Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1895)/Heft 25

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[409]

Nr. 25.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.

     (11. Fortsetzung.)

Während der Nacht liegt Ditscha schlaflos. Wie, wenn Rothe heute abend unvermutet zurückgekehrt wäre und nun den Brief entdeckt, ihn in freudiger Hast erbricht, um dies zu finden – dies! Allmächtiger Gott! – Sie kann es nicht ertragen, ihn zu verlieren, sie will lieber sterben. – Und wenn er ihr nun verzeiht, wird er dann vergessen können? Wird nicht ein Mißtrauen zurückbleiben, das ihn quälen muß immerfort – immerfort? Ist’s nicht noch tausendmal schlimmer, als ihn in Unwissenheit zu lassen?

Ja, ja – sie muß den Brief wiederhaben!

Und dann spricht wieder ihr Herz, ihr vornehmes großes schlichtes Herz: Offenheit, Ditscha! Wahrheit! Trage, was kommt!

Sie ist völlig krank, als sie aufsteht und sich zum Fenster schleppt, ist weder fähig, den Brief holen zu lassen, noch den Gedanken: Du thust recht! als Trost zu empfinden. Als sie zum Frühstück erscheint, stutzt selbst Onkel Jochen über ihr elendes Aussehen.

„Da mag doch Franz den Doktor holen,“ sagt er. Aber Ditscha behauptet, sie sei nicht krank.

Hanne hat nach beendeter Mahlzeit allerhand Anliegen, die das Weihnachtsfest und die Hochzeit betreffen. Jede Frage thut Ditscha fast körperlich weh. Sie steht dann in dem Zimmer, wo die Leinenschätze ihrer Aussteuer aufgeschichtet sind, und sie sieht, wie Hanne an einer großen flachen Kiste hantiert – das Brautkleid ist angekommen.

„De Snider hat sich ’was verfrüht,“ sagt Hanne, „na, besser als zu spät, gnä’ Fröln. Und wenn einer man bloß nach eine Probetaille arbeitet, so is noch immer ein’ Frag’, ob’s paßlich wird, und wenns zehnmal ’n Hoflieferant is. – Will denn das oll dumm’' Ding gar nich auf?“

„Lassen Sie’s doch zu,“ sagt Ditscha matt.

„Nee, so was!“ schreit Hanne. „Wo? Damit sich das Dings da Falten einliegt und Sie in die Kirche aussehen, als wären Sie direkt aus die Plünnenkiste gestiegen?“ Und mit einem furchtbaren Krach fliegt jetzt der Deckel auf, weißes Seidenpapier bauscht sich und knistert, und dann hebt Hanne das Gewand empor aus schneeweißem silberglänzenden Atlas, mit riesenlanger Schleppe und zartem Spitzengekräusel am Saum, in den Myrtenzweige eingestreut sind.

„Pük!“ sagt Hanne befriedigt, „wahrhaftig, pükfein“

Ditscha aber ist verschwunden und läuft wie gejagt die Treppe hinunter in ihr Zimmer; es ist ihr, als müsse sie ersticken.

Cilly kommt ein paar Stunden später. Sie hat sich das Brautkleid angesehen und will Ditscha ihre Kritik überbringen; sie findet das Mädchen vor ihrem Schreibtisch auf ein Couvert starrend, das noch nicht geschlossen, auch noch nicht beschrieben ist, das Gesicht fast verzerrt in Schmerz.

„Aber, meine Güte, was ist Dir denn nur?“ fragt Cilly. „Hast Du etwas mit Rothe gehabt? Beruhige Dich doch! Sie thun ja alle nur so bärbeißig; Dein Papa konnte aussehen, als wollte er Kinder fressen, und hatte doch au fond nur Angst vor mir. Er scheint ein bißchen gern zu moralisieren, Dein Zukünftiger – na, da thust Du eben, als wenn Du ganz seiner Meinung wärst, machen kannst Du ja, was Du willst; er merkt’s nicht einmal, wenn Du sagst, wie recht er habe. Eifersüchtig scheint er auch zu sein, aber das giebt sich dann von selber; das ist ja alles nur Bräutigamsidealismus.“ Und sie lacht, läuft an den Ofen und freut sich auf den Heiligen Abend, denn dieser Tag gehört ihr. –

Der Eingang zum Kerker.
Gemälde von Th. Lybaert.
Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.

[410] Da wird nicht beschert, als am Todestage von Joachims Einzigem. Der Tag ist noch immer der Trauer geweiht, obwohl man ja sonst viel vernünftiger geworden ist, dank dem Vorhandensein des Kleinen und dem Ableben der Tante Bertha. An diesem Tage darf nicht ’mal Rothe kommen. Ditscha will allein bei Onkel bleiben, und klein Achim muß sich mit Mademoiselle die Zeit vertreiben. Cilly aber wird Besuch haben, ganz heimlichen, lieben Besuch. – Er hat sich bei Schlüchterns angemeldet für die Festtage. Daran denkt Cilly jetzt nur und darum wippt sie vor Freude auf ihren kleinen Füßen hin und her.

Ditscha leidet unter der Gegenwart der jungen Witwe schrecklich, endlich hört sie kaum noch, was dieselbe plappert. „Ach, Cilly,“ bittet sie endlich, „ich habe so heftiges Kopfweh, entschuldige mich bei Onkel, ich kann unmöglich zu Tisch kommen.“

Cilly begreift endlich und geht. An der Thür wendet sie sich um. „An Deiner Stelle,“ bemerkt sie, sich des Brautkleides wieder erinnernd, „hätte ich lieber Brokat genommen; mit vierundzwanzig Jahren kann man schon Brokat tragen. – Ich werde – ich würde jedenfalls nur Brokat genommen haben.“

Ditscha schließt hinter ihr zu. Dieselben Martern, dieselben Zweifel quälen sie, quälen sie bis in die Nacht hinein. Aber sie hat ja noch Zeit, morgen kann sie den Brief noch holen lassen. – Sie zählt jeden Glockenschlag in der langen Nacht, die nun folgt, Stunden, in denen sie alles Schreckliche auskostet, was es giebt. Gegen Morgen ist sie mit sich einig geworden, sie will den Brief wiederhaben. Sie fühlt sich nicht unwürdig, sie lügt nicht, wenn sie sagt, ich habe nur Dich geliebt – gewiß nicht. – Ach, sie kann nicht von ihm lassen!

Sie schickt das Mädchen zu Franz, er solle hinüberreiten nach Dombeck und einen Brief holen, aber gleich!

Der Franz liegt zu Bette mit einer Halsentzündung. Cillys Groom ist mit einem langen Zettel Kommissionen nach Bützow in aller Herrgottsfrühe, der zweite Kutscher kann nicht fort von den Pferden – –

Vielleicht hat der Pächter einen Boten?

„Is denn so grote Il?“ fragt Hanne.

„Ja!“ stößt Ditscha hervor.

„Is nich noch Tid bis Middag? Dann kann de Mine hinüber padden; se kümmt in fifviertel Stünnen hin, wenn se über de Wische geiht, wo’s doch en Hundeklaff näher is. – Nu is sie eben noch bei’s Gänseslachten.“

„Wenn’s nicht anders geht,“ sagt Ditscha. Sie weiß ja, er wird erst um neun Uhr abends in Dombeck eintreffen.

Gegen Mittag kommt ihr kleiner Bruder ins Zimmer, in der einen Hand einen Brief für Ditscha, in der anderen einen Apfel, so rotbäckig und frisch wie der Junge selbst. „Ditscha,“ sagt er und klettert auf ihren Schoß, „es ist so langweilig bei Mademoiselle, schreib’ doch, daß die lütte Ella wieder herkommt.“

Ditscha nickt, streichelt ihn und betrachtet das Schreiben. – Aus Hamburg? Eine ganz entsetzlich ungeübte Schrift, schlechtes Papier – –

Sie öffnet mit der bestimmten Ahnung, daß es etwas Unangenehmes enthält, aber das hat sie doch nicht erwartet – das Schreibeu ist von Grete Busch:

  Hochwohlgeborenes gnädiges Fräulein!
Mit schwerem Herzen und zitternder Hand ergreife ich die Feder, um Sie mein neues Unglück zu berichten, weil ich weiß, wie gut gnädiges liebes Fräulein immer sind.

Wir befinden uns nun hier in Hamburg, weil wir mit das Geld, was mir gnädiges Fräulein gegeben, heimlich nach Amerika wollten – und nu’ so ein Unglück! Gnädiges Fräulein, bewahre Sie der Herrgott vor so’n Schicksal – mein Mann ist ein slechter Kerl, er hat all’ die achthundert Thalers verspielt gestern nacht in ein hiesiges Lokal, und als ich ihn Vorwürfe mache, hat er mir geschlagen, ich sah aus wie eine kranke Kartoffel. Und um mich könnt’ er ja thun, was er will, aber er ist nu’ so wild und sagt: Sie könnten uns noch einmal ’was geben dafür, daß er uns beide damals auf die Station gefahren hat, und daß er und ich da zu keinem Menschen ’von gesprochen haben –

O, liebes gnädiges Fräulein, ich thät’s nich’ schreiben, aber er zwingt mir dazu, indem er sagt, wenn Sie ihm nichts geben thäten, so ginge er zu Herrn Rothe, der würde dann schon sorgen, daß wir nach Amerika rüber kämen, und zwar in die erste Kajüte – im Zwischendeck auf keinen Fall! Gnä’ Fräulein, ich beschwöre Sie, geben Sie noch einmal eine Summe her, und in drei Tagen sind wir aufs Schiff. Ich habe keine Macht über den Menschen, und bedenken Sie man, es thut nich’ gut, wenn so ’was zwischen die Liebe kommt.

Ich bin in allergrößter Unterthänigkeit Ew. Hochwohlgeboren Dienerin
Grete Bröse, geb. Busch.“ 

Ditscha hat den Brief gelesen; nun spricht sie sanft zu dem kleinen Bruder, der noch immer auf ihrem Schoße sitzt, am Apfel essend. „Steh’ auf, mein alter Junge, und thu Du mir den Gefallen, klingle einmal!“

Hanne, die zufällig auf dem Korridor ist, kommt herein. „Hanne,“ sagt Ditscha ruhig, „es ist nicht nötig, daß Mine nach Dombeck geht – es ist alles in Ordnung so.“

„Desto besser!“ meint die eilige Frau, „die Arbeit pressiert jetzt grad’ und ich glaube auch, der Herr Brüsam fährt sicher über Beetzen nach Dombeck, und dann können Sie ihm mit eins gleich mündlich ausrichten, gnä’ Fröln. – Junker, willst mitgehen in den Appelkeller?“

Und ob Junker Achim will! Im nächsten Augenblick sitzt Ditscha allein.

Es ist still in ihr geworden nach diesem Brief. – Sie darf ihn nicht in Unwissenheit lassen, sie muß ihm alles sagen, muß abwarten, ob er verzeihen will oder sie verstoßen wird, sie hat kein Recht, die Ehre seiner künftigen Frau der Willkür von Schurken preiszugeben.




Kurt Rothe ist zur bestimmten Zeit in Dombeck angekommen. Am liebsten hätte er den kleinen Umweg über Beetzen gemacht, aber er fürchtet, Ditscha zu erschrecken, sie muß entschieden krank sein, oder sehr nervös. Gleich morgen früh will er hinüber. Jedenfalls ist ein Brief von ihr da, denn bei seinem Schwager hat ihn keiner mehr erreicht.

Der Inspektor und der Volontär empfangen ihn an der Hausthür, er sieht’s schon an den Gesichtern, daß alles gut steht, und verabschiedet sie freundlich auf morgen früh. Die Dachse verrenken sich beinah’ vor Freude und die Dogge richtet sich langsam auf und berührt mit der Schnauze seine Wange, als wolle sie sagen: Ja, Du bist’s – willkommen, Herr! Mit diesem vierfüßigen Geleit steigt er nach oben, nicht ohne den Gedanken: Wenn ich nun einmal wieder heimkehre, dann ist’s mit ihr.

Sein Zimmer ist behaglich warm und die Lampe brennt. Im Eßsaal nebenan erwartet ihn ein einfaches Abendbrot. Er reibt sich die Hände vor Behagen, spricht mit dem Diener, streichelt die Hunde und will dann ins Schlafzimmer gehen, sich umzukleiden. Aber vorher tritt er noch an den Schreibtisch, da liegt eine Unmasse von Briefen, Zeitungen, Broschüren. – Er sucht vor allem irgend ein Liebeszeichen, ein paar Blumen, einen Tannenzweig, ein Buch ober ein Tellerchen mit seinem Lieblingsgebäck, wie er das so oft jetzt gefunden. – Vergebens, er findet nichts. Er wirft in seiner Hast die Briefe durcheinander – keiner von ihr?

Ein Schatten liegt auf seinem Gesicht, als er nach wenigen Minuten umgekleidet zurückkommt. Er setzt sich an den Schreibtisch, schraubt die Lampen höher und beginnt noch einmal und ruhiger zu suchen.

„Na, ja,“ sagt er endlich befriedigt, „da ist er ja doch!“

Friedrich erscheint in der Thür und meldet, daß die Bratkartoffeln serviert seien. Er reißt eben den Briefumschlag auf und ruft: „Komme gleich!“

Friedrich geht wieder. Sein Herr liebt es nicht, wenn die Dienerschaft dasteht, um zuzusehen beim Speisen. Kurt hat ein für allemal gesagt: „Ich klingle, wenn ich Sie haben will.“

Friedrich geht also. Er wartet eine viertel, eine halbe Stunde – kein Glockenton!

Er wartet dreiviertel Stunden, da meint er, sein Herr habe den Nachtisch vergessen und trägt die Schale mit Obst hinein. Er steht ganz verwirrt – am Tische sitzt niemand, Teller, Gläser, Schüsseln sind unberührt. Er setzt die Obstschale hin und läuft ins Nebenzimmer.

„Herr Lieutenant!“

Auch dort niemand, selbst die Hunde sind nicht da, und die Jagdmütze fehlt am Haken.

[411] „Ich glaub’ wahrhaftig, er ist noch in den Pferdestall gegangen,“ murmelt Friedrich, „und in ‚die dummen Hausschuhe‘ – oder er fährt gar nach Beetzen bei die Braut!“ Und kopfschüttelnd nimmt er die verschmähten Kartoffeln, um sie in der Küche warm zu stellen. – – –

Durch die Gänge des Parkes wandert ein Mann; auch da meint er zu ersticken. Und sein wilder Schmerz treibt ihn hinaus auf die Landstraße, der Schmerz hat ihn gepackt und rüttelt ihn wie nie in seinem Leben, selbst nicht damals, als sein Vater starb.

Das also ist Sophie von Kronen, das Mädchen, das ihm erschien wie ein überirdisches Geschöpf, reiner denn der Schnee, der vom Himmel flockt? Das Mädchen, vor dem er die Kniee gebeugt, um ihr zu danken, daß sie herabgestiegen aus ihrer Höhe, ihm zu gehören. Sie, die so schüchtern ist in ihren Liebesbeweisen, die erglühend die Wimper senkt vor jedem Liebeswort – – die war schon einmal auf dem Punkt gewesen, Ehre und Sitte zu vergessen, mit einem Manne – –

Herr Gott, habe Erbarmen – es kann ja nicht wahr sein! Sie ist krank, sie hat in Fieberdelirien jenen Brief geschrieben! – – Aber nein, nein! Es ist eine Stunde über sie gekommen, wo sie die Scham gepackt ob ihrer Lügen! Denn eine Lüge war ihr ganzes Brautsein mit ihm! Sie hat Angst vor einer Entdeckung! Der Alte hätt’s ihm sagen müssen –.

Er lacht heiser auf. Darum, darum das bereitwillige „Ja!“ des stolzen Barons! Er war gut genug, gut genug, um das verirrte geduldete Mitglied der hochachtbaren Familie unterzubringen! – Er bleibt auf der einsamen finstern Chaussee stehen im Schnee der Winternacht und schüttelt sich vor Ekel.

Ach Gott, wohin will er denn eigentlich? Nach Beetzen? Etwa, um ihr den Ring vor die Füße zu werfen? Thorheit! Er mag ihren Schlummer nicht stören. Sie träumt wahrscheinlich, er kommt morgen, um zu sagen: Ich glaube an Dich, was geht mich Deine Vergangenheit an! Ich kann von Dir nicht lassen, kann ohne Dich nicht leben!

„Nie! Nie! Nie!“ Er schreit es fast. Die kleine Teckelhündin, die ihrem Herrn gefolgt ist, frierend, mit eingezogener Rute, schmiegt sich winselnd an ihn, als wollte sie sagen: Was ist dir denn? Du machst mich zu fürchten, Herr!

Er geht weiter, weiter bis vor das verschlossene Thor des Beetzener Parkes. Dort steht er und klammert sich an das schmiedeeiserne Gerank der Thür und starrt zu dem Hause hinüber, in dem sie wohnt, und plötzlich rüttelt er mit beiden Fäusten in ohnmächtiger Raserei an dem massiven Gitterwerk und dann neigt er die Stirn gegen das kalte Eisen und fängt bitterlich an zu weinen.

Es sieht keine Seele, nur das Tierchen wimmert neben ihm im Schnee und die Sterne blitzen klar und kalt von droben. Er weint um sein zertrümmertes Ideal. – – –

Ditscha wartet am andern Tage und wartet – kein Brief, keine Antwort!

Joachim von Kronen fällt es auf, daß der Bräutigam nicht kommt. „Ditscha, der Jung’ wird doch nicht krank sein?“

Sie sagt, sie wisse es nicht.

Der Tag geht vorüber, auch der folgende beginnt, da erhält Joachim einen Brief. Mit fester klarer Handschrift steht da, daß Schreiber dieses genötigt sei, ganz plötzlich wieder zu verreisen, die Dauer seiner Abwesenheit aber nicht bestimmen könne. An Ditscha kein Wort. –

Sie weiß genug! Sie hat auch nicht zu hoffen gewagt, daß er ihr verzeihe. Aber trotzdem überkommt sie erst jetzt ein so hoffnungsloses Leid, daß sie kaum noch die Energie besitzt, sich in ihre Stube zu schleppen, und dort, vor dem Bette, bricht sie zusammen.

Hanne, die sie nach Stunden findet, trägt sie auf, ihren Onkel zu benachrichtigen, daß sie erkrankt sei. Jegliches Fragen wehrt sie ab. „Bekümmere Dich nicht darum, Hanne, lasse niemand zu mir, zieh’ den Schlüssel ab,“ bittet sie, „ich kann nicht sprechen!“

Ditschas Welt ist zum zweitenmal zertrümmert, wuchtiger, vollständiger noch als vor sechs Jahren.

Arme Ditscha!




Tagelang liegt sie in ihrem Zimmer, völlig apathisch. Hanne pflegt sie, soweit von Pflege die Rede sein kann, denn sie bedarf so gut als nichts.

Was geschehen ist, ahnt niemand im Hause. Der Baron hat an Rothe geschrieben, er ersuche um Aufklärung. Der Brief kommt uneröffnet zurück. Der alte Herr ist der Verzweiflung nahe; die trüben Erinnerungstage, das unaufgeklärte Zurückziehen Rothes, die Krankheit der Nichte – er weiß sich nicht anders zu helfen, als mit seinem alten Sorgenbrecher, dem Grog.

Hanne geht mit verweinten Augen umher. Sie hat die Thüre zur Ausstattungsstube verschlossen, nachdem sie über das weiße Brautkleid am Ständer, das wie ein Gespenst gestorbenen Glückes im grauen Zwielicht aussieht, ein Tuch geworfen, und dann den Schlüssel in die Tasche gesteckt.

O, ein Unglücksnest ist Haus Beetzen! Ist wohl schon einmal ein richtiges Glück darin gewesen, seitdem sie denken kann? Kaum glaubt man an ein wenig Sonnenschein, so jagt der Sturmwind wieder die schwärzesten Wolken daher –.

Auf den Zehen trippelt sie in Ditschas Zimmer und beugt sich über die Kranke und kann trotz der schwachen Beleuchtung die in Leid versteinerten Züge des lieben Gesichtes erkennen. Die alte treue Seele nimmt plötzlich die Schürze vor das Gesicht und bricht in Schluchzen aus. Ditscha bemerkt es gar nicht, sie, die sonst keinen Menschen, am allerwenigsten einen Untergebenen oder ein Kind weinen sehen kann –.

Am Abend kommt Hanne wieder; sie hat sich etwas ausgedacht, das Ditscha aufrütteln soll.

