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Die Gartenlaube (1894)/Heft 26

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[429]

Nr. 26.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Martinsklause.
Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(25. Fortsetzung.)


Henning sprang seiner Schwester in den Weg, und schmähend umringten sie die Brüder. „Wohin willst Du?“ Wortlos stand sie, und schreiend wiederholte Henning seine Frage. „Wohin willst Du?“

„Meine Heimat suchen!“ erwiderte Recka mit dumpfer Stimme. „Ich find’ sie wohl bei meiner Mutter!“

„Oder näher noch! Beim Fischer! Gelt, es möcht’ Dir taugen bei ihm? Weg von der Thür ... Du bleibst!“

„So gieb ihr den Weg doch frei!“ klang Eilberts Stimme aus dem Geschrei der Brüder. „Lieber sitzt sie mit am Tisch des Fischers als mit uns vor der gleichen Schüssel. Gieb ihr den Weg doch frei ... er wird ja lachen, wenn sie kommt.“

„Ich sag’, sie bleibt!“ schrie Henning und schleuderte die Schwester von der Thür zurück. „Sie bleibt, so lange des Fischers Haus noch steht. Oder soll sie es halten mit ihm ... wider uns?“

Taumelnd unter dem Stoß, welchen Henning ihr versetzte, war Recka neben dem Tisch auf einen Sessel gefallen. Sie versuchte nicht, sich wieder aufzurichten, zitternd an allen Gliedern saß sie und hielt das Gesicht mit den Händen bedeckt. Henning trat zu ihr und schüttelte sie am Arm. Doch Herr Waze, der das Haupt bedeckt und einen Mantel umgeworfen hatte, schob ihn zurück. „Jetzt macht ein End’ mit dem Geschrei! Kehr’ ich heim zur Nacht, so will ich raiten mit ihr. Jetzt aber haben wir Besseres zu schaffen! Fort mit Euch! Die Wehr’ an jeden Gurt, den Sattel auf jedes Roß! Wir reiten!“

„Wohin, Vater, wohin?“ schrien die Brüder durcheinander.

„Das fragt Ihr noch?“ Herr Waze lachte. Hell und scharf klang seine Stimme, sein ganzes Wesen war verwandelt, und die Faust, die er hob, schien wie aus Erz gegossen. „Den Vogel fang’ ich wieder ein, dem Euere Schwester den Käfig aufgethan! Jetzt weiß ich: hätt’ ihm nicht die Dirn’ geholfen ... er hätt’ wohl lang’ gewartet auf einen Heiligen! Jetzt wird er laufen wollen und Klag’ tragen zum Herzog oder zum Reich. Ich will ihm den Weg verlegen ... und wie der Würfel fallt, so mag er fallen. Jetzt weiß ich: ich hab’ nur Menschen wider mich, ich bin auf meine gute Kraft gestellt, und so lang’ ich noch eine Faust hab’, schlag’ ich zu! Der Salzburger soll lachen zu der Arbeit, die ich mach’. Was steht Ihr noch all’weil’? Fort mit Euch! Fort!“

Während die Brüder lärmend in ihre Stuben eilten, hob Herr Waze den Jagdspeer von der Erde, stieß die alte Magd mit einem Fußtritt aus seinem Weg und blieb vor Recka stehen. „Dirn’! Schier mein’ ich, ich müßt’ Dir noch danken für das Wort, das Du heut’ geredet hast. Es hat mir den Nebel aus dem Hirn geblasen und hat mir die Knochen zu Eisen gemacht!“ Er puffte mit der Faust an Reckas Schulter, und lachend schritt er in die Halle hinaus.

Ueber dem Burghof lag schon der weiße Morgen. Eintönig rauschten in aller Runde die Bäche, kein Lufthauch rührte sich, und wolkenlos dehnte sich der Himmel über die mit silberigem Schnee behangenen Berge, deren höchste Zinnen im rosigen Glanz erschimmerten. Immer tiefer glitt auf den Bergspitzen der rote Glanz, und wachsende Helle goß sich über den Himmel aus; zuweilen


Emanuel Lasker und Wilhelm Steinitz.
Adolf Anderssen.     Paul Morphy. Joh. Herm. Zukertort.     Louis Paulsen.
Meister des Schachspiels.

[430] drangen dumpfe Geräusche von den fernen Höhen nieder, und in dem weißen Schnee der steilen Gehänge erschienen dunkle Striche: die Furchen fallender Blöcke, die Gassen der Lawinen ...

Um diese Morgenstunde saß der alte Gobl neben dem Dächlein, das er über den Trümmern seines Hauses errichtet hatte. Schwer atmend strich er mit der Hand über die Stirn, streifte mit irrem Blick die kleine Hütte und lachte. Im ersten Grau des Tages hatte er den Gast erkannt, den die Nacht ihm zugeführt.

Unter dem Dächlein raschelte das Heu, und zitternd klang die Stimme des Knaben. „Gobl-Aehni! Gobl-Aehni!“ Zornig schüttelte der Greis den Kopf und drückte die Fäuste über die Ohren.

