter Politik, Verschwörung, Pläne; nicht ein Wort von Liebe. Sie blies endlich ein mißvergnügtes „Poh!“ durch die Lippen.

Nein, Toni, so mußt Du nicht sein, sagte Helene, die sich schon eine Weile im Stillen abgeärgert hatte. Wenn man was unternimmt, mein liebes Kind, muß man es auch durchführen; das ist ja doch Ehrensache!

Werd’ Du nur nicht kulig, antwortete Toni. Ja, ich werd’s auch durchführen … Aber diese alten Ekels, die drei Bürgermeister von Brügge, die interessieren mich nicht! „Wollet ein wenig Platz nehmen“ … Und dann reden sie so dumme Sachen. Und wie dann Franz von Sickingen kommt, wird es auch nicht besser. Eine ganze Seite lang setzt er ihnen auseinander, wie sie den Kaiser Max gefangennehmen wollen; – „jetzt habt ihr meine Pläne, nun sprecht, habt ihr etwas dagegen oder seid ihr einverstanden?“

Nun, sagte Helene, darauf antwortet der erste Bürgermeister doch kurz und feurig: „Wir sind bereit, Dir zu folgen, sei es zum Sieg oder zum Tod!“

Aber wo bleibt Thea? Die sitzt in ihrer Garderobe und langweilt sich den ganzen Akt! Ich hab’s gleich gesagt: Arabella muß in diesem Akt mitspielen –

Aber wie kann sie das! rief Helene aus. Sie kann doch nicht von Aachen so ohne weiteres nach Brügge reisen; hat sie einen Grund? Und wer soll sich in Brügge in sie verlieben; das sind ja alles alte Leute –

Ach ja! seufzte Toni. Wir haben zu viel alte Leute im Stück. Auch dieser Franz von Sickingen – ich hatt’ mir gedacht, Donnerwetter, so ein berühmter deutscher Ritter, der wird Leben in die Bude bringen! Aber nun ist der auch schon ein alter Knacker! Denn er hat ja die Kaiserin Maria geliebt, die alte Dam’ mit ihrem erwachsenen Sohn, dem Philipp. Und wegen dieser alten Liebe will er sich an dem Kaiser rächen –

Aber das ist’s ja grade! fiel ihr Helene ins Wort, mit dem Federstiel über den Tisch fahrend. Jetzt kommt ja die Rache! Und in seinem großen Monolog, wenn er nun allein ist, erzählt er, wie es ihm damals gegangen und wie das alles gekommen ist; das wird ja furchtbar interessant! Du mußt nur nicht das Köpfchen gleich so hängen lassen. Im Wallenstein und im Egmont langweilt man sich auch; das haben alle historischen Schauspiele!

Na, dann meinetwegen, seufzte Toni. Dann schick’ aber nun endlich die alten Bürgermeister und die Ratsherren fort, damit Sickingen sich aussprechen kann. Dalli!

Die Kleine hatte dieses polnische Wort irgendwo aufgeschnappt, ohne es zu wissen; statt „Mach’ zu!“ oder „Hurtig!“ sagte sie gerne „Dalli!“

Dabei waren wir ja eben, erwiderte Helene und nahm ihren zweiten Akt – einen blauen Bogen Briefpapier – wieder in die Hand. „Also auf morgen, ihr Herren!“ sagt Sickingen. Die Ratsherren: „Auf morgen!“ Ratsherren exeunt.

Exeunt? Was ist das?

Das heißt: sie gehen ab. Bei Shakespeare in seiner englischen Muttersprache heißt es immer: exeunt.

Herrje, was Du alles weißt! – Also „exeunt“! – Toni schrieb das Wort mit einer gewissen Feierlichkeit und in ihren schönsten Buchstaben hin; ihre herausguckende Zunge schrieb mit.

So! sagte Helene aufmunternd, da sind wir bei der dritten Scene: Sickingen allein! – Ich weiß, was er jetzt zu sagen hat; laß mich mal diktieren, schreib’ nur ruhig mit! – Sie nahm eine finstere, höchst männliche Miene an und begann: „Es muß sein. Er hat es so gewollt. Weiß Gott“ – Nein, „weiß Gott“ ist für so einen Helden doch nicht vornehm genug; „weiß Gott“ laß nur fort! – „Endlich muß ich einmal meine Rache befriedigen. Rache, o, sie wird süß sein“ –

Gott sei Dank, rief Toni aus, jetzt wird’s wieder schneidig!

„Rache, o, sie wird süß sein“ … Hast Du das? – „Welch Leben hab’ ich hinter mir, an Gütern bin ich wohl reich, ich ward’s durch meine eigene Kraft, aber am Herzen bin ich so arm, so arm. Und wer war es, der dies verschuldet hat? Er. Max.“ – Siehst Du, Toni, nun kommt’s!

Ja, sagte Toni, in deren braune Augen wieder Feuer kam, nun geht’s los! – Aber es müssen auch Schlagworte hinein, Helene. Schlagworte haben wir zu wenig!

Ach, das wird schon werden; aber in diesem Monolog paßt sich das doch nicht. Sickingen regt sich ja furchtbar auf, indem er an seine Vergangenheit zurückdenkt; da muß er mehr abgerissen sprechen; manchmal findet er sogar die Worte nicht. Laß mich nur noch weiterdiktieren: „Wie hab’ ich ihn geliebt, wie einen Bruder. Und er erwiderte meine Liebe und innige Freundschaft verband uns bis“ – viele Punkte; er kann nicht weiter – „ja, bis zu dem Tag!“

Bis zu welchem Tag? fragte Toni, auf die Fortsetzung wartend, den Federstiel im Mund.

Das sagt er nicht, antwortete Helene. Mit einer aufgeregten Geberde wirft er das nur so hin – denn er weiß ja auch, was er meint –: „ja, bis zu dem Tag!“ Und dann: „O wenn ich noch daran denke, ich könnte ihn erwürgen mit meinen Händen“ – Hurra! rief Toni, die noch nie eine Fliege getötet hatte: jetzt kommt doch endlich Leben in die Bude! „Ihn erwürgen mit meinen Händen“ … Du, und dann muß er hinzusetzen: „und ich würde nicht zittern!“

Ja, das kann er thun. – Dann weiter! „Als ich Maria meine Liebe gestand“ – Hier bricht er wieder ab; viele Punkte. „Wie war ich selig, als auch diese erwiderte, ich wollte es Max noch nicht sagen, wir wollten das süße Glück noch allein genießen, und als ich ihm mein Herz offenbaren wollte, da“ –

Na? fragte Toni, da Helene verstummt war.

Nach diesen: „da“ kann er nicht gleich weitersprechen; es übermannt ihn, Toni. Er macht nur eine großartige Bewegung mit der Hand – Ja, aber wie’s gewesen ist, muß er dann doch sagen! „Ja“, fängt er wieder an – jetzt laß mich mal machen! – „ja, bevor ich zu ihm reden konnte, teilte er nur seine Verlobung mit Maria mit. War ich bei Sinnen? Träumte ich?“ – Schreib’ das nur hin! Das ist gut!

Helene nickte und schrieb. Er hat aber noch viel zu erzählen, warf sie während des Schreibens hin; darum sollte er recht kurz und abgerissen sprechen. Wie Maria kommt und die beiden Verlobten sich küssen, und wie schlecht dem armen Franz von Sickingen dabei wird; und daß sie nur aus Gehorsam gegen ihren Vater den Prinzen Maximilian genommen hat; und die ohnmächtige Wut in Franz. Und daß nun endlich der Tag der Rache da ist –

Ja, rief Toni mit gehobener Stimme, jetzt ganz in Sickingens Rolle vertieft und ihn zu Ende dichtend: Maximilian, die Stunde ist gekommen, der Rächer naht! – Aber nun muß er doch auch an Maria denken, die er so geliebt hat – er ist ja doch ein guter Mensch –

Na freilich, sagte Helene. Er kann ja dann „zusammenzucken“: „Aber sie, wird sie nicht mit darunter leiden?“ Dann rafft er sich aber wieder auf – weißt Du, wie die Männer sind –: „Nein, nein, ich will nicht weich werden; kalt will ich ihm gegenüberstehn“ –

Oder lieber noch ihm den Rücken wenden! fiel ihr Toni ins Wort. „Und wenn er mich anfleht, will ich ihm stolz den Rücken wenden und sagen: laß ab von diesen Bitten, sie sind vergeblich, Du hast einst mein Lebensglück vernichtet, dies ist die Rache!“ – –

Was hast Du denn? fragte sie, da Helene auf diesen großartigen Schluß des Monologs nichts erwiderte; es war sogar, als hätte sie gar nicht zugehört. Das feine Köpfchen auf die Seite gelegt, schien sie auf etwas andres zu horchen; ihre grauen Augen blickten nach unten, in den Fußboden hinein. Jetzt horchte auch Toni mit. Aus Rudolfs Zimmer, das unter dem ihren lag und in dem es bisher still gewesen war, kam immer heller und lauter lustiger Gesang herauf: ein Studentenlied. Es war Rudolfs Stimme, sie erkannte sie.

Aha! sagte Toni, zu Helene hinüberlächelnd. Darum so abwesend! – Er ist wohl eben nach Hause gekommen. – Er singt aber ziemlich falsch.

Ich liebe ihn! hauchte Helene.

Ich nicht! murmelte Toni. Hör’ doch, wie falsch er singt.

Ach, was thut das. – Es klingt so sonnig, so selig vergnügt. – S–s–süß!

[535] Zuckersüß! spottete Toni, die Augen wie eine Verzückte zusammendrückend. – Nein, wie bist Du komisch. So einen dummen Bengel lieben. Ich kann nur Eine lieben: Thea, die Himmlische!

Ach, mein Kind, das sagst Du wohl. Wenn dann erst die Jahre kommen, wo Du heiraten kannst –

Heiraten? Ich heirat’ nie!

Das weißt Du jetzt schon? und so gewiß?

Ja, das weiß – –

Toni unterbrach sich. Sie dachte ein Weilchen nach, ihren braunen Zopf zwischen die Lippen nehmend. Einen könnt’ ich heiraten, sagte sie dann in tiefem Ernst.

So? Wer wär’ denn das?

Herr von Fellenberg. Weil der mit Thea so gut ist. Dann könnt’ ich mit Thea oft zusammen sein; o Gott! jeden Tag!

Helene verzog ihr Gesicht, um zu lächeln; – auf einmal aber stand es still.

Der Gesang unter ihnen hatte aufgehört, dagegen kam jetzt ein Schrei herauf, ein unbegreiflicher, schrecklicher, der ihr über den Rücken lief. Toni fuhr zusammen. Sie sahen einander an, beide blaß geworden.

Was war das? stammelte Toni. War das Rudolfs Stimme?

Wer denn sonst? flüsterte Helene und horchte. Der Schrei wiederholte sich nicht; es war tiefe Stille. Aber der schauerliche Ton – wie bei einer furchtbaren Ueberraschung – klang ihr noch im Ohr.

Sie stand langsam auf, als müsse sie fort, als müsse sie hinunter. Die Feder fiel ihr aus der Hand und rollte über den Tisch.

Da! flüsterte Toni und zuckte wieder. Unter ihnen gab es einen dumpfen Schlag, als stürze etwas Hartes hin. Ein noch dumpferes, schwächeres Geräusch folgte hinterdrein. Sie blickten sich, über den Tisch hinüber, wieder in die Augen; es überlief sie, diese jungen Kinder, daß sie aus einem gedichteten Drama so auf einmal in dramatische Wirklichkeit gerieten.

Beide sagten nichts. Plötzlich ging Helene stumm zur Thür. Sie öffnete, lief über den Vorplatz und die Treppe hinunter. Toni lief ihr nach.

Sie kamen bis an Rudolfs Thür; dort blieben sie stehen, eng aneinander gedrückt, und horchten wieder. Es rührte sich aber nichts. Es war unheimlich still.

Toni legte ihre blasse Hand auf den Thürdrücker; sie wagte aber weder zu öffnen noch zu klopfen. Was thun wir? flüsterte sie endlich, nur so mit den Lippen.

Statt zu antworten, blickte Helene jetzt mit erschreckendem Gesicht nach der andern Seite. Dort öffnete Volkmar die Thür, die aus seinem Speisezimmer auf den langen Vorplatz führte. Er sah vor sich nieder, mit scheinbar sehr ernstem Gesicht. Langsam ging er dann, wie auf Rudolfs Zimmer zu.

Im nächsten Augenblick huschten die Backfische, wie aufgeschreckte Feldhühner, über die Diele weg und ihre Treppe hinauf. Ohne zurückzuschauen, rannten sie, bis sie oben waren, und in ihren „Musentempel“ zurück. Dort warf sich Toni sogleich in ihren einzigen Lehnstuhl, der am Fenster stand. Sie legte sich eine Hand aufs Herz; es schlug gar so heftig. Du! sagte sie, ohne Stimme. Helene! Was ist denn geschehen?

Ich weiß es nicht, antwortete Helene, die bleich wie eine junge tragische Heldin mitten im Zimmer stand. Woher soll ich’s wissen?

Ich kann nicht mehr! stieß Toni hervor. Ich kann nicht mehr dichten!


9.

Steh’ doch auf! sagte Volkmar zu Rudolf, der neben einem niedergestürzten Stuhl auf dem Boden lag. Mein geliebter Junge! Ich dachte Dir’s leichter zu machen – und vielleicht auch mir - wenn ich Dir die erste Mitteilung von diesem sonderbaren Schicksal schriftlich zugehen ließe. Dann erst wollt’ ich selbst – – Aber es scheint, mein kurzer Brief hat wie eine Art von Blitz gewirkt. Da liegt er – und Du auch!

Verzeih’, sagte Rudolf tonlos, mechanisch, und erhob sich; darauf starrte er den Vater an, mit völlig verstörtem Gesicht. Ich weiß nicht, wie mir das geschehen ist ... Diese theatralischen Hinwerfungen sind mir so zuwider ... Aber als ich das las –

Vater! rief er, es schüttelte ihn plötzlich. Es ist ja unmöglich. Du und Thea! Es ist nicht zu fassen!