„Ach, gnä’ Fröln Ditscha, ich werd’ gar nich fertig, es liegt mich zuviel auf die Schultern mit de oll Winachtsbescherung för de Lüd, und das Kuchengeback –“

Ditscha wendet den Kopf nicht. Was geht sie das an.

„Der Junker barmt auch nach Sie, Fröln Ditscha!“

Das junge Mädchen hält mit leisem Stöhnen die Hand über die Augen, als wolle sie sagen: Laß mich, was kann ich noch sein für einen andern Menschen!

„Und de Herr Baron – ach Gott im hogen Himmel! gnä’ Fröln, den hat Friedrich gestern abend wieder to Bett bringen mußt – Sie wissen ja – de Grog – und hat nu keinen Menschen, der ihn davon abzieht.“

„Laßt mich allein!“ ruft Ditscha, „laßt mich allein!“ Und sie fährt mit beiden Händen in die Haare wie eine Verzweifelte. „Quäle mich nicht! Ich kann nicht mehr – geh’!“

Hanne geht und klagt dem alten Herrn etwas vor, und Franz fährt nach Bützow und holt den Arzt. Natürlich, Ditscha hat Fieber, aber eine körperliche Ursache sei nicht zu konstatieren, die ganze Geschichte sei psychisch. Ob man sie nicht fortbringen könne von Beetzen? Oder ob man sie nicht wenigstens veranlassen könne, sich auszusprechen über das, was sie quält? Eine Entlastung des Gemütes thue zuweilen Wunder.

Der alte Herr steigt selbst zu ihr hinauf, setzt sich mit bekümmerter Miene an ihr Bett und fordert sie in seiner ungeschickten gutmütigen Weise auf, ihm doch zu vertrauen.

Sie antwortet gar nicht.

„Aber Du mußt doch verständig sein, Kind; wenn Du alles so für Dich behältst, kann man Dir doch nicht helfen. Erzähl’ doch, Ditschchen, was hat’s gegeben?“ „Quäle mich nicht!“ schreit sie, „quäle mich nicht!“ Und sie gerät in eine solche Aufregung, daß Hanne sie nur mit Mühe im Bette festhalten kann und der Arzt den alten, ganz betroffenen Herrn aus dem Zimmer führt und ihm das Wiederkommen verbietet. Als sie dann mit Hanne allein ist, verfällt sie wieder in ihren apathischen Zustand, und so liegt sie den Heiligen Abend noch, völlig energie- und kraftlos.

Ach, es ist ein trostloser Weihnachtsabend, dieser, auf den sie sich so unsäglich gefreut hatte!

Gegen vier Uhr fordert sie von Hanne eine Tasse ganz starken Kaffee, sie trinkt ihn aus und fragt dann, sich emporrichtend: „Wie geht’s Onkel?“

„Wie soll’s ihm gehen? Sie wissen ja, gnä’ Fröln, hüt is doch Winachtabend und dortau is hei ganz allein. Bi tauslut’n Dör sitt hei un jankt na sin seel’ Fru, uns’ arm oll Herr!“

„Gehst Du in die Kirche, Hanne?“

„Ich möcht’ schon, damit Gott doch etwas Wohlgefälliges sieht aus düssem Hus, aber kann man denn fort? O, so’n Weihnachtens, so’n Weihnachtens! Und rein wie zerschlagen bin ick, und kein Mensch, der mich ’was abnimmt –. Und das geht ja auch nich, daß ich kann in der Kirche sitzen und mich an Gottes Wort stärken, denn wenn nu ’was passiert indes?“

[412] „Es passiert nichts, Hanne, Du kannst nachher gehen – ich werde aufstehen.“

„Gottlob und Dank!“ sagt die alte Frau, „wie gern will ich Ihnen helfen, gnä’ Fröln Ditscha – ziehen Sie sich’n warmen Morgenrock an.“

„Nein, ein Kleid, mein neustes Kleid.“ Ditscha ist durch den armen trostlosen Kopf der Gedanke gefahren: Wenn er zurückkehren will, dann kehrt er heute zurück oder – nie mehr! Und sie will ihn wenigstens erwartet haben.

Wie sie die ersten Schritte in ihrem Zimmer macht, taumelt sie, als sei sie schwerkrank gewesen. Hanne flößt ihr Wein ein und nötigt sie, etwas zu essen; sie hatte ja alle die Tage kaum etwas zu sich genommen.

Sie will sich ihre Haare flechten, die aufgelöst über die Schultern fließen, aber vor Zittern ist sie es nicht imstande; Hanne bürstet und kämmt sie, als sei sie ein kleines Mädchen.

„Nun will ich mich ans Fenster setzen, Hanne,“ sagt sie, „und Du gehst in die Kirche und – bete für mich, Hanne, bete für mich!“

„Ja, daran soll’s nich fehlen,“ antwortet die alte Frau, „hätt’s auch so schon gethan, Fröln Ditscha.“ Und nachdem sie einen bekümmerten Blick auf ihr vergöttertes „Fröln“ geworfen, geht sie, um sich für den Kirchgang anzuziehen.

Ditscha bleibt am Fenster sitzen, den Kopf zurückgelehnt an die Polster des Armstuhls, den Blick hinausgerichtet in die Schneelandschaft, die allmählich der Tag verläßt, und sie wartet, wartet, wie wohl kaum je ein Mensch gewartet hat auf einen anderen, in solch verzehrender zitternder Angst, in solch heißer Sehnsucht –. Er muß kommen, einmal muß er noch kommen, und weiter will sie nichts –. Nur das Eine will sie ihm sagen, daß er der Einzige ist, den sie liebt und je geliebt hat und das Einzige noch bitten, daß er ihr vergeben solle – weiter nichts – weiter nichts –

Wie es weiter werden soll mit ihrem zertrümmerten und verfehlten Leben, daran denkt sie jetzt nicht; all ihr Empfinden beherrscht der Gedanke: er wird kommen!

0000000000

Und indessen ist in der Kinderstube Achim ganz allein. Er hat mit dem Baukasten gespielt und mit den Soldaten, er hat auf dem Schaukelpferde gesessen und Mademoiselle hat ihm in höchst zerstreuter Weise ein Märchen erzählt, das er immer wieder unterbrechen mußte mit dem Vorwurf: „Aber Du hast eben gesagt, der König heißt Grimbart, und nun heißt er mit einmal Klingsohr?“

Oder: „Du hast doch eben erzählt, die Schwester hat sieben Brüder, und jetzt hat sie nur fünf?“

Endlich ist die Geschichte zu Ende gekommen und Mademoiselle hat gesagt, er solle nur recht ruhig und artig sein, sie komme bald wieder und werde ihm etwas mitbringen vom Weihnachtsmann, den sie höchstwahrscheinlich sehe, und dann ist sie nach einem Blick in den Spiegel verschwunden.

Der brave kleine Kerl giebt sich auch redlich alle Mühe, artig zu sein, und steht nun schon geraume Weile am Fenster, starrt in den Park und amüsiert sich über die feinen Wolken stöbernden Schnees, die der Wind in förmlichen Wirbeln über die Rasenplätze treibt. Aber endlich hat er sich satt daran gesehen. Mademoiselle bleibt so lange, und zu Onkel Jochen darf er heut’ nicht kommen, ist ihm von Hanne gesagt. Der alte wunderliche Mann hat es in der That abgelehnt, den kleinen Liebling zu sehen, denn dieser Tag sei der Erinnerung geweiht an Sohn und Frau. Nein, Berthachen würde es ihm sicher nicht vergeben, wenn er das Heute vergessen wollte, auch nur einen Augenblick –- as wäre treulos gegen den Verlorenen. Achim ist auf morgen vertröstet.

Das Kind seufzt, es ist so spukhaft still in dem großen Zimmer, in dem eine graue Dämmerung schon alle Winkel und Ecken füllt. Er fängt plötzlich an, sich zu fürchten. Kommen heute wirklich die Engel unhörbar in die Menschenwohnungen, um zu sehen, ob die Kinder fromm sind? Er wendet sich langsam um und wirft einen scheuen Blick an die dämmernde Ecke jenseit des Ofens. Das Weiße dort hinten? – Er fährt zusammen, schluckt ein paarmal und faßt sich an die Kehle, der kleine Wicht.

Aber nein, das ist ja Mademoiselles Frisiermantel! Mademoiselle hat die schlechte Angewohnheit, sich in Achims Zimmer zu frisieren, weil der Spiegel dort so „hübsch“ macht.

Oder doch – ist’s ein Engel? Er möchte hingehen und das Weiße anfassen, aber er getraut sich nicht. Die große Stille und Einsamkeit überfallen das Kind plötzlich mit schreckhafter Gewalt.

„Mama!“ schreit er laut, „Mama!“ Aber Mama hört nicht, Mama hat auch gesagt, er solle nicht zu ihr kommen heute nachmittag, sie hat mit dem Weihnachtsmann zu thun.

„Hanne!“ Jetzt weint er schon. „Hanne!“ Aber Hanne faltet in der schwach erleuchteten Kirche die Hände über dem Gesangbuch und betet für Fröln Ditscha; das Weinen des kleinen Junkers, der „Hanne, liebe Hanne!“ ruft, kann sie nicht erreichen. Und sie schaut mit thränenden Augen zu dem leeren Herrschaftsstuhl empor, keiner ist da aus Haus Beetzen, keiner, und doch hatte ein glückliches junges Paar seine Andacht feiern wollen, heute abend! Fräulein Ditscha hat ihr ja vor zehn Tagen noch selbst gesagt: „Am Weihnachtsabend treffe ich meinen Bräutigam in unserer Kirche, Hanne!“ – Nun ist sie krank, und der Bräutigam fehlt. – Ja, Hanne kann nicht hören, wie das Kind ruft.

Und plötzlich faßt sich das tapfere Bürschchen ein Herz und läuft eilends aus der Stube in den Nebenraum, der Mamas Ankleidezimmer ist, und von dort in ihre Schlafstube, an dem großen rosaseidenen, spitzenverhangenen Bette vorüber, in das er früher zuweilen gehuscht ist, um Mama zu küssen und in den weichen Haaren zu zausen. Dann sieht er in Mamas Salon; alles schwimmt im dämmerigen Schein der rosaverschleierten Lampe, die zur Seite von Papas Bild brennt, und nebenan, in ihrem Schreibzimmerchen, ist Mama selbst. Sie darf ihn doch nicht wieder wegschicken, die Mama, die von dem kleinen zärtlichen Herzen so geliebt wird, mehr noch wie der Hektor und das schöne Schaukelpferd, wie Onkel Jochen und Ditscha.

Und Achim fürchtet sich, und deshalb will er zur Mama, dazu hat er ein Recht. Er geht auf den Zehen und steckt das Köpfchen mit den bittenden Kinderaugen durch den Sammetvorhang, aber leichenblaß fährt das kleine Antlitz zurück. Es ist ein sonderbares Kind, keinen Ton giebt er von sich, nur die Fäustchen hält er geballt, der sechsjährige Junge, und auf seinem runden Gesicht prägt sich ein schmerzliches Staunen aus. Weinen kann er nicht, obgleich es um den roten Mund zuckt. Er steht nur da wie angewurzelt, dann macht er kehrt und läuft zurück in das noch finstere Kinderzimmer und von dort auf den Flur und zu der Thür von Onkel Joachims Gemächern. Aber, wie er sich auch reckt, die Klinke zu erfassen, sie giebt nicht nach, Onkel Joachim hat sich eingeriegelt. Nun läuft er die Treppe empor und nach Ditschas Zimmer – auch hier ist die Thür verschlossen.

„Ditscha!“ schluchzt er, „Ditscha!“ Und dann in höchster Zärtlichkeit, wie er von Onkel Rothe gehörte „Ditscherle! Süße Ditscha!“ Aber auch hier öffnet niemand. Ditscha ist für alles, was um sie her vorgeht, wie gestorben. Sie sieht sich erst zerstreut nach der Thür um, als Achim die Stufen der Treppe schon wieder hinunter schleicht, ein geängstigtes, gequältes Kind, das niemand findet, der es beruhigt.

Eiu paar Augenblicke bleibt der ratlose kleine Bursche unten im Flur stehen, bereit, in ein furchtbares Schreien auszubrechen, da fährt ihm ein Gedanke durch den Kopf. Onkel Rothe! Onkel Rothe soll helfen den Mann fortjagen, der seine Mutter geküßt hat – er soll sie erinnern an Achim – Achim ist doch noch da! Sie darf Achim nicht verstoßen und vergessen, und Onkel Rothe soll helfen. –

Er trippelt zur Hausthür, springt an der Klinke in die Höhe, und siehe da, sie ist unverschlossen. Mühsam öffnet er den schweren Flügel und nun schiebt er sich durch den Thürspalt und läuft in die Nacht hinaus.

Er ist in einer dünnen Sammetbluse und Kniehöschen, der blonde Kopf unbedeckt, die kleinen Füße in leichten Hausschuhchen. Was kümmert ihn der Schnee und der Wind, es ist ja gar nicht weit bis Dombeck, er war ja schon oft mit Ditscha dort, und hier draußen hat er keine Angst; er will ja weiter nichts, er will nur Onkel Rothe holen nach Beetzen.

Die alte Uhr im Beetzener Hausflur wundert sich nicht; sie weiß ja, Weihnacht passiert immer etwas Außergewöhnliches, aber ihr „Wo – hin? Wo – hin?“ klingt heute noch eindringlicher, trauriger, und beinahe hört es sich an, als riefe sie: „Hil – fe! Hil – fe!“

Aber niemand ist da, der sie hört.

(Fortsetzung folgt.)


[413]

Großstadtblumen: In der Binderei.
Originalzeichnung von A. Kiekebusch.

[414]

Die Gärtnersche Fettmilch.

Ein neuer Fortschritt auf dem Gebiete der Kinderernährung.


Millionen Säuglinge sind heute infolge von socialen oder gesundheitlichen Behinderungsgründen der Mütter auf künstliche Ernährung angewiesen und so wird die Kuh immer mehr zur Amme der Menschheit. Dazu ist sie aber von der Natur nicht geschaffen. Die Erfahrung lehrt, daß reine Kuhmilch den Säuglingen nicht bekommt, und die Wissenschaft hat die Ursachen dieser Erscheinung aufgehellt. Die Zusammensetzung der Menschenmilch ist eine andere als die der Kuhmilch. Vielfache chemische Untersuchungen haben gelehrt, daß die Frauenmilch 3,1% Fett, 1,7% Käsestoff und 6,2% Milchzucker enthält, während wir in der Kuhmilch 2 bis 5% Fett, 3,6% Käsestoff und 4,8% Milchzucker vorfinden. Wir sehen daraus, daß die Kuhmilch reicher an Käsestoff (Eiweißkörpern) und ärmer an Zucker als die Menschenmilch ist, während ihr Gehalt an Fett Schwankungen unterworfen ist, die von der Rasse und Fütterungsweise der Kühe sowie anderen Nebenumständen abhängen. Diese Unterschiede gleichen sich jedoch aus, wenn man die Milch verschiedener Kühe zusammenmischt, und diese „Mischmilch“, wie sie in den Handel gebracht wird, hat in der Regel etwas über 3% Fett, unterscheidet sich also in dieser Hinsicht nicht wesentlich von der Muttermilch.

Was nun den Genuß reiner Kuhmilch für die Säuglinge besonders unbekömmlich gestaltet, ist vor allem ihr hoher Gehalt an Käsestoff, der außerdem nicht genau so beschaffen ist wie die Eiweißkörper der Muttermilch. Der in zu großen Mengen in den Säuglingsmagen eingeführte Kuhkäsestoff gerinnt zu großen Klumpen, beschwert die Verdauungsorgane und giebt Anlaß zu deren Erkrankung. Frühzeitig hat man sich darum entschlossen, die zur Ernährung der Säuglinge bestimmte Kuhmilch mit Wasser zu verdünnen. Vermischen wir z. B. reine Kuhmilch mit gleichen Teilen Wasser, so wird das Gemenge nur 1,8% Käsestoff enthalten, also in dieser Hinsicht der Muttermilch nahezu gleich sein, leider aber wird es zugleich arm an Milchzucker und Fett. Das waren schwere Nachteile, und besonders ungünstig erwies sich der geringe Fettgehalt der verdünnten Kuhmilch. In derselben schwebt das Fett in Gestalt feinster Kügelchen oder ist in ihr, wie der wissenschaftliche Ausdruck lautet, in Form der Emulsion vorhanden. Für die Ernährung des Säuglings ist diese Thatsache von höchster Bedeutung, denn nur in dieser Form kann der kindliche Darm das Fett auffangen und für den Körper verbrauchen. Nun aber gewährt das Fett der Muttermilch dem Säugling gerade die Hälfte aller Kraftquellen. Genaue Berechnungen haben ferner gezeigt, daß der Säugling durchschnittlich in der Muttermilch 25 Gramm Fett zu sich nimmt, während ihm in der verdünnten Milch unter Umständen nur 6 bis 8 Gramm Fett zugeführt werden. Es ist also klar, daß man das Flaschenkind dadurch gewissermaßen auf Hungerkost setzt und daß nur kräftig veranlagte Kinder diesen Mangel an natürlicher Nahrung überwinden, bis ihre Verdauungsorgane zur Aufnahme und Verarbeitung anderer Nährstoffe geeignet geworden sind.

Man war aus diesen Gründen aufs eifrigste bestrebt, den Fettgehalt der verdünnten Säuglingsmilch zu erhöhen. Verschiedene Wege wurden zu diesem Ziele eingeschlagen und vor allem erreichte man gute Erfolge, indem man der verdünnten Milch Rahm zusetzte. Vollkommen waren jedoch diese Ersatzmittel nicht, weil in dem Rahm die Form der Emulsion gestört ist und in ihm die Fettkügelchen bereits zu größeren oder kleineren Fettklumpen zusammenkleben. Auch fiel der teure Preis solcher Rahmgemenge schwer ins Gewicht. Erfreulicherweise ist es neuerdings dem Dr. Gustav Gärtner, Professor an der Wiener Universität, gelungen, die Frage in höchst praktischer Weise zu lösen.

Seit etwa zwanzig Jahren sind in den Molkereien Maschinen eingeführt, die das Abrahmen der Milch in kürzester Zeit besorgen: die Milchseparatoren oder Milchcentrifugen. Ihr Hauptbestaudteil ist die Trommel, ein aus Stahl oder starkem Kupferblech gefertigtes Gefäß, das auf einer senkrechten Achse steht und durch mechanische Vorrichtungen in rascheste Drehungen (4000 bis 8000 Umdrehungen in der Minute) versetzt werden kann. Gießt man in die Trommel Milch hinein und versetzt die erstere in Bewegung, so schichtet oder rahmt sich die Milch in wenigen Sekunden auf. Die Centrifugalkraft schleudert alle schweren Teile der Milch nach außen, während die leichteren am inneren Rande der Trommel verbleiben. Die leichteren Teile sind aber eben die Fettkügelchen. Bei dem Centrifugalbetriebe fließt nun die frische Milch fortwährend durch ein Zuflußrohr in die Trommel und verläßt dieselbe durch zwei Oeffnungen: die eine ist am äußersten Rande der Trommel angebracht, die andere an der inneren Wand. Durch die erstere fließt die Magermilch, durch die letztere der Rahm ab. Die letztere Oeffnung kann man nun beliebig einstellen und durch sie einen dicken Rahm oder mehr oder weniger fettreiche Milch abfließen lassen. Diese Maschinen verwertete Professor Gärtner, um eine gute Säuglingsmilch zu bereiten. Er schildert das Verfahren mit etwa folgenden Worten:

Die frisch gemolkene Kuhmilch wird durch Zusatz von Wasser verdünnt, bis der Käsestoffgehalt dem der Muttermilch gleicht. Das Gemenge wird centrifugiert und die Centrifuge so eingestellt, daß die aus dem Rahmrohre abfließende Milch den Fettgehalt der Muttermilch besitzt.