Eine Weile war Stille, dann wieder klang in der Hütte der wimmernde Ruf. „Gobl-Aehni! ... Gobl-Aehni!“ und erstickte in leisem Schluchzen. Der Alte sprang auf, als möchte er dem Laut dieser Stimme entfliehen. Doch jeder Schritt war ihm eine Mühsal, in allen Gliedern lag ihm die Kälte der Nacht. Mitten in der Hofreut blieb er stehen, und ob er wollte oder nicht, seine Augen suchten die Hütte. „Es muß ihn ja der Hunger plagen,“ murmelte er, „mir krachen ja selber alle Rippen!“ Ein Zittern befiel die Hände des Alten. Durch die Pfützen watend, eilte er zum Apfelbaum und suchte im Schlamm nach den gefallenen Früchten, nur wenige fand er, und die waren faul. Er spähte in das halb entblätterte Gezweig. Drei Aepfel sah er noch hängen und schüttelte an dem Baum, bis auch der letzte fiel. Er hob sie von der Erde und säuberte sie an seiner Kotze. Zwei Aepfel warf er unter das Dächlein, den dritten behielt er ünd hob ihn an die Lippen, doch er ließ ihn wieder sinken, und nach kurzem Zögern warf er ihn den andern nach. „So nimm’ halt ... mehr hab’ ich nimmer!“ Seufzend ließ er sich auf die Trümmer nieder und nahm den weißen Kopf zwischen die Fäuste.




31.

Der rote Frühglanz fiel auf die Felsgehänge des Untersberges, als Bruder Schweiker im kurzen Arbeitskittel aus der Thür der Klause trat. Eberwein lag noch in tiefem Schlaf – und daß auch Bruder Wampo noch schlummerte, konnte man hören. Nur Waldram wachte; aus dem Kirchlein quoll der eintönige Klang seiner betenden Stimme. Schweiker stand und blickte mit großen Augen umher: die weite Rodung war ein grauer Sumpf, und bis zum Fuß der Berggehänge reichte der Schnee hernieder. „Ja schau’ nur einer! Ist denn das auch noch eine Gegend!“ stotterte er. „Vor zwei Tag’ noch Sommer, und heut’ springt uns der Winter in die Fenster! Jetzt heißt’s aber schaffen und die Pfähl’ schlagen zum Hag!“ Er suchte die Axt und fand sie mit Rost bedeckt auf der Stelle liegen, an welcher er sie am verwichenen Mittag aus der Hand geworfen. „Freilich, von denen zwei da drinnen hat sie keiner aufgehoben!“ brummte er. „Unheil stiften der ein’ und fressen der ander’ ... sonst können sie alle zwei nichts!“ Er schulterte die Axt und wollte zum Waldsaum schreiten.

Da hörte er ein leises Stimmlein seinen Namen rufen, wie jäher Schreck fuhr es ihm in alle Glieder, und krebsrot färbte sich sein Gesicht. Ein paar Sprünge machte er, als wäre die Hölle hinter ihm, dann blieb er stehen und blickte langsam über die Schulter. Bei der Klause stand die Hirtin, das weiße Tüchlein um den Kopf, am Arm den schwer beladenen Weidenkorb. Mit glücklichem verlegenen Lächeln blickte sie zu Schweiker auf, welcher zögernd näherkam. Nicht die Stimme, die ihn gerufen, und nicht die fromme Gabe, sondern das Staunen zog ihn näher. Wie eine graue Raupe in den bunten Schmetterling, so hatte Hinzula sich verwandelt. Ein brennend rotes Röcklein floß um ihren schlanken Leib, und unter dem grün gefärbten Mieder aus Lammfell quoll das säuberlich gebleichte Hanftuchkittelchen hervor, dessen faltige Aermel mit grellfarbiger Wolle gesäumt waren. Sie stellte den Korb zu Boden und lüftete den Deckel.

„Schau’ her, was ich gebracht hab’!“

Er sah den Korb nicht, seine Augen hingen an der Hirtin. Eine Weile schwieg sie, als aber der Bruder die Sprache nicht finden wollte, lispelte sie: „Was sagst: wie die Berg’ ausschauen! Heut’ in der Nacht hat’s Rot über Rot gegeben auf den Alben. Der Vater und die Mutter sind lange vor Tag schon aufgestiegen, wohl wohl, und wie ich so allein gelegen bin, da ist mir die Zeit gar lang geworden ... und schau’, so hab’ ich halt ein lützel ’was ins Körbl gethan und bin heruntergelaufen. Du! Sell droben bei uns, da liegt der Schnee aber schiech!“ Sie hob ein wenig das Röcklein und lugte auf ihre Schuhe und Strümpfe, an denen der Schnee in halbzerflossenen Klumpen hing; auch der Saum ihres Kleides war schwer von Nässe.

„Ja, Kindl, wie hast denn einen solchen Weg thun können!“ stotterte Schweiker in Vorwurf und Sorge. „Ja sag’ nur, bist denn schon wieder völlig gesundet?“

Sie sah ihn mit glänzenden Augen an, griff nach der verbundenen Stirn und lachte. „Ein lützel Brummen thut mir das Köpfl schon noch! Aber das wird schon aufhören! Gelt?“

Er streckte die Hand und zog sie wieder zurück, schweigend stand er, mit finsterem Blick, und da er die Lippen aufeinanderdrückte, als müßte er sich gewaltsam zum Schweigen zwingen, blies ihm der Atem laut durch die Nase. Und immer größer wurden seine Augen und rollten wie zwei Räder im Lauf. Verwundert blickte Hinzula zu ihm auf.