Ich begreife, daß Du so sprichst, erwiderte Volkmar nickend. Wer von uns hätte das vor einer Woche gedacht! – – Was wollt’ ich denn, Rudolf, als das Mädchen besser verstehen lernen, das ich allerdings viel zu wenig kannte. Ich dachte nur an Dich; that’s ja nur um Dich! – So ging ich hin; – sie gefiel mir gleich. Ich kam immer wieder – Du wirst’s wohl bemerkt haben –

O ja, murmelte Rudolf, noch bis zur Versteinerung fassungslos, mit erstarrtem Blick. Und es freute mich ... Vater! – Du! Du, mein Vater!

Warum wunderst Du Dich gar so sehr, daß die auch dem Vater Eindruck macht, die dem Sohn gefällt. Ist’s nicht eher natürlich? Sind wir nicht ein Blut? – Es ist mir nur gar so hart, so vor Dir zu stehn; daß meinem geliebtesten Menschen das ins Herz greifen muß, was mich glücklich macht. Bedenk’ aber auch, wie verschieden unsre Rechnung steht! Wenn Du mir Thea opferst, was verlierst Du dann? Einen Jugenbtraum, den Dir das Leben noch zehnmal wiedergeben kann. Wenn ich sie gewinne, so gewinn’ ich ein letztes, ungeahntes, nie wiederkehrendes Glück. Und gewinnst Du nicht auch? Das Gefühl, nach dem Du Dich so oft gesehnt hast, mir all’ Deine Liebe zu zeigen und mich zu beglücken?

Vater, sagte Rubolf, eine Hand an der Stirn, auf den Augen, – ich versteh’ Dich nicht. All Deine Worte schwirren mir im Kopf. Ja, ich versteh’ sie wohl – ich weiß, was sie bedeuten – aber ich fasse sie nicht. O mein Gott, wie gern, wie gern würd’ ich Dich glücklich machen ... Aber so. Ich fass’ es nicht. Es schüttelt mich. Ich weiß nicht, um wen schmerzt es mich, um mich oder um Dich? Wie ein Wirbel ... Mein Vater und Thea!

Volkmars Brauen und Lippen zogen sich ein wenig hinauf, wie zu einem Lächeln. Guter Rudolf! antwortete er, nun muß ich Dir sagen: ich versteh’ Dich nicht. Sie ist Dir etwas so Großes, die Thea; Du willst ihr Dein Leben, Deine Zukunft opfern; warum ist Dir denn so unfaßbar, daß auch ich es will? – Meiner Jahre wegen? Ich bin ein Fünfziger, ja; aber jünger, nicht wahr, als sonst die Fünfziger sind. Hier am Kinn wird’s grau; aber da oben ist noch alles braun und jung – und so auch die Gedanken, die darunter wohnen. Wenn wir in der Schweiz auf Berge klettern, wer von uns hält länger aus? Auf den schwedischen Felseninseln bei Gothenburg, auf Bratten, hinter Longedrag, wenn wir da von Stein zu Stein sprangen, stundenlang an jedem grünen Fleck vorbei, – sprangst Du besser als ich? – Auf den Spazierstock, den Du mir schenktest, hast Du eingraben lassen: „Der alte Junge seinem jungen Alten“. Nun, so macht wohl der junge Alte noch einen Jugendstreich –

Aber, Vater! rief Rudolf aus. Nicht daß Du – – Aber Thea! Thea!

„Freilich: sie ist sehr viel jünger. Aber Künstlerinnen – die leben wie in Kriegsjahren weißt Du, und darum doppelt geschwind. Und dann kennst Du ja diese Thea: wieviel Großes noch in ihr steckt, das nur freigemacht, nur entwickelt sein will. Dafür will ich ja leben, Rubolf. So werden wir uns entgegenwachsen. Wenn Du mir nur sagen kannst – wie ich Dir in dem Brief da schrieb –: „Dir opfre ich sie, Dir geb’ ich sie, werd’ Du ihr Erretter!“

Rudolfs Augen starrten nicht mehr auf den Vater, sie irrten im Zimmer umher; er schüttelte auch leise, aber immer wieder, den Kopf, als verwirre ihn ein unsinniger Traum. Thea! Thea! wiederholte er. Du sprichst von Theas Jugend ... Nein, so meint’ ich’s nicht. Sondern alles, was –

Er scheute sich offenbar vor irgend einem Wort; er brach ab. Mit einer kraftlosen Handbewegung nach des Vaters Brief, der noch am Boden lag, brachte er mühsam heraus: Du schreibst mir da, sie hat Dein Herz gewonnen. Es geht mir nicht in den Kopf ... Liebst Du sie denn wirklich?

Stünd’ ich sonst so vor Dir?

Nein – natürlich nicht. – Ich bin dumm. Wie mit einer Keule vor die Stirn – – Und sie liebt Dich? Thea?

Das sag’ ich nicht; das weiß ich noch nicht. Ich hab’ nur das Gefühl, daß – – daß sie sich nicht besinnen würde, wenn ich ihr meine Hand anböte. Zu ihr davon zu sprechen, eh’ ich mit Dir gesprochen, daran dacht’ ich doch nicht!

Jetzt brach es endlich aus Rudolf hervor. Vater! Aber

[536]

Auf ins Seebad!
Gemälde von Carl Voß.

[537] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [538] diese Thea ... „Sie taugt nicht zur Schwiegertochter“, sagtest Du mir neulich. Mit was für Worten aprachst Du von ihr. Jetzt scheu’st Du Dich nicht, ihr Deine Hand – fürs Leben –!

Soll ich denn nicht an sie glauben wie Du? „Eine große Dummheit“ hat sie Dir gebeichtet; alle anderen leugnet sie. Du warst überzeugt, sie sagt Dir die Wahrheit. Bist Du das nicht mehr?

Rudolf zögerte; dann errötete er über dieses Zögern und warf hastig die Worte heraus: Doch, Vater, doch. Warum sollt’ ich nicht ... Aber Du –!

Was bin ich denn anders als Du? – Ein Mensch. Ein Mensch, der nach Glück verlangt. Und der gerne glaubt, wo sein Herz – – Kurz, ich bekenne mich jetzt zu Deiner Meinung. Aber ich sag’ noch einmal, was ich Dir da schrieb: nur mit Deiner Zustimmung will ich glücklich werden. Nur wenn Du die Kraft hast, mir dieses Opfer zu bringen ... Das ist meine Bitte an Dich. Das ist meine Hoffnung!

Still jetzt! flüsterte er, da er klopfen hörte. Er rief Herein; seine Schwester Sophie öffnete die Thür. Es sei Besuch für ihn da; ein Kollege von der Universität.

Also morgen mehr! sagte Volkmar gelassen, als hätte er mit seinem Sohn von ruhigen und guten Dingen gesprochen, und ging mit Sophie hinaus.


10.

Rudolf, sonst einer der besten Schläfer unter seinen Altersgenossen, fand in der Nacht, die diesem Tage folgte, stundenlang keinen Schlaf. Seine Augen brannten; ihm war, als hätte er Feuer im Kopf; die Decke lag ihm schwer auf der Brust, er schob sie weit zurück und atmete tief und laut. Er hatte ein Gefühl, wie wenn er das Atmen verlernt hätte; die Brust that ihm weh von dieser „schweren Kunst“. Endlich ward ihm völlig klar, daß seine Gedanken, wie Kobolde auf ihm sitzend und alpdrückend, ihn nicht atmen ließen. Es traten ihm Thränen in die Augen, er wußte nicht warum; eine unendliche Sehnsucht ergriff ihn, zu seinem Vater zu sprechen ... Der schlief aber; im Hinterhaus. Es war tiefe Nacht. Er sah es auf seiner Uhr, denn er hatte die Lampe wieder angezündet, die Finsternis quälte ihn. Er stieg aus dem Bett. Was thun? – Aus dem großen Kachelofen kam noch etwas Wärme. Sich in seine Decke wickelnd, wie er als Knabe so manches Mal gethan hatte, ging er mit der Lampe zum Schreibtisch, nahm ein Blatt, das auf der Mappe lag, und fing an zu schreiben:

„Mein geliebter Vater! Der Tag ist so hingegangen, wir haben uns gesehen, aber nicht mehr gesprochen; ich meine über das, was mein ruheloses Herz erfüllt. Immer fremde Menschen; Gäste den ganzen Tag ... Ich kann nicht mehr schweigen. Ich muß Dir wenigstens auf dem Papier sagen, wie mir ist. Bitte, hör’ mich an!

Nur mit meiner Zustimmung, hast Du mir geschrieben und gesagt, willst Du „glücklich werden“. O Vater! O glaub’ mir, aus Selbstsucht würd’ ich das nicht hindern wollen, was Dich glücklich macht; ich würde schweigend vergehn ... Ich hab’ mich diesen ganzen Tag behorcht, befühlt. Ich weiß, ich bin nicht so gut, wie ich mir wohl eingebildet habe daß ich werden könnte; aber mir ist, als könnt’ ich Dir jedes Opfer bringen; als liebt’ ich auch Thea schon nicht mehr so leidenschaftlich, so mit ganzem Herzen, seit ich weiß, mein Vater sieht in ihr sein Glück. Du hast mir auch die Stellen aus dem Tagebuch doch nicht umsonst vorgelesen, nein, glaub’ das nicht; auch die „verliebten“ mein’ ich; sie gehen mir heute nach, sie flüstern und lächeln förmlich, ich hör’ sie. Ich lag diese Nacht da und ich dachte mir: ja, so sind deine „Leidenschaften“! so kann auch noch diese vergehen. Thu’ nur nicht so tragisch! Dein Herz wird nicht brechen!

„Aber – – Du, Vater! Du! – – Du wolltest mich heut’ nicht verstehn. Oder was war es sonst? Du, Vater, dieses Mädchen ... Es liegt mir eine entsetzliche Last auf der Brust; eine Gewissensangst. Sie ließ mich im Bett nicht mehr atmen; darum sitz’ ich hier. Du „glaubst nun an Thea wie ich“, hast Du mir gesagt ... O Gott! – Mein Glaube an sie – wenn er nun leichtfertig war. Wenn ich wie ein junger Mensch, so obenhin, ohne viel zu fragen – – Was liegt auch an mir? Wer bin ich? Hatt’ ich viel zu verlieren oder zu gewinnen? Ein Mensch, der nicht recht weiß, was er soll und will ... Aber Du! mein Vater! Du, der mir so hoch steht, über allen Menschen; der wie ein Vorbild ist, im Wirken und im Wesen; – ich finde nur die Worte nicht. Du, in dessen Liebe ich so glücklich bin; – „ach Du mein Vater, daß ich Dich hab’“; – kennst Du diese Verse noch? Das Gedicht, das ich zu Deinem Geburtstag machte, im vorigen Jahr. Es kam mir heut’ in die Hand, unter alten Blättern. Ein holperiges, schlechtes Gedicht, für Deinen Sohn schauderhaft schlecht; aber wahr ist jedes Wort. O, und heute Nacht ist’s so wahr wie je! – Ich muß Dir’s herschreiben, ganz; es verfolgt mich so; es läßt mich nicht schlafen ...

Ach Du mein Vater, daß ich Dich hab’!
Wenn auch die ganze Welt
Heut noch in Trümmer fällt, –
Ich lach’ und pfeif’ darauf
Bleibt nur ein Stückchen, drauf
Du bei mir stehst!

O Stolz, Dein Sohn sein, Dein deutscher Knab’!
Das Schwerste lerne
Ich mutig und gerne,
wenn Du, mein Vater,
Bester Berater,
Nie von mir gehst!

Du bist mein Leitstern, bis an mein Grab!
Dir folg’ ich voller Dank
Das ganze Leben lang,
Dir sag’ ich alles ja
Als meinem Freunde, da
Du mich verstehst!

„Dir sag’ ich alles ja“ ... Darum hatt’ ich auch keine Ruhe im Bett. Ich muß Dir heute Nacht noch sagen, was mir am schwersten wird ... Ich glaube nicht so fest an Theas Tugend, wie ich Dir damals beteuerte. Ach, ich belog Dich nicht, ich bildete mir ein, fest an sie zu glauben; um ihr zu helfen und um sie zu haben, machte ich mich blind. Aber nun, da Du – – O Gott. Mein „Leitstern“, mein „Freund“ – und ich sollte zusehn, wie Du diesem Mädchen, das mit Fellenberg so gut ist, das mit – – Mir schwimmt es vor den Augen; ich sehe kaum, was ich schreibe. Nein, Du darfst nicht, Vater. Lieber möcht’ ich sterben!

O höre auf Deinen Sohn! – – Was für ein Brief ist das, vom Sohn zum Vater; die verkehrte Welt. – Aber mein Gott, was thut das, wenn’s nur das Rechte ist. Ich fühle, es ist das Rechte; mir wird schon ein wenig leichter ums Herz, ich kann wieder atmen, diese gräßliche Angst läßt nach. Vater, liebster Vater, hör’ auf Deinen Sohn! Vor einer Woche – oder vor sechs Tagen – nahmst Du mir das Versprechen ab, eine Woche lang Thea nicht zu sehn. Ich hab’s gehalten. O versprich Du mir auch – verzeih’ mir diese Bitte, Vater – thn vor dem nächsten Sonntag nichts! Gönn’ mir diese Frist! Laß einmal die Welt so verkehrt sein .... Ich will Dich überzeugen, daß Thea für Dich – – daß Du sie nicht heiraten darfst; Du nicht. Wie? Das weiß ich noch nicht. Gott wird mir schon helfen!

„Er wird mir schon helfen! – Als ich noch halb Kind war, zwischen dreizehn und vierzehn, – wenn ich da Abends im Bett das Licht ausblies, dachte ich immer erst an Gott, mit dem kindlichen Vertrauen: nun wird das Licht gleich ausgehn! Und bis auf einmal geschah es auch; während ich früher oft mehrmals blasen mußte. Ich hatte aber doch schon von Dir „philosophieren“ gelernt; und so lag ich und überlegte bei mir: ‚Ob wohl Wunder geschehen können? Ich glaube, es ist so, daß, wenn man Gott fest vertraut, Gott in uns vollbringt, daß wir es richtig machen; daß wir durch eine gewisse höhere Begeisterung, ein unbestimmtes Etwas, unsere Kräfte richtig konzentrieren; und so läuft es doch darauf hinaus, daß ein festes Gottvertrauen sehr viel vermag!‘ – Ja, so will ich auch heute denken – wenn ich auch kein Kind mehr bin. Ich richte all meine Liebe, all meinen Willen, all meine Kraft auf Dich; und das wirst Du spüren – und der Vater wird thun, was der Sohn so mit allen Kräften seines Herzens bittet. Und mir wird ein Gedanke kommen, ein „rettender“. Vater, gute Nacht! – –

„Diese letzten Worte schreibe ich im Bett. Mit dem allerletzten blas’ ich das Licht aus.       Dein Rudolf.“

(Schluß folgt.)