Sollen beispielsweise 50 Liter einer Vollmilch, die einen Fettgehalt von 3,5% und einen Käsestoffgehalt von 3,6% aufweist, in Kindermilch verwandelt werden, so setzt man der Milch 50 Liter Wasser zu und stellt die Centrifuge so ein, daß aus dem Magermilch- und aus dem Rahmrohre in der Zeiteinheit gleich viel ausfließt. Man bekommt demnach 50 Liter fetter und 50 Liter magerer Milch. Die Verteilung des Käsestoffes wird durch die Centrifuge nicht beeinflußt, wohl aber die des Fettes, indem die Magermilch höchstens 0,2% davon enthält, alles andere Fett aber im Rahm enthalten ist. Die beiden die Centrifuge verlassenden Milcharten haben demnach folgende Zusammensetzung:

  Käsestoffgehalt      Fettgehalt
 1. Magermilch 1,8 % 0,2 %
 2. Rahm- oder Fettmilch   1,8 % 3,3 %
  0 (Gute Ammenmilch 1,7 % 3,1 %)

Das aus dem Rahmrohr abfließende Produkt hat also die Zusammensetzung der Menschenmilch, oder es läßt sich durch entsprechende Abstufung der Verdünnung und durch die Einstellung der Centrifuge aus Milch von ganz beliebiger Zusammensetzung – aus der fettreichen Schweizermilch und aus der fettarmen holländischen Milch, aus der Abend- und Morgenmelke – eine solche herstellen, die in Fett- und Käsestoffgehalt der Muttermilch gleichkommt. Das Verfahren ist äußerst einfach, bei Benutzung einer Dampfcentrifuge können in einer Stunde 1500 Liter Kuhmilch in die neue Milch, die von Professor Escherich in Graz den Namen Gärtnersche Fettmilch erhielt, umgewandelt werden!

Diese Milch hat allerdings noch einen Fehler – ihr Gehalt an Milchzucker ist gering; dem aber kann leicht abgeholfen werden, indem man auf je 1 Liter Fettmilch in der Molkerei oder zu Hause etwa 35 Gramm reinsten Milchzucker zusetzt.

Durch dieses Verfahren wird der Milch auch die Hälfte der in ihr enthaltenen Salze entzogen aber diese Veränderung ist geradezu wünschenswert, da die Kuhmilch mehr als doppelt so viel von diesen Verbindungen enthält wie die Menschenmilch. Ein weiterer Vorzug dieser Herstellungsart ist der, daß durch die Centrifuge die Kuhmilch von vielen Verunreinigungen, denen sie ausgesetzt ist, gereinigt wird. In ihrem Aussehen gleicht die Fettmilch einer guten Vollmilch. Was aber ihre Verwendung anbelangt, so soll sie Kindern jeden Alters unverdünnt gereicht werden; das ist auch ein großer Vorteil, weil dabei alles Messen, Mischen, Brauen entfällt, das bis jetzt die künstliche Ernährung so verwickelt und umständlich machte. Nur in den ersten 14 Lebenstagen empfiehlt sich eine Verdünnung von zwei Teilen Milch mit einem Teile Haferschleim. Bei älteren Kindern nach vollendetem 6. Lebensmonat kann auch der teurere Milchzucker durch den billigeren Rübenzucker ersetzt werden. Im übrigen muß die Fettmilch ebenso behandelt werden wie die bisher gebrauchte Kindermilch; man soll sie nicht roh, sondern gut abgekocht, sterilisiert, den Säuglingen verabreichen. Schließlich muß dafür Sorge getragen werden, daß Kühe, die Kindermilch liefern sollen, gesund sind und rationell mit Trockenfutter ernährt werden. Wir müssen da unbedingt an den bisherigen Errungenschaften der Gesundheitslehre festhalten.

[415] Kränklichen Kindern wird zuweilen auch die Fettmilch nicht bekommen; was alsdann vorübergehend, bis zur erfolgten Heilung verabreicht werden soll, darüber muß in jedem Einzelfalle der zur Behandlung zugezogene Arzt entscheiden.

Die erste Nachricht über die Fettmilch wurde weiteren Kreisen im vorigen Herbst auf dem Naturforschertage zu Wien gegeben. Anfangs wurden mit ihr versuchsweise in Wien und Graz Säuglinge ernährt; die Erfolge waren gut und der Anklang, den die neue Erfindung fand, so überraschend groß, daß bereits Anfang Mai dieses Jahres in etwa 30 Städten Europas in verschiedenen Milchanstalten die Gärtnersche Fettmilch erzeugt wurde.

Ihre Nützlichkeit geht aber über das Gebiet der Kinderpflege hinaus. Die gewöhnliche Kuhmilch gerinnt im Magen zu festen, schwer verdaulichen Klumpen, während die Menschenmilch in feineren Flocken sich niederschlägt; nun sind die Gerinnsel der Fettmilch gleichfalls feinflockig und darum bei weitem leichter verdaulich. Das ist ein großer Vorzug, der nicht nur den Säuglingen, sondern auch erwachsenen Kranken zu gute kommen kann. Milchkuren wurden schon seit jeher gegen verschiedene Leiden empfohlen, aber nicht alle Kranken können die gewöhnliche Kuhmilch vertragen; sie ist für viele wegen der festen Gerinnsel, die sie im Magen bildet, schwer verdaulich und erregt so große Beschwerden, daß die betreffenden auf dieses vorzügliche Nährmittel leider verzichten müssen. Die Aerzte des Altertums verordneten in solchen Fällen derartigen Kranken die Ammenmilch. In jüngster Zeit wurde bei verschiedenen Leiden, bei Magenkranken, Rekonvalescenten u. dgl. die Fettmilch versucht und sie erwies sich in der That bekömmlicher als die gewöhnliche. So ist die Fettmilch eine große Errungenschaft, die Millionen von schwachen – jüngsten wie ältesten – Menschenkindern die besten Dienste zu erweisen berufen ist. Ob wir mit ihr das Ideal der Kinderernährung erreicht haben? Keineswegs; dieses Ideal ist auf allen künstlichen Wegen unerreichbar; die Mutterbrust wird für alle Zeiten die beste Nahrungsquelle der Neugeborenen bleiben. Daran sollten die jungen Mütter vor allem denken! F. C.     


Pflege und Zähmung der Schildkröte.

Der civilisierte Mensch ist auf das Zusammenleben mit Tieren angewiesen, gleichviel ob er auf der Kulturstufe des Hirten und Ackerbauers oder einer anderen steht. Daraus erklärt sich der in weitesten Kreisen der städtischen Bevölkerung verbreitete Hang, in der engen Wohnung „etwas Lebendiges“ zu haben, und wenn es nur ein Vöglein wäre. Heute leben wir im Zeitalter der Aquarien und Terrarien und mit Vorliebe werden Fische, Kriechtiere und Lurche aller Art im Zimmer gehalten. Die Verpflegung dieser neuen Hausgenossen ist sehr verschieden, je nachdem sie in die Hände von wirklichen Naturfreunden oder Dilettanten geraten. Wirkliche Naturfreunde pflegen sich beim Anschaffen eines Tieres über dessen Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse genau zu unterrichten, bei den Dilettanten ist dies nicht der Fall und die letzteren erleben darum sehr oft, daß ihnen ihre Pfleglinge gar häufig zu Grunde gehen. Es ließe sich ein Buch über die Leiden eines Laubfrosches oder Goldfisches in der Gefangenschaft schreiben, und auch der Schildkröte ergeht es nicht besser. Wie oft habe ich aus dem Leserkreise Anfragen erhalten, wie man die Schildkröten überwintern, baden – ja füttern solle! Dieser Umstand und die Mitteilung eines Freundes der „Gartenlaube“ über seine Erfahrungen, die er mit Schildkröten gemacht hat, gaben Veranlassung zum Niederschreiben des vorliegenden Artikels.

Was in Deutschland von diesen Tieren gehalten wird, das sind zumeist Sumpfschildkröten, die aus Italien importiert werden und zu der Art der europäischen Sumpfschildkröte (Emys europaea) zählen. Dieselbe Art wohnt auch in Deutschland, soll wenigstens in vielen Gegenden beobachtet worden sein; es dürfte aber nur wenige Menschen geben, die sie bei uns im Freien gesehen haben, denn das Tier ist außerordentlich scheu und vorsichtig und verschwindet bei Annäherung der Menschen rasch in den Gewässern, an deren Ufern es lebt. Die Sumpfschildkröte ist auf das Wasser unbedingt angewiesen, denn sie kann nur unter Wasser ihre Nahrung verschlingen und sucht dieses sofort auf, wenn sie auf dem Lande einen Wurm erbeutet hat. Die „Geständnisse“ vieler angehender Naturfreunde beweisen, daß die Thatsache durchaus nicht allen, die sich eine Schildkröte kaufen, bekannt ist. Kein Wunder also, daß so viele Schildkröten trotz ihres zähen Lebens und der größten Fähigkeit, Hunger zu ertragen, in der Gefangenschaft sterben. Oft gelangen sie allerdings bereits todkrank in die Hände des neuen Besitzers. Man sollte darum nur gesunde und kräftige Schildkröten kaufen, wobei als Erkennungszeichen Folgendes dienen kann: die Schildkröte muß, wenn man sie auf den Rücken legt, sich mit Leichtigkeit umwenden oder aufrichten können und beide Augen gleichmäßig öffnen.

Ihre Pflege ist höchst einfach. Im Sommer wird sie täglich gebadet und einen Tag um den anderen im Wasser gefüttert. Ihre Hauptnahrung besteht in animalischen Stoffen, Pflanzenkost scheint sie nur nebenbei zu genießen. Sie ist dabei nicht wählerisch; sie frißt Regenwürmer, Mehlwürmer, Ameisenpuppen, vor allem aber rohes, in Streifen geschnittenes Fleisch. Die Ueberwinterung bietet auch keine besonderen Schwierigkeiten.

Man nimmt einen mit Gazedeckel verschließbaren Kasten, füllt ihn mit Sand und Moos oder Heu, stellt in diesen einen Badenapf und thut die Schildkröte hinein. Dieser Kasten wird in einen kühlen frostfreien Raum gebracht, wozu sich am besten der Keller eignet. Hier bleibt die Schildkröte ungestört vom Ende Oktober bis Anfang April und hält ihren Winterschlaf. Man kann aber die Schildkröte in einem ähnlichen Kasten auch im geheizten Zimmer halten; sie bleibt dann munter, wenn auch nicht in dem Maße wie im Sommer und muß etwa alle acht Tage ein lauwarmes Bad erhalten und in diesem gefüttert werden.

Das in der Natur so scheue Tier gewöhnt sich außerordentlich leicht an seinen Pfleger und nimmt ohne weiteres die Nahrung aus der Hand an. Hält man bei der Fütterung auf Regelmäßigkeit und Ordnung, so erscheint das Tier auf dem Futterplatz und bettelt förmlich um Futter, indem es den Kopf emporhebt und „sehr verständnisvoll“ den Pfleger anschaut. Bei dieser Gelegenheit kann man es derart abrichten, daß es auf irgend einen Rufnamen wie „Hans“ oder „Ilse“ oder einen bestimmten Pfiff hört und zu dem Pfleger herbeikommt.

Ein Leser der „Gartenlaube“, der zwei Schildkröten im Zimmer frei umherlaufen ließ und ihnen einen irdenen Napf als Bassin aufstellte, berichtet uns Folgendes über die „Dressur“ der Tiere.

„Tagsüber bleiben die Tiere im Bassin, dessen Wasser am Morgen beim Wechsel mindestens die Temperatur des gestandenen haben muß, also abends noch eingelassen wird; andernfalls verbleiben sie nur bis nach dem Füttern darin, da sie auf dem Trockenen nichts anrühren. Meine Tiere verkriechen sich aber auch dann nicht mehr, sondern ziehen sich in den ihrem Bassin nächstgelegenen Winkel, in den sie den Kopf pressen, und würden sich daselbst wie alle andern und wie sie selbst anfangs gethan, wochenlang ruhig halten, wenn sie eben nicht an ihre Ordnung gewöhnt, also ‚dressiert‘ wären, welche Bezeichnung hier nicht, wie der Laie meist als selbstverständlich annimmt, angelernte Kunststücke einbegreift.

Da die Schildkröten einen sehr hohen Wärmegrad lieben, ja, eigentlicher Kälte gar nicht ausgesetzt werden dürfen, haben die meinigen ihr Bassin unter dem Ofen, wo dasselbe nicht im Weg steht und eben dadurch die Tiere nicht geniert sind, sondern sogar der umfassendsten ‚Lokalitätenreinigung‘ mit ihren klugen Augen in den hoch erhobenen Köpfen in Gemütsruhe zuschauen. Selbst wenn einmal eine minder achtsame Putzerin mit dem Scheuerlappen oder Besen an die feuchte Wohnung stieß, konnte ich nie ein ängstliches Umherkriechen oder nur ein Unruhigwerden beobachten.

Während der Nacht lege ich seit Beginn die äußerst reinlichen und, wie gesagt, sehr ruhigen Tiere unter das Kopfkissen, jedoch so, daß sie ihren Platz beliebig wechseln könnten. Oft wecken sie mich am Morgen, indem sie mir dicht an Hals oder Brust anliegen oder mich ins Gesicht aus ihren stecknadelfeinen Nüstern eisigkalt anblasen – Schildkröten haben kaltes Blut.

Nachdem ich selbst mich erhoben habe, ist auch ihre Ruhe vorbei; sie wissen, daß es nun bald zunächst ein Bad giebt und danach Futter. Einstweilen gehen beide Schildkröten auf dem Bett spazieren; früher geschah es, daß eine etwas überhängende Bettdecke dem daraufkommenden Gewicht nachgab, und die eine oder andere fiel zu Boden, allerdings meist auf den Rücken, der so etwas gut aushalten kann. Doch hat das längst aufgehört, und lieber würden sie ewig lang’ am Rande liegen bleiben, ehe sie sich auf trügerischen Boden begeben.

Hier nun darf ich von einer Art ‚Appell‘ reden, denn wenn ich mich dem Bett nähere und die Tiere locke, kommen sie heran – in ihrer Art langsam, mit Rasten, aber sie kommen.

Da geschah es einst, daß ich das Keilkissen, welches ich nachts herausnehme und vors Bett werfe, am andern Morgen unwillkürlich ans Bett stellte, weil es mir im Weg lag; plötzlich bemerkte ich, wie die größere Schildkröte auf dieser schiefen Ebene sich zu Boden gleiten ließ und dann langsam, aber geradeswegs ihr Bassin aufsuchte, das – wohl gemerkt – im andern Zimmer steht.

Dieses Manöver wiederholte ich nun absichtlich mehreremal mit gleichem Erfolg. Ich ging bald weiter und rückte dem Tier einen Stuhl dicht ans Bett; es ließ sich auf denselben herabfallen und verließ diesen erst, als ich die ihm bekannte schiefe Ebene wieder konstruierte.

Das hier Geschilderte sind meine Beobachtungen und erzielten Erfolge nach Jahresfrist bei einer allerdings sehr regelmäßigen Pflege und Behandlung, wie sie mir meine unfreiwillige Muße ermöglicht.“

Auf diese Weise im Zimmer verpflegt, sind die Sumpfschildkröten angenehme, wenn auch langsame Unterhalter. Aber die Beschäftigung mit Tieren im Hause gewährt nur dann eine volle Befriedigung, wenn ihre Pflege derart eingerichtet ist, daß sie uns ihre natürlichen Charakterzüge offenbaren können. Es empfiehlt sich darum, kleinere Schildkröten zu wählen und ihnen einen zeitweiligen Aufenthalt in einem geräumigen Aquarium zu gestatten; dann erst lernt man das Tier wirklich kennen und schätzen. Im nassen Element sich selbst überlassen, gewinnt die Schildkröte ungemein viel in ihrer äußeren Erscheinung. Wenn sie langsam im Wasser mit ausgestrecktem oder erhobenem Kopfe dahinzieht, dann erscheint sie unter den sonstigen schlanken Aguariumbewohnern wie ein gepanzertes Turmschiff und gewährt einen geradezu schönen Anblick. Und wie viel Leben verrät das träge Tier, wenn in ihm die Raubgelüste erwachen und es sich hinter dem „Felsen“ oder einer „Pflanzengruppe“ auf die Lauer legt! Sie ist ja in der Natur eine arge Räuberin. Sie [416] erfaßt mit ihren zahnlosen aber scharfen und harten Kiefern den Frosch am Beine und weiß ihn mit den scharfen Krallen zu zerfetzen; sie wird selbst größeren Fischen gefährlich und zeigt, wie ich mich oft überzeugt habe, in der Verfolgung der Beute eine unermüdliche Ausdauer. Sie eignet sich darum nicht zur ständigen Bewohnerin eines Aquariums, in welchem wertvollere Tiere gepflegt werden, auch bringt sie den Pflanzenbewuchs in Unordnung. Ich habe aber wiederholt ein mit Goldfischen besetztes, etwa 15 Liter Wasser fassendes Aquarium meinen Schildkröten eingeräumt und habe Gelegenheit gehabt, die Charakterzüge der Schildkröte kennen zu lernen, wie sie mir aus den schönen Werken über unsere Kriechtiere und Lurche, aus Ad. Frankes „Die Reptilien und Amphibien Deutschlands“ und Herm. Lachmanns „Die Reptilien und Amphibien Deutschland’s in Wort und Bild“ bekannt waren. Diese Naturstudien im Hause möchte ich jedem Freunde des Tierlebens empfehlen; denn, wie gesagt, nur durch einen glücklichen Zufall dürfte es Diesem oder Jenem vergönnt sein, die Sumpfschildkröte in Deutschlands freier Natur zu beobachten.

Die Stunden, während welcher sich meine Schildkröten im Aquarium aufhalten durften, waren für sie wahre Feststunden, und sie lohnten diese Vergünstigung durch angeborene Leistungen, die hoch über aller Dressur stehen. Vor allem möchte ich aber die Naturfreunde auf die Schwimmbewegungen der Schildkröte aufmerksam machen. Sie gewannen für mich einen neuen Reiz, seitdem ich aus Mareys trefflichen Beobachtungen über den Vogelflug erfahren habe, daß ihre Bewegungen, wenn auch in langsamem Tempo, sich nach denselben Gesetzen vollziehen wie der Flügelschlag des Vogels. Kein Wunder – die in versteinerten Tierresten geschriebene Erdgeschichte lehrt uns, daß die oft so unbeholfenen Kriechtiere zu den Ahnen der flinken geflügelten Scharen zählen! *     


0 Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Großstadt-Blumen.

Von Richard Nordhausen.0 Mit Abbildungen von A. Kiekebusch.


In ein Papiercouvert gepreßt, mit einem flüchtigen Wort von lieber Freundeshand, so sind sie mir damals ins Haus geflogen, die ersten Schneeglöckchen des Jahres aus dem Fallbrücker Walde ... Ein silbergrauer Nebel wogte um die Häuser Berlins; wenn er auf Sekunden zerriß, sah man den wolkendunklen Himmel oben und unten die hastig vorbeieilenden Menschen, die dem feuchten Dunst entrinnen wollten, dem Qualm, der ihnen wie tückisches Gift in die Lungen drang. Diese umschleierte, regenmüde, traurige Welt – stand sie wirklich dem Frühlinge offen, der doch nach dem Kalender heute seinen Einzug halten wollte? Ich hätte es vergessen und weiter verdrießlich an unerquicklicher Arbeit geschaffen, wenn von den Schneeglöckchen aus dem Fallbrücker Walde nicht goldenes, lenzkündendes Sonnenlicht ausgegangen wäre. Denn obgleich sie, zusammengedrückt und beschädigt, in der engen dunklen Hülle einen ganzen Tag lang unterwegs gewesen waren, hoben sie jetzt im Wasserglase doch die weißen Knospen empor, breiteten ihre Blätter behaglich aus und sandten würzigen Waldeshauch ins Zimmer hinein. Sie zauberten mit einem Schlage all das lenzfrohe Treiben und Werden draußen im Holz, das nun wie ein Dankgebet emporstieg, vor Augen, und ich sah plötzlich aus dunkler Moosdecke ihrer Tausende aufsprießen, lauter weiße Sterne, die mitten in kalter Winternacht vom Himmel auf die Erde gefallen waren. Und ich gab dem Kalender recht, der für heute Frühlingsanfang gemeldet hatte.

Blumengrüße.