„Ja was hast denn? Warum thust denn so zornig?“ stammelte sie und griff nach dem Korb. „So schau’ doch her . . . und nimm . . .“

„Leg’ das Zeug’ nur vor die Thür hin . . . da wird’s der ander’ schon finden!“ platzte Schweiker los mit einer Stimme, so heiser und krächzend, als wäre ihm eine Fliege in den Hals geraten. „Ich will nichts haben davon! Kein Bröckl rühr’ ich an! Ueberhaupt ... es muß ein End’ haben! Ein End’! So oder so! Und schaffen muß ich auch! Wohl wohl! Ich kann nicht daherstehen und plauschen!“ Er warf die Axt über die Schulter, drehte dem Mädchen den Rücken und schritt zum Waldsaum.

Zitternd stand die Hirtin, mit kreideblassem Gesicht, und blickte ihm nach, ihre Lippen zuckten und Thränen kugelten ihr über die Wangen. Als sie sah, daß Schweiker die Arbeit begann, nahm sie den Korb auf, schüttete seinen Inhalt vor die Thür der Klause und schlich in entgegengesetzter Richtung den Bäumen zu.

Während sie schluchzend den Wald betrat, klang in der Klause Bruder Wampos jammernde Stimme. Schweiker horchte auf und lief herbei. „Ja was ist denn schon wieder?“ brummte er und sprang über den kleinen Berg von Butter, Brot und Käse hinweg, den Hinzula vor der Schwelle abgeladen. Wampos Klagetöne kamen aus der Vorratskammer, als Schweiker auf die Schwelle trat, sah er den Bruder in seiner von Honig glitzernden Kutte auf der Erde knien und verzweifelt die Hände ringen.

„Schau’ nur, ja schau’ nur das Unglück an . . . das Aergst’, was noch geschehen hätt’ können!“

„Aber so red’ doch, was ist denn los?“

„Der ganze Meßwein ist ausgeronnen in der Nacht!“

Schweiler erschrak und wurde rot – er hatte in der Eile, als er den Trank für Eberwein geholt, den Hahn zu schließen vergessen. Mit den Fingern klopfte er das Fäßlein ab, von oben bis unten ... es hatte hohlen Klang. Und doch begriff er die Sache nicht, auf dem festgestampften Lehmgrnnd konnte der Wein nicht in die Erde sickern, die ganze Kammer hätte überschwemmt sein müssen, aber auf dem Boden stand nur eine kleine Lache. „Es muß doch noch ’was im Fäßl sein! Das ist doch meiner Lebtag’ nicht der ganze Wein! Die paar Kännlein für die Meß’ all’ Tag’ . . . sonst hat ja doch keiner davon genommen! Es müßt’ doch das Fäßl über die Hälft’ noch voll sein!“

Jetzt wurde Bruder Wampo rot bis über die Ohren. Aber statt seine heimlichen Sünden zu bekennen, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte: „Ja sag’ nur, Bruder, sag’, was thun wir denn jetzt? Kein Tröpfl Wein mehr! Kein Tröpfl! Jetzt dürfen wir gleich zusperren und Amen sagen, jetzt hat alles ein End’ . . . oder die Welt geht unter! So eine Gegend, wie das ist!“ Unter Senfzen und Schelten begann er alles Mißgeschick und Unheil aufzuzählen, welches ihm und den Brüdern von der ersten Stunde an im Gadem widerfahren. „Und gestern,“ schloß er, „was mir gestern schon wieder geschehen ist, das weißt Du noch gar nicht! Ich sag’ Dir, die Haar’ möchten einem zu Berg stehen!“

Schweiker schielte nach Wampos Glatze.

Seufzend strich der Bruder mit der Hand über einen der schimmernden Honigflecken auf seiner Brust und roch an den Fingern. „So ein Honig, wie das gewesen wär’ ... süß wie [431] die Seligkeit und duftig wie ein Blümelgarten! Da, riech’ nur!“ Er hob die Hand. In sprudelnden Worten erzählte er von dem wilden Immenstock, den er im Wald gefunden, und von dem Wege, den er am verwichenen Abend gethan, um den Honig auszuheben.

„Ich hab’ den Baum leicht wieder gefunden. So ’was merk’ ich mir schon. Aber wie ich dort steh’ vor dem Baum, bin ich völlig erschrocken, denn auf und auf ist die ganze Rind’ verkratzt gewesen, als wär’ einer mit Nägelschuh’ ’dran auf und nieder gestiegen. Um aller Heiligen willen, hat’s geschrieen in mir, es wird mir doch kein anderer über den Immstock gekommen sein! Aber wie ich hinaufschau’, seh’ ich die Immen klumpenweis’ am verstopften Einflug hängen. Da hat noch keiner hingerührt, hab’ ich mir gedacht und hab’ lachen müssen vor lauter Freud’. Jetzt freilich ...“ Bruder Wampo schnitt eine jammernde Grimasse und nahm sein Köpflein in beide Hände, als säß’ es ihm nach dem überstandenen Schreck noch immer nicht richtig auf den Schultern, „jetzt freilich weiß ich, wer meinen Immstock heimgesucht hat!“