[539]

Als Deutsche in Paris.

Erinnerungen aus dem Kriegsjahr.
Von Klara Biller.


Es sind bereits fünfundzwanzig Jahre her, und doch steht noch lebendig der seltsame Augenblick vor mir, in dem ich erfuhr, daß der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland erklärt sei.

Ich befand mich damals in dem jetzt oft genannten Tanger, an der Nordküste von Afrika. Um übrigens dem Verdacht der Europamüdigkeit zu begegnen, in den man leicht gerät, wenn man sich während der Sommerhitze nach Afrika begiebt, will ich voranschicken, daß ich vor dem Typhus geflohen war. In Cadiz, wo ich mich in Familienangelegenheiten aufhielt, war er ausgebrochen, und der Arzt hatte mich bei einem Fieberanfall sogleich nach der gegenüberliegenden, ihres gesunden Klimas wegen bekannten Hafenstadt geschickt. Seit etwa sechs Wochen war ich dort; die Rückkehr nach Cadiz schien immer noch nicht ratsam.

Unter den wenigen Familien, mit denen ich in Tanger verkehrte, war die eines Arztes, Doktor Migueres, der mit seiner Frau und Schwiegermutter hier angesiedelt war – sämtlich Südfranzosen. Er – intelligent, voll Sprühfeuer; sie noch ziemlich jung, mit großen, traurigen Augen, die um den Verlust eines einzigen Kindes klagten. Ihre Mutter, wenig zugänglich, außer wenn sie von ihrem Sohne sprach, dem „talentvollsten Kadetten von St. Cyr.“

Es war am Nachmittag des 20. Juli, als ich neben Frau Migueres am Klavier saß; es schien ihr lieb, jemand gefunden zu haben, mit dem sie zuweilen vierhändig spielen konnte. Wir waren gerade in die Egmontouverture vertieft, als die Thür hinter uns aufgerissen wurde und ihr Mann eintrat. Er war in großer Aufregung und konnte kaum sprechen. Endlich, nachdem er sich gerade vor nach hingestellt und ein paarmal heftig geatmet hatte, rief er ganz unvermittelt:

„Wissen Sie auch, daß wir Feinde geworden sind?“

Ich war ganz starr vor Schreck, denn ich dachte, er hätte plötzlich den Verstand verloren; der Tag war heiß genug für einen Sonnenstich. Die arme Frau fürchtete jedenfalls dasselbe, denn sie stöhnte einmal über das andere. „O Gott – Charles, Du weißt ja gar nicht, was Du sprichst!“

Aber er wußte es nur zu gut!

„Es giebt Krieg!“ erklärte er. „Frankreich hat Ihnen (ich verkörperte ihm Deutschland) den Krieg schon am 15. Juli erklärt, aber der Draht reicht nicht bis an unser elendes Nest, so ist die Nachricht eben erst von Lissabon herübergelangt.“

Ich fiel wie aus den Wolken. Kaum vier Wochen hatte ich Europa aus den Augen gelassen, denn in Tanger las ich keine Zeitung, und da überraschte es mich nun plötzlich mit einer Kriegserklärung!

Frau Migueres, die für ihren Mann schwärmte, nahm den Krieg leichter als das, was sie vorher gefürchtet hatte. Nur ihre Mutter, die bei den lauten Worten des Doktors in die Thür getreten war, rang die Hände im Gedanken an den talentvollen Kadetten, dessen Zeit in St. Cyr beinahe um war, und der vermutlich eingezogen wurde. Migueres aber kam vom französischen Konsulat und warf zu unserer Belehrung den spanischen Thron und den Prinzen von Hohenzollern, den König von Preußen und seine Zusammenkunft in Ems mit Benedetti geläufig durcheinander.

„Ach, der entsetzliche Krieg!“ jammerte die Schwiegermutter, „und was wird erst das Ende sein!“

„Das Ende?“ schrie der Doktor mit einem triumphierenden Blick nach mir, „das kann ich Euch heute schon voraussagen. – Ist keine Karte da?“

Sie war verlegt. Das Bildungsmaterial schien überhaupt etwas mangelhaft im Hause – dafür befanden wir uns in Afrika. Er mußte mit einem Eisenbahnnetz von Mitteleuropa vorlieb nehmen, das er sogleich vor sich ausbreitete. Drauf zog er einen Bleistift aus der Tasche und rückte die „zukünftige Grenze Frankreichs“ so tief in unser Land hinein, daß ich, als Vertreter Deutschlands, mir das unmöglich gefallen lassen konnte. Ein lebhaftes Wortgefecht um den Besitz des Rheins war die Folge. Er hielt ihn fest, mit seiner Bleistiftlinie wenigstens. Beide saßen wir bald mit heißen Köpfen da und schossen wütende Blicke aufeinander.

„Da haben wir ja schon den Krieg!“ seufzte die Doktorin und setzte eine Schüssel mit frischen Feigen auf den Tisch, uns den Mund zu stopfen. Sie ruhte auch nicht eher, bis wir Frieden schlossen und uns zur Versöhnung sogar die Hände schüttelten. Der Gebietsabtretung wurde dabei nicht weiter erwähnt; jeder dachte das Seine darüber.

Mit dem Musizieren war’s natürlich vorbei. Dagegen wurde beschlossen, daß Doktor Migueres mich bis zu dem ziemlich entfernten Hause des belgischen Konsuls begleiten sollte. Wir Deutsche besaßen damals noch keinen eigenen Vertreter in Marokko; meine spanischen Verwandten hatten mich deshalb an den belgischen empfohlen, der ihnen bekannt war und mir durch seine Erfahrung auch bereits gute Dienste geleistet hatte. Die Kriegsnachricht hatte plötzlich eine unbezwingliche Sehnsucht nach den Meinen in mir geweckt und der Konsul sollte mir Rat wegen der Reise geben.

Beinahe hätten wir zwei eben erst versöhnte Feinde unterwegs wieder Streit bekommen, als wir auf ein paar Negerjungen stießen, die miteinander kämpften. – „Nehmen wir an,“ reizte mich der Doktor, „der da sei Napoleon (er hatte sich natürlich den Stärksten gewählt), der andere Ihr König von Preußen – wir wollen doch sehen, wer die Schlacht gewinnt!“

Ich antwortete nicht, sondern ging nur schneller, um mir die herrliche Gegend, die ich vielleicht zum letztenmal sah, durch seine Kriegsgelüste nicht verderben zu lassen. Von dem Hügel, auf dem wir standen, blickte man herab auf die Stadt, die sich terrassenförmig nach dem Meere senkte. Hier oben gab’s das beste Trinkwasser, was in Tanger soviel bedeutet wie in München Hofbräu. Drum traf man gegen Abend auch die Männer und Jünglinge von Tanger-nueva in einem Halbkreis hier am Boden sitzend, während meist ein Improvisator im weiten Burnus, lebhaft gestikulierend, in der Mitte stand. Zuweilen hob bei ihren Beifallsstürmen ein neugieriges Kamel der Herde den langen, krummen Hals und stieß jenen schrillen Schrei aus, der keinem Schrei eines anderen Tieres gleicht. Ernste Frauen, deren weiße Umhüllung nur die schwarzen Augen sehen ließ, schöpften daneben Wasser am Brunnen und stiegen, den antiken Krug auf dem Kopf, dann langsam zur Stadt nieder.

Am Strand, den wir passieren mußten, trafen wir die französischen Maler Henri Regnault und Clairin, die auf ihren kleinen Pferden dahinflogen. Mit Regnault sollte ich tags darauf bei einem gemeinschaftlichen Bekannten frühstücken. Am nächsten Tag! da war er bereits „zu Schiff nach Frankreich“, um die Palette mit der Flinte zu tauschen. Vor Paris hat der Tausch dem Armen das Leben gekostet.

Des Belgiers kleines Palais glich einem Museum, er besaß eine reichhaltige Sammlung orientalischer Waffen und Thongefäße. Am selben Morgen hatte eine Karawane ihm eine neue Sendung gebracht – mitten ins Auspacken hatte die Kriegsnachricht getroffen. Da saß nun der gemütliche alte Herr zum erstenmal teilnahmlos neben seinen Schätzen und durchflog die frisch eingelaufenen Briefe und Zeitungen.

„Sie sind doch bei dem Kriege nicht beteiligt!“ rief ich etwas geringschätzig, als er mit einem ellenlangen Gesicht meinen Gruß erwiderte. Denn ich kam mir als Mitglied eines Staats, der mit einem anderen Krieg führt, plötzlich viel wichtiger geworden vor. Denke ich jetzt daran, scheint mir das sehr lächerlich, aber ich erinnere mich genau, so empfunden zu haben.

„Sie vergessen, daß ich als Belgier sogar sehr nahe bei der Sache beteiligt bin,“ meinte er. Auch ihm schwebte als Resultat des Krieges eine Veränderung der Gremzen vor, nur war er auf eine Besitzerweiterung seines Landes nicht so gefaßt wie Migueres.

Ich legte ihm meinen Fall vor und setzte ihm auseinander, daß ich über Paris zurückreisen wollte, weil der Mietskontrakt für mein dortiges Maleratelier noch nicht abgelaufen sei, sich auch der größte Teil meiner Sachen in demselben befände.

Da riet er, sobald als möglich zu reisen, weil, nachdem die Feindseligkeiten erst begonnen, die deutsch-französische Grenze schwer zu passieren sein werde. Ein Diener wurde sogleich nach dem [540] Hafen gesandt, um zu erfahren, ob ein Schiff für Cadiz vor Anker läge. Nein. Der nächste Dampfer sei erst in sechs Tagen fällig. So entschloß ich mich zu dem Umweg über Gibraltar, wohin der „Neptun“ bereits in ein paar Stunden abging.

Ich kehrte ins Hotel heim, bezahlte meine Rechnung, packte schnell meine Siebensachen und begab mich noch vor Morgengrauen nach dem Hafen.

Das Einschiffen war so unbequem wie einige Wochen vorher das Landen. Wenn man während eines Sturmes, wie er sich an jenem Morgen erhoben, auf einer wahren Nußschale nach einem Dampfer überfährt, verwünscht man die Romantik südlicher Häfen, die für das Einlaufen größerer Schiffe noch nicht eingerichtet sind. Vorn ein Laternchen, denn es war noch finstere Nacht, hüpfte unser kleines Boot wie ein Irrwisch über die Wellen. Als ich endlich am „Neptun“ anlangte, mußte ich mir den Platz an Bord noch durch eine akrobatische Leistung an der schwanken Strickleiter erkaufen, deren ich heute noch mit Schrecken gedenke. Oben angelangt, sank ich auf eine Bank, von welcher aus ich dann bei Tagesanbruch die afrikanische Küste verschwinden sah.

Die Seefahrt schien mir lang und schwül. Erst gegen zwei Uhr liefen wir im Hafen von Gibraltar ein, dessen weiße Kreidefelsen die grelle Mittagssonne in einer für die Augen unerträglichen Weise zurückwarfen.

Trotz der Empfehlung des belgischen Konsuls gab’s Weitläufigkeiten, ehe ich von der Militärbehörde eine Aufenthaltskarte für die achtundvierzig Stunden erhielt, die ich hier auf den Dampfer für Cadiz warten mußte. In ungemütlichster Stimmung – unschlüssig wohin? – keine bekannte Seele nahe, die ich anrufen konnte, schleppte ich mich in afrikanischer Brathitze über blendenden Sand nach der Stadt. Gepeinigt wurde ich noch dazu von einem schrecklichen Gedanken, der mir erst kurz vorher auf dem Schiff gekommen war, nämlich: Was wird aus mir, wenn mein Geldvorrat zu Ende geht, ehe ich Deutschland erreiche? Leider wußte ich aus Erfahrung, daß eine ebenso thörichte, wie unüberwindliche Scheu es mir unmöglich machte, mich in Fällen der Not, wie sie in der Fremde und bei einer gewissen Unerfahrenheit vorkommen, selbst an solche zu wenden, bei denen ich Kredit hatte. Was finge ich erst unter Fremden an, wenn der Krieg mich von der Verbindung mit den Meinen abschnitte? Vorderhand war ich glücklicherweise noch auf einige Zeit gedeckt. Meine Devise sollte von nun ab höchste Sparsamkeit werden, Sparsamkeit bis zur Knauserei. Eine englische Banknote, die ich bei mir trug, schien mir vorteilhaft hier, auf englischem Boden, zu wechseln, zu welchem Zweck ich in ein ansehnliches Bankhaus trat. Da ereignete sich etwas so Außergewöhnliches, Wunderbares, daß ich zuerst an eine übernatürliche Einwirkung in mein Schicksal glaubte.

Im Begriff nämlich, das gewechselte Geld an mein Portemonnaie zu thun, trat ein Herr – offenbar der Chef des Hauses – der mich schon eine Weile fixiert hatte, an mich heran und fragte: „Nicht wahr, ich habe Miß Biller vor mir?“

Als ich aufs höchste überrascht bejahte, streckte er mir beide Hände entgegen, schüttelte die meinen und rief: „Nun, da seien Sie mir herzlich willkommen. Sie erlauben, daß ich Sie sogleich meiner Frau vorstelle, denn solange Sie in Gibraltar bleiben, sind Sie selbstverständlich unser Gast!“

Ich liebe die englische Sprache nicht sonderlich, in dem Augenblick aber klang sie mir wie die herrlichste Musik. Nur war mir die Anrede so verblüffend, so märchenhaft, daß ich es nicht gleich wagte, trotz des zutreffenden Namens, sie auf mich zu beziehen. Indes, alles ging mit natürlichen Dingen zu.