Eine Handvoll Blumen bewirkt so große Veränderung, und eine einzige, noch unerschlossene Knospe ruft mehr lyrische Gedanken hervor als alle Frauenschönheit der Welt. Den blasiertesten Großstädter versetzt es in helles Entzücken, wenn er auf einem zufälligen Spaziergange durch den märzlichen Park überall an Sträuchern und Bäumen die verheißungsvollen, grünen Pünktchen schimmern sieht – und weil er in entschuldbarer Unkenntnis des Pflanzenlebens nicht weiß, daß alle diese Triebe schon aus dem vorigen Herbst stammen, verkündet er, heimgekehrt, den aufhorchenden Seinen, daß die Knospen schon hervorkommen, daß es Frühling wird. Und von Stund an bereitet sich alles daheim auf kommende, schöne Tage vor, die ausgeschnittenen Kleider werden in die Garderobe gehängt, jeder Schnupfen, jede Erkältung gilt von nun an als Beweis für den Eintritt milderer Witterung. Nichts ist, das auch den gleichmütigsten, philiströsesten Menschen in eine so poetische Stimmung versetzen könnte, wie die Blume es vermag, sie gilt mit Fug für verkörperte Poesie, sie scheint keinen andern Zweck zu haben, als uns zu erfreuen und unser Herz zu rühren. Wer deshalb eine Anthologie von Liebesliedern herausgeben will, gleichgültig ob in einer europäischen oder in der Suahelisprache, der muß vor allen Dingen die Blumensprache verstehen, muß sich genaue Kenntnis der einheimischen Flora verschaffen. Denn die Dichter entnehmen seit Urzeiten ihre schönsten, üppigsten Bilder dem Pflanzenreiche und sind fast allzusehr geneigt, jede Naturschönheit ins Botanische zu übertragen. Die Sterne scheinen ihnen leuchtende Nachtviolen, der Mond eine Riesenpomeranze, eine Lotosblüte, die aus dunkler Knospe bricht. Sie verfahren instinktiv nach den Gesetzen der lyrischen Kunst, wenn sie immer und immer wieder auf die Blumen zurückbeziehen, was ihnen an Herzensereignissen begegnet; hier, auf einem Felde, daran niemand vorübergehen kann, ohne träumerisch oder mit leuchtenden Augen vor sich hinzulächeln, strömen ihnen in unerschöpflicher Fülle die Gleichnisse und Vorstellungen zu, in die sie abstakte Anschauungen übertragen müssen, um zum Herzen zu sprechen.

Die zärtliche Liebe der Menschheit zu den keuschesten und schönsten Geschöpfen der Natur wächst mit steigender Kultur und mit ihrer zunehmenden Seltenheit. Gerade wie der Städter, und in mancher Hinsicht auch nur der Städter unseres Jahrhunderts, eine fein entwickelte Empfindung für Naturschönheiten hat, die klärlicherweise dem Landbewohner abgeht, weil ihm diese Reize täglich vor Augen stehen, gerade so huldigt auch der Städter dem Blumenkult weit begeisterter als der Bruder Landwirt. Ihm ist im grauen Steinmeer jedes grüne Blatt und jede farbige Blüte ein Kleinod von unsäglicher Pracht, er kann vor hübschen Gartenanlagen, selbst vor schlichten Blumenläden, die nur Kakteen und Hyazinthenzwiebeln ausstellen, halbstundenlang bewundernd stehen bleiben. Er ist geneigt, einen unerhörten Luxus mit kostbaren und teuren Blumen zu treiben, er weiß, daß die lieben Menschenblumen, die holden Mädchen und Frauen, keine Verschwendung so gerne entschuldigen und so dankbar anerkennen wie diese. Die wahnsinnige Tulpenmanie, in der sich die holländischen Mynheers zur Zeit der höchsten finanziellen und politischen Blüte ihres Landes gefielen, in der sie es fertig [417] brachten, für eine einzige Tulpenzwiebel 13000 holl. Gulden zu zahlen, diese tolle Liebhaberei beruhte nur zum geringeren Teil auf öder Geldspekulation, man vergeudete im 17. Jahrhundert in barbarischer Weise, wofür man heute raffinierten, wenn auch ebenso vergänglichen Blumenluxus ersteht.

Im Blumenladen.

Von dem Millionär des Westends, der sich ohne Wintergarten und weite Gewächshäuser ungemütlich in seiner Nabobvilla fühlen würde, bis zu der kleinen Nähterin im Osten, die ihr Blumenbrettchen mit seinem blühenden und duftenden Reichtum so pflegt, daß es eine Lust für jeden ist, der hinaufschaut, sitzt die Liebe zur Blume in allen Herzen. Man muß es wissen, daß die blasse Armut darauf nicht verzichtet, einen Rosenstock, eine Fuchsie, eine „Blattpflanze“ in der dürftigen Stube zu haben, daß die erbärmlichste Spelunke in Berlin etwas Grünes, und sei es eine verkrüppelte Erbsen- oder Bohnenranke, im Scherben aufweisen kann. Man muß zugesehen haben, wie diese unter der Peitsche des Hungers und in übermenschlich harter, harter Arbeit vor der Zeit alt und grau gewordenen Arbeiterfrauen in der Markthalle um einen „Topp“ feilschen, darin irgend eine unglückliche Geranie oder Aster wuchert, wie sie mit zärtlicher Sorgfalt das „Blümken“ pflegen und aufziehen, welch kindliche Freude sie über jeden neuen Knospenansatz, jede sich erschließende Blüte, jedes frisch keimende Blatt empfinden. Wenn der Topf „eingeht“, so verursacht das fast so viel Kummer wie die Krankheit eines der zahlreich um Mutterns Füße herumkrabbelnden „Jöhren“, und ehe man sich entschließt, ihn wegzuwerfen, muß er völlig abgestorben, absolut „trocken“ sein. Die jammervollsten Stümpfe werden monatelang liebevoller noch als ihre blühenden Gefährten begossen und in die Morgensonne gestellt, und wenn sie sich dann doch noch einmal erholen – du lieber Gott, die Freude! Es ist gar nicht abzuschätzen, welchen unermeßlich hohen Wert die Blumen gerade in dieser Zeit der sozialen Gegensätze haben, sie, die beinahe das einzige Mittel sind, ins Herz der Aermsten einen Strahl reiner Lebensfreude zu senden. Diese auf Dachfirsten, an Hoffenstern, die nur im Juli dann und wann ein verlorener Sonnenstrahl bescheint, in Kellerlöchern und neben Schornsteinen angebrachten hängenden Gärten sind zehntausendmal mehr, als ein bloßer grüner Schmuck des steinernen Riesenlabyrinths; sie sind eine nie versiegende, reich fließende Quelle köstlicher Anregungen für das Gemüt der Armen und Bedrängten. Ihre Blumen sind ihr einziger Luxus ...

Hier wird die Blume, schmiegsam und gefällig, mit zum Proletarier, die Königin steigt von ihrem Thron herab und nimmt Knechtsgestalt an, hier entfaltet sie aber auch dafür ihren größten Segen, und hier scheint sie mir ungleich schöner als ihre vornehmen Schwestern in den modischen Blumenläden, in den prunkenden Vorgärten. Was hier Sache des Herzens, Liebe und innige Freundschaft ist, wird anderwärts leicht zur kühlen Höflichkeit, zu eitler Schaustellung oder zur kahlen Industrie. Die junge Braut, der ihr Verlobter zum Geburtstage ein wunderbares Geflecht der teuersten und seltensten exotischen Blüten schickt, mag dem Bräutigam noch so zugethan sein, das bietet ihr sein Geschenk nicht, was dem kleinen Fräulein in der Dachkammer seine heißgeliebte Topfparade Morgen für Morgen spenbet. Nur was uns ganz gehört, was wir selbst erworben oder aufgezogen haben, kann uns ganz glücklich machen. Nächstdem richtet sich der Wert einer Blumenspende nach der Persönlichkeit des Spenders, nach unserer Gesinnung für ihn und erst in letzter Reihe nach ihrer in Geldziffern auszudrückenden Kostbarkeit. Eine vertrocknete Grasnelke, die du plötzlich in irgend einem Gedichtbuche wiederfindest und die dir einen nie vergessenen Sommertag von neuem in blendender Klarheit vor Augen rückt – warum rührt sie dich und macht dich weinen, während du für die duftenden Prachtwerke, die man dir zum heutigen Ehrentage sandte, kaum mit einem flüchtigen Kopfnicken danktest?

Sträußchenverkäuferin.

Der Blumenkultur im Hause, die unseren Lieblingen nur von der Seite des Gemütes näher tritt, steht die industrielle gegenüber, die für den Markt arbeitet und in ihnen oft nur ein „Geschäft“ sieht wie in anderen Handelsartikeln. Ueber die zum Teil sehr großen Handelsgärtnereien Deutschlands und besonders seiner bedeutenderen Städte ist oft und viel geschrieben worden; wem es einmal vergönnt war, die gewaltigen Ländereien einer hervorragenden Erfurter [418] Firma, die Riesenanlagen der maßgebenden Berliner Großgärtnereien zu durchwandern, der wird Respekt bekommes haben vor der Entwicklung dieser Branche. Aber trotz des sinnverwirrenden, des berauschenden Eindrucks, den die Gigantenbeete besonders zur Rosenzeit machen, trotz der tausendfältigen, in tausend buntfarbigen Strahlen gebrochenen Schönheit dieser Blumenfelder – die Wirkung des einfachsten Hausgärtchens, darin die Liebe waltet, erreichen sie bei weitem nicht. Es ist ja das auch keineswegs ihre Absicht. Wer indessen den Dingen gern nachsinnt und sie gern in Beziehungen zu einander bringt, dem lösen sich bei solcher Gelegenheit manche, auch volkswirtschaftliche Rätsel. „Klein, aber mein“ – ist das nicht ungleich lockender und gewinnender als die Aussicht, mit Millionen zugleich Herr sein über ein Weltreich, in allen, in den intimsten Fragen des Lebens abzuhängen von dem Wollen und Wünschen der Hunderttausende neben mir?

Aus den großen, heimischen Blumenkulturen wandern die duftenden Erzeugnisse in die Bindereien, wo sie mit den Gaben der Ferne, den Rivierablüten, den italienischen Kindern der Flora, den phantastischen Luftorchideen Amerikas, deren majestätische Pracht man jetzt auch in unseren Gewächshäusern zu erzielen weiß, zusammentreffen. Jeder Blumenladen hat sein meist nach dem Hof zu gelegenes Nebenzimmer, wo oft wahrhafte Künstlerinnen ihres poetischen Amtes walten. Der Ruf einer Blumenhandlung hängt nicht sowohl von dem Material als von der Eleganz und bestechenden Schönheit, die sie auf die Form ihrer Gaben verwendet, ab, und der Geschmack des Publikums hat sich in wenigen Jahren so verfeinert, daß es unablässiger Anstrengungen bedarf, ihm zu genügen, den Nebenbuhlern zuvorzukommen. Die Blumenbinderin muß neben dem Auge des Malers den kundigen Blick der Geschäftsfrau besitzen; Gestalt und Farbe ihrer Schöpfungen wechseln noch schneller mit der rasch vergänglichen Mode als das Material selbst. In den hellen luftigen Räumen, die nicht selten auch Oberlicht empfangen und in vieler Hinsicht Ateliers ähneln, vergeht mehr Zeit über dem Prüfen und Kombinieren als über der eigentlichen Arbeit. Gilt es doch, solche Gebilde zu schaffen, deren Aussehen und deren Preis rasch Abnehmer herbeilocken, ein Blumenladen muß abends immer möglichst geräumt sein, denn sobald die empfindlichen Blumenkronblätter auch nur ein wenig zusammenschrumpfen, die auf Draht gestellten, schnell vertrocknenden Blüten leise das Haupt hängen lassen, ist es mit ihrer Verkaufsfähigkeit vorbei. Und dann ferner – wie große Rücksicht muß auf das Publikum gerade des Stadtteils genommen werden, in dem die Handlung sich befindet! Der kleinste, scheinbar unbedeutendste Mißgriff vernichtet schon ihre Existenz. Was im vornehmen Centrum der Berliner Friedrichstaße reißend abgeht, bleibt zehn Minuten weiter nördlich durchaus unverkäuflich, würde dort zum halben Preise sogar keinen einzigen Liebhaber finden; was im nördlichen Teil der Straße als beliebtestes Muster gilt, ist für den südlichen, wo das werkthätige, gewerbfleißige Kleinbürgertum sitzt, oft ein unbrauchbares Genre. O, diese Rosenhandlungen sind zumeist wahrlich nicht auf Rosen gebettet! So schwer es hält, sich einen gewissen Ruf zu erwerben, so leicht kann man ihn wieder verlieren, kein einziger Geschäftszweig ist ja mehr und ausschließlicher auf die sogenannte „Laufkundschaft“ angewiesen. Und oft genügt ein nicht ganz glücklicher Wechsel in der Auslage, eine Veränderung im Personal, um sogar die treuesten Abnehmer, die sich just an den Geschmack der Firma gewöhnt hatten, jählings und für immer zu verscheuchen. Blumen sind ein Luxus, ein verbreiteter Luxus, gewiß, aber die meisten Menschen werden auch anspruchsvoll, wenn sie sich als Verschwender empfinden.

Vor den mit erlesenem Geschmack herausgeputzten Blumenläden schwirren bis in die sinkende Nacht hinein ihre kleinen Konkurrenten über den Asphalt, den nicht zu große Auswahl bietenden Korb mit niedlichen Sträußchen im Arme. Sie sind sehr aufmerksam, sind unermüdlich, diese fliegenden Händler und Händlerinnen, und wo nur immer ein eleganter Herr mit seinem Dämchen daher gewandelt kommt, sind sie sicher zur Stelle und lassen sich nur mit Aufbietung ungewöhnlicher Energie abweisen. Ihr Gewerbe nährt sie zumeist redlich; die Straßenverkäufer zeichnen sich von den die öffentlichen Lokale und Gärten heimsuchenden durch Billigkeit und immer frische Ware aus, sie unterbieten sogar die Läden, und sie dürfen es getrost, denn die Stadt fordert keine Miete von ihnen; der Gärtner aber, der sie allmorgens versorgt, liefert seinen bewährteren Kunden „die Sträußken in Kommission“ billig genug. Und die junge Welt, die durch den regennassen, stürmischen Abend auf halbdunklem Wege zur Herzallerliebsten eilt – „er strahlte von deiner Augen Licht und glühte von deinen Küssen“ – opfert gern die vom Pferdebahngeld ersparten Nickel für ein paar Blüten. Sie sind krank und müde, scheint es, duftlos und tot – aber gemach, ihr werdet an ihrer Brust zu neuem, wenn auch kurzem Dasein erwarmen! Solch Blumentod, auch er ist schön und poesievoll wie das Blumenleben.




Napoleons Frühstück.

Von Paul Holzhausen.

An dem Glockenturm des Tuilerienpalastes hat die Uhr elf geschlagen. Draußen in dem herrlichen Garten, unter dessen mit dem ersten zarten Grün bedeckten Bäumen die weißen Marmorbilder hervorschimmern, blüht und duftet Frühling. Aber der seltsame Mann, der da oben im Schlosse seinen goldbetreßten Marschällen ünd den in roten und violetten Staatsgewändern einherschreitenden Reichswürdenträgern eine Morgenaudienz erteilt, hat keine Zeit, sich um Blumenduft und Vogelgezwitscher zu bekümmern, er kennt nur Kanonendonner, Bajonette und das Wühlen zwischen Karten, Dokumenten, Büchern und Papieren: Erobern und Herrschen.

Es hat elf Uhr geschlagen. Schon ist die für das kaiserliche Frühstück bestimmte Stunde längst vorüber, und in der Schloßküche ist helle Verzweiflung. In einem Vorzimmer werden auf silbernen Schüsseln, unter Glocken, die der kaiserliche Adler krönt, einige Speisen warm gehalten, bis der Gewaltige hereinsagen läßt, daß er zu frühstücken wünsche. Ein bereitstehendes Mahagonitischchen wird eilig herangerückt und mit einem Tischtuche bedeckt; der Palastpräfekt in seiner amarantfarbenen silbergestickten Uniform steht am Tische; der Haushofmeister Guignet, genannt Dunan, hält sich zum Dienste bereit.

Das ist eine distinguierte Persönlichkeit, dieser Herr Dunan, welche schon eine Carriere hinter sich hat. Sein Vater war Koch beim Prinzen Condé, und er selber hatte bereits dem Herzoge von Bourbon und dem Prinzen Louis von Rohan gedient, bevor er in den Dienst des Ersten Konsuls Bonaparte trat, mit dessen Krönung er selber zum kaiserlichen Haushofmeister vorrückte. Seine grüne, mit Silber durchstickte Uniform kostet 500 Franken; an Gehalt bezieht er deren jährlich 6000, abgesehen von kleinen Gratifikationen, deren eine im Jahre 1810 allein 3000 Franken betrug. Dafür hat er denn freilich keinen allzusehr beneidenswerten Dienst. Wenn der Kaiser verdrießlich ist, wirft er gelegentlich den Eßtisch um, so daß die Speisen auf den Teppich fliegen, und geht in sein Arbeitszimmer. Der arme Dunan muß dann schleunigst eine andere Mahlzeit bereiten. Der Kaiser ist aber rasch besänftigt, klopft den Haushofmeister auf die Backen, und der Friede ist wiederhergestellt. „Sie sind besser dran, Dunan,“ sagt Napoleon entschuldigend, „mein Haushofmeister, als ich es bin, Kaiser zu sein.“

Napoleon ist kein Gourmand, und sein Frühstück erscheint einfach, wenn man die Tafelfreuden der französischen Könige kennt, bei denen Dutzende von Gerichten alltäglich auf den Tisch kamen. Eine Suppe, drei Vorspeisen, zwei Zwischengänge, zwei Desserts, eine Tasse Kaffee und als Tischwein eine halbe Flasche Burgunder; das ist alles, was nach der Verordnung aus dem Jahre 1810 auf den kaiserlichen Frühstückstisch kommt, und in späteren Jahren wird das Mahl noch mehr vereinfacht.

Wenn irgendwo in seiner Lebensweise, so zeigte sich der Parvenu bei dem Kaiser während der Mahlzeit. Er ißt hastig, nimmt große Bissen, kaut dieselben schlecht, fährt mit der Hand in die Schüsseln und befleckt sich häufig die Uniform mit Sauce. Auch gehörte es zu seinen Eigentümlichkeiten, ohne jegliche Ordnung alles durcheinander zu essen, so daß er womöglich mit dem Dessert begann und mit der Suppe aufhörte. Dabei war er nicht [419] wählerisch, und seine Lieblingsspeisen waren einfach. Hühnerfleisch in allen möglichen Formen, geschmort, gebraten oder als Frikassee, Huhn à l’italienne, à la tartare, à la Marengo, gehörte zu seinen liebsten Gerichten. Unter den Fischen aß er die Meerbarben am liebsten, von Backwerk gewisse Blätterteige; aber der Korse, der Italiener kam bei ihm zum Vorschein, wenn Maccaroni mit Parmesankäse auf den Tisch kamen, das Lieblingsgericht der Nation, welches der in Italien Reisende ja noch heute bis zum Ueberdruß auf der Speisekarte vorfindet. Als der Konsul Bonaparte von dem märchenhaften Zuge nach Aegypten heimgekehrt war, gefiel sich seine Phantasie darin, eine Zeit lang abgekochten Reis und Datteln auf der Tafel zu sehen, die später verschwanden. Eine nervöse Abneigung hatte der reizbare Mann gegen die Fäden der grünen (Fitz-)Bohnen, ein Gemüse, das er im übrigen liebte. Diese Fäden, pflegte er zu sagen, machten ihm den Eindruck von Haaren, und der bloße Gedanke, ein Haar im Essen zu finden, erregte ihm einen unwiderstehlichen Ekel. Einst widerfuhr ihm in dieser Beziehung eine drollige Geschichte. Als er im Jahre 1811 die Seefestung Cherbourg besichtigte, fiel ihm ein, in einer Wachtstube an dem Mahle seiner Soldaten teilnehmen zu wollen. Er läßt sich Kommißbrot und Suppe reichen. Aber das erste, was der unglückliche Kaiser in dieser entdeckte, war ein langes Haar. Er zog es heraus und verzehrte, trotz seines Unbehagens, mit Todesverachtung die Suppe. Aber es hatte seinen guten Grund: seine Soldaten sahen zu.