„Wer denn?“

„Wirst schon sehen, wart’ nur ein’ Weil’!“ Bruder Wampo schöpfte Atem und blies die Backen auf. „Also, daß ich erzähl’ ... ich hab’ gleich an einem Stecken den Kienspan angezunden und hab’ die Immen abgebrannt vom Loch. Nachher bin ich hinaufgestiegen ... es hat ein lützel Beißen gekostet! Wie ich droben gesessen bin auf dem Ast, hab’ ich mich schön langsam ausgeschnauft und hab’ mir aus Reisern ein Dachl über dem Kopf gemacht, weil mir der Regen über den Buckel geronnen ist, als thät’ man aus dem Schaffl gießen. Nachher hab’ ich den Holztiegel vom Gurt genommen und hab’ angefangen.“ Er schnaufte und fuhr mit der Zunge über die Finger. „Ich sag’ Dir, Bruder, der ganze Baum ist hohl gewesen, kein Sumserlein hat sich mehr im Stock gerührt, und wie ich hineingreif’, spür’ ich, daß eine Waben neben der andern hängt, dick und fett. Einen Schnalzer hab’ ich mit der Zung’ gethan vor lichter Freud’ und hab’ geschafft, daß ich schwitzen hab’ müssen. Eine Waben um die ander’ hab’ ich gehoben und hab’ den Honig ausgedruckt, daß der Tiegel bald übergelaufen wär’! Aber wie ich in der besten Arbeit bin ... Bruder, da hör’ ich auf einmal unter mir ein Tappen und Kraspeln. Wer kommt denn da? denk’ ich und schaue hinunter ... aber ich hab’ gemeint, es fallt mir vor lauter Schreck die Zung’ in den Hals!“

„Ja warum denn?“

„Unter mir, denk’, Bruder, unter mir steht ein Endstrumm Bär, ein Kerl wie ein Ochs, und schaut so schief herauf zu mir, als möcht’ er sagen: gehst herunter oder nicht!“

„Ich mein’ aber schier, Du bist droben geblieben?“ fiel Schweiker ein, halb in Sorge und halb erheitert, er sah ja den Bruder heil und gerettet vor sich auf der Erde sitzen.

„Droben geblieben? Wohl wohl, aber gar nicht lang’!“ Immer flinker sprudelte Wampos Rede, jede Empfindung, die er bei dem Abenteuer durchlebt, malte sich in seinem beweglichen Gesicht, und seine Hände arbeiteten so hastig, daß er zwanzig Finger zu haben schien. „Ich hab’ Dir Augen gemacht, Augen, Bruder ... und all’weil’ hab’ ich hinuntergeschaut auf das wüste Vieh wie die arme Seel’ auf den Teufel, der mit dem Hackl kommt. Ich weiß nicht, hat’s einen Schnaufer lang gedauert oder eine Ewigkeit ... aber nicht weg ist er gegangen und einen Brummer nach dem andern hat er gethan. Ausgeschaut hat er, ausgeschaut! Das ganze Fell verzaust, als hätt’ man ihm die Haar’ schüppelweis’ aus dem Pelz gerissen. Den ganzen Grind hat er voll blutiger Schrammen gehabt, und um alle vier Tatzen herum ist er schäbig gewesen, als hätt’ er schon einmal merken müssen, was Schlingen sind! Und so steht er und brummt herauf zu mir ... und auf einmal hebt er sich in die Höh’ und packt den Baum an!“

„O Du gütiger Himmel!“ stotterte Schweiker. „Was hast Du denn da gethan?“

Bruder Wampo mußte schlucken, um die Sprache wieder zu finden; der Atem war ihm ausgegangen. „Was ich gethan hab’? Das weiß ich heut’ selber nimmer! Ich weiß nur noch, es hat jählings unter mir einen Krach gethan, der Ast ist wurzweg vom Baum gebrochen, und mit mir ist’s hinuntergegangen wie ein Sauser. Aufgefallen bin ich ... Bruder! ... das hat einen Plumpser gemacht, als hätt’ der Bidem ein Trumm Stein vom Berg geworfen! Aber hinfallen und aufspringen, das ist eins gewesen. Alle Heiligen und Gottes Gerechtigkeit hab’ ich angerufen, hab’ meinen Honigtiegel festgehalten, als wär’ meine Seel’ drin, und hab’ ein Laufen angefangen, ein Laufen, Bruder, daß nur meine Füß’ so geflogen sind! Und wie ich lauf’ und lauf’, hör’ ich auf einmal Küh’ brüllen im Wald und hör’ Leut’ schreien – ich schau’ mich um, und da lauft der Bär hinter mir nach, und wo ich ein Tröpfl Honig verschüttet hab’, macht er mit der Zung’ einen Schlecker über den Boden ... ich will wieder rennen, aber meine Kräft’ haben ausgelassen, und auf die letzt’ bin ich dagestanden wie angewachsen und hab’ geschnackelt an Händen und Füßen ...“

„Ja warum hast denn nicht um Hilf’ geschrieen, wenn doch Leut’ in der Näh’ gewesen sind?“

„Hilf’ schreien! Hilf’ schreien! So ’was!“ schalt Bruder Wampo in hellem Aerger. „Schrei’ Du um Hilf’, wenn Dir kein Schnaufer mehr aus dem Hals will! Und eh’ ich mich recht besonnen hab’, ist ja der Bär schon dagewesen ...“

Erschrocken schlug Schweiker die Hände zusammen. „Er hat Dich doch um Gotteswillen nicht angepackt?“

„Angepackt? Ja, schön! Bei den Füßen hat er zu schlecken angefangen und hat an mir heraufgeschleckt, bis er zum Tiegel gekommen ist! Ein ganzes Loch hat er mir aus der Kutt’ gefressen ... da schau’ her!“

Schweiker brach in helles Gelächter aus, während Bruder Wampo den fransig ausgeknusperten Saum der Kutte hob.