Englische Mitglieder meiner Familie hatten nämlich meinen Soloabstecher nach Afrika mit einer gewissen Besorgnis verfolgt, besonders als ich beiläufig einmal schrieb, ich hätte nicht übel Lust, mich einer Karawane nach Fez anzuschließen. Es war da der Gegenvorschlag gemacht worden, doch lieber das nahgelegene Gibraltar zu besuchen, zu dem man in Beziehungen stehe. Mein Schwager hatte zugleich einem ihm dort befreundeten Bankier meine Personalbeschreibung geschickt mit der Bitte, falls ich mich ihm vorstelle, mich wie ein Glied der Familie aufzunehmen. Da ich auf Gibraltar nicht einging, war dieses Briefes gegen mich nicht erwähnt worden. So fügte es nun ein glücklicher Zufall allein, daß ich das gastliche Haus und teilnehmende Menschen fand, im Augenblick, wo ich mich so lebhaft danach sehnte. Mit echt englischer Gastfreundschaft wurde ich aufgenommen. Mr. G. und seine Gemahlin machten mich mit dem interessanten Gibraltar bekannt, wobei mir besonders der Rassenunterschied zwischen Süd- und Nordländern auffiel. Die hochgewachsenen, blonden Engländer, in hellen Uniformen und weißen Mützen, die in gemessener Haltung marschierten und klanglos redeten, auf einer Seite, und auf der andern die kleinen, sonngebrannten Spanier in dunklen Kapas, mit ihrem Sprühfeuer, der drastischen Geste und vollklingenden Sprache.

Den Abend brachten wir in einem englischen Klub im Freien zu, wo fast ausschließlich der Krieg den Unterhaltungsstoff lieferte. Die letzte Sensationsnachricht war eben eingetroffen: Rußland rüste gemeinsam mit den Vereinigten Staaten, um den Franzosen nötigenfalls gegen uns beizustehen – eine Ente, die von Frankreich geflattert kam. Es wurden auch Wetten gemacht – für, wie gegen uns; ein berühmtes Rennpferd mit Namen Puck war in Bismarck umgetauft worden.

Mein Gastfreund begleitete mich am dritten Tage aufs Schiff, um mich dem Kapitän zu empfehlen, dessen Dampfer – ein französischer – zwischen Genua und Havre verkehrte und auf den Zwischenstationen Passagiere aus– und einschiffte.

„Sie sind Engländerin?“ fragte er, nachdem Mr. G. sich entfernt hatte.

„Nein, Deutsche.“

„Vielleicht aus Oesterreich?“ forschte er weiter mit teilnehmender Neugier, wie um sich meiner Nationalität aufs genaueste zu versichern. – „Nein, ich bin Preußin.“ – „Prusienne – une prussienne!“ rief er nun so laut, als wollte er alle Mitreisenden von der Anwesenheit einer Feindin auf seinem Schiff unterrichten. Natürlich wandte sich jeder auf dem Deck nach mir um.

„Aus Preußen also!“ fuhr er unbarmherzig fort. „Nun, da sind Sie allerdings sehr zu beklagen! Ihr Land ist so gut wie verloren!“

Ich bat ihn, sein Mitleid einstweilen zu sparen, bis Grund dazu vorhanden sei. Er aber lächelte überlegen und holte seinen „Figaro“ herbei; und da stand es auch bereits gedruckt, daß die Sympathien Europas mit Frankreich gingen, ja, daß selbst Bayern und Württemberg schon gerüstet wären, um mit den Franzosen ihre nordischen Unterdrücker zu bekämpfen.

Auf einem französischen Schiff ließ sich gegen eine Autorität wie die des „Figaro“ wenig vorbringen, trotzdem hätte ich mir vielleicht den Mund verbrannt, wenn mich nicht zugleich mit dem „Figaro“ die Seekrankheit angegriffen hätte. Da zog ich mich resigniert in meine Kajüte zurück und war froh, als wir am anderen Morgen in Cadiz landeten. Im Hafen hatte man geflaggt – Militärmusik klang von der Alameda. Ich brachte das sogleich in Verbindung mit einem französischen Siege; vielleicht gingen auch die Spanier mit dem verwandten Stamm – das hätte mir ans Herz gegriffen.

Aber so schlimm war’s nicht – im Gegenteil! Musik und Fahnen aber feierten San Jago, den Schutzpatron von Andalusien. Mein erster Besuch galt einem teilnehmenden Freunde, Herrn Konsul Kropf, dem ersten Deutschen, dem ich seit der Kriegserklärung begegnete. Der faßte die Lage freilich etwas anders auf wie der „Figaro“, und wenn er auch nicht im voraus von unsern Siegen renommierte, sah er doch mutig der Zukunft entgegen. Er hielt es übrigens für geboten, daß ich von nun an mit einem richtigen Paß reise, und verschaffte mir ihn.

Die nun folgende Reise war übrigens die unbequemste und anstrengendste, die ich je gemacht habe. Aus den bereits erwähnten Sparsamkeitsrücksichten nahm ich die dritte Wagenklasse, die in Spanien – damals wenigstens – der unseren sehr weit nachstand. Sich darin während der Mittagshitze im Juli durch Andalusien schleifen zu lassen, erinnerte an die Bleidächer Venedigs.

Bald rechts, bald links, je nach der Wendung des Zugs, sengten uns die Sonnenstrahlen durch gardinenlose Fenster. Alles Metall der Wagen strömte Glut aus. Staub, wie ihn nur eine monatelange Trockenheit erzeugt, drang zu jeder Oeffnung ein; die Augen schwollen und entzündeten sich. An jeder Haltestelle gab’s einen wahren Kampf um die ausgebotenen Wassermelonen. Und trotzdem wetteiferte das Kriegsfeuer mit der Sonnenhitze. Alle Gespräche hatten den bevorstehenden Krieg zum Mittelpunkt, und zwar waren – soweit meine Erfahrung reicht – die Sympathien ganz auf unserer Seite. Ja, es schien, als ob der alte Groll, den der erste Napoleon während seiner Besetzung Spaniens hinterlassen, frisch erwacht sei – als ob man frohlocke, daß endlich den [541] Unterdrückten von damals in Deutschland ein Rächer entstanden sei. Daß der Haß bei dem leidenschaftlichen Volke sich ungeschwächt durch Generationen erhalten hatte, war mir bereits von meinem Aufenthalt in den Provinzen Altkastilien und Leon bekannt. Dort hatte man verschiedene halbeingeäscherte Brandmauern nur deshalb nicht abgetragen, damit sie Gedenkzeichen blieben an die Missethaten der Sieger von damals!

Um sechs Uhr früh lief der Zug in Madrid auf dem Bahnhof ein; drei Studen später erst ging der nach Paris ab. Selbst für intimere Besuche war die Morgenstunde nicht recht geeignet; ich war überhaupt nicht besuchslustig. Nur von Einem sehnte ich mich, Abschied zu nehmen, ehe ich Spanien, vielleicht auf immer, verließ. Der liebe Eine aber saß bis um zehn Uhr hinter festen Riegeln, er war im Museum aufzusuchen und hieß – Velasquez. Ich schwankte schon, ob ich ihm nicht einen ganzen Tag opfern und erst am nächsten reisen sollte, aber die Zeit drängte. Ueberdem kannte ich meine Spanier und wußte, daß sie in besonderen Fällen die angenehme Eigenschaft besitzen, vernünftige Ausnahmen von der Regel zu machen. Bald nach sieben Uhr stand ich am Thor des Museo del Prado und zog die Glocke. Der Kastellan, ein alter ausgedienter Militär, war gefällig und billigte meine Passion; er hatte mich zwei Monate hindurch beinahe täglich mit meinem Malkasten vor den spanischen Meistern gefunden. Daß ich des Krieges wegen – der ihn lebhaft interessierte – nach Deutschland zurückkehrte, begriff er. Aber er gönnte mir vorher die stille Stunde der Betrachtung und schloß willig die Säle auf, die so viel Herrliches enthalten.


Fatale Unterbrechung.
Gemälde von Karl Gebhardt.


Auf dem Rückwege sah ich auf einem menschenleeren Platze – erinnere ich mich recht, war’s im Schloßhof, wo allerdings jetzt kein Kronenträger zu beschützen war – zwei Wachen Ball miteinander spielen. Wären meine Gedanken damals nicht mit Krieg und Soldaten beschäftigt gewesen, würde mir der Mangel an Disciplin nicht aufgefallen sein – so machte er mir Eindruck.

Auf dem Bahnhof wurde der „Cascabel“, der spanische „Kladderadatsch“, ausgeboten. Er brachte einen spanischen „Brief Napoleons des Großen aus dem Fegefeuer an seinen Neffen Napoleon den Kleinen“, worin ersterer dem letzteren derbe Vorwürfe über seine thörichte Kriegserklärung machte und ihm für den Fall der Niederlage Verhaltungsregeln für das Klima in St. Helena anbot . . .

In Hendaye, der Grenzstation, wurde mein Paß kaum angesehen. Als Kennzeichen der „Barbaren“ galten blaue Augen und gelbe Haare, die besaß ich nicht. Ueberhaupt kam von Spanien wohl wenig Verdächtiges. Dagegen war ich bald sicher, daß mein Nachbar im Waggon – die dritte Klasse war hier ohne Abteilung für Frauen – der bei der Revision hinter mir stand, meinen Paß über die Schulter gelesen hatte. Kaum setzte der Zug sich in Bewegung, so fing er an – noch dazu mit deutschem, das heißt elsässer Accent – auf die Preußen zu schimpfen. Es konnte natürlich nur auf mich gemünzt sein, denn die eingestiegenen Spanier, einfache Leute, unterhielten sich in ihrer Sprache und verstanden offenbar sein Französisch nicht. Um ihm den Mund zu schließen, bemerkte ich, daß ich selbst eine Preußin sei. Damit machte ich es nur schlimmer.

„So, so!“ spottete er, „nun Ihre Landsleute werden sich nächstens gefallen lassen müssen, daß wir ihnen einige Lektionen in der Kriegsführung geben, wenn wir uns auf dem Wege nach Berlin befinden.“

Natürlich hätte ich schweigen sollen. Aber ich war auch bereits vom Kriegsfieber gepackt und es schien mir unmöglich, dem „Feinde“ so etwas durchgehen zu lassen.

„Es könnte auch umgekehrt der Fall sein,“ entgegnete ich so ruhig als nur möglich; „der Weg nach Paris ist unsern Soldaten von früher her bekannt!“

Jetzt fuhr er giftig auf.

„Sie werden doch nicht etwa behaupten wollen, daß die Preußen in Paris gewesen wären? Russen, Engländer und Oesterreicher – ja! Meinetwegen in der Gesellschaft auch ein paar Preußen – allein aber hätten sie sich nie dahin gefunden!“

Da bereute ich, ihn überhaupt eines Wortes gewürdigt zu haben, und schwieg hinfort beharrlich. Glücklicherweise stieg er aus, ehe die Nacht anbrach – eine klare, sternenhelle, die wir nur leider in einem bis auf den letzten Platz gefüllten Wagen nicht genießen konnten.

In Bordeaux, wo unser Zug ein paar Stunden Aufenthalt [542] hatte, sah ich kriegerische Plakate an den Straßenecken und hörte das Geschmetter der Marseillaise überall. Die Theaterzettel zeigten Stücke wie: „La campagne du Rhin“ („Der Rhein-Feldzug“), Vaudeville, „Les Prussiens en Lorraine“ („Die Preußen in Lothringen“), „La sortie des barbars“ (Der Auszug der Barbaren“). Wenn man bedenkt, daß die Kriegserklärung kaum vierzehn Tage alt war, so muß man zugeben, daß die Franzosen ihre Zeit gut benutzt hatten!

Als ich nachts von Bordeaux weiterreiste, stand, vom Zuge aus eine Weile sichtbar, im Hafen ein Schiff in hellen Flammen. Es sah neben den unzähligen andern Fahrzeugen mit ihrem Wald von Masten wie ein feuerspeiendes Ungeheuer aus, das gegen ein Heer von Lanzentragern ins Feld rückt.

„Das ist nun schon der zweite Schiffsbrand in diesem Jahre,“ bemerkte einer der Mitreisenden.

„Warum legt man den preußischen Spionen auch nicht das Handwerk!“ entgegnete ein anderer.

Der Zug war wieder dicht besetzt. Ich hatte neben mir eine gemütliche alte Landfrau, die ihren Sohn vor dem Ausmarsch noch einmal sehen wollte. Sie erzählt mir das mit großer Umständlichkeit in einem Patois, das ich Mühe zu verstehen hatte. Dem bevorstehenden Abschied widmete sie dabei heiße Thränen, was sie indes nicht abhielt, am Ende der Geschichte in festen Schlaf zu sinken und mich als Kopfkissen zu benutzen.

In La Roche Chalais, einer kleinen Station, die wir am Morgen erreichten, hieß es: Aussteigen! – Der ganze Bahnhof war mit Soldaten angefüllt, welche unsern Zug erwarteten, um so weit als die Richtung zuließ befördert zu werden. Zur Kriegszeit gehen die Soldaten allen andern Passagieren vor; ein höflicher Stationschef erbot sich indes, einige der Reisenden, falls ihnen besonders daran läge, zugleich mit der Truppe zu befördern. Zwei Herren aus der ersten Klasse, meine Nachbarin und ein biederer Alter meldeten sich als „Eilige“. Da – ich weiß kaum wie? – überkam mich plötzlich der vorwitzige Wunsch, die Gelegenheit zu benutzen, um mir die „Grande armée“ etwas in der Nähe anzusehen. Sofort war ich neben der betrübten Mutter und verlangte ebenfalls „schleunige“ Beförderung.

Knapp vor der Abfahrt wurden wir Drei da noch in einen Wagen dritter Klasse hineingepreßt, der mit Soldaten bereits stark gefüllt war; ich quetschte mich zwischen die „Eiligen“ vom Civil.

Sobald ich nur drin saß, hätte ich aber um Gotteswillen schon wieder heraus sein und die militärischen Studien andern überlassen mögen. Keine Spur von Disciplin, die der romanischen Rasse nun einmal nicht im Blute zu liegen scheint.

Obgleich der vollgepfropfte Waggon wahrhaftig nicht zu Turnübungen einlud, gab’s ein fortwährendes Hinundherwildern, ein über die Bänkeschwingen oder versuchsweises Hinaussteigen auf die Trittbretter. Hielt der Zug, flog alles wie eingesperrte Vögel ins Freie und war nur schwer wieder einzufangen, lief auch wohl, trotz Abwehrens der Schaffner, mit diesen oben über die Wagen. Was ich leider bei meinem schnellen Entschluß gar nicht in Berechnung gezogen, war der Abschiedstrunk, den man den Kriegern gespendet, ehe sie den Zug unsicher machten. Schon bei der Abfahrt waren sie sehr angeheitert, wurden es unterwegs aber immer mehr, da ihnen auf allen Stationen noch Spenden von Wein, Schnaps, Bier, Viktualien und Cigarren mit den Segens- und Siegeswünschen anwohnender Patrioten zugetragen wurden.