Das Geschirr, welches auf die kaiserliche Tafel kam, war aus ciseliertem Silber, nur die Salzlöffelchen feuervergoldet. Oelbehälter und Salzfäßchen hatten nach damaligem Geschmacke zierliche Phantasieformen, meist nach antiken Motiven, wie sie der heute wieder in Mode gekommene Empirestil uns vielfach vor Augen führt: Muscheln, Schwäne und Hermesstäbe. Sonst war alles glattes Silber, nur mit dem kaiserlicheu Wappen geschmückt. Außer diesem zum täglichen Gebrauche bestimmten Tischservice besaß natürlich der Kaiser noch anderes kostbares Tafelgeschirr; eines aus Porzellan, weiß mit Gold, dazu Karaffen und Gläser von geschnittenem Krystall, hatte ihm der Pariser Meister Séjournant für 23463 Franken geliefert. Ein herrliches feuervergoldetes Silberservice hatte dem Kaiser die Stadt Paris in den Tagen der feenhaften Krönungsfeierlichkeiten von 1804 geschenkt. Im ganzen hatte im Jahre 1811 der kaiserliche Silberschatz in den Schlössern Frankreichs einen Wert von etwa 2200000 Franken, wozu noch gegen 850000 Franken in den kaiserlichen Schlössern von Toskana, Rom und Holland kamen.

Napoleon pflegte allein zu frühstücken. Die Kaiserin Josephine, seine erste Gemahlin erschien niemals zum Dejeuner. Nach seiner zweiten Vermählung frühstückte der Kaiser nur während der kurzen Zeit, welche der Geburt seines Sohnes, des Königs von Rom, voranging, mit Marie Luise gemeinschaftlich. Später aber mußte Madame de Montesquiou, die Erzieherin der „Kinder von Frankreich“, kommen, um dem Kaiser beim Dejeuner den kleinen König von Rom zu zeigen, den blondlockigen Knaben, über dessen Wiege so viele Kronen schwebten, von denen er doch keine tragen sollte. Als der Kleine etwas älter geworden war, nahm ihn der Kaiser auf die Kniee, und es entwickelten sich Genrescenen, die man bei dem Soldatenkaiser befremdlich finden möchte, wenn nicht auch hier durch die derbe Lustigkeit seiner Laune der Ton der Wachtstube hin und wieder durchgeklungen wäre. Der Kaiser ließ den Kleinen von seinem Rotwein kosten, flößte ihm etwas Sauce in den Mund und amüsierte sich höchlich, wenn Frau von Montesquiou gegen diese Behandlung ihres Pflegebefohlenen vom gesundheitlichen Standpunkte aus energischen Widerspruch erhob.

Aehnliche Scenen führte der Kaiser, namentlich in den früheren Jahren, mit seinen Neffen und Nichten auf, den Kindern Ludwig Bonapartes und den kleinen Murats. Sein Liebling war in dieser Kinderschar der älteste Knabe Ludwigs, Napoleon Louis, bis zur Geburt des Königs von Rom der präsumtive Thronfolger. Napoleon speiste oft mit dem Kleinen zusammen; so findet ihn am 27. Februar 1809 der Baron Lejeune, der als Kurier vom Ebro herübergerast ist, um die wichtige Nachricht von der endlichen Einnahme Saragossas zu überbringen. Wieder hat der Kaiser das Kind auf den Knieen. Da greift der Kleine, als das Mahl vorüber ist, nach der Kaffeetasse, und der Onkel giebt ihm auch zu trinken. Aber der Kaffee ist bitter, und der kleine Prinz Schneidet ein fürchterliches Gesicht. „Deine Erziehung ist noch nicht vollendet,“ bemerkt hierauf der Kaiser in seiner sarkastischen Weise, „denn Du kannst ja noch nicht einmal heucheln.“ Ein andermal nimmt der Oheim dem Neffen ein Ei weg. Der kleine Bursche greift zu seinem Messer und schreit: „Gieb mir mein Ei wieder oder ich ersteche Dich!“ „Wie, Schlingel,“ versetzt der Kaiser ernsthaft, „Du willst Deinen Onkel ermorden?“ Aber der Knabe schreit weiter: „Gieb mir mein Ei wieder oder ich ersteche Dich!“ Und der Kaiser willfahrt dem ungestümen Willen, indem er lachend hinzusetzt: „Du wirst ein ausgezeichneter Kerl werden.“

Weniger liebenswürdig waren die Scenen, die sich zwischen dem allmächtigen Kaiser und den recht mangelhaft erzogenen Kindern seiner hochmütigen Schwestern Karoline (Madame Murat) und Elisa (Bacciochi, Fürstin von Piombino) abspielten. Als der gewaltige Cäsar einmal nach seiner Lieblingsgewohnheil den jungen Achille Murat am Ohrläppchen ziehen will, stürzt sich dieser auf den Onkel, hält ihm seine kleine Faust unter die Nase und schreit unartig: „Du bist ein garstiger Bösewicht.“ Und als der Kaiser einst der fünfjährigen Napoleone Bacciochi beim Frühstücke vorhält, daß sie sich beschmutzt habe, da erhebt sich das frühreife Prinzeßchen von ihrem kleinen Fauteuil mit der Bemerkung: „Lieber Onkel, wenn Sie mir nur Betisen sagen wollen, werde ich mich entfernen.“

Aber nicht allein die Kinder seiner Familie verkürzten dem Kaiser die Frühstücksstunde, auch Künstler und Gelehrte fanden sich ein, um mit ihm zu beraten und seine von der Universalität seines Geistes zeugenden Urteile über diesen oder jenen Zweig des Wissens und Könnens entgegenzunehmen. Gefiel er sich doch sogar darin, Talma, dem berühmten Heldendarsteller des Empire, seine Ratschläge zu geben, die freilich von fürstlichen Geschenken begleitet waren. Denn Talma bezog in den Jahren zwischen 1806 und 1813 an Gratifikationen nicht weniger als 195200 Franken! Auch Denon kam oft zur Frühstücksstunde, der Generaldirektor der kaiserlichen Museen, welcher unzählige Kunstgegenstände aus aller Herren Ländern in das Louvremuseum zusammengetragen hatte. Da kamen auch die Gefährten des phantastischen Zuges nach Aegypten, die das Wunderland der Pyramiden der modernen Wissenschaft erschlossen hatten, neben Denon ein Berthollet, der Erfinder des Knallsilbers, und der ausgezeichnete Mathematiker Mouge. Auch Fontaine stellte sich ein, der Architekt des Kaiserreiches, welcher dem Sieger von Austerlitz von dem fabelhaften Idealpalaste plauderte, den er ihm bauen wollte. Endlich kamen die Maler Gérard, Isabey, der große David, um für ihre zahlreichen Bilder den am Frühstückstisch sitzenden Kaiser zu zeichnen. Hier und Sonntags, wenn er während der Messe starren Blickes und unbeweglich auf der hohen Empore stand, ließ er sich am besten porträtieren, und die gelungensten Zeichnungen des marmornen Imperatorengesichtes stammen vom Frühstück und aus der Schloßkirche.

Der Leser würde eine falsche Vorstellung gewinnen, wenn er aus der stattlichen Zahl dieser so verschiedenartigen kleinen und großen Besucher den Schluß zöge, daß Napoleons Frühstück lange gedauert habe. Es war schon oben darauf hingewiesen worden, daß der Kaiser, nervös und cholerischen Temperamentes wie er war, sehr schnell und hastig zu speisen pflegte. In zehn bis fünfzehn Minuten war das Frühstück gewöhnlich beendet. Darauf stattete er öfters im Salon seiner Gemahlin einen kurzen Besuch ab. Zu Josephinens Zeiten ergötzte er sich an der bunten Schar der von der Kaiserin zu ihrem Dejeuner geladenen Damen, die er durch sein unvermutetes Eintreten aufzuschrecken liebte wie den Feind in der Feldschlacht. In Marie Luisens Salon ging es ernster und stiller her, und der Kaiser setzte sich wohl in einen der prächtigen Lehnsessel, um für einige Augenblicke zu schlummern. Dann sprang er auf, und nach kurzem Gruße schloß sich hinter ihm die Thür des Arbeitskabinetts, wo bald darauf die hastigen Schritte des Auf- und Niederschreitenden, das immer schnellere Tempo der diktierenden Stimme und das unaufhörliche Rasseln der Feder seines Geheimschreibers von der ungeheuren Gedankenarbeit zeugten, welche dieser gewaltige Mensch im Laufe eines kurzen Tages zu bewältigen wußte.


[420]

 Der Traum vom Glück.

 (Zu dem Bilde S. 421.)

Hat dir das Leben auch zerpflückt
Des Glückes frischen Blütenkranz,
Es naht im Traum, was dich beglückt,
Zum Troste dir mit mildem Glanz.
Und irrtest du verzweiflungsvoll,
Weil grausam dich die Welt verstieß,
Der Traum vom Glück besiegt den Groll
Und zaubert dir ein Paradies.

Er bauet liebreich wieder auf,
Was das Geschick in Trümmern schlug,
Er trotzt dem rauhen Weltenlauf,
Der Zeit vernichtungstollem Flug,
Er läßt die Toten aufersteh’n
Zu neuem Leben, holdem Thun –
O selig frohes Wiederseh’n,
Wenn wir in seinem Frieden ruh’n!

Und zieht in die Vergangenheit
Kein süß Erinnern dich zurück,
Es zeigt voll Licht und Seligkeit
Die Zukunft dir – der Traum vom Glück.
Die müden Herzen werden jung,
Wenn er an seinen Wundern schafft –
Er giebt der Hoffnung neuen Schwung
Und neue kühne Glaubenskraft.

So groß ist keiner Mutter Harm,
Die treu ein Kind am Busen hegt,
Und sei an Glück sie noch so arm,
Daß Hoffnung nicht ihr Herz bewegt,
Wenn sanft mit seinem milden Glanz
Der Traum vom Glück sie nachts beschleicht
Und einen frischen Blütenkranz
Dem kleinen Schläfer freundlich reicht.
 Johannes Proelß.




Blauweiß.

Novelle von Theodor Duimchen.

     (Schluß.)

Kate Arlington rief Bob heran und fragte ihn nach dem Riesen in grauem Leinen.

„Fort, fort,“ sagte der Mulatte, „dorthin,“ und er deutete in der Richtung nach dem Deutschen Klub.

„Kannst Du ihn suchen, Bob? Ich möchte wissen, wer der Tapfere war.“

„Ja – erst den Schwarzen – der ihm das Messer in den Rücken stieß. Was wollten die andern von dem Herrn?“

„Ein Mißverständnis,“ antwortete Kate, „blauweiß sind die Rebellenfarben, er sollte sie ablegen und verstand die Spanier nicht.“

„Ah,“ sagte Bob. Rebellenfarben – das begriff er von Amerika her und er sah wieder Don Antonios teuflische Augen vor sich. Mit einem Schlage war ihm alles klar.

„Der Mann von heute morgen, mit dem der Herr dann ausging – er hat den Schwarzen bezahlt, ihn umzubringen im Gedränge – er hat dem Herrn geraten, Blauweiß zu tragen – seit heute morgen trug er’s.“

Kate wich unwillkürlich einen Schritt zurück. „Carvajal, Don Antonio?“ rief sie. Der Verdacht, die Gerüchte über den Kreolen fielen ihr ein. Was konnte ihr Bruder nicht alles gefunden haben! Heiß stieg es in ihr auf bei dem Gedanken, daß man ihrem arglosen Bruder heimtückisch eine mörderische Falle gestellt hätte. Wenn man dem Ruchlosen das beweisen, den Arm des Gesetzes gegen ihn bewaffnen, ihn erbarmungslos zerschmettern könnte! Aber Bob war wohl selbst verwundet, sie trat an ihn heran, ihre schmale weiße Hand strich über sein krauses Haar. „Bist Du verwundet?“

Der Mulatte richtete sich straff auf, seine Brust dehnte sich. „Nichts, Herrin, ein paar Schrammen.“

„Wenn wir den Neger finden, meinen Bruder an Don Antonio rächen könnten – –“

In Bobs Augen blitzte es auf. „Ich werde ihn rächen, auch Bob ist tapfer.“ – Er lag plötzlich auf den Knien vor ihr und küßte ihres Kleides Saum. Es war nur ein Augenblick, schon war er wieder aufgesprungen und sauste in weiten Sätzen über den Platz weg davon.

Da kamen auch die beiden Herren zurück. Der Arzt war von dem Ergebnis der Untersuchung solange befriedigt gewesen, als er nur die Beulen, die Brauschen und die Degenstiche gefunden hatte.

„Nichts von Bedeutung, nichts von Bedeutung, nur Fleischwunden,“ hatte er gesagt. Bedenklich aber war er geworden, als er John aufheben ließ und unter seinem Rücken eine große Blutlache und ein abgebrochenes Dolchmesser zwischen seinen Schulterblättern im Körper stecken fand. Aber man würde den Verwundeten trotzdem ins eigne Haus bringen können, vorsichtig, lang ausgestreckt in der Volante, hatte der Doktor gemeint.

Der alte Herr Morales bat einige Umstehende um ihre Mitwirkung. Auch Mercedes stieg wieder aus. Stroh wurde in dem Wagen aufgeschichtet und der Verwundete mit größter Vorsicht hineingebettet.

Eine Volante ist ein vorzügliches Fahrzeug, mit ihrer langgestreckten Muschel, in der man sowieso mehr liegt als sitzt, und mit ihren zwei ungemein hohen Rädern, die vermöge ihres riesigen Umfangs selbst über sehr bedenkliche Löcher ohne jede Erschütterung weggehen. Ursprünglich für den Dienst im Innern, für schlechte Wege erfunden, läßt sie ihre Insassen in den Federn auf und nieder schweben und selbst die schwersten Stöße nicht empfinden.

Der Kutscher fuhr jetzt in langsamster Gangart voran, ohne daß der Verwundete aus der Ohnmacht erwachte. Die Herren mit den Damen und der Arzt folgten in Droschken.

Bob aber hatte die Fährte aufgenommen, er war ins Hotel geeilt, auf seines Herrn Zimmer. Jetzt wusch er sich flüchtig die Wunden aus und suchte das große Bowiemesser, das er heute morgen selbst in ein offenes Schubfach des Schreibtisches gepackt hatte. John Arlingtons Revolver lagen daneben. Der Mulatte kannte das berühmte Wort nicht, das da sagt, die Kugel sei eine Närrin und nur die Klinge ein Mann, aber er zögerte kaum einen Augenblick, dann steckte er das Messer zu sich und ging, äußerlich völlig ruhig, wieder hinunter.

Er suchte den Oberkellner. Als er am Nachmittag im Hoteleingang herumgestanden hatte, waren Amerikaner angekommen und der Oberkellner hatte englisch mit ihnen gesprochen. Der würde ihn also verstehen. Er fand ihn bald, fragte ihn nach der Wohnung Don Antonio Carvajals und verlangte einen Wagen. Man wußte im Hotel, was im Park geschehen war. Man glaubte, daß er eine Botschaft zu besorgen habe, und entsprach seinen Wünschen sofort.

In der Nähe von Don Antonios reichem Hause verließ er den Wagen. Das Hausthor, vor dem zwei große Gaskandelaber brannten, war noch offen. Er ging aber nicht hinauf. Er überzeugte sich nur, daß das Haus außer dieser Hauptthür keinen andern Eingang hatte, dann beobachtete er von einem gegenüber liegenden Thorweg aus scharf jeden, der drüben in den Lichtkreis trat. Der, auf den er wartete, kam nicht. Die Nacht schritt vor, die großen Thürflügel wurden geschlossen. Er hörte schwere Riegel fallen. Die Diener drehten innen das Gas ab. Die Laternen verloschen.

Der Mond war aufgegangen, nur als schmale Sichel. Don

[421]

Der Traum vom Glück.
Originalzeichnung von Ferd. Leeke.

[422] Antonios Haus lag in mattem Silberschimmer, der Thorweg gegenüber in schwarzem Schatten. Tiefe Stille herrschte. Unter dem blauschwarzen Sternenhimmel ruhte die Stadt. In der Ferne heulte ein Hund.

Der Mulatte überlegte, sicher, scharf, kalt und grimmig, wie der Wilde auf dem Kriegspfad. Don Antonio war zu Hause gewesen, während das von ihm bezahlte Messer die von ihm geschaffene Gelegenheit benutzte. Der Mann war klug, der Mörder kam heute abend nicht, vom Schauplatz der That sofort nach dem Carvajalschen Hause war er auf keinen Fall gegangen, und spätestens eine Viertelstunde darauf war Bob schon auf dem Posten gewesen. Einer von Don Antonios Dienern war es kaum, das wäre unvorsichtig gewesen. Sicher ein Gedungener. Er würde wohl morgen erst kommen dürfen, in der Frühe, um zu berichten und seinen Lohn zu holen. Der Mulatte schlief auf der Stelle, wo er stand, auf den Steinen. Am andern Morgen fand ihn der erste Sonnenstrahl wieder wach.

Kurz nach sechs Uhr kam ein baumlanger Neger die Straße entlang. Er trat sehr sicher auf. Auf sein Klopfen wurde das große Thor geöffnet und blieb auch offen für den Tag, wie immer.

Der Mulatte schritt hinter dem Neger in das Haus und die Treppe hinauf. Die Diener glaubten, er gehöre zu ihm. Der Neger sah sich nicht um, er wußte genau Bescheid, stieg ruhig die Treppe hinauf und öffnete, kurz anklopfend, eine Zimmerthür.

Don Antonio Carvajal, der beim Kaffee saß, wandte sich nach dem Eintretenden um. Im nächsten Augenblick wurde er graublaß, denn hinter dem Neger sah er John Arlingtons Diener, der eben ein großes Bowiemesser aufklappte und ihn mit einem Blick ansah, vor dem ihm grauste. Er wollte rufen aber es war zu spät. Blitzschnell war der Mulatte an dem überraschten Neger vorbeigeschlüpft und hatte dem zitternden Schuft mit einem wilden Yankeefluch die breite Klinge ins Herz gestoßen. Lautlos brach Don Antonio zusammen.

Der Neger versuchte, den Rächer festzuhalten, griff aber nur in das Messer, das ihm Bob durch die Hand zog. Brüllend vor Schmerz ließ der Schwarze ab. Bob stürmte die Treppe hinunter, verfolgt von den Dienern des Hauses.

Wie ein gehetztes Wild floh er die Calzada, den „Steinweg“, entlang. Hinter ihm gellte und kreischte es: „Ataje, Ataje!“ „Haltet ihn! Faugt ihn!“

Diener, Weiber, Kinder eilten an die Fenster, auf die Balkone, in die Thorwege, denn der Ruf „Ataje“ verspricht immer ein Schauspiel. Sie sahen den Mulatten, das blutige Messer in der Hand, in langen Sätzen daher kommen, hinter ihm die immer wachsende Schar seiner Verfolger.

„Wieder ein Raubanfall,“ dachte jeder, und was auch immer man gerade in der Hand hatte, warf man nach dem Fliehenden, alte Töpfe, leergetrunkene Kokosnüsse, Blechbüchsen, Besenstiele, Knüppel, Steine flogen auf den Unglücklichen herab. Ein halber Backstein von einem Balkon herunter geschleudert, traf sein schon verwundetes Haupt. Mit klaffendem Schädel stürzte er vornüber aufs Pflaster.

Eben bog eine auf der Runde befindliche Bareja, ein „Paar“ Polizisten, um die Ecke.

Man hatte die Hauptstadt von allen Truppen entblößt, da man jeden Mann im Innern gegen die Aufständischen brauchte. Der Guardia civil und den Nachtwächtern war das Gesindel, entflohene Sklaven, vielfach bestrafte Farbige, Diebe und Mörder, über den Kopf gewachsen. Man war seines Lebens und seines Eigentums keinen Augenblick mehr sicher in Havanna. Da hatte das Mutterland etwas Uebriges gethan für „die immer getreue Stadt“, bewährte, langgediente Unteroffiziere, die besten Schützen hatte es aus dem ganzen Heere ausgesucht und mit weisen Instruktionen herübergeschickt. Sie wurden gut bezahlt und waren vorzüglich bewaffnet. Niemals ging einer allein. Immer traten sie paarweise auf. Sie lieferten niemals einen Gefangenen ab, den sie mit der Waffe in der Hand ergriffen hatten, auf dem Transport machte er immer einen Fluchtversuch und „die nie fehlende Kugel der Gerechtigkeit“ streckte ihn stets mit zerschmettertem Hinterhaupt zu Boden. So las man am andern Morgen in der Zeitung.

Als jetzt die Gefürchteten erschienen, zog sich alles scheu etwas zurück, nur zwei der Carvajalschen Diener gaben erregt, schreiend, mit den Händen in der Luft herumfuchtelnd, Bescheid.