„Jetzt ist mir die Sach’ aber doch zu dick geworden! Was ich geschrieen und gebetet hab’, weiß ich nimmer ... aber ich hab’ den Honigtiegel gehoben und hab’ ihn dem wüsten Vieh auf den Schädel gehauen, daß es nur so gescheppert hat! Mit all zwei Tatzen hat der Bär den Hafen gepackt und ist hineingefahren mit der Schnauz’ ... ich aber hab’ wieder zu laufen angefangen, bin halbtot zur Klaus’ gekommen und hab’ in meiner Angst vor die Thür hingeworfen, was mir in die Händ’ geraten ist! Der Schnaufer ist mir ausgegangen ... wie ein Stückl Holz bin ich hingefallen übers Bett und hab’ keinen Rührer mehr gethan.“

Schweiker lachte, daß ihm die Thränen kamen, doch plötzlich verstummte er. Eberwein stand auf der Schwelle. Bruder Wampos jammernde Stimme hatte ihn geweckt, und durch die offenen Thüren hatte er jedes Wort vernommen, aber das wunderliche Abenteuer konnte ihn nicht lächeln machen. Wie mit scharfem Griffel war ihm die stumme Sprache schmerzvoller Bitternis in das Antlitz geschrieben, seine Züge waren müde und bleich, und dunkle Ringe lagen um seine brennenden Augen.

„Guter Herr!“ stammelte Schweiker bei Eberweins Anblick in Schreck und Sorge, während Bruder Wampo sich scheu erhob und mit dem Aermel die Honigflecken auf seiner Brust zu verwischen suchte. Schweiker streckte die Hände nach seinem Herrn, doch Eberwein wies ihn von sich. „Wo ist der Knabe?“

„Der Bub’? Ich weiß nicht,“ stotterte Wampo.

Schweiker faßte den Bruder am Arm.

„Aber Du hast mir doch in der Nacht gesagt, er wär’ beim Pater in der Zell’!“

„Ich? In der Nacht? Sterben will ich ... aber davon weiß ich kein Wörtl! Seit dem Abend hab’ ich den Buben mit keinem Aug’ mehr gesehen.“

Sie eilten in Waldrams Zelle und fanden sie leer; auf der Erde lag die Geißel, blutfleckig an Griff und Strängen. Mit bebender Stimme rief Eberwein den Namen des Knaben. Während sie nach dem Kirchlein eilten, fiel draußen vor der Klause eine schwere Masse mit dumpfem Klatsch zu Boden. Der nasse Schnee, der auf dem steilen Dach gelegen, war in Bewegung geraten und hatte im Niederfallen die Gabe der Hirtin verschüttet ...

*               *
*

Goldleuchtend, in jedem hängenden Tropfen hellen Schimmer weckend, lag die Morgensonne über allen Wäldern. Das welke Laub hatte flammende Farben, als wäre es in Brand geraten, und von den weißen Bergen ging ein Glanz aus, der die Augen blendete. Strahlend stand die Sonne am reinen Himmel, ihr Licht verstreuend in verschwenderischer Fülle, sogar die Schatten, welche sie warf, erschienen nicht wie Dunkel, sondern wie bläulicher Rauch, hinter welchem Feuer leuchtete.

Auf der Höhe des Falkensteines füllte wirrer Lärm den Burghof. Die gewappneten Knechte beluden sich mit den Pechkränzen [432] und Reisigbündeln, die Mägde trugen die Metkannen um, und Herr Waze stand mit fünf Söhnen am Fuß der Freitreppe, der Pferde harrend, die man aus den Ställen führte. Einer der Knechte ließ am Thor die Brücke nieder, und als sie gefallen war, erhob sich Ulla, die alte Magd, aus einem Winkel, in dem sie auf das Fallen der Brücke gelauert hatte. Lautlos huschte sie zum Thor hinaus, und niemand achtete ihres Weges.

Schon wollte Herr Waze den Fuß in den Bügel setzen, da dröhnten schwere Schläge an der Mauerpforte, welche gegen die Bergseite führte. Man lief und öffnete. Bis über die Hüften mit Schnee behangen, trat Rimiger in den Burghof. Dunkle Zornröte schlug über Wazes Stirn, als er den Sohn erblickte, und böser Willkomm schien ihm auf der Zunge zu liegen. Doch Rimiger schnitt ihm die Rede ab mit dem keuchenden Ruf: „Vater, Dein Wort und Verbot ist Wind geworden im Gadem! Auf Deinem Bannberg hausen Leut’ . . .“ er lachte heiser, „und kochen sich das Mus am Feuer!“

„Laß sie kochen!“ schrie Henning. „Wir haben andere Sorg’!“

Herr Waze hatte das Roß von sich geschoben und war auf Rimiger zugetreten. „Leut’ auf meinem Bannberg?“

„Hinter dem Eismann droben, auf der öden Albhütt’! Und rat’ nur: wer! Der Richtmann mit seinem Buben und Sigenots Schwester!“