Als sie bereits mehr getrunken als sie eigentlich konnten, sollte das „eilige Civil“ von dem Ueberfluß mitgenießen. Ein Gegenübersitzender hielt mir plötzlich die Flasche hin, die er eben abgesetzt, mit den Worten „A votre tour, Madame, vive la France!“

Obgleich mich der Ekel schüttelte, wagte ich nicht, mich zu weigern und that einen Schluck. Als aber sein Nachbar mit demselben Anerbieten kam und ich zu fürchten anfing, ich würde den übrigen vielleicht auch noch Bescheid thun müssen, bat ich mit ausgesuchtester Höflichkeit, mich zu entschuldigen, da ich leider nicht viel Wein vertrage.

Ich kam schön an! Sich weigern, auf Frankreichs Wohl zu trinken, galt den Exaltierten für Hochverrat. War ich vielleicht keine Französin? – vielleicht gar une prussienne?

„So seht doch nur ihr Haar und ihre Augen an, Ihr dummes Volk!“ nahm sich die alte Bauernfrau meiner an, deren Hand ich in meiner Angst immer fester drückte.

„Was Augen! Die Papiere haben die verd ... Spione vorzuzeigen!“ schrie – lallte vielmehr mein Gegenüber. Mir wurde bald heiß bald kalt – wenn sie die kleine Ledertasche untersuchten, die an meinem Gürtel befestigt war, entdeckten sie den Paß, der mich als „prussienne“ auswies. Ich sah mich bereits als Opfer meines Uebermuts zum Wagenfenster hinausfliegen ... da kam Hilfe. Aus der andern Wagenecke schrie einer, der den Streit mit angehört – vielleicht konnte er auch nicht lesen! – „Dummheit – Papiere! Die Marseillaise soll sie singen – da wird sich’s zeigen, ob sie gut französisch ist oder nicht!“

O – Vaterland! was hätte es dir genutzt, wenn ich mit diesen Wölfen nicht geheult, sondern in patriotischem Opfermut das Rheinlied angestimmt hätte? Ich kann beschwören, daß ich nicht im geringsten zum Marseillaise- noch zu anderem Singen aufgelegt war, aber mit zittriger Stimme piepte ich trotzdem: „Allons enfants de la patrie ...“

Le jour de gloire est arrivé ...“ fiel der ganze Wagen sogleich brüllend ein. Vergessen war mein Paß und meine Unlust, mit ihnen zu trinken, und unter dem Geschmetter ihres Lieblingsliedes ging’s weiter bis zur nächsten Station. Hier wurde – Gott sei’s gedankt! – das „eilige Civil“ wieder von der grande armée getrennt und ersteres mit dem nächsten Zuge nach Paris befördert.

Ich aber gelobte mir feierlichst und brünstigst, weiteren Studien französischer Krieger in so gefährlicher Nähe für alle Zeiten zu entsagen.

In Tours hörte ich am Büffett, wo ich Kaffee trank, Folgendes: Die ausrückenden Soldaten hätten in Tarare den Stationschef gezwungen – auch sie mögen vom Abschiedstrunk schon begeistert gewesen sein! – ihnen einen Wagen für die „Damen“ abzulassen, welche sie ins Lager nach Chalons begleiten wollten. Der Uebermacht weichend, habe er diesen Personen den letzten Wagen des Zuges angewiesen, welchen sie sofort eingenommen hätten. Drauf sei das Abfahrtsignal gegeben worden und der Zug habe sich in Bewegung gesetzt bis auf – den letzten Wagen, den habe er aushängen lassen. Das Marseillaisegebrüll der Abfahrenden übertönte das Geschrei der getäuschten „Damen“.

Bald nachdem wir Tours verlassen, hatte ich die Freude, endlich einmal wieder einen bewölkten Himmel zu sehen! Der Wind hatte sich erhoben und trieb leichte, flockige Wölkchen vor sich her, die sich bald verdichteten, dunkler wurden und sich senkten. Regentropfen fielen schwer aufs Wagendach, schlugen gegen die Fenster und die durstige Erde trank, während feuchte Luft die brennenden Augen kühlte. Wie unbeachtet geht einem dieser so gewöhnliche Witterungswechsel vorüber, wenn man ihn nicht so lange entbehrt hat. Aber von Sevilla ab, das ich anfangs Mai verlassen, durch die ganze Zeit meines Aufenthalts in Cadiz und später in Tanger, hatte ich nur das vielgepriesene, ungetrübte Blau über mir gehabt. Ein farbenglühender Sonnenuntergang nach dem andern war auf Tage gefolgt, deren grelles Licht den hellen Sand und die kreidigen Häuser des Südens noch blendender erscheinen ließen.

Ich kann’s nicht sagen, welchen Genuß ich nun im Anblick der Wolken hatte und an den vornehmen grauen Lufttönen, welche sie der Landschaft mitteilten, nachdem der Regen aufgehört.

Das Kriegsfieber, dessen Symptome sich an jenem Nachmittag bei Doktor Migueres zuerst bei mir zeigten, und das sich während der Reise in einer mir bis dahin ganz unbekannten Abneigung gegen alles Französische immer mehr entwickelt hatte, ließ kurz vor Paris etwas nach. Ich kann’s nicht leugnen, daß ich während meiner beinahe zweijährigen Abwesenheit oft mit einem gewissen Heimatsgefühl an diese Stadt zurück gedacht hatte. Und wie sie jetzt immer deutlicher mit ihren Türmen am Horizont hervortrat, wurde mir mit einem Male ganz weich – die Verleumdungen gegen die „prussiens“, die ich unterwegs gehört, der Abscheu vor den undisziplinierten französischen Soldaten – für ein paar Augenblicke war das alles vergessen. Ja, ich war fast so weit, meinen Feinden zu vergeben und sie sogar zu lieben. Besonders als ich auch sehr freundlich von ihnen in meiner Wohnung empfangen wurde. Sie lag der alten Kirche St. Germain des Près so nahe, daß ich von meinem Atelier die Orgel hören konnte. Friedlich klangen an jenem Abend die Glocken zu mir herüber, als ich mich nach der ermüdenden Reise zum erstenmal wieder in ein Bett legte.

(Schluß folgt.)


[543]

Freiheit.

Novelle von A. von Klinckowstroem.

Schattenlos inmitten weiter Acker- und Wiesenflächen war die kleine Bahnstation der vollen Einwirkung sommerlicher Nachmittagsglut ausgesetzt. Die Sonne flimmerte auf den Schienen und erhitzte die hellen Backsteinmauern des nach der üblichen Schablone aufgeführten Gebäudes, das in seiner regungslosen Stille und träumerischen Verschlafenheit fast den Eindruck des Ausgestorbenseins machte. Das einzig Lebendige schien der Zeiger der großen Bahnhofsuhr zu sein, welcher stetig seinen Rundgang fortsetzte. Als er der sechsten Stunde nahekam, öffnete sich die Thür des Stationsbureaus. Ein Mann in blauer Bluse und Dienstmütze trat heraus, stellte schläfrig das Signal, welches verkündete, daß die Einfahrt für den Schnellzug frei sei, und blinzelte dann, die Augen mit der Hand beschattend, die Landstraße entlang, auf welcher einzelne Staubwölkchen das Nahen verschiedener Gefährte anzeigten. Auch im Innern des Gebäudes regte es sich nun. Der Kellner, der hinter dem Schenktisch geschlafen hatte, schreckte empor, als er den rostigen Klang der Signalstange hörte, scheuchte die Fliegen von den wenig Vertrauen erweckenden Wurst- und Käsebrötchen, rückte Flaschen mit Likör und Limonade-Essenzen zurecht und trat dann gleichfalls hinaus.

„Da kommen zwei Wagen aus Strehlen!“ sagte er, mit dem Kopf mach der Straße hindeutend. „Der eine ist vom Schloß. Das gnädige Fräulein wird vermutlich mit diesem Zug zurückerwartet. Der andere gehört dem Oberinspektor. Muß wohl Besuch erhalten, der Herr Boße, denn der Kutscher steckt in einer Art von Livree, die für gewöhnlich nicht spendiert wird.“

Der Mann in der Dienstmütze nickte gleichmütig. Das Kommen und Gehen der Reisenden interessierte ihn schon längst nicht mehr. Der Kellner jedoch konnte sich’s nicht versagen, als die beiden Gefährte an der Rückseite des Hauses hielten, durch die Hinterthür ein Gespräch mit den Rosselenkern anzuknüpfen. Es befriedigte ihn, zu erfahren, daß er recht vermutet, daß in der That heute Fräulein von Ostrau nach Schloß Strehlen zurückkehren werde. „Und was ist denn bei Euch los?“ fragte er den Kutscher des Oberinspektors mit einer herablassenden Vertraulichkeit, die er sich dem herrschaftlichen Würdenträger gegenüber nicht herausnahm. „Besuch, was? Jemand von der Familie? Ja, ja, im Sommer kommen die Städter gern auf Grasung.“

„Nee!“ lachte der Bursche, dem die silberbordierte Mütze schief auf dem Ohr saß. „Is nich an dem! Der Herr kriegt heute einen neuen ‚Eleven‘ für die Wirtschaft.“

„Mit denen pflegt Ihr doch sonst nicht so viel Umstände zu machen.“

„Es hat auch eine besondere Bewandtnis mit diesem. Fürs erste ist er überhaupt gar kein Eleve.“

„Das hättet Ihr gleich sagen können!“

„Zweitens hat er selbst ein Gut und kommt nur, um sich unsere Wirtschaft anzusehen. Vielleicht bleibt er aber doch längere Zeit, um dem Herrn etwas abzulernen. Soll ja auch kein ganz Junger mehr sein. Unsere Frau und nun gar die Mamsell machen ein Aufhebens von ihm, als wär’s ein Prinz, und er ist doch nur ein ganz gewöhnlicher Herr Wildenberg.“

Da gab auch die Glocke das Zeichen, der Zug brauste heran, und der Ruf „Dammhof! Drei Minuten!“ klang geschäftsmäßig von den Lippen der Schaffner, welche die Thüren der verschiedenen Abteilungen aufrissen, um etwa ein halbes Dutzend Personen herauszulassen.

Einem Coupé erster Klasse entstiegen zwei Damen. Die eine von ihnen, im Staubmantel von sandfarbener Seide, hielt ihre schlank emporgeschossene Gestalt hoch aufgerichtet und den blonden Kopf unter dem schwarzen einfachen Hut fast ein wenig zu sehr im Nacken. Leicht und elastisch war sie herausgesprungen und half dann ihrer ältlichen Begleiterin, die, beladen mit Körbchen und Päckchen, nicht so schnell hatte folgen können. Wie sie sicheren Schrittes über den Bahnsteig nach dem Wagen ging, ehrfurchtsvoll gegrüßt von dem Stationsbeamten, wandten sich die Köpfe der Anwesenden unwillkürlich, um ihr nachzublicken.

Aus einer Abteilung zweiter Klasse war ein Herr gestiegen, der seinen Gepäckschein dem Mann in der Bluse übergab und in weicher süddeutscher Mundart nach einem Wagen aus Strehlen fragte. Man wies ihn zurecht, und während er an das leichte Korbgefährt des Oberinspektors herantrat und Plaid und Reisehandbuch hineinwarf, trafen ihn die hellen Augen der jüngeren Dame, die wenige Schritte von ihm entfernt die Zügel aus den Händen des langbärtigen Kutschers entgegennahm, mit kühlem durchdringenden Forschen. Sie hielt sich jedoch nicht lange damit auf, sondern breitete die leichte Decke zum Schutze gegen den Staub sorgsam über die Knie ihrer Begleiterin, die mit einiger Mühe den hohen Vordersitz des eleganten Jagdwagens erklommen hatte. Einem unwillkürlichen Antrieb folgend, zog der Fremde den Hut und empfing zum Dank von der Blonden ein leichtes Neigen des Kopfes, in dem sich ein leises Erstaunen kundgab; er sah eben noch die reinen Linien ihres streng geschnittenen Profils und einen festen, goldig schimmernden Haarknoten im Nacken, dann zogen die Füchse, von ihrer Hand geleitet, an und entführten die Damen seinen Blicken.

Eine Weile noch blieb er nachdenklich stehen, über sich selbst lächelnd, und erst auf die Mahnung des Burschen hin, der ungeduldig zu werden begann, bestieg er den Korbwagen, der nicht allzu schnell in derselben Richtung davon rollte, welche der Jagdwagen genommen hatte.

Die Gegend war, obwohl ohne hervortretende Schönheiten, hübsch und anmutend, besonders für die Augen eines Landmanns, dem die Ueppigkeit der waldumkränzten Felder auffallen mußte, durch welche die Straße sich hinzog. Hier und da tauchten die roten Dächer stattlicher Bauernhöfe auf, und aus dichtem Laubgrün erhob sich in kleiner Entfernung ein wetterfester altersgrauer Kirchturm mit stumpfer Kuppe.

„Das ist schon unser!“ sagte der Bursche, mit dem Peitschenstiel die nächstgelegenen Felder und die Laubmassen samt dem aufragenden Kirchturm bezeichnend. „Strehlener Boden ist der beste im Kreise,“ setzte er voll Selbstgefühl hinzu. Herr Wildenberg nickte stumm und schaute weiter dem Turm entgegen, als sei der ein Wahrzeichen nach dem er seinen Kurs zu richten habe, bis das plumpe Dach hinter mächtigen Kastanien untertauchte, die vom Eingang des Dorfes her in breiter Allee am Kirchlein vorbei dem Herrenhause zuführten.

In der Lattenthür, die den Eingang von der Dorfgasse zu dem Pfarrgrundstück neben der Kirche vermittelte, stand der Geistliche, ein vollwangiger Mann in den Fünfzigen, und grüßte freundlich, als jetzt der Wagen des Oberinspektors vorüberfuhr, und ein halbes Dutzend Blondköpfe guckte neugierig durch die Fliederhecke, die den Garten umgab. Dem Ankömnnling fiel es auf, daß unter den blonden Köpfchen sich ein schwarzes befand, abweichend geartet, offenbar aus einer Rasse, die nichts mit der rotwangigen Derbheit der anderen gemein hatte. Es lag in seiner Natur, die zu stiller Beschaulichkeit neigte, dergleichen Kleinigkeiten zu beachten, und er wandte noch einmal das Gesicht aufmerksam nach dem Pfarrgarten hin, wo nun der dunkle Kopf und die blonden lachend niederduckten und sich nicht weiter sehen ließen.