Da klingelte ein Pferdebahnwagen vorüber; auf der hinteren Plattform stand in grauem Leinenanzug ein breitschultriger großer blonder Herr. Der Auflauf interessierte ihn. Er sprang ab und trat auf die Gruppe zu. Man hatte den Mulatten eben mit einem Kolbenstoß gegen das Schienbein geweckt. Bobs Augen öffneten sich und trafen auf den Herangetretenen. Da leuchteten sie auf „Helft mir,“ rief er ihn englisch an. „Ihr habt meinem Herrn geholfen gestern abend –00 zur Herrin –00 bei Morales.“

Reuter erinnerte sich des Mulatten, er erinnerte sich auch der Gespräche gestern abend, wie man im Klub angenommen hatte, es seien bezahlte Hände dabei gewesen, das sei des Landes so der Brauch, um einen Mißliebigen los zu werden. – Gestern der Herr, jetzt der Diener. Er wandte sich in langsamem, aber richtigem Spanisch an die Beamten. „Sein Herr ist gestern abend im Park fast ermordet worden. Der Bursche ist freier amerikanischer Bürger und schwer verwundet, er hält keinen weiten Transport mehr aus. Seine Herrschaft ist zum Besuch hier bei Don Felipe Morales. Das Haus ist in der Nähe, lassen Sie ihn dahin schaffen. Die Sache wird eine sorgfältige Untersuchung nötig machen. Ich bin Deutscher. Hier ist meine Karte.“

Das „Soi aleman“ hatte damals, nicht lange nach dem deutsch-französischen Kriege, Gewicht und der Name Felipe Morales auch, die Polizisten kamen Reuters Wunsche nach.

Aus einem der Nachbarhäuser wurden ein Brett und ein paar Querhölzer entliehen. Einige der umstehenden Beschäftigungslosen, an denen in Havanna niemals Mangel ist, packten den Verwundeten auf und trugen ihn nach der Villa Morales. Der Weg war nicht weit, dennoch war Bob, als man ankam, wieder ohnmächtig geworden, vor Schmerzen und von dem starken Blutverlust. Der alte Herr Morales empfing den Zug, den man durch den weiten Vorgarten hatte herankommen sehen. Reuter stellte sich ihm und Miß Arlington, die neben Don Felipe stand, vor und gab ganz kurz die nötigsten Erklärungen.

Während man Bob hineintrug, hielt Kate den Deutschen einen Augenblick zurück. „Sie haben gesteru für meinen Bruder Ihr Leben gewagt, obschon er Ihnen fremd war. Die Vorsehung will uns Gelegenheit geben zum Dank und führt Sie durch eine zweite edle That in unser Haus. Sie dürfen es nicht verlassen bevor ich mit Ihnen gesprochen habe.“

Reuter zögerte. – „Herr Reuter, ich bitte darum,“ drängte Kate Arlington, „ich muß zu meinem Bruder und Ihnen den Arzt für Bob schicken.“

Reuter verneigte sich, die Augen der Beiden tauchten für einen Augenblick ineinander, dann ging Kate. Im Davoneilen rief sie Reuter noch zu: „Sorgen Sie, daß ich gerufen werde, sobald es möglich ist.“

Unter den Bemühungen des Arztes, der von Johny Arlingtons Bett an das seines Dieners geeilt war, kehrte Bob endlich noch einmal das Bewußtsein zurück – nur für Augenblicke aber.

Seine Augen wurdeu weit und freudig, als er auch seine Herrin unter denen sah, die sein Lager umstanden.

„Die Farben,“ kam es von seinen Lippen, „Don Antonio Carvajal – den Neger bezahlt – lebt der Herr?“ Und als sie sich über ihn beugte und ihm sagte, daß ihr Bruder wieder zur Besinnung gekommen wäre und daß Hoffnung bestünde, ihn am Leben zu erhalten, da war er zufrieden. Er lächelte. „Mitten ins Herz,“ murmelte er noch, dann schwanden ihm die Sinne und eine Viertelstunde später war er tot.

Bonny Kate drückte ihm die Augen zu, dann aber reichte sie über Bobs Leiche dem Deutschen in dem schäbigen, grauleinenen Anzug die Hand und sagte: „Es ist aus, Herr Reuter, für Bob sind Sie zu spät gekommen. Für meinen Bruder aber ist Hoffnung, Hoffnung durch Sie. Gewiß nehmeu Sie Anteil an dem, den Sie gerettet haben. Deshalb kommen Sie wieder, nach Johns Befinden zu fragen, werden Sie sein Freund, wenn er uns erhalten bleibt!“

Auch Don Felipe bat ihn, „sein Haus als das seinige und ihn als seinen Diener zu betrachten“, und der Ausdruck, mit dem er das sagte, machte den Satz zu etwas mehr als der üblichen Redensart. Reuters Eingreifen hatte ihm und seinem Sohn Achtung eingeflößt und sie waren dem Deutschen dankbar; beide hatten sie den jungen Amerikaner wirklich lieb und außerdem wäre es doch gar zu scheußlich gewesen, wenn der alte Arlington hätte erfahren müssen, daß sein Sohn elend zu Grunde gegangen wäre, fast unter ihren Augen. Zwar hatten sie beide einen betrüblichen Gedanken, als sie die reiche Erbin Hand in Hand mit dem Deutschen da vor sich sahen, und sie beide begruben einen Lieblingsplan in diesem Augenblick. Aber sie benahmen sich tadellos, offen und herzlich. –0

[423] Reuter kam. – Er kam täglich. Sein Weg ins Bureau nach der Calle Mercaderes führte ihn an der Villa Morales vorüber. Jeden Morgen erkundigte er sich nach John Arlingtons Befinden und nie versäumte es Bonny Kate, ihm die von Tag zu Tag besser werdenden Berichte selbst mitzuteilen.

Die draußen am Gitter Vorübergehenden sahen häufig, wie die schöne Fremde, die reiche Amerikanerin, neben dem Deutschen in der Veranda saß, in den Gängen auf und ab wandelte oder ihn bis zum Gartenthor brachte. Man fing im Deutschen Klub an, über die großartigen Aussichten, über das Glück, das der Reuter habe, zu sprechen, früher, als Reuter selbst Mut genug hatte, an solche Möglichkeiten zu denken. Er war bescheiden und doch sehr stolz.

Es dauerte lange, aber endlich wollte es ihm doch hier und da scheinen, als sei in Bonny Kates Augen noch etwas anderes als nur Dankbarkeit und Freundschaft. Wenn er dann aber nach dem Kontor weiter wanderte, redete er sich selbst immer wieder ein, daß er eitlerweise sich thörichte Gedanken in den Kopf setzte. Sie würde schöne Augen machen, wenn er um sie werben wollte. Das Blut stieg ihm zu Kopf und seine Faust ballte sich, wenn das Bild lebhaft vor seinem geistigen Auge stand, wie ihn Miß Arlington, die Millionärin, erstaunt ansehen und ein mitleidiges Lächeln über ihre schönen Züge fliegen würde.

Dann war er am nächsten Morgen so steif und zurückhaltend, daß die arme Bonny Kate scheu zurückwich vor dem kühlen Hauch, der von ihm ausging. War sein Herz vielleicht nicht mehr frei, hatte sie sich etwa bloßgestellt?

Da merkte der Deutsche denn, daß das fröhliche Lächeln verschwand, mit dem sie ihn empfangen hatte, und wieder stiegen Liebe und Hoffnung in ihm auf. Und wieder kam gleich die Vernunft hinterdrein: ja, ja, wenn sie nur nicht so sehr reich wäre – aber so! –

So quälten sich die beiden Herzen und konnten doch von Tag zu Tag weniger voneinander lassen. Dabei gingen John Arlington, während er sich langsam erholte, und Mercedes Morales den Beiden mit außerordentlich gutem Beispiele voran.

Sechs Wochen nur waren nach dem verhängnisvollen Tage vergangen, da saßen die beiden jungen Paare eines Abends wieder einmal beisammen zwischen den Marmorsäulen der Veranda.

Ganz vorn, wo die eben untergehende Sonne die weißen Sockel und Platten rosig überhauchte, lag John Arlington auf einem langgestreckten Rohrstuhl und ließ das Auge über den vor ihm liegenden, herrlichen Tropengarten schweifen. Neben ihm saß Mercedes auf einem niedrigen Sessel und streichelte seine auf der Seitenlehne des Stuhles liegende Rechte.

Im Hintergrunde aber stand Reuter im Gespräch mit Bonny Kate, die im Schatten einer der Säulen lehnte.

„Ich begreife Sie nicht, bester Reuter,“ rief Johny soeben laut, halb über die Schulter zurück, „Sie sind so schnell von Entschluß, wenn es gilt, die Knochen für einen andern zu wagen, und unseren Bitten gegenüber können Sie sich zu keiner runden Zusage aufschwingen. Wie dürfen Sie uns mit Redensarten kommen von übertriebenem Dank und solchem Unsinn? Es ist gar nicht hübsch von Ihnen, daß Sie so zäh sind, sag’ ich. Ich wäre schon viel weiter, wenn ich wüßte, daß Sie zu uns kämen. Was fesselt Sie denn an diese schöne Tropeninsel und an diese gottgesegneten Zustände hier? Nehmen Sie es als Geschäft, rechnen Sie es uns als Selbstsucht an. Sie sind ein ungemein begabter Kaufmann, sagt mein zukünftiger Schwager, und der ist Kenner; wir wollen Ihre Talente für den Zucker gewinnen, das ist alles. Kommen Sie, sagen Sie Ja!“

Hinten aber flüsterte Bonny Kate und ein Wiederschein der scheidenden Sonne war in den schönen Augen: „Lieber Herr Reuter, mein Vater kommt morgen an. Er geht auf keinen Fall nach den Staaten zurück ohne Sie, schreibt er. Wollen Sie nicht mir die Zusage geben, die er sich nicht wird vorenthalten lassen?“

Und da kam ihm der große Mut und es ward sein Augenblick des Glücks, der Augenblick des Glücks, von dem brave Menschen, die diese Welt gutmütig überschätzen, behaupten, daß jeder Mensch ihn einmal erlebe und ihn dann eben nur benutzen müsse.

Nun, Herr Reuter benutzte ihn, oder vielmehr etwas, das aus ihm sprach, ihn handeln machte ohne sein Zuthun, benutzte ihn.

„Nur, wenn Sie mir eine andere Zusage machen können, Kate, Bonny Kate,“ flüsterte er zurück. „Wollen Sie mich lieb haben, wollen Sie meine Frau werden?“

Da blitzte es auf in ihren Augen von einem kleinen Schreck und jäher Freude. Er wußte genug, sie hielten sich in den Armen, und im nächsten Augenblick drehte sich Mercedes auf ein eigentümliches Geräusch hin um und „Hallo,“ rief Johny lachend, „jetzt haben wir ihn; wird sich der Governor freuen, wenn er morgen kommt.“

Und der alte Herr freute sich wirklich. Die Doppelverlobung unter so romantischen Umständen machte Aufsehen in Havanna; auch Reuter hatte – im Deutschen Klub – viele Freunde.

Und abends, nach stolzen Tagen voll Glück, voll Liebe und Seligkeit, lag Reuter noch häufig wach mit unruhig jauchzender und doch nachdenklicher Seele, er sann und sann. Wie unermeßlich war sein Glück und was war sein Verdienst? Wieviele thun mehr und gehen arm und elend zu Grunde zu Tausenden. Der arme Bub – vielleicht der Enkel afrikanischer Herrscher – elend umgekommen, und er, der arme deutsche Junge, plötzlich auf dem Gipfel einer Macht, die ihn über die Arbeitskräfte vieler Tausende verfügen ließ. – Wie war es nur gekommen, wo war der Faden? War es Zufall? Giebt es eine Vorsehung, deren Wege zu dunkel, giebt es eine höhere Notwendigkeit, deren viel verzweigte Maschen von Ursache und Wirkung zu zart und fein verflochten sind für sterbliche Augen?

Er kam nicht ins Reine. Aber je häufiger er in Bonny Kates schöne Angen sah und je mehr Zukunftspläne sie zusammen machten, desto ruhiger wurde er im Glück und im Besitz. Und bald fragte er nicht mehr.


Vor der Berufswahl.

Warnungen und Ratschläge für unsere Großen.
Die Frau und das Universitätsstudium.
I.0 Im Ausland.

Wer sich nicht mit dem wenig gepflegten Zweig „Geschichte der Frauen“ eingehend beschäftigt hat, ist häufig der Meinung, die Forderung der Frauen, zu den gelehrten Studien zugelassen zu werden, sei trotz Ben Akiba einer der Auswüchse neuester „Emanzipationssucht“. Höchstens taucht in seinem Gedächtnis die durch Charles Kingsley popularisierte Hypatia auf. Nimmt er ein Konversationslexikon zur Hand, so liest er freilich, daß dem griechischen Altertum Aerztinnen nicht unbekannt waren, daß Rom eine nicht unbedeutende Anzahl gelehrter Frauen, vorzüglich Juristinnen, gehabt hat und Italien im Zeitalter des Humanismus eine stattliche Reihe solcher Frauen aufwies. Er erfährt ferner, daß sogar Deutschland im vorigen, ja selbst in diesem Jahrhundert eine Reihe von Frauen den Doktorhut erwerben sah; es seien nur Christiane Erxleben, Dorothea Schlözer, Karoline Herschel genannt.

Aber trotz alledem hat er recht! es handelt sich heute um etwas anderes als damals. Der Unterschied liegt auf der Hand. Hochbegabte Frauen suchten sich damals in ganz vereinzelten Fällen ihren Weg trotz aller Hindernisse und fanden ihn in noch selteneren Fällen; heute verlangt man, daß er auch der Normalbegabung geöffnet werde, so gut wie beim Mann. Erst das macht die Menge stutzig, weil erst das die Konkurrenzfurcht heraufbeschwört. An Angriffen auf jene Pionierinnen, besonders auf dem Gebiet der Arzneikunst, hat es zwar auch nicht gefehlt. Als Christiane Erxleben 1754 in Halle promovierte, schrieb Dr. Friedrich Börner, Mitglied der Römisch Kaiserlichen Akademie der Naturforscher, man müsse das weibliche Geschlecht von der ausübenden Heilkunst ganz ausschließen und durch obrigkeitliche Befehle davon abhalten. Denn, meint er, „ein Arzt muß verschwiegen sein. Wie würde man wohl dieses von den Weibern behaupten können, welchen nach der Art der Gänse der Mund niemals stille steht, sondern die beständig plaudern, ja, was man ihnen erzählt, ebensogut bei sich behalten können als ein Sack das Wasser.“ Und damit die [424] Verunglimpfung seitens der Frauen selbst nicht fehle, schreibt „die Gottschedin“: „Unsere Fakultäten kreieren, promovieren und krönen das teutsche Frauenzimmer trotz den Franzosen. Verschiedene haben ihre Wälder schon bald kahl gelorbeert. Man hat vor kurzem ein Frauenzimmer zum Doktor der Arzneikunst gemacht. Vermutlich will sie auch das Vorrecht erhalten und behaupten, einen neuen Kirchhof anzulegen.“ (Vgl. Zeitschr. f. weibl. Bildung, 1892, S. 306.)

Die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts sah nun ja überall aus Gründen, die mit der ganzen sozialen Entwicklung eng zusammenhängen, deren Erörterung aber hier viel zu weit führen würde, die Frauen in das Berufsleben eintreten, das bisher als die Domäne des Mannes gegolten hatte. Zum großen Teil zwang sie bittere Not, zum Teil das Verlangen nach einem erweiterten Lebensinhalt. Die Geschichte dieser Bewegung zeigt hier und da überraschende Scenen; die Großmut und Hochherzigkeit einzelner Männer und Landesvertretungen bahnt den Frauen bei der ersten Bitte den Weg. Anderswo finden sie erbitterten Widerstand; am entschiedensten und dauerndsten in Deutschland.

Zuerst suchten die Frauen fast überall in die Medizin einzudringen als diejenige Wissenschaft, in der sie aus ethischen und gesundheitlichen Gründen am ersten festen Fuß fassen zu müssen glaubten. Nordamerika ging in der Frage voran. Im Jahre 1844 richtete eine Engländerin, Miß Elisabeth Blackwell, an alle 13 medizinischen Fakultäten, die die Vereinigten Staaten damals zählten, ein Gesuch um Zulassung zum Studium. Eine der 13, Geneva Medical College in New York, fand sich bereit, sie zuzulassen; die letzte Entscheidung darüber aber sollten die Studenten fällen. Diese hielten eine Versammlung ab und entschieden nicht nur zu Gunsten der Dame, sondern verpflichtetes sich zugleich, sich stets als Gentlemen ihr gegenüber zu zeigen, so daß sie niemals ihren Schritt zu bereuen haben sollte. Die l2 anderen Universitäten hatten Miß Blackwell entschieden abgewiesen; eine sprach von der „unerhörten Anmaßung, die die Antragstellerin mit dem Wunsch und der Hoffnung erfüllt hat, in einen Beruf einzudringen, der dem edleren Geschlecht vorbehalten ist“; eine andere meinte, daß es unpassend und unmoralisch sein würde, eine Frau in die Natur und Gesetze ihres Organismus eingeweiht zu sehen.

Auf die ritterliche Handlung der Studenten von Geneva College folgte noch manche unritterliche, bis den Frauen unbestritten das Recht zum Studium der Heilkunde und zu anderen gelehrten Studien in den Vereinigten Staaten zuerkannt wurde. Welches Resultat der Kampf schließlich gehabt hat, ersehen wir daraus, daß Amerika heute an 2500 Aerztinnen zählt; die Zahl der weiblichen Lehrer belief sich nach der letzte Zählung auf 191000 (gegen 104000 männliche).

In England begann der Kampf um das medizinische Studium um 1860. Miß Elisabeth Garrett (jetzt Mrs. Garrett-Anderson) ergriff das medizinische Studium und wurde auch zu den verschiedenen Prüfungen zugelassen, da man nicht glaubte, daß der Einzelfall weitere Folgen habe würde. Als aber mehrere Frauen ihrem Beispiel folgten, sah man die Sache anders an. Besonders zu Edinburgh, wo Miß Jex Blake mit einigen anderen Frauen Zulassung zur Universität nachgesucht hatte, kam es zu den häßlichsten Scenen; schließlich mußten die Frauen den Kampf dort aufgeben und nach London übersiedeln, wo sie in Verbindung mit Miß Anderson ein eigenes College: The London School of Medicine for Women eröffneten. Heute erfreut sich diese Schule des regsten Zuspruches; auch in Edinburgh und Glasgow sind solche Schulen eröffnet, Edinburgh zählt deren sogar zwei. Im Jahre 1894 waren die vier nur für Frauen bestimmten Schulen von 242 Studentinnen besucht. Außerdem werden Frauen zu den ursprünglich nur für Männer bestimmten Schools of Medicine in Dublin, Belfast, Cork und Newcastle zugelassen.

Die größte Schwierigkeit bot von Anfang an die Möglichkeit ausreichender klinischer Studien. Schon im Jahre 1877 ließ aber das Royal Free Hospital in London weibliche Studenten zu; heute haben die Frauen ein eigenes, vorzüglich eingerichtetes Hospital mit 42 Betten und einem großen Stab von Aerztinnen. Im vorigen Jahre wurden dort 446 Patientinnen verpflegt und in der mit dem Hospital verbundenen Poliklinik über 10000 Patientinnen behandelt.

In das British Medical Register sind jetzt über l50 Aerztinnen eingetragen. Noch viel bedeutender ist in England die Ausdehnung der Studien auf anderen Gebieten. Die dahin zielende Bewegung begann im Jahre 1869. In Hitchin in der Nähe von Cambridge hatten sich fünf Frauen zusammengefunden, die den Versuch machen wollten, das Aufnahme-Examen für die Universität zu bestehen. Aufs hochherzigste von einigen Universitätsprofessoren unterstützt, die an dem Versuch großen Anteil nahmen, gelang es ihnen, den Anforderungen zu genügen; die Zulassung zu den Universitätsstudien war damit selbstverständlich, und nach der üblichen Zeit bestanden alle ehrenvoll das mathematische, resp. klassische „Tripos“ (das schwierigste englische Universitätsexamen). Inzwischen war in der Nähe von Cambridge ein Stück Land gekauft und der Bau eines eigenen College unternommen worden, dessen Wachsen Professoren und Studenten mit Interesse und Wohlwollen verfolgten. Im Jahre 1872 wurde das Institut unter dem Namen Girton College eröffnet. Kurze Zeit darauf entstand Newnham College in Cambridge selbst; in Oxford wurden Lady Margaret Hall und Sommerville Hall gegründet. 1878 wurde die Universität London mit allen ihren Graden den Frauen eröffnet; 1886 The Royal Holloway College mit seiner fürstlichen Ausstattung. Zwölf Millionen Mark sind auf den Bau verwendet worden, den ein Privatmann den Frauen Englands zur Verfügung stellte.