„Das Rötli?“ klang Eilberts Stimme aus dem Lärm der anderen. Der schrille Hall dieses Namens flog in die Herrenstube und weckte die Tochter Wazes aus ihrem starren Brüten. Langsam hob sie das bleiche Gesicht, atmete tief und lauschte. Sie hörte das wirre Geschrei, zornige Worte ihres Vaters, dann in lautloser Stille die Stimme Rimigers: „Schon wie wir über die erste Schneid’ gestiegen sind, noch hell am gestrigen Tag’, haben wir Schnee gehabt. Da ist kein Weg mehr über die Wänd’ gewesen. Otloh wär’ am liebsten heimgekehrt, aber ich hab’ ihn gehalten, denn ich hab’ mir gute Jagd versprochen vom Morgen. Das Fahlwild, das hinter dem Eismann steht, ist mir im Sinn gelegen. So sind wir über die Alben aus und hinuntergestiegen gegen den Windacher See. Noch eh’ wir im Seethal ans End’ gekommen sind, ist der Abend eingefallen. Otloh wär’ gern in der Albhütt’ am See geblieben, aber ich hab’ gemeint, wir sollten noch aufsteigen bis zur Oedhütt’ und droben nächten. Die Hütt’ liegt ja kaum einen Pfeilschuß von dem Wechsel, über den das Fahlwild niederzieht, wenn Schnee gefallen. Da hätten wir gute Rast gehabt und am Morgen leichten Weg. Also gut, wir steigen weiter und kommen in schneeheller Nacht zur Hütt’. Schon von weitem ist mir immer gewesen, als käm’ aus der Hütt’ ein Lichtschein. Und richtig, wie ich näher komm’, geht vom Dach der Rauch auf, und ich hör’ im Feuer das Holz krachen! Wilddieb’! Das ist das erst’ gewesen, was ich denken hab’ müssen! Aber wie ich näher schleich’, hör’ ich aus der verschlossenen Hütt’ die Stimm’ einer Dirn’. Und die Stimm’ kenn’ ich!“ Hennings Lachen unterbrach die fliegenden Worte Rimigers. „Und gleich darauf hör’ ich eine zweite Stimm’, den Richtmann! Und eine dritte noch: seinen Buben! Und rat’, was ich gehört hab’ aus ihrem Reden! Vater! Sie haben Dir einen Knecht erschlagen, weil er die Fischerdirn’ hat fassen wollen . . .“

Die Stimme Rimigers ging wieder unter in Geschrei. Starr lauschte Recka. Abgerissene Worte drangen an ihr Ohr, sie hörte, wie Rimiger von seinem Heimweg berichtete, und hörte ihn sagen, daß Otloh in sicherem Versteck zurückgeblieben, um die Hütte im Auge zu halten.

„Rühr’ Dich, Vater, und hinauf!“ schrie Henning. „Hinauf! Oder willst Du zum Gespött werden im Gadem und stillsitzen, wenn Dir das Bauernpack Dein Fahlwild scheucht? Der Fischer hütet seinen Hag . . . die Kutten hüten ihre Klaus’ ... die bleiben Dir all’weil’ noch! Hinauf, Vater, hinauf!“

Aus dem Lärm, der diesen Worten folgte, hob sich schrill die Stimme Wazes. „Vier Knecht’ mit uns! Die Hetzhund’ an die Riemen! Und nehmt die Knöchel mit, Ihr Buben: als Einsatz geb’ ich Euch die Dirn’!“

Tumult und Gelächter, Pferdegetrappel und das Gebell der Hunde füllte den Burghof. Im öden Herrensaal stand Recka, zitternd an allen Gliedern. Ein mattes Lächeln ging über ihre bleichen Lippen, ihre Gestalt streckte sich und die Finger schlossen sich zu Fäusten. „Rötli! Auf Tod und Leben . . . ich halt’ Dir meine Treu’!“

Fliegenden Schrittes eilte sie in ihre Kammer, und während sie sich rüstete wie zu Ritt und Jagd, ging ein Schreien und Rennen durch alle Räume des Hauses. die Knechte liefen nach den Schneereifen und Grießbeilen. Als Recka den Wildfänger um ihre Hüfte gürtete, wurde an ihrer Kammer die Thüre aufgerissen. Henning erschien auf der Schwelle, maß die Schwester mit spöttischem Blick und lachte. Ohne ein Wort zu sprechen, trat er wieder zurück, warf die Thüre zu – und draußen klirrte der Riegel.

Recka war gefangen. Sie lächelte nur – und koppelte den Köcher an ihren Gürtel. An jedem Pfeil, den sie im Köcher verwahrte, prüfte sie die Fiederung, den Schaft und die Spitze, den Eibenbogen nahm sie auf den Rücken und faßte den Jagdspeer. Nun stand sie und lauschte. Im Burghof dämpfte sich der Lärm, und als der Hufschlag der Pferde und das Gekläff der Meute gegen die Bergseite hin verklang, eilte Recka zum Fenster und schwang sich auf die Brüstung. Sie sah nicht, daß von dem wankenden Tischlein der kleine Schrein mit dem Geschmeid ihrer Mutter zu Boden stürzte ... sie sprang.

Auf den Dielen zersplitterte der Schrein, die goldenen Schaumünzen, die silbernen Ketten, die Ringe und Spangen fielen klirrend durcheinander, und aus dem schimmernden Geschmeide hüpfte der halbe Beinreif der Salmued heraus und kollerte über den Estrich gegen die Thüre.




32.