Der behäbige Wohlstand und der idyllische Friede dieses Fleckchens Erde muteten ihn an. Wie freundliche Augen blickten die Fenster des Pfarrhauses aus dichtem Weinlaub zu ihm nieder; durch die grüngestrichene Pforte des Gartens trat man unmittelbar in den tiefen Schatten der Kirchhofslinden hinaus.

Der Fremde nahm den vollen Eindruck dieses Bildes in sich auf, bis der Wagen mit plötzlicher Biegung in den Gutshof einschwenkte, welcher etwa tausend Schritt von dem Herrenhause entfernt lag, das in stattlicher Größe hinter dem Gitter des Parkthors zwischen breitästigen Kastanien und Platanen sichtbar wurde. Der Oberinspektor stand vor der Thür, um seinen Gast zu bewillkommnen, und er that das mit einer höflichen Zuvorkommenheit, die dem derben Landwirt sonst fremd war, aber Hans Wildenberg war ihm als wohlhabender Mann und Großgrundbesitzer, der sich im norddeutschen Wirtschaften umsehen wollte, von einem Freunde warm empfohlen. Freilich, die äußere Erscheinung des Ankömmlings imponierte ihm nicht gerade; Wildenberg war von schlankem schmalen Wuchs und erschien dadurch kleiner, als er in Wirklichkeit war. Die grauen Augen, das Einzige, was in seinem Gesicht auffiel, hatten einen sinnenden, in sich gekehrten Ausdruck und zeigten nichts von der Thatkraft, die für den Inspektor von dem Bilde eines richtigen [544] Landwirts unzertrennlich war. Wie er aber jetzt den Hut abnahm und mit der Hand über das kurzgeschnittene dunkle Haar fuhr, ging ein Lächeln über seine Züge, das ihnen plötzlich einen eigenen Zauber verlieh, als sei ein Licht an einem Transparentbilde vorübergeglitten und habe es für wenige Sekunden in deutlichen schönen Farben aufleuchten lassen.

„Sie werden sich wundern, daß ich mich so spät noch entschlossen habe, das zu thun, womit andere Landwirte gewöhnlich anfangen,“ sagte Wildenberg, als er bald nachher mit dem Inspektor bei einem kleinen Imbiß zusammensaß. „Allein ich wurde von Hause aus nicht für den Beruf eines Gutsbesitzers erzogen, sonderm widmete nach dem Studium der Naturwissenschaften, und erst als ein Bruder meines Vaters mir sein Gut hinterließ mit der ausdrücklichen Bedingung, die Verwaltung selbst zu übernehmen, nahm ich mit der ganzen ahnungslosen Unbefangenheit des Laien diese Pflicht auf mich. An dem Unheil, das ich anrichtete, merkte ich zu meinem Schaden, daß auch die Landwirtschaft fundiert sein will. Nun, zum Glück ist es noch Zeit, das Veraäumte nachzuholen, und ich rechne darauf, das unter Ihrer bewährten Leitung zu thun.“

„Ich hoffe, einen leidlichen Landmann aus Ihnen zu machen,“ versetzte Herr Boße nicht ohne Selbstgefühl, „darf aber wohl voraussetzen, daß Sie mit den allgemeinen Grundlagen der Wirtschaft vertraut sind.“

„Erwarten Sie nicht zu viel von mir, ich bin nicht praktisch beanlagt! Ja, ich will Ihnen gestehen, daß ich mich des heutigen Ferientages noch freue wie ein Junge, der sich vor den Schulstunden fürchtet, die seine Mängel an das Tageslicht bringen müssen.“ Wieder glitt bei diesen Worten das stille Lächeln über sein Gesicht, während der Oberinspektor und die jüngeren Beamten, die sich eingefunden hatten, den Scherz geräuschvoll belachten. „Wollen Sie mich ein wenig über die hiesigen Verhältnisse unterrichten?“ fuhr Wildenberg fort. „Daß Strehlen der Familie Ostrau gehört, weiß ich ja, aber über die Glieder derselben möchte ich doch gerne etwas Näheres hören, ehe ich meinen Besuch im Schloß mache.“

„Das gnädige Fräulein haben Sie jedenfalls schon gesehen – sie kam mit dem nämlichen Zuge an wie Sie.“

„Ich sah zwei Damen den Zug verlassen und in einem Jagdwagen mit Füchsen davonfahren, die eine blond und schlank –“

„– war unsere Gnädige ... schlank wie eine Tanne, mit Haaren, die ihr bis an die Knie reichen müssen. Staat kann man mit ihr machen!“

„Die ältere Dame war vermutlich die Mutter?“

„Nein, Fräulein Hellas Eltern leben nicht mehr. Die Begleiterin war ihre Tante, die vor den Augen der Welt die Rolle einer Anstandsdame übernommen hat; in Wahrheit bedarf das Fräulein so wenig einer Beschützerin wie Sie und ich, sie weiß mit ihren siebenundzwanzig Jahren sehr gut, was sie zu thun und zu lassen hat.“

„So, so! Und der Besitzer selbst?“

„Ja, was meinen Sie denn, Herr Wildenberg? Fräulein Hella ist ja eben der Besitzer! Strehlen kam vor fünf Jahren in ihre Hände, nach dem Tode ihres Onkels, der keine näheren männlichen Erben besaß und diese Nichte zärtlich liebte. Ich war damals schon hier in Stellung und dachte bei mir: na, das wird gut werden mit einem zweiundzwanzigjährigen Mädchen als Prinzipal! Aber alle Achtung! Vor der muß man den Hut ziehen, die versteht’s! Und das, was sie nicht verstand, nämlich die Uebersicht über die Buchführung und die Feldwirtschaft, das hat sie sich mit eisernem Fleiß angeeignet, denn es gehört zu ihrem Glaubensbekenntnis, daß ein Frauenzimmer in geschäftlicher Beziehung genau dasselbe leisten könne wie ein Mann, wenn es nur dazu erzogen werde. Das ist natürlich ein Irrtum; eine Frau soll backen und kochen und Strümpfe stricken und Kinder versorgen – was darüber ist, das ist im allgemeinen vom Uebel!“

„Und die unverheiratete Frau?“ warf Hans Wildenberg dazwischen. „Ich meine die, welche gezwungen ist, sich auf eigene Füße zu stellen und sich einen Beruf zu suchen, der sie ernährt?“

„Ach was da – Beruf! Die Unverheirateten können sich überall nützlich machen, in der Familie, oder wo sie sonst wollen.“

„Aber wenn sie nun keine Familie haben?“

„So mögen sie Gesellschafterinnen oder Erzieherinnen werden oder auch Wirtschafterinnen. Da haben Sie gleich drei Berufsarten, die ihnen offenstehen. Irgendwo findet sich doch immer ein Winkelchen, wo sie unterschlüpfen können. Die Frau ist nun einmal zum Heiraten da; thut sie es nicht, so liegt das nur an ihr, und damit basta! Uebrigens wollen wir uns nicht gleich in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft streiten. Ich merke schon, Sie blasen auch in das Horn der Gnädigen, das wird Sie gleich lieb Kind im Schloß machen. Aber halten Sie Ihr Herz fest, Fräulein Hella ist eine uneinnehmbare Festung und entschlossen, ihre Selbständigkeit um jeden Preis zu wahren!“

Wildenberg fühlte sich unzart berührt von diesem Scherz und ärgerte sich, daß ein schnelles ganz unbegründetes Rot über sein Gesicht flog; das Thema abbrechend fragte er: „Es giebt doch wohl auch sonst noch Menschen in der Gegend, mit denen man verkehren kann?“

„Natürlich – nur zu viele, sollte ich meinen! Da ist in erster Linie unser Pastor, ein vortrefflicher Mann, der ausgezeichnet Skat spielt. Sie spielen doch auch Skat?“

„Ich bedauere, nein.“

„Das ist schade. Nun Sie werden sich auch sonst gut mit ihm unterhalten. Er führt zudem einen ausgezeichneten Tisch – die Frau Pastor kocht wie ein Engel.“

„Ich wußte nicht, daß die Engel sich durch gutes Kochen auszeichnen,“ warf der Gast belustigt ein.

Herr Boße lachte gutmütig. „Die Bibel sagt zwar nichts darüber, aber vermutlich geht es jedem Menschen so wie mir, daß er die Eigenschaften, die er am höchsten schätzt, unwillkürlich auch den Engeln beilegt. Sie brauchen übrigens nur die Sprößlinge des Pastors anzusehen, dann wissen Sie schon, wie es im Hause zugeht. Rotbäckig und sauber ist die kleine blonde Bande, mit runden Gesichtern und prachtvollen Zähnen.“

„Mich dünkt, ich hätte im Vorüberfahren einen Schwarzkopf darunter bemerkt, der aus der Art schlägt.“

„Wie scharf Sie beobachten! Also unsere kleiue Lili haben Sie auch schon gesehen? Es ist ein Fräulein von Wentzel, das im Pastorhause erzogen wird, eigentlich ein Pflegekind unserer Gnädigen. Ich sage, ‚unsere kleine Lili‘, weil das Mädel uns allen ans Herz gewachsen ist.“

„Nun, gar so klein ist sie mir nicht erschienen. Ich glaubte, ein erwachsenes Mädchen vor mir zu haben.“

„Würden es die Jahre allein thun, so müßte Lili freilich schon zu den Erwachsenen zählen, den sie wird im September achtzehn, doch ist sie noch ein rechter Kindskopf und schlägt gar nicht sehr nach dem Herzen der Gnädigen aus, der sie in Anbetracht der traurigen Verhältnisse, aus denen sie hervorging, das Leben zu sehr auf die leichte Achsel nimmt.“

„Und wo ist sie hergekommen? Doch das geht mich ja im Grunde gar nichts an,“ unterbrach sich Wildenberg selbst.

„Die Frage ist durchaus berechtigt. Wenn man auf einem kleinen Fleck Erde nahe zusammengedrängt lebt, will man doch genau wissen, mit wem man es zu thun hat. Denken Sie nur, das arme Kind hat sich von seinem zehnten Jahr an in der Welt herumstoßen lassen müssen wie herrenloses Gut. Die Eltern leben getrennt, der Vater ist ein Erzlump, die Mutter eine hochgeborene pfenniglose Närrin, die nichts versteht, als ihr Geschick zu bejammern, und die paar Groschen, welche ihr Mann ihr ab und zu schickt, dazu anwendet, den Schein einer anständigen Existenz nach außen hin aufrecht zu erhalten, obgleich kein Mensch mehr daran glaubt. Es ist ein wahres Wunder, daß all das an dem guten Charakter des Mädchens glatt abgeprallt ist. Denn lernen hat die Mutter die Kleine auch nichts Ordentliches lassen. Freilich, du lieber Himmel, wie viel lernen die Mädchen heutzutage in den sogemannten höheren Töchterschulen, was sie nachher brauchen können?“

„Widerspricht das nicht Ihrer Ansicht von vorhin?“ schaltete Wildenberg ein.

„Da haben Sie mich mißverstanden. Ich meinte natürlich nicht, daß die Frauenzimmer ganz unwissend bleiben sollen. Unsere Lili aber durchlief nicht einmal wie jede andere ,höhere‘ Tochter die Schule, sondern blieb oft monatelang ohne Unterricht, wurde bald hierhin, bald dorthin geschickt, denn wenn den alten Wentzel die Laune anwandelte, seine Frau zu ärgern, so nahm er ihr das Kind fort; ihm stand ja die Bestimmung über die Tochter gesetzlich zu, und wenn die Kleine dem Mann zur Last wurde, schickte er sie wieder seiner Frau zurück. So wurde das Mädchen hin und her gezerrt, immer den schlechtesten Einflüssen ausgesetzt, bis

[545]

Auf der Pußta.
Gemälde von J. Vesin.

[546] unsere Gnädige vor drei Jahren durch Zufall auf sie aufmerksam wurde und dann auch gleich in ihrer werkthätigen Art eingriff. Die Eltern waren nur zu froh, der Sorge für das Kind enthoben zu sein, und so kam es hierher. Fräulein Hella dachte zuerst daran, das Mädchen im Schloß zu behalten und die Erziehung selber zu leiten, sah aber, vernünftig wie immer, sehr bald ein, daß ihr dazu doch die Erfahrung mangle, und da die ältere Schwester unserer Pfarrfrau, die seit Jahren im Pastorhause den Unterricht der Kinder leitet, eine sehr begabte und verständige Person ist, so war es das Nächstliegende, Lili dort in Pension zu geben.“

Wildenberg hörte dem wortreichen Geplauder des Oberinspektors gedankenverloren zu. Es wäre ihm lieber gewesen, noch mehr von der „Gnädigen“ zu hören, die bisher nur für wenige Minuten in seinen Gesichtskreis getreten war, aber trotzdem einen ganz bestimmten Eindruck in ihm zurückgelassen hatte. Nur war er sich selbst nicht darüber klar, ob das Selbstbewußtsein, mit dem sie aufgetreten, ihn angenehm oder unangenehm berührt habe. Er schätzte von jeher beim Weibe die Weichheit und Milde, eine gewisse Unsicherheit und Nachgiebigkeit des Charakters, wie sie seine Mutter besessen, während zu jenem streng und edel geschnittenen Kopf Energie und Stolz wie etwas Unerläßliches gehören mußten. Eine heimliche Scheu hielt ihn jedoch ab, Fragen zu thun, welche auf Hella Bezug hatten; er fürchtete eine Wiederholung der unzarten Scherze, die ihn vorhin unangenehm berührt hatten.