Es würde zu weit führen, die Universitätsbewegung in allen anderen Kulturländern so eingehend zu verfolgen; eine kurze Aufzählung möge genügen.

Frankreich ist den Frauen sehr früh entgegengekommen. Von 1866 bis 1882 sind schon 109 akademische Grade an Frauen erteilt worden. Im Jahre 1893 studierten in Paris 423 Frauen, meistens Medizin und Naturwissenschaften. – Die Schweiz läßt auf ihren Universitäten seit 1867 Frauen als völlig gleichberechtigte ordentliche Hörer neben den Männern zu. Im Winter 1891/92 waren 242 Frauen dort eingeschrieben, etwa 190 hörten außerdem noch Vorlesungen. – Schweden ließ 1870 die Frauen zu; von 1873 ab können sie in den „schönen Wissenschaften“ und in der Medizin dieselben akademischen Grade erlangen wie die Männer. – 1875 folgte Dänemark, 1876 Italien. – Rußland hatte 1878 medizinische Kurse für Frauen eröffnet, die aus politischen Gründen eine Zeitlang geschlossen waren; 1892 beschloß jedoch der Reichsrat die Gründung eines medizinischen Instituts für Frauen in St. Petersburg. Im Jahre 1887 praktizierten in Rußland 550 weibliche Aerzte. – In Holland hatte dem Frauenstudium prinzipiell nie etwas im Wege gestanden; 1880 wurde in Amsterdam die erste Frau förmlich zum Studium zugelassen; Belgien ließ gleichfalls in demselben Jahre die erste Frau zu. Im gleichen Jahr bat auch in Norwegen die erste Frau um Zulassung zur Universität Christiania; nach den Statuten mußte sie zurückgewiesen werden. Ein Parlamentsmitglied brachte sofort den Antrag auf Zulassung der Frauen zum Studium ein; die Unterrichtskommission befürwortete ihn einstimmig; in den Häusern ging er mit einer Stimme dagegen durch. – In Spanien und Portugal verwehrt kein Gesetz den Zutritt der Frauen zu den höchsten Lehranstalten, wenn sie auch nicht sehr häufig von ihrem Rechte Gebrauch machen. – In Rumänien fand gleichfalls schon in der Mitte der achtziger Jahre die Zulassung der Frauen zu allen Studien statt; 1893/94 studierten in Bukarest 91 Frauen. – In Oesterreich ist den Frauen wenigstens mit besonderer Genehmigung des einzelnen Falles das Studium ermöglicht, wenn es auch noch allerlei Beschränkungen unterliegt.

Es bleibt von den großen Kulturländern übrig – Deutschland.


II. In Deutschland.

Schon seit einer Reihe von Jahren haben auch in Deutschland verschiedene Frauenvereine den Versuch gemacht, die Regierungen zur Freigabe der Universitäten für die Frauen zu bewegen. Bisher sind diese Versuche erfolglos gewesen. Reichstag wie Landtage gingen entweder über die Petitionen zur Tagesordnung über, oder sie erklärten sich in der Frage nicht für kompetent, oder, wenn sie sich günstig zu der Sache stellten – was neuerdings mehrfach der Fall war, vor allem in Preußen und in Baden – so wurde doch niemals der Angelegenheit genügend Nachdruck gegeben, um die Regierung zum Vorgehen zu veranlassen. In der Presse wogte dabei ein lebhaft geführter Streit darüber hin und her, ob Frauen überhaupt ein Studium, vornehmlich das der Medizin, durchzuführen imstande seien, ob sie insbesondere den Anstrengungen der Praxis gewachsen seien, eine Frage, die nicht nur anderswo, sondern auch in Deutschland längst praktisch gelöst war. Ohne nämlich auf die Freigebung des Studiums in Deutschland zu warten, hatten

[425]

Die vier ältesten kaiserlichen Prinzen bei ihren Lieblingen.
Originalzeichnung von M. Plinzner.

[426] verschiedene Frauen sich auf ausländischen Universitäten, besonders in Zürich, zu Aerztinnen ausgebildet und unter dem Schutze der Gewerbefreiheit in Deutschland zu praktizieren begonnen. Die staatliche Anerkennung zu erlangen, gelang ihnen freilich nicht; ihre Gesuche um Zulassung zum Staatsexamen wurden abschlägig beschieden. So wirken schon seit 1877 Fräulein Dr. Franziska Tiburtius und Fräulein Dr. Emilie Lehmus in Berlin. Neben ihrer sehr ausgedehnten und stets wachsenden Privatpraxis haben die beiden Damen in der von ihnen eingerichteten Poliklinik bis zum 31. März 1894 18870 Frauen ärztlichen Rat und Beistand erteilt. In einer kleinen Pflegeanstalt sind außerdem 528 unbemittelte kranke Frauen verpflegt und behandelt worden, so daß die Thätigkeit dieser beiden Aerztinnen der Hauptstadt des Reiches, das sie nicht einmal anerkennt, zu reichem Segen gediehen ist.

Neuerdings haben sich noch Fräulein Dr. Agnes Bluhm und zwei andere Aerztinnen in Berlin niedergelassen. In Frankfurt a/M. praktiziert ferner Dr. Elisabeth Winterhalter, in Leipzig Dr. Anna Kuhnow, in Nordrach (Baden) Frau Dr. Walther-Adams. Die jährlich steigende Praxis aller dieser Frauen beweist deutlich, wie dringend das weibliche Publikum nach weiblichen Aerzten verlangt.

Bei der Erörterung der Frauenpetitionen um Zulassung zum Studium wurde wiederholt auf den Mangel einer geeigneten Vorbildung hingewiesen. Um den Gegnern des Frauenstudiums diesen Vorwand zu nehmen und zugleich den Beweis der Befähigung der Frauen für mathematische, naturwissenschaftliche und altsprachliche Studien zu erbringen, waren schon im Jahre 1889 in Berlin sogenannte Realkurse für Frauen eingerichtet worden. Ihr Lehrplan war, da ja damals an eine Zulassung zu deutschen Universitäten noch gar nicht zu denken war, zunächst den in Zürich geltenden Aufnahmebedingungen angepaßt; eine Erweiterung der Anstalt behielt man sich stillschweigend vor. Der Versuch gelang über Erwarten. Von den prophezeiten Schwierigkeiten war wenig oder nichts zu merken. Die meisten Schülerinnen der Realkurse verfolgten zwar keinen weiteren Zweck als den, ihr Wissen zu erweitern; einige aber bestanden nach 21/2 bis 3jähriger Vorbereitung ihr Maturitätsexamen in Zürich und sind heute dort in glücklicher Abwicklung ihrer Studien begriffen.

Der Erfolg ermutigte zu weiterem Vorgehen. Die Realkurse wurden in Gymnasialkurse verwandelt, d. h. sie wurden den preußischeu Gymnasiallehrplänen angepaßt. Ein Komitee, dem hervorragende Parlamentsmitglieder und Gelehrte angehören (Vorsitzender ist Heinrich, Prinz zu Schönaich-Carolath), trat zur finanziellen Sicherstellung und moralischen Unterstützung der Kurse zusammen, die im Herbst 1893 eröffnet wurden. Das Prinzip, das sich bei den Realkursen bewährt hatte, nur Erwachsene (das Minimaleintrittsalter ist 16 Jahre), nicht Kinder, aufzunehmen, wurde auch weiterhin befolgt. Da man es also nur mit erwachsenen, strebenden Menschen, mit sehr kleinen Klassen und ausgewähltem Material zu thun hatte, auch einen bestimmten Wissensstand als Vorbedingung stellte, so war eine Verkürzung der in Aussicht genommenen Lernzeit auf 4 Jahre möglich.

Im Herbst desselben Jahres wurde auch durch den Verein „Frauenbildungsreform“ ein Mädchengymnasium in Karlsruhe eröffnet, das Mädchen von 12 Jahren an aufnimmt und einen sechsjährigen Kursus hat. Ferner begründete der Allgemeine Deutsche Frauenverein Ostern 1894 Gymnasialkurse in Leipzig, und zwar nach dem gleichen Prinzip wie die Berliner Kurse.

Da eine Garantie für die spätere Zulassung der Frauen zum Studium in Deutschland noch nirgends geboten ist und alle diese Anstalten „auf Hoffnung“ errichtet worden sind, so ist ihre Schülerinnenzahl noch gering. Doch sind Anzeichen dafür vorhanden, daß die deutschen Regierungen der Sache des Frauenstudiums nicht mehr so abweisend gegenüber stehen wie früher. In Baden zeigten die Behörden bei Gründung des Karlsruher Mädchengymnasiums von vornherein großes Entgegenkommen. Vor kurzem hat die Anstalt seitens des großherzoglich badischen Unterrichtsministeriums die Zusicherung erhalten, daß bei weiterer regelmäßiger Entwicklung seinen Schülerinnen nach Absolvierung der ordnungsmäßigen Schulstudien die Zulassung zum Reife-Examen für die Universität gewährt werden solle. – Die Berliner Anstalt ist kürzlich dem Provinzialschulkollegium unterstellt worden, und auch in Sachsen scheint man der Sache Wohlwollen zu schenken. So wird vermutlich der günstige Ausfall einer ersten Prüfung den Bann endlich brechen.

Ein weiteres Zeichen des allmählichen Umschwunges, der sich in der öffentlichen Meinung und in den maßgebenden Kreisen vollzogen hat, ist, daß verschiedene Universitäten Frauen als außerordentliche Hörerinnen zugelassen haben. Freilich wird immer nur von Fall zu Fall entschieden und nach dem Belieben der einzelnen Docenten. Am weitesten ist bis jetzt die Universität Heidelberg in ihren Zugeständnissen den Frauen gegenüber gegangen. Die naturwissenschaftlich-mathematische Fakultät stellte beim Kultusministerium den förmlichen Antrag, es solle der Besuch der Vorlesungen und Uebungen innerhalb der Fakultät denjenigen Besucherinnen gestattet werden, welche die Fakultät nach Aeußerung ihrer sachverständigen ordentlichen Mitglieder für hinreichend vorbereitet erkläre. Die Zustimmung des vortragenden Lehrers sei jedoch dabei in jedem einzelnen Falle vorausgesetzt, auch die Erlaubnis als eine stets widerrufliche zu betrachten. Das Kultusministerium genehmigte den Antrag (November 1891). Dieselbe Universität verlieh auch am 16. Februar vorigen Jahres Fräulein Käthe Windscheid auf Grund einer Dissertation über „die englische Hirtendichtung von 1579–1625“ die philosophische Doktorwürde.

Neuerdings tritt auch Göttingen in den Vordergrund. In diesem Sommer sind dort nahezu zwanzig Hörerinnen zugelassen, die sich besonders dem Studinm der Mathematik, der Naturwissenschaften, doch auch dem der Nationalökonomie, der Germanistik und der neueren Philologie zugewendet haben. Fräulein Chisholm bestand dort vor kurzem ihre Doktorprüfung magna cum laude; sie hatte Mathematik, Physik und Astronomie studiert.

So stehen bis zur Stunde die Dinge in Deutschland. Daß sie sich nur noch eine kurze Spanne Zeit in dieser Schwebe halten lassen werden, ist klar; der Fortschritt auf allen Gebieten ist international, und das Zurückbleiben eines Kulturlandes hinter dem andern kann ohne Schädigung der eigenen Interessen immer nur Jahrzehnte dauern.

Um so notwendiger wird es sein, heute, wo die Dinge ihrem Wendepunkt nahen, die Aussichten und Fährlichkeiten des Frauenstudiums zu erwägen, nicht im Prinzip, sondern in individueller Anwendung. Was man im Prinzip gegen und für das Frauenstudinm sagen kann, ist alles unzähligemal hin und her gewendet, wie mir scheinen will, mit sehr geringem Erfolg. Ob die einzelnen Argumente Bedeutung haben oder nicht, kommt ganz und gar auf das Individuum an.

Es wird sich in erster Linie auch bei uns um den ärztlichen Beruf handeln. Philologische und andere Studien werden mancher Lehrerin zur Ausbildung willkommen sein; notwendig sind sie nach dem Stande der heutigen Prüfungsordnungen für sie nicht. Zum ärztlichen Beruf wird sich sicherlich nach Freigebung des Studinms eine Anzahl Mädchen oder Frauen drängen, denen der innere Beruf dazu abgeht, die nur ein unklarer, ehrgeiziger Drang, die Lust nach etwas Besonderem treibt. Solche Erscheinungen sind untrennbar von neuen Entwicklungsstadien. Sie verschwinden nach kurzer Zeit spurlos, weil die Betreffenden nicht ihre Rechnung finden. Kinderkrankheiten wie diese sollten der Sache selbst nicht zur Last gelegt werden.

Was nun die Frage betrifft: welche Frauen sind physisch und psychisch geeignet für den ärztlichen Beruf, so lassen wir sie durch eine Frau beantworten, der die reichsten Erfahrungen in Bezug auf diese Frage zu Gebote stehen. Fräulein Dr. Tiburtius sagt darüber: „Wenn jemand die allerdings sonderbar klingende Frage aufwerfen würde: Ist der Mann zum Beruf des Arztes physisch und psychisch geeignet, so würde die Antwort lauten: viele Männer sind es, aber nicht alle. Der Beruf des Arztes erfordert vollkommene Gesundheit, auch normale Sinnesfunktionen, im übrigen in körperlicher Beziehung mehr Ausdauer und Resistenzfähigkeit als hervorragende Muskelkraft. Das Gleiche gilt für die Frauen, die den Beruf ergreifen.

Wie jeder andere Mensch kann auch der Arzt, resp. die Aerztin, einmal krank werden und gezwungen sein, die Praxis eine Weile aufzugeben; es tritt dann der Kollege oder die Kollegin für sie ein. Doch die Schwankungen von einem Tag zum andern, die Migränen, die Nervenverstimmungen müssen der Frau fern sein oder doch unter Herrschaft gehalten werden; sie muß die Fähigkeit haben, auch unter gelegentlichem körperlichen Unbehagen Gleichmäßigkeit der Stimmung, gute Laune, Arbeitskraft und Arbeitslust, freundliches Eingehen auf die Klagen anderer zu bewahren.

Selbstverständlich muß Durchschnittsintelligenz vorhanden sein – etwas mehr ist natürlich vorteilhaft; ebenso die Fähigkeit [427] zu konsequenter geistiger Arbeit, Freude an theoretischem Denken und eine gewisse Anlage und Uebung zu kritisierender Ueberlegung und zur Selbstkritik; Beobachtungsgabe pflegt man den Frauen ja nicht abzustreiten.

Noch eins ist für die Aerztin erforderlich: der Beruf giebt reiche Befriedigung für solche, die von persönlichem Behagen abstrahieren können; sonst darf sie nicht allzuviel vom Leben verlangen, und manches, woran das Herz des jungen Mädchens hängt, muß aufgegeben werden.

Ich glaube nun doch, daß es eine ganze Anzahl von Frauen giebt, welche nach ihrer physischen und psychischen Konstitution für den ärztlichen Beruf geeignet sind; sollte es ja vorkommen, daß einige in Selbsttäuschung das Studium ergreifen, so wird wahrscheinlich der Schaden für die Allgemeinheit nicht groß sein. Wenn nicht während der Vorbereitungszeit, so doch während des Studiums dürfte der Irrtum ihnen selbst und andern klar werden.“ (Ethische Kultur. 2. Jahrgang Nr. 18.)

Für den Anfang, d. h. bis der Beruf der Aerztin allgemeine Anerkennung gefunden haben wird, müssen die dafür notwendigen geistigen und sittlichen Erfordernisse doppelt betont werden. Von den Pionierinnen auf diesem Gebiet wird mehr Intelligenz, mehr Aufopferungsfähigkeit, mehr Ausdauer und Widerstandsfähigkeit verlangt werden als von den späteren Vertreterinnen des Berufs. Es bedarf also einer sehr ernsten Selbstprüfung, ehe sich ein junges Mädchen dafür entscheidet. Aus diesem Grunde zumeist haben die Berliner und Leipziger Kurse sich dafür entschieden, keine Kinder aufzunehmen, da weder diese noch ihre Eltern wissen können, ob sie sich für den Beruf eignen. Erwähnt sei schließlich noch, daß es für ganz Unbemittelte nicht ratsam erscheint, den ärztlichem Beruf zu ergreifen. Wenn auch bereits einige wenige Stipendien für weibliche Studierende bestehen (der Allgemeine Deutsche Frauenverein hat sie zu vergeben), so können diese doch höchstens einen Zuschuß zum Leben gewähren. Die Studienzeit aber wird, die Vorbereitungszeit inbegriffen, neun bis zehn Jahre umfassen; ob sich danach gleich eine gesicherte Existenz findet, ist mindestens zweifelhaft.

Endlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß nur solche Frauen Medizin studieren sollten, die Energie und Selbständigkeit genug besitzen, um sich nachher einen Wirkungskreis zu schaffen, der sich immer nur langsam finden wird. Es muß keine glauben, daß man nur auf sie gewartet habe. Die junge, eben von der Universität kommende Aerztin wird sich ebenso allmählich das Vertrauen weiterer Kreise erst erringen müssen wie der junge Arzt.

Wenn alle diese Warnungen ausgesprochen werden mußten, um ungeeignete Kräfte von einem Beruf zurückzuschrecken, der seiner Wichtigkeit wegen unter den Frauenberufen mit in erster Linie steht, so darf anderseits wohl zum Schluß ausgesprochen werden, wie wünschenswert es ist, daß willensstarke, selbständige Frauen von hervorragenden Fähigkeiten sich dem ärztlichen Beruf widmen, der, wenn er auch viel Entsagung und Selbstverleugnung erfordert, doch auch wieder der echten Frau eine tiefe Befriedigung gewährt. Helene Lange.     



Blätter und Blüten.


Reiselitteratur. Pünktlich wie die Primeln im Lenz, so melden sich im beginnenden Sommer die Reiseführer, die sich der wanderlustigen Menschheit als Berater und Wegweiser auf ihren Sommerpfaden anbieten. Längst ist die Fülle derartiger Werke zu einem breiten Strome angeschwollen, und mehr und mehr haben sie auch Gegenden in ihr Bereich gezogen, die sonst seitab vom großen Touristenverkehr lagen. Im folgenden zählen wir einige neuere Erscheinungen aus bewährtem Verlage auf, wobei wir natürlich auf Vollständigkeit verzichten müssen.