Auf dem Lugaus des Fischerhauses stand Wicho mit dem Kohlmann; sie lauschten dem Gekläff der Meute, welches hinter Wazemanns Haus im Bergwald verklang. „Ich mein’, sie kommen!“ flüsterte Eigel.

Wicho schüttelte den Kopf. „Die Hund’ läuten gegen die Berg’ hin. Wir haben heut’ noch Ruh’, sie ziehen ins Gejaid!“

„Gieb acht, dahinter steckt ein Schlich! Sorglos will er uns machen und schickt die lauten Hund’ zu Berg ... und eh’ wir uns umschauen, ist er da und brennt ein Loch in den Hag! Ich schaff’, solang’ noch Zeit ist!“ Er griff nach einem der Rutenbündel, die auf dem Lugaus aufgeschichtet lagen. Wicho trat zu ihm, und schweigend begannen sie die Arbeit. Rute um Rute flochten sie um die frischgeschlagenen Pfähle, und immer höher wuchs unter ihren Händen die hölzerne Mauer. Ein dünnes Lachen machte sie aufblicken. Unter dem Hag stand Ulla. „Ihr Narren übereinander!“ rief sie mit verzerrten Lippen. „Was schaffet Ihr und schwitzet? Fürchtet Ihr den da droben? Narrenleut’! Narrenleut’! Meint Ihr, der selb’ da droben hätt’ Zeit für Euch?“ Ihr Lachen hob sich mit schrillem Klang. „Der muß ja raufen mit seinem Fluch!“

„Meiner Seel’, das Weibsbild ist närrisch!“ lachte der Kohlmann.

„Sie ist aus Wazemanns Haus!“ flüsterte Wicho ihm zu.

Mit starrem Blick hingen Ullas Augen an dem Kohlmann, und ihre welke zitternde Hand streckte sich gegen ihn. „Du! Weißbartiger! Bist nicht Du derselbig’, dem die Salmued lieb gewesen?“

Dem Kohlmann fielen die Ruten aus der Hand, und ein Blick des Hasses sprühte aus seinen Augen. „Weib, ich sag’ Dir, wahr’ Deine Zung’!“

Ulla lachte. „Hast nie gesucht nach Deiner Dirn’? Freilich, einen weiten Weg hättst laufen müssen! Wenn der Tandelmann mit seinem Karren wieder kommt, so frag’ ihn doch, wo Deine Dirn’ geblieben ist. Zahl’ ihn gut oder greif’ ihm an die Gurgel! Wer weiß, vielleicht hörst von ihm die gleiche Boachaft, die er dem da droben gebracht hat: die wilden Säu’ sind über die Salmued und ihr Kind gekommen! Gelacht hat der da droben, Kohlmann, gelacht, und hat gemeint, jetzt hätt’ er Ruh’ vor ihr! Aber schau’ hinauf zu ihm ... die Tote hat wieder heimgefunden und hauset unter seinem Dach!“

„Eigel! Eigel!“ stammelte Wicho und hielt mit beiden Armen den Kohlmann fest, der über den Hag auf die Lände springen wollte. Vom Hall der Stimmen gerufen, eilte Sigenot zum Lugaus.

„Du Narr! Was schlägst denn umeinander mit Händ’ und Füßen?“ kreischte die Magd. „Bleib’ hocken in aller Ruh’ ... die Salmued wird schon allein noch fertig mit ihm! Sie rührt

[433]

Photographie im Verlag von Jos. Alber in München.
Sein Bild.
Nach einem Gemälde von Emanuel Spitzer.

[434] die Fäust’ in seinem Haus und schlagt auf alles, was lebig ist! Ihr Fluch geht um! Frau Friderun ist hin ... und die anderen müssen ihr nach.“

„Frau Friderun!“ keuchte der Kohlmann, von Wichos Armen umklammert. „Frau Friderun? So? Der Salmued Fluch hätt’ sie erschlagen? Meinst? So lauf’ hinauf und sag’ ihm: der Kohlmann ist’s gewesen, der auf dem Steig in der Rabenwand die Mausfall’ aufgestellt hat! Sag’s ihm! Und sag’ auch gleich: ihm selber war’s vermeint! Sein Weib ist eingegangen in die Fall’ statt seiner! Ich hab’ gelacht dazu, sag’s ihm, gelacht! Sein Weib für meine Dirn’ ...“

„Eigel!“ Mit eisernem Griff umspannte Sigenot den Arm des Kohlmanns. „Unschnldig Blut an Deiner Hand! Und Du, Du hast gesessen an meinem Tisch und hast geweilt in meinem Haus! Wicho! Das Hagthor auf. Ich hab’ kein Dach für einen ...“

Da klang es von der Ache her mit gellendem Ruf: „Sigenot! Sigenot!“ Und jagende Hufschläge kamen näher. Unter heiserem Gelächter riß sich der Kohlmann von der Hand des Fischers los, welcher lauschend stand, mit erstarrtem Antlitz. „Sigenot! Sigenot!“ klang es unter den Bäumen.