Nicht zu den leichtlebigen Naturen gehörend, die sich schnell in neue Menschen und Verhältnisse schicken, begrüßte Wildenberg es dankbar, daß die Gewohnheiten des Hauses es ihm gestatteten, sich frühzeitig in sein Zimmer zurückzuziehen. Es war heiß unter der niedrigen Balkendecke, obgleich die Fenster offen standen. Er beugte sich hinaus, vergeblich Kühlung suchend, und ließ die Augen durch den Garten wandern, der, beinahe taghell vom Mondlicht durchflutet, sich zu seinen Füßen ausbreitete. In einiger Entfernung erhoben sich die Umrisse des Schlosses; aus einzelnen Fenstern des Erdgeschosses schimmerte Licht. Er hatte nicht geglaubt, daß das Schloß so nahe sei, und bemerkte nun, daß nur eine niedrige Hecke den Garten des Oberinspektors von dem herrschaftlichen Parke schied, der in seiner regungslosen Stille zu einsamer Wanderung einzuladen schien.

Wildenberg überlegte nicht lange, ob es erlaubt sei oder nicht, sondern schlich im Dunkeln die Treppe hinab und nahm seinen Weg, da die Hausthür inzwischen verschlossen worden war, durch eines der Flurfenster ins Freie. Er kam sich vor wie ein Knabe, der einen harmlosen Streich ausführt und sich dessen freut – trotz seiner dreißig Jahre gingen die Eingebungen des Augenblicks, die bei ihm oft einen naiven Charakter trugen, noch immer mit ihm durch. Ein Sprung über die Hecke brachte ihn in den Bereich des Schloßgartens, und mit raschen Schritten näherte er sich einer Rotunde, in deren Mitte ein Delphin aus einem Granitbecken einen Wasserstrahl hoch in die Luft blies. Man hatte von hier aus den besten Blick über das stattliche Herrenhaus, das in seiner wuchtigen Masse mehr imposant als schön war. Sechs runde Säulen trugen den breiten Altan des Mittelbaues, und zwischen ihnen sah man durch die geöffneten Glasthüren in ein matt erhelltes Gemach, in dessen rotem Dämmerlicht sich aber nichts genau unterscheiden ließ.

Der Eindringling ging langsam um die Rotunde herum, ab und zu stehen bleibend, um den Duft der Rosen und Jasminblüten einzuatmen, die in verschwenderischer Fülle den Rasenplatz umgaben. Plötzlich schrak er zusammen, denn aus dem Schatten des nächstgelegenen Bosketts trat rasch eine Frauengestalt hervor und zu ihm in den Mondschein. Er erkannte sie sofort – das war der schlanke stolze Wuchs, den er heute schon einmal bewundert hatte – und den Hut ziehend bat er höflich um Verzeihung, daß er zu dieser unpassenden Stunde unbefugt hier eingedrungen sei; als Fremder wisse er weder mit Weg und Steg noch mit den Sitten des Ortes Bescheid und könne daher noch nicht unterscheiden, was verboten sei und was nicht.

Er hatte scherzhaft gesprochen, aber die großen hellen Augen des Fräuleins blickten ihn erkältend ernsthaft an, und als er jetzt schwieg, neigte die Schloßherrin nur langsam den blonden Kopf und sagte, daß die Benutzung des Gartens den Bewohnern des Oberinspektorats und des Pfarrhauses frei stehe; sie sei nur überrascht gewesen, zu dieser Stunde jemand zu begegnen, da sie die Hausordnung der Familie Boße kenne und wisse, daß um diese Zeit die Lampen gelöscht und die Thüren geschlossen würden.

Wildenberg erklärte, wie er herausgekommen sei, und nun flog doch ein leises Lächeln um ihre schöngeschwungenen Lippen. Er hielt es darauf für angezeigt, sich ihr in aller Form vorzustellen, aber sie unterbrach ihn. Sie wisse schon von ihm, er vermutlich auch, wer sie sei – hier auf dem Lande könne man füglich diese Höflichkeitsformen des Salons entbehren. Sie fuhr dann fort, mit ihm zu sprechen, als sei es das Natürlichste auf der Welt, daß sie einander hier im mondbeglänzten Garten getroffen hätten, und ging dabei langsam dem Hause zu, ihn auf diese Art zwingend, an ihrer Seite zu bleiben. Ihre Stimme hatte einen tiefen metallischen Klang.

„Und so werden Sie also längere Zeit bei uns verweilen?“ sagte sie, vor der Säulenhalle stehen bleibend. „Möchte es Ihnen gefallen an diesem Orte des Friedens und der Ruhe, von dem ich mich von Jahr zu Jahr immer schwerer, selbst nur für kurze Zeit, trenne! Sie werden viel von meinem Oberinspektor lernen können. Er wirtschaftet mir sehr zu Dank – auch ich habe viel von ihm gelernt.“

Er sprach sein Erstaunen aus, daß eine so junge Dame die selbständige Leitung eines großen Besitzes übernommen habe.

„Warum sollte eine Dame nicht leisten, was jeder Mann meines Alters leisten würde?“ meinte sie, ihm fest ins Gesicht blickend. „Wo es sich um den eigenen Besitz handelt, findet sich das Interesse von selbst, und wo Interesse vorhanden ist und guter Wille, allmählich auch das Verständnis. Freilich, Lehrgeld muß jeder zahlen, der Mann, welcher ohne Vorkenntnisse ein Gut übernimmt ebenso wie die Frau; aber ich behaupte ganz entschieden und glaube, den Beweis geliefert zu haben, daß die Frau sich diese Kenntnisse ebensogut aneignen kann.“

„Auf jeden Fall sehr viel leichter als ich,“ gab Wildenberg gutmütig lachend zu. „Denn ich fürchte, ich werde mein Lebtag kein praktischer Landwirt, so gern ich auch möchte.“

„Sie haben, wie ich höre, Naturwissenschaft studiert?“

Es überraschte ihn angenehm, daß sie sich offenbar mit ihm beschäftigt hatte. „Ja, gnädiges Fräulein.“

„Nun, das muß Ihnen doch zugute kommen. Das geht ja so vielfach Hand in Hand – zum Beispiel Landwirtschaft und Chemie. Ich hoffe, Sie sollen mir auf diesem Gebiet manche Aufschlüsse geben. Mir sind in den Handbüchern der Chemie verschiedene Dingo unverständlich geblieben und ich freue mich darauf, einen Fachmann hier zu haben, der mir ein wenig weiterhelfen wird.“

„Sie sollten die leichteren Werke dieser Art studieren, gnädiges Fräulein, die für den Laien bearbeitet sind: Die großen ‚Handbücher‘ sind für Damen doch kaum geschrieben.“

„Und Sie trauen mir nicht genug Fassungskraft zu, um Dinge zu begreifen, die doch einem männlichen Durchschnittsverstand begreiflich sein müssen?“

Seine Höflichkeit rang mit der Wahrheitsliebe einen kurzen Kampf, dann kam es zögernd über seine Lippen: „Im allgemeinen halte ich allerdings das Gehirn des Weibes für von Hause aus nicht so entwickelt, um wissenschaftlich scharf und folgerichtig denken zu können.“

„Ja, das sind so die landläufigen Redensarten, mit denen die Männer kurzweg über die Befähigung der Frauen aburteilen, die ich aber entschieden bestreiten muß. Warum wird den Mädchen denn auf den Schulen nicht Gelegenheit geboten, ihren Verstand, also die Gehirnthätigkeit, durch logisches Denken auszubilden? Glauben Sie mir, nur ein paar Generationen hindurch eine andere geistige Zucht und das Können der Frauen wird auf genau derselben Stufe stehen wie das der Männer!“

„Ob sie aber dabei nicht an Reiz einbüßen?“

„In den Augen der Herren unzweifelhaft, aber was liegt daran! Sie halten mich jedenfalls für sehr unweiblich und mißbilligen meine Art der Auffassung natürlich gründlich; allein ich gestehe Ihnen, daß auch das mich nicht beirrt. Ich trete einfach mit allen Kräften dafür ein, unser Geschlecht mit den Waffen auszurüsten, durch die es zu erfolgreichem Kampf mit dem Leben befähigt wird.“

Wildenberg vergaß, daß er selbst noch vor zwei Stunden dem Oberinspektor gegenüber dieselbe Ansicht verfochten hatte; ihre Art und Weise reizte ihn zum Widerspruch, und so versetzte er in bestimmterem Tone als vorher: „Die Frauen sind nicht zum Kämpfen geschaffen. Es ist eines der schönsten Vorrechte der Männer, die Waffen für sie führen zu dürfen.“

Sie lachte ein wenig bitter. „Glauben Sie etwa im Ernst, daß für die Tausende von armen alleinstehenden ältlichen Geschöpfen, die der körperlichen Reize bar sind, sich auch nur ein Finger rühren würde? Es giebt ja bedeutend mehr Frauen in [547] der Welt als Männer, naturgemäß können da nicht alle in den Hafen der Ehe einlaufen, was wohl nach Ihrer Ansicht das Endziel alles Strebens sein soll – was wird aus den anderen? Wer kämpft für sie? Und wer führt die Waffen für all die Tausende von verheirateten Frauen, die, vor dem Gesetz in dieser Beziehung rechtlos, von ihren natürlichen Beschützern zu Grunde gerichtet werden? – Ah!“ unterbrach sie sich selbst, mit einem tiefen Atemzuge, „wohin gerate ich da! Sie werden sich über meinen leidenschaftlichen Eifer wundern, der in der ersten Viertelstunde unserer Bekanntschaft durchaus unangebracht ist.“

„Gnädige Frau,“ sagte er und stockte – „bitte um Verzeihung – gnädiges Fräulein, ich stimme darin ganz mit Ihnen überein, daß man den Gesichtskreis der Frauen erweitern und ihnen neue Berufsarten erschließen müsse; aber der Himmel bewahre die Welt davor, von gelehrten Damen regiert zu werden.“

„Ich verlange ja auch nur etwas mehr Recht und Schutz für meine Mitschwestern, es liegt mir völlig fern, lauter Gelehrte aus ihnen machen zu wollen. Man soll nur einer Jeden Gelegenheit geben, sich ihrer verschiedenen Begabung nach zu entwickeln und ihr Können zu verwerten. Nun, wir kommen wohl noch öfter auf diesen Gegenstand zurück, denn ich setze voraus, daß dieser Besuch nicht der letzte gewesen ist – obenein galt er nicht einmal uns, sondern dem Garten. Wollen Sie morgen bei uns speisen?“

Er verbeugte sich zustimmend.

„Wir essen ländlicher Gewohnheit gemäß um ein Uhr. Sie finden allerdings nur Damen, außer meiner Tante Ostrau und mir noch meine kleine Pflegetochter, die eigentlich ihr Heim im Pfarrhause hat. Ich würde Sie bitten, jetzt noch bei uns einzutreten, denn wir halten nicht auf städtische Etikette, aber meine Tante liebt es nicht, spät abends in ihrer Ruhe und ihrer Patience gestört zu werden. Auf Wiedersehen also!“

Sie nickte mit dem Kopf zum Zeichen, daß er entlassen sei, und ging durch die Säulenhalle nach dem Gartensaal.

Er fühlte, daß es eine Taktlosigkeit von ihm sein würde, länger im Park zu verweilen, konnte aber doch nicht umhin, einige Sekunden wenigstens noch stehen zu bleiben und der hohen Gestalt nachzublicken. In der Thür, ganz umstrahlt vom rosigen Schimmer des gedämpften Lampenlichtes, wandte sie noch einmal den Kopf nach ihm; er erschrak wie ein ertappter Missethäter und zog sich rasch in den Schatten zurück, um gleich darauf den Heimweg anzutreten.

Das kleine Abenteuer hatte ihn doch so erregt, daß er, in seinem Zimmer angekommen, nicht ans Schlafen dachte, sondern sich ins offene Fenster lehnte und zum Schloß hinüberblickte, in welchem allmählich die Lichter erloschen. Der Ton von Hellas tiefer Stimme zitterte in seinem Innern nach, und lächelnd gestand er sich ein, daß ihr Selbstgefühl das seinige gereizt und verletzt habe. Ihr Wesen war so ganz anders geartet, als er es sonst von Damen gewohnt war, und was ihm bei andern als zu freies Entgegenkommen erschienen wäre, trug bei ihr fast ein wenig das Gepräge der Nichtachtung.

(Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüten.


Die Elmauer Haltspitze im Kaisergebirge. (Zu dem Bilde S. 533.) Jedem Reisenden, der, von Norden kommend, mit dem Bahnzugc über Kufstein nach Tirol einfährt, muß die gewaltige Felsenmauer auffallen, die sich von Kufstein aus meilenlang in östlicher Richtung entlang zieht mit grauenhaft zerscharteten Wänden. Es ist der „wilde Kaiser“, eine lange Reihe von zusammenhängenden Zackengipfeln. Zwischen dieser Kette und einer etwas niedrigeren nördlichen Vormauer derselben liegt ein reizendes Hochalpenthal, das Kaiserthal, in welchem auf der Sonnenseite hoch über rauschendem Wildbach sechs stattliche Bauernhöfe ihrer Einsamkeit und Freiheit sich erfreuen, fast völlig abgeschlossen von der Außenwelt durch die riesenhaften hellgrauen Kalkfelsen des Kaisergebirgs. Im innersten Grunde des Thales liegt das gastliche Hinterbärenbad, ein Unterkunftshaus für Alpenwanderer. Von hier aus werden die Gipfel des Kaisergebirges erstiegen. Kaum dreißig Jahre sind verflossen, seit der lange für unnahbar gehaltene Gebirgsstock der Touristenwelt erschlossen ward. Ein junger Münchener Alpenfreund, Karl Hofmann, der wenige Jahre später bei Sedan den Heldentod fand, erwarb sich das größte Verdienst um die Erforschung des Kaisergebirgs. Er fand als erster Tourist den Weg auf den höchsten Gipfel der Kette: die Elmauer Haltspitze. Die Ersteigung dieser dominierenden Hochgebirgszinne ist seither zu einer der interessantesten Bergbesteigungen in den nördlichen Kalkalpen geworden. Vom Hinterbärenbad aus steigt man stundenlang durch Wald und Busch empor; dann steht man plötzlich in einem schauerlichen Felsenkessel, in welchem wie von Gigantenhänden wüstes Trümmergestein ausgestreut ist. Durch knirschende rieselnde Steinströme watet man mühsam aufwärts bis zu einer tief eingerissenen Scharte, jenseit deren erschreckende Abstürze sich nach Süden zu senken. An daumendicken Eisennägeln, die hier in die jäh abschießenden Platten getrieben sind, klettert man einem gähnenden Abgrunde entlang, bis eine vielfach gewundene steil ansteigende Trümmergasse erreicht wird, durch die man sich stundenlang in kaminartigen Löchern aufwärts windet. An einer Stelle, wo diese Runse durch einen eingeklemmten Felsblock völlig verschlossen ist, haben fürsorgende Hände eine Drahtleiter befestigt; an ihr klettert man empor, wendet sich noch ein paarmal durch die zertrümmerte Schlucht und steht endlich auf dem Gipfel. Man steht – es ist wohl zu gewagt, diesen Ausdruck zu gebrauchen, meistens hängt man bloß daran, mit den Händen an die scharfen Felsenkanten oder an den Schaft des dort errichteten Eisenkreuzes geklammert. Und so schaut man nach fünfstündigem Steigen hinunter in die ungeheure Tiefe, nordwärts bis zu den böhmischen Wäldern, nach Süden, Westen und Osten aber in die grünen Thäler von Tirol, über denen märchenschön und groß die Felsgefilde, Gletscher und Schneespitzen sich aufbauen. So schwer und rauh der Weg herauf gewesen ist: entzückend und unvergeßlich ist das Errungene. M. H.     