Beginnen wir bei dem Nächstliegenden, dem schönen Thüringerland! Da bietet sich uns aus der Serie von „Meyers Reisebüchern“ (Leipzig, Bibliographisches Institut) Anding von Radefelds „Thüringen“, ein Büchlein, das unter Mitwirkung des „Thüringerwald-Vereins“ bearbeitet wurde und nun bereits in zwölfter Auflage vorliegt. Ihm schließt sich aus derselben Serie an „Dresden und die Sächsische Schweiz“, in dritter Auflage erschienen, zugleich Vereinsbuch des „Gebirgsvereins für die Sächsische Schweiz“, dessen Vorstand, Professor Dr. Oskar Lehmann in Dresden, die Bearbeitung übernommen hat. Weiterhin folgt der Wegweiser durch das Riesengebirge und die Grafschaft Glatz von D. Letzner, 9. Auflage; auch dieser hatte der Mitwirkung eines örtlichen Verbandes, des „Riesengebirgs-Vereins“, sich zu erfreuen, und so ist durch das Zusammenarbeiten vieler möglichste Gewähr für Vollständigkeit und Zuverlässigkeit geboten. Vorteilhaft zeichnen sich alle diese Meyerschen Reisebücher durch ihre schönen sauberen und guten Karten aus. – Zur Nachbarschaft des Thüringer Waldes gehört auch die „Hainleite“, an deren Fuß die fürstliche Residenzstadt Sondershausen liegt, und der Kyffhäuser, der alte Barbarossaberg, auf dem jetzt das große Kaiser Wilhelm-Denkmal der deutschen Kriegervereine errichtet wird. Diese Gegend findet man zweckmäßig geschildert in dem „Führer für Sondershausen, die Hainleite und Kyffhäuser-Rothenburg“, herausgegeben von Th. Jödicke und Alfred König (Sondershausen, Eupelsche Hofbuchdruckerei). Als eine Erinnerung von der Reise werden manchem die nach Aquarellen von C. O. Bartels illustrierten Heftchen „Die Sächsisch-Böhmische Schweiz“ und „Thüringerland“ (Berlin, H. J. Meidinger) willkommen sein. Auch eine „Rheinfahrt“ ist in derselben Art der Ausstattung erschienen. – Nun vom Deutschen Mittelgebirge in die Hochalpen! Hier sind von Neuigkeiten zu verzeichnen „Die Steiermark“ von Dr. Gsell Fels in der Serie von Bruckmanns illustrierten Reiseführern, mit vielen, vielleicht etwas zu vielen Abbildungen geschmückt; ferner Hans Blanks „Illustrierter Führer durch die Salzburger und Berchtesgadener Kalkalpen und ihre Thalgebiete“ (Wien, Hartleben). Die im vorigen Jahre eröffnete Schafbergbahn hat das 3. Heftchen der Sammlung „Oesterreichische Bergbahnen“ (Salzburg, Hermann Kerber) ins Leben gerufen. Auf knappem Raume, doch in gefälliger Darstellung erfährt man hier das Wissenswerte über die Bahn und ihre Umgebung. – Aus den Alpen entspringen so viele Gewässer, die eilenden Laufes der „schönen blauen Donau“ zuströmen. Folgen wir dem Inn hinab nach Passau und machen wir eine Fahrt auf der Donau, ganz hinab, bis sie ihre Fluten ins Schwarze Meer ergießt! Der Riegel des Eisernen Thores ist ja jetzt aufgeschlossen, behaglich und sicher gleitet der Dampfer aus der ungarischen hinein in die rumänische Tiefebene. Auf der ganzen Fahrt lassen wir uns Städte und Dörfer, Burgen und Schlösser, Berg und Thal erklären von dem bewährten Kenner des Donaustroms A. von Schweiger-Lerchenfeld. In zwei Bändchen (VIII und IX) der Sammlung „Unterwegs“ (Wien, Hartleben) hat er die „Donaufahrt“ ausführlich beschrieben. Das eine reicht bis Pest, das andere bis Sulina, schweift aber auch noch nach Konstantinopel hinab. Derselbe Verlag giebt auch einen illustrierten „Führer auf der Donau von Regensburg bis Sulina“ von Alex. Hecksch, mit 50 Abbildungen und 5 Stromkarten versehen, heraus. Dieser Führer, welcher den Reisenden über Wien und Pest gut orientiert, liegt uns, bearbeitet von Jos. Kahn, in 3. Auflage vor. Von den bewährten Reisehandbüchern der Schweiz ist Tschudi’s „Turist“ (Zürich, Art. Institut) soeben in 33. Auflage, die gleichfalls neubearbeitet ist, erschienen.

Einfluß des Wassers auf die Zähne. Will man der Zahnverderbnis, die in der jüngsten Zeit die weitesten Schichten des Volkes ergriffen hat, Einhalt gebieten, so muß man vor allem über deren Ursachen im klaren sein. Wie sorgfältige Untersuchungen ergeben haben, sind diese Ursachen sehr verschiedenartig. Zunächst kommt unsere Ernährungsweise in Betracht. Pflanzliche Nahrung, deren Ueberreste im Munde Säuren bilden, erweist sich als die Hauptfeindin der Zähne, und sie wird um so verderblicher, je weicher und zuckerreicher sie ist. Mit der Verdrängung des groben schwarzen Brotes durch das weiche Weißgebäck und durch Kuchengenuß gewinnt die Zahnfäulnis an Ausdehnung. Für die Ausbildung und Erhaltung eines guten Gebisses ist aber auch die Zusammensetzung der Nahrung, vor allem ihr Kalkgehalt, maßgebend. In überzeugender Weise hat dies jüngst Dr. Karl Röse in der „Zeitschrift für Schulgesundheitspflege“ nachgewiesen. Er untersuchte eine große Anzahl von Kindern in den Volksschulen Badens und Thüringens und fand, daß die Bewohner von Orten, welche über kalkreiches hartes Wasser verfügen, bedeutend bessere Zähne haben als die Bewohner von Gegenden, in welchen nur kalkarmes weiches Wasser vorkommt. In kalkarmen Orten giebt es doppelt so viel schlechte Zähne wie in kalkhaltigen; in den ersteren waren nach Röses Ermittelung 35% aller Zähne erkrankt, in den letzterem dagegen nur 16%. In den kalkarmen Landorten besaßen nur 1 bis 2% Kinder ein tadelloses Gebiß, während in kalkreichen dies noch bei 17 bis 21% der Schulkinder der Fall war.

Die Ursache dieser Erscheinung kann nur darin liegen, daß in Gegenden mit weichem Wasser der Boden überhaupt arm an Kalk ist. Infolgedessen sind auch die auf ihm gewachsenen Pflanzen verhältnismäßig kalkarm, und auch durch das Trinkwasser wird nur wenig Kalk dem Körper zugeführt. Daraus folgt aber, daß bei der geringen Kalkaufnahme des Körpers die Zähne schon in der Jugend weniger gut verkalkt sind und den schädlichen Einflüssen rascher erliegen. Den endgültigen Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme bietet die in Thüringen von Dr. Röse durchgeführte Bestimmung der Zahnfarbe. Es überwiegen nämlich in den kalkhaltigen Orten bei weitem die gut gebauten glänzend gelben, in den kalkarmen Orten dagegen die schlechteren weißgelben und blaugrauen Zähne.

Aus diesen Ermittlungen sind für die Bewohner kalkarmer Gegenden einige hygieinische Lebensregeln abzuleiten. Es empfiehlt sich, daß dieselben viel von denjenigen Nahrungsmitteln genießen, welche bekannterweise einen großen Kalkgehalt besitzen. Das sind aber unter den pflanzlichen Nahrungsmitteln die grünen Gemüse, Kohl, Kraut, Salat, Möhren, Zwiebeln etc., ferner alle Hülsenfrüchte wie Erbsen, Bohnen und Linsen, unter den tierischen Nahrungsmitteln, sind dagegen Milch und Eier besonders reich an Kalk. Dadurch wird jedoch nicht nur die Erhaltung der Zähne, sondern auch der Knochenbau gefördert. Man trifft ja gerade in kalkarmen Gegenden mit weichem Wasser vorwiegend eine Bevölkerung mit zartem Knochenbau, krummen Beinen und sonstigen Verkrüppelungen. Hygieinisch ist darum, für solche Gegenden eine reichliche Kalkdüngung der Gärten und Gemüseäcker sehr zu empfehlen; ja, es wird geraten, daß kalkarme Orte wenigstens das Brotmehl aus kalkreichen Gegenden beziehen sollten. *     

[428] Der Eingang zum Kerker. (Zu dem Bilde S. 409.) Grinimig genug sieht er drein, Firdus, der bosnische Kerkerwächter in der kleinen, weltfernen Stadt, wo die Türkenherrschaft noch ihre Spuren an Trachten und Bauwerken hinterlassen hat: stolze Rundbogenthore in zerbröckelndem dicken Gemäuer, zierliche Musterung der Fenstergitter, hinter denen Schuld, Haß und Freiheitsdrang lauern wie gefangene Raubtiere. Tabaksschmuggel, Blutrache, wilder Mord, kühne Dieberei, über das alles ist als Hüter Firdus der Schlanke gesetzt, dessen schmale Füße in den breiten Babuschi stecken, wie sein Arm, der nichts ist als stählerner Knochen, und eiserner Muskel, in den weiten Aermeln des osmanischen Kaftans. Waffenstarrend der Gurt: Handschar und Pistole, die lange Flinte mit dem gewundenen Kolben daneben. Unter dem roten Fes flattert das zottige Haar, und die offene Weste läßt den sehnigen Hals frei. Sinnend starren die Schwarzaugen unter der kurzen Stirn auf die sonnige Wand des Kerkerhofes; denn dort über ihm, hinter dem Gitter singt Mate Bucovich, der Schmuggler, den sie vor zwei Tagen erst gebunden hereingeschleppt haben. Er näselt und trillert sein Lied von Ruhm und Freiheit, so gut er’s ohne die geliebte Husla kann, die er zu streichen versteht wie einer! Um die vollen Lippen des Bosniaken spielt ein sonderbarer Zug: halb Verachtung, halb Triumph. Er denkt an jene mondlose Nacht auf dem grausigen Schwindelpfade des Prolegberges – drei Jahre ist’s her oder vier – da er noch kein Wächter des Gesetzes war, sondern selbst ein Schmuggler, wie er seine drei Verfolger niederstach und überwältigte – hinunter mit ihnen in den rauschenden Wald des Thales – hinüber er selbst in die freie Herzegowina, aus der er zurückkehrte, als der Krieg rief! Und jetzt ist Firdus gesetzt über die Mörder des weiten Landes, in dem es noch ein Verbergen und Untertauchen giebt für den Schuldigen, bis die Zeit kommt, da die alles nivellierende Kultur auch jenes Mischvolk von Mohammedanern und Christen, Juden und Zigeunern wird gebändigt haben. B. S.-S.     

Die vier ältesten kaiserlichen Prinzen bei ihren Lieblingen. (Zu dem Bilde S. 425.) Ein langgezogenes, verwittertes Gebäude ist es, welches sich in unmittelbarer Nähe des majestätischen Königsschlosses in der Breitenstraße zu Berlin erhebt: seine Mauern tragen die Spuren des Alters sichtbar an sich und ihre architektonischen Verzierungen weisen auf zwei bis drei Jahrhunderte des Bestehens zurück. Das ist der königliche Marstall, der, wenn der kaiserliche Hof in Berlin residiert, etwa dreihundert der edelsten Reit- und Wagenpferde in den musterhaft eingerichteten Stallungen beherbergt. Neben letzteren birgt der Marstall noch eine geräumige Reitbahn, in welcher die vier ältesten kaiserlichen Prinzen, so lange sie in Berlin weilen, fast täglich zu bestimmten Stunden ihren Reitunterricht erhalten.

Dann entwickelt sich da ein frohmütiges Leben und Treiben! Früh schon haben die kaiserlichen Eltern ihren Söhnen die Liebe zur Tierwelt eingeflößt, und neben unserem edelsten vierfüßigen Hausfreunde, dem Pferde, sind es besonders die Hunde, denen die Prinzen ihr lebhaftestes Interesse zuwenden. Während die Pferde gesattelt werden, werden die Teckels, Terryers und Jagdhunde geliebkost und durch manchen Leckerbissen erfreut. Einen solchen Augenblick hat der Zeichner unseres Bildes festgehalten. Im Vordergrunde kniet der Kronprinz Wilhelm neben seinem Lieblingshund. Neben dem Pony und diesem den Kopf streichelnd steht Prinz Eitel-Friedrich, hinter diesem, eins der noch ganz jungen Hündchen emporhaltend, Prinz Adalbert. Mehr im Hintergrunde sitzt Prinz August zu Pferde. Nach dieser Pause aber geht’s in die Bahn, wo unter der sorgsamen Leitung des militärischeu Gouverneurs der ältesten Prinzen, Majors von Falkenhayn, der planmäßige Unterricht fortgesetzt wird. Der Kronprinz reitet gewöhnlich einen größeren Pony, „Maiblume“, er führt mit demselben nicht nur alle Gangarten aus, sondern tummelt ihn auch mit großer Sicherheit ohne Zügel und Bügel und macht mit ihm bereits dieselben Voltigierkünste, welche die Instruktion der Kavallerie vorschreibt. Auch die drei nächsten Prinzen wissen die Zügel ihrer Ponies schon sicher zu halten und sind bestrebt, es dem ältesten Bruder gleich zu thun.

Am letzten Geburtstage des Kronprinzen überraschten die Prinzen ihre Eltern mit einer mannigfach zusammengesetzten Vorstellung, wobei sie zeigten, wie sie ihre Pferdchen in der Gewalt hatten und wie gehorsam dieselben ihre Kommandos befolgten. Der Kronprinz ritt alle Gangarten der hohen Schule durch und nahm verschiedene Hindernisse, deren Bewältigung ihm das besondere Lob seines Vaters einbrachte. Nachher kamen auch die Hunde der Prinzen zur Geltung, sie waren gut dressiert, hörten auf jeden Befehl und sprangen in hohen Sätzen durch mit Seidenpapier überspannte Reifen. – Häufig sucht der Kaiser seine Söhne in der Reitbahn auf, dann gelegentlich selbst das Kommando übernehmend, wobei es öfter „scharf“ zugeht. Groß aber ist die Freude, wenn die Kaiserin erscheint und die vier Söhne ihrer Mama in frohsinnig jugendlichem stürmischen Drang ihre neugelernten Künste zeigen wollen – weithin durch den Marstall schallen dann Lust und Jubel und erwecken in den entlegensten Ecken ein heiteres Echo, wie es das alte schwerfällige Gebäude, in welchem meist eine gewisse Feierlichkeit herrscht seit langem nicht gewohnt gewesen. P. L–g.     

Die Patenschaft der Lokomotiven. Seitdem es Lokomotiven giebt, hat man sich daran gewöhnt, sie gewissermaßen als eine Art Haustier zu betrachten – man gab ihnen Namen. Allgemein bekannt ist der Name des Siegers beim Lokomotivenwettstreit der Liverpool-Manchester-Eisenbahn, des 1829 von Stephenson vorgeführten „Rocket“: wir wissen, daß die beiden ersten auf deutschem Boden zwischen Nürnberg und Fürth in Dienst gestellten Lokomotiven die bezeichnenden Namen „Adler“ und „Pfeil“ hatten; wir treffen auf der Leipzig-Dresdener Bahn als erste den „Komet“, dann die Lokomotiven „Blitz“, „Windsbraut“, „Renner“, „Sturm“, „Elefant“, „Drache“, „Adler“, „Pfeil“ – lauter Namen, die lebhafte Anklänge an das verwandte Gebiet des Rennsports haben. Was man in der Natur als Sinnbild für Geschwindigkeit, für Kraft auftreiben konnte, mußte Pate stehen.

Diese Sitte fand in den ersten Jahrzehnten unseres Eisenbahnwesens allgemeine Verbreitung, bis die Umstände vielfach eine Aenderung erheischten. Seitdem sich die Zahl der Lokomotiven außerordentlich vermehrt hat – wir besitzen deren auf den normalspurigen Bahnen gegenwärtig rund 15 500 – und seitdem große Betriebe in einer Hand vereinigt wurden, mußte man aus praktischen Gründen und weil das Auffinden neuer Namen immer schwerer wurde, von der Namengebung vielfach absehen. Preußen mit seinen mehr als 10 000 Lokomotiven gab diesen einfach fortlaufende Nummern; ihm folgten die elsaß-lothringischen, die badischen und hessischen Bahnen, und nur noch Bayern, die Pfalz, Württemberg, Sachsen, Mecklenburg, Oldenburg und die meisten Privatbahnen haben, abgesehen von einigen Verwaltungen, die Namen und Zahlen zugleich gebrauchen, das alte System beibehalten. Man hat auf der Suche nach Namen die verschiedensten Gebiete abgestreift. Städte der alten und neuen Welt, Burgen und Schlösser, Seen und Flüsse, einzelne Berge und ganze Gebirge, Pässe, Moore, Erdteile, die Tierwelt, das Planetensystem, mußten ihre Namen herleihen, dann griff man auf die mythologischen Gestalten der Griechen, der Römer, der Germanen („Wotan“, „Baldur“, „Hödur“ sind mehrfach vertreten) zurück, Fürsten und Fürstinnen, Feldherren, Minister, Gelehrte, Erfinder, Baumeister, Komponisten, Dichter, Astronomen, Mathematiker, namentlich Berühmtheiten des engeren Vaterlandes standen Pate. Bayern hat seinen Hans Sachs, seinen Baader, Gabelsberger, Fugger, Stiglmayer, Schwanthaler, Orlando; Württemberg seinen Helfenstein, seine Weibertreu, Sachsen seine Reformatoren, seine Metalle, Edel- und Halbedelsteine. Mecklenburg hat seinem Fritz Reuter und dessen Geisteskindern, Onkel Bräsig, Fritz Hawermann, Mining, Lining, Hanne Nüte durch Lokomotiventaufe ein Denkmal gesetzt; die Ostpreußische Südbahn bat neben Stroußberg, ihrem Gründer, die bedeutendsten Feldherren und Schlachtorte von 1870/71 verewigt.

Die eigenartigsten Namen hat jedenfalls Oldenburg. Eine landschaftliche Blumenlese stellen z. B. dar die Namen: Geest, Moor, Marsch, Watt, Deich, Siel, Wald, Esch, Warf, Tief, Düne, Welle, Priele, Aue, Tiede, welche man einer Reihe kleiner Tenderlokomotiven gegeben hat; drollig aber klingen gewiß die dem Reiche der Gnomen entlehnten Namen einer Schar ähnlicher flinker Fahrzeuge, die dort teils Rangierdienste versehen müssen, teils zum Personenzugsdienst verwendet werden; sie heißen: Schnipp, Schnapp, Burr, Tick, Tack, Tuck, Puck, Muck, Schnuck, Schnurr, Hin, Her, Kurz, Klein, Holm, Flink, Flott, Frisch, Fix, Drock, Hill.

Das verständige Schwesterlein. (Zu unserer Kunstbeilage.) Verliebte Leute haben bekanntlich ihre eigene Vorsehung, denn wie sollten sie sonst zusammenkommen? Das Dümmste und Verkehrteste für diesen Zweck thun sie ja stets mit einer so redlichen Hingebung und vollkommenen Unschuld, daß es sogar die waltenden Schicksalsmächte erbarmt und diese ihnen gelegentlich einen Nothelfer stellen: einen Baumstrunk im Weg, ein im Garten vergessenes Tuch, ein offengelassenes Fenster und ähnliche Veranstaltungen, die das Anknüpfen und Aussprechen erleichtern. Hilft aber das alles nichts und treiben Zwei die Verbohrtheit so weit, daß sie die schönste Waldeinsamkeit (das Schwesterlein zählt nicht, das kann man Blumen suchen lassen), ja sogar die eigens vom Schicksal hingestellte Holzbank zu nichts Besserem benutzen, als mit halben Worten, Seufzern und vielsagenden Blicken diese kostbaren Abendstunden unter den schweigsamen Wipfeln hinzubringen, ohne das erlösende Wort zu finden – ei nun, da nimmt eben die Vorsehung lebendige Gestalt an und stößt mit den Händen des still herbeigeschlichenen Schwesterleins die beiden Zauderer so nachdrücklich zusammen, daß es wirklich keine Kunst mehr ist, das auszuführen, was einen Augenblick später die alten Buchen, der Abendsonnenschein und die verblüffte kleine Vorsehung von diesen beiden zu sehen bekommen! Bn.     


manicula Hierzu Kunstbeilage VII: „Das verständige Schwesterlein.“ Von E. Klimsch.

Inhalt: Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (11. Fortsetzung). S. 409. – Der Eingang zum Kerker. Bild. S. 409. – Die Gärtnersche Fettmilch. Ein neuer Fortschritt auf dem Gebiete der Kinderernährung. Von F. C. S. 414. – Pflege und Zähmung der Schildkröte. S. 415. – Großstadt-Blumen. Von Richard Nordhausen. S. 416. Mit Abbildungen S. 413. 416 und 417. – Napoleons Frühstück. Von Paul Holzbausen. S. 418. – Der Traum vom Glück. Gedicht von Johannes Proelß. S. 420. – Blauweiß. Novelle von Theodor Duimchen (Schluß). S. 420. – Der Traum vom Glück. Bild. S. 421. – Vor der Berufswahl. Warnungen und Ratschläge für unsere Großen: Die Frau und das Universitätsstudium. Von Helene Lange. S. 423. – Die vier ältesten kaiserlichen Prinzen bei ihren Lieblingen. Bild. S. 425. – Blätter und Blüten: Reiselitteratur. S. 427. – Einfluß des Wassers auf die Zähne. S. 427. – Der Eingang zum Kerker. S. 428. (Zu dem Bilde S. 409.) – Die vier ältesten kaiserlichen Prinzen bei ihren Lieblingen. S. 428. (Zu dem Bilde S. 425.) – Die Patenschaft der Lokomotiven. S. 428. – Das verständige Schwesterlein. S. 428. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 1 Mark 75 Pf. bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs bei der Post aufgegeben werden, sich um 10 Pfennig erhöht.

Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefert auf Verlangen gegen Einsendung von 30 Pfennig in Briefmarken direkt franko die Verlagshandlung:
Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.