Auf ins Seebad! (Zu dem Bilde S. 536 und 537.) Er thut nur so – der liebe gute, vielgeplagte, polterfrohe und doch so weichherzige Familienvater und Haustyrann! Er thut nur so, als ob er in seiner Verzweiflung über all die Ansprüche, welche die geplante Reise ins Seebad jetzt schon – noch vor der Abreise – an ihn stellt, diese ganz aufgeben wolle. Er weiß ja doch, wer eine liebe zärtlich geliebte Frau und außerdem ein – zwei – drei – vier – fünf – sechs Töchter hat, die der Mutter alle Künste der Schmeichelei abgelauscht haben, der muß in solchen Fällen, wenn einmal A gesagt ist, auch B sagen. Und auch der eben heimgekehrte edle Erstgeborene, der übermütige Bruder Studio, wendet alle Pfiffe seiner jungen juristischen Weisheit an, um dem Papa überzeugend zu Gemüte zu führen, daß alle Weigerungen vergeblich sind. Solcher Uebermacht gegenüber kann der Vater nichts ausrichten. Er wird all die zarten Wünsche nach Neuen Hüten, Toiletten, Handschuhen und hundert andern „ganz unentbehrlichen“ Dingen befriedigen müssen und schließlich froh sein, daß wenigstens all das „notwendige“ Strandspielzeug für die ganz Kleinen bereits zur Stelle ist und von der mutwilligen kleinen Schar, wenn auch nicht ganz zweckentsprechend, in den Koffer verpackt wird.

Auf der Pußta. (Zu dem Bilde S. 545.) „Es giebt keine Pußten mehr!“ schrieb ein Wiener Schriftsteller vor ungefähr einem Jahrzehnt, nachdem er gelegentlich eines litterarischen Festes in Budapest drei Tage hintereinander die magyarische Gastfreundschaft genossen hatte. Ich war damals von dem Jubelruf des Mannes, welcher damit den riesigen Kulturfortschritt in Ungarn rühmend bezeichnen wollte, eigentlich recht unangenehm berührt. Hatte ich doch während meiner vielen langen Wanderungen zu Fuße oder zu Pferde durchs Ungarland die von Meister Lenau so unübertrefflich geschilderte Poesie magyarischer Landschaft nachfühlen gelernt. Und wo könnte diese Naturpoesie eindringlicher wirken als auf der einsamen weltentlegenen Heide in ihrer duftig herben Ursprünglichkeit? Die klaren frischen Morgen in der betauten Steppe, aus deren durchsichtigem Aethermeer uns jubelnder Lerchengesang begrüßt, wer könnte sie vergessen? Oder die Abende mit dem tiefroten Sonnengold am Rand der Steppe, den dunkelvioletten Sandhügeln, dem blitzenden Schimmer im stillen Weiher, über dessen glattem Spiegel pfeilgeschwinde Kibitze ihr Klagelied anstimmen und schlanke Reiher die Welt in ihrem schönen Spiegelbild betrachten. Schön ist die Pußta, wenn des Nachts das Licht der hellfunkelnden Sterne vom dunkeln Himmel niederleuchtet wie in Mittagsglut, wenn die Fee Morgana ihre köstlichen Phantasiebilder in die heiß zitternde Luft zaubert!

Und all das soll binnen einem Jahrzehnt dem Vordringen der Kultur gewichen sein? „Unsinn, Freund!“ schrieb mir ein alter Kriegsgefährte auf meine Anfrage, „der Mann, welcher im lieben Ungarlande keine Pußten mehr entdecken konnte, ist entweder über Budapest nicht hinausgekommen oder hatte den Kopf vom Tokaier so voll, daß er überhaupt nichts mehr sah, denn, baratom, zu Deiner Beruhigung sei es konstatiert, daß mein Pußtenparadies nebst vielen andern, ähnlichen Paradiesen meiner geliebten Heimat noch heute wie vor hundert Jahren besteht und so Gott will in weiteren hundert Jahren wie heute bestehen wird.“

Man kann sich meine Freude beim Anblick des Bildes denken, dessen urwüchsig getreue Darstellung die prophetischen Worte meines magyarischen Kriegsgefährten so prächtig illustriert. Da ist ja die alte prächtige Heide, wie sie der liebe Gott in grauer Urzeit geschaffen und genügsame Menschen bis heute bewahrten! Da ist die gebrechliche Csarda, welche doch kein Steppensturm hinwegfegt, und in welcher abwechselnd Hirten und „arme Bursche“ – dies der landesübliche Ausdruck für Räuber – oder auch Beide in gemütlicher Gemeinschaft ihre frischen Dirnen bei Zigeunermusik, Gläserklang und Sporengeklirre im feurigen Csardastanze schwenken! Da auch der unentbehrliche Heidebrunnen, umgeben von den vierfüßigen Steppenpensionären, welche, genügsam wie die Steppenmenschen, sich an dem trockenen Heidegras gütlich thun, und im Vordergrund endlich das junge Menschenpaar des kleinen Magyarenparadieses, von Schalk Amor durch das nach saftigem Gemüse lüsterne Pferdchen zusammengeführt.

Hei, was gilt die Wette, daß es eine Hochzeit giebt, ehe der Herbst ins Land gekommen? Ach, Pußtamenschen haben es in dieser Beziehung so beneidenswert leicht. Sie brauchen weder stilvolle noch andere Möbel, die Wäsche hat die Braut selbst gesponnen und gewebt und für das „Service“ genügt eine Schüssel, zwei Holzlöffel und das scharfe Gürtelmesser des Bräutigams, das zum Zerkleinern von Fleisch und Brot ebensogut wie zum Tabakschneiden taugt. F. Sch.     

[548] Ein Donnerstag an der Expedition der „Gartenlaube“. Wer kennt unsere „Gartenlaube“ nicht? In Europa kennt man sie und in anderen Weltteilen: aber in Leipzig heißt die „Gartenlaube“ nicht bloß die Zeitschrift, sondern auch das von Ernst Keil gebaute stattliche Haus, in dem sie zur Ausgabe gelangt. Im Jahre 1862 fand hier der Richtschmaus statt und im folgenden Jahre entfaltete sich darin bereits die volle Thätigkeit der Journalistik und des Buchhandels.

In der Expedition der „Gartenlaube.“

Welch ein Unterschied gegen das Stübchen, aus dem 1853 die ersten Nummern der „Gartenlaube“ hinausflatterten und sich an das Licht wagten, und zu dessen Geschäftsbetrieb nunmehr gerade vor 50 Jahren von Ernst Keil der Grund gelegt wurde! Im ersten Stocke des Gartenlaubehauses hat sich dann Ernst Keil sein Heim eingerichtet; der zweite Stock hat im Laufe der Zeit manchen namhaften Mieter gesehen: hier wohnte Heinrich Laube zur Zeit seiner stürmischen Direktionsführung, hier schrieb der zu früh verstorbene hervorragende Geschichtschreiber v. Norden; doch im Erdgeschoß entfaltete sich das regste geschäftliche Leben, Jahr für Jahr mit dem gleichen unausgesetzten Pulsschlage. Hier stand Keil selbst von morgens bis abends an seinem Schreibtisch und die Mahnungen „Zeit ist Geld“ und „Fünf Minuten Aufenthalt!“, die an der Wand angebracht waren, schreckten allzugeschwätzige Besucher ab. Im langen Saal vor seinem Redaktionskabinett befanden sich die zahlreichen Mitarbeiter: Buchführer und Kassierer und Expedienten, damals wie jetzt, und damals wie jetzt herrschte am Donnerstag an der Expedition der „Gartenlaube“ das rege Leben, das wir auf unserem Bildchen sehen: rechts am Fenster der Expedition werden die einzelnen Nummern ausgegeben; in der Mitte sorgt der würdige Oberste der Markthelfer dafür, daß die größeren Stöße von Exemplaren richtig abgeliefert werden. Der graubärtige Kolporteur, der sich eben seiner Beute bemächtigt hat, steckt sie in seine Wandertasche; am Fenster steht eine Dame, eine Frau aus dem Volke und ein Herr, alle drei bereit, die neue Nummer ihres Lieblingsblattes in die Hand zu nehmen; doch bis zu Hause wartet man nicht auf den bevorstehenden Genuß; das junge Mädchen liest bereits im Fortgehen die Erzählung der Heimburg weiter, auf deren Entwicklung sie so gespannt ist, und zwei junge Leute haben bereits auf den zur Versendung fertigen Ballen der Zeitschrift die neueste Nummer aufgeschlagen und sich in die Betrachtung ihrer Illustrationen vertieft. Ein anderes Bild aber zeigt uns das Leben und Treiben vor der Durchfahrt an jenem Donnerstag, welcher der allwöchentliche Geburtstag der „Gartenlaube“ ist. Da sind die Markthelfer der Kommissionäre in voller Thätigkeit. Die Pakete werden drinnen aus dem Packraum ausgegeben und von jenen draußen in die Karren geladen. Von hier nimmt die „Gartenlaube“ ihren Lauf in die weite, weite Welt, und wenn wir ihr bei dieser Gelegenheit ein Glückauf zurufen und den Wunsch aussprechen, daß sie noch recht lange und recht viele Leser mit ihren Erzählungen, Aufsätzen und Bildern erfreuen möge, so wird man uns gewiß dies zugute halten. Unsere Bilder geben eine schwache Andeutung davon, wie viele Arbeitskräfte unser Blatt in Bewegung setzt, beim Beginn seines Rundlaufs um die Welt – und wie viele vorher und nachher – das weiß jeder, der die Thätigkeit der Schriftsteller, der Drucker und all des Hilfspersonals der Buchhändler und des ganzen Zeitungsbetriebes kennt.


Fatale Unterbrechung. (Zu dem Bilde S. 541.) O weh – ein Klecks! Auch für einen heutigen federgewandten Schreiber, der in einer Stunde sein Dutzend Briefe erledigt, ist ein vorwitziger Tintenfleck eine fatale Unterbrechung. Ganz anders aber wurde solch Mißgeschick in jener Zeit empfunden, da das Schreiben in Deutschland noch eine seltene Kunst, das Geheimnis jener fleißigen Benediktinermönche war, die ihre Klöster zu den ersten Pflegstätten der Wissenschaft auf deutschem Boden erhoben. Aus so manchem populären Bilderwerk wie aus den anschaulichen Schilderungen in Scheffels „Ekkehard“ dürfte auch dem ungelehrten Leser bekannt sein, mit welchem Aufwand von Mühe, Geduld und Geschicklichkeit vor tausend Jahren jene Pergamentblätter hergestellt wurden, welche für uns heute die Anfänge der deutschen Litteratur darstellen. Wer in den Bibliotheken, welche die kostbaren Denkmale aufbewahren, den Blick über diese meist mit farbigen Initialen und Zierleisten geschmückten Seiten wandern läßt, muß nicht ohne Bewunderung anerkennen, daß jene gelehrten Mönche das Schreiben wirklich als eine edle Kunst und mit der Andacht und Hingebuug echter Künstler betrieben haben. Und dabei bot ihnen das Material, die Rohrfeder und das Pergament, noch Schwierigkeiten, die der Gebrauch von Papier und Stahlfeder heute fast völlig ausschließt. Namentlich die Herstellung guten brauchbaren Pergaments fiel den Mönchen anfangs schwer, und es dauerte lange, bis es den Brüdern des heiligen Gallus gelang, die Häute wilder Tiere mit solcher Kunst zu behandeln, daß beim Beschreiben der „Buchfelle“ die Tinte nicht auslief und unschöne Flecken verursachte, wie man sie auf so mancher alten Handschrift noch findet. An diese Kalamität erinnert unser Bild. Der schalkhafte Maler desselben läßt uns zwar im Zweifel, ob das schlechte fließende „Buchfell“ oder der würdige Pater die Schuld trägt an den unwillkommenen schwarzen Ornamenten, die sich so keck und aufdringlich an die schönen Randverzierungen des Blattes herangedrängt haben, aber es ist mehr als wahrscheinlich, daß der bestürzte Schreibkünstler dem Anfertiger des Pergaments, dem Pergamentarius des Klosters, die Schuld zumessen und sich selber so rein und fleckenlos fühlen wird, wie es die neue weiße Kutte ist, die seinen wohlgenährten Leib umhüllt.


Buchhändlerkarren vor dem Thor der „Gartenlaube“
Zeichnungen von Otto Gerlach.


Inhalt: Vater und Sohn. Wahrheit und Dichtung. Von Adolf Wilbrandt (5. Fortsetzung). S. 533. – Die Elmauer Haltspitze im Kaisergebirge. Bild. S. 533. – Auf ins Seebad! Bild. S. 536 und 537. – Als Deutsche in Paris. Erinnerungen aus dem Kriege. Von Klara Biller. S. 539. – Fatale Unterbrechung. Bild. S. 541. – Freiheit. Novelle von A. von Klinckowstroem. S. 543. – Auf der Pußta. Bild. S. 545. – Blätter und Blüten: Die Elmauer Haltspitze im Kaisergebirge. S. 547. (Zu dem Bilde S. 533.) – Auf ins Seebad! S. 547. (Zu dem Bilde S. 536 und 537.) – Auf der Pußta. S. 547. (Zu dem Bilde S. 545.) – Ein Donnerstag an der Expedition der „Gartenlaube“. Mit Abbildungen. S. 548. – Fatale Unterbrechung. S. 548. (Zu dem Bilde S. 541.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Vertag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.