Mit beiden Händen griff Eigel nach seiner Stirn. „Ja steht denn mein Kopf noch?“ Er starrte den Fischer an. „Ja giebt’s denn in der Welt noch einen, wie der ist! Die Untreu’ lauft ihm davon, das Wasser rinnt ihm schon ins Maul ... und er stoßt auch die Treu’ noch aus seinem Hag!“

„Sigenot! Sigenot!“ schrillte die Stimme Reckas. Auf schäumendem Roß kam sie unter den Bäumen hervorgejagt. „Deine Schwester in Not! Meine Brüder steigen zu Berg und suchen die Oedhütt’ hinter dem Eismann!“

Sigenot taumelte, als brächen ihm die Knie. Mit zuckenden Händen griff er ins Leere. „Wicho! Mein Eisen!“ Da sah er auf dem Lugaus eine Axt vor seinen Füßen liegen; er faßte sie und schwang sich über den Hag auf die Lände.

Fahle Blässe deckte sein Gesicht, und mit brennendem Blick hingen seine Augen an der Tochter Wazes. „Recka! Deine Botschaft ist mein Leben wert! Eins noch sag’ mir: wo geht Deiner Brüder Weg?“

„Gegen den Windacher See! Sie reiten!“ erwiderte Recka tonlos, mit kämpfendem Atem. „Spring’ auf zu mir! Mein Roß hat Kraft und wird uns tragen alle beid’ ... wir holen sie ein!“

Sigenot wehrte mit der Hand. Er wußte besseren Weg: über den See und durch die Schluchten hinter dem Eismann empor. Ein gefährlicher Pfad, doppelt gefährlich an solchem Tag, unter hängendem Schnee und drohenden Lawinen – doch um die Hälfte näher als der sichere Weg, den Waze und seine Söhne genommen.

Wicho hatte das Hagthor aufgerissen, und Ulla aus seinem Weg stoßend, sprang er auf den Fischer zu, bleich und stammelnd: „Herr ... Herr ...“

Sigenot schob ihn von sich. „Bleib’, Wicho! Jetzt hilft nur einer noch!“ Seine Augen streiften das Kreuz, und seine Stimme bebte. „Bleib’ und denk’ meiner armen Mutter!“ Einen Blick noch warf er über Hag und Haus, dann eilte er zum Ufer, stieß den Einbaum in das Wasser, warf das Beil in den Nachen und sprang ihm nach.

„Sigenot!“ rief Recka; doch der Fischer hörte sie nicht, er tauchte schon das Ruder und legte sich auf die Stange. Da ließ sich Recka aus dem Sattel gleiten, und durch die Untiefe watend, erreichte sie den abstoßenden Einbaum und schwang sich in den Nachen. Dem Fischer stockte das Ruder, und flammende Röte schlug ihm ins Gesicht.

„Fahr’ zu. Deine Schwester in Not! Ich steh’ zu Dir!“

„Recka!“

Das Ruder rauschte, und von wuchtigen Schlägen getrieben, schoß der Einbaum über die stille Flut.

Die Männer am Ufer standen wie versteinert. Eigel war der erste, welcher Worte fand. „Wicho,“ rief er,. „schick’ den Altsenn und den Knecht in die Schönau und laß sie schreien vor jedem Hag: Not, Not über Not! Ich lauf’ zum Lok’wald und such’ den Herrn!“ Er eilte davon.

Kichernd stand die alte Magd und streckte die Hand gegen den See. „Schauet! So schauet nur hin, was die Salmued schafft! Die Schwester wider die Brüder und für den Fischer, dem derselb’ da droben den Vater erschlagen! Blut wider Blut ... so will’s die Salmued haben!“

Wicho sprang auf Ulla zu und packte sie mit beiden Fäusten. „Den Vater erschlagen? Wer?“

Sie lachte. „Die Alfen, gelt, die Alfen haben Sigenots Vater, den Gelfrat, in den See gezogen? Freilich, die Alfen, ich hab’s ja selber gesehen! Und zehn auf einmal sind über ihn gekommen ... grad’ so viel’, als der da droben Finger an den Händen hat. Spring’ doch hinunter in den See und such’ den Gelfrat ... ich mein’, es steckt ihm der Pfeil noch im Hals, den derselb’ da droben von der Mauer geworfen hat, wie er den Fischer in Sturm und Not hat hängen sehen an der Falkenwand! Zu stark ist ihm der Gelfrat geworden, zu stark ... da hat der ander’ zeigen müssen, daß er stärker ist! Aber laß nur gut sein! Noch stärker als er, mein’ ich, noch stärker ist die Salmued. Sie rührt die Fäust’ und wirft das Fluchbein um. Frau Friderun ist hin! Eins ums ander’! Ich hüt’ mich, daß ich die nächste bin!“ Lachend stieß sie den Knecht von sich, dem alle Kraft aus den Fäusten geschwunden war, und humpelte am Hag entlang den Bäumen zu. Am Waldsaum wandte sie noch einmal das verzerrte Gesicht und hob die Hand gegen Wazemanns Haus ...

Hinter den weißen Bergen tauchte die Sonne empor und leuchtende Strahlen fielen über den See. Schimmer und Glanz lag ausgegossen über den weiten Felsenkessel, über die spiegelglatte Flut und all die steilen Gehänge. In der wachsenden Wärme tauchten die bunten Farben des welken Bergwalds unter dem weichenden Schnee hervor, ein Flimmern und Blitzen überall, und wo die Sonne den nassen Waldgrund fand, kräuselten dünne Nebel sich empor, schwebten langsam in die Höhe und zerrannen spurlos in den blauen Lüften. Funkelnd wie Silber stürzten von allen Wänden die Gießbäche nieder, und ihr Rauschen füllte den gewaltigen Felsenkessel wie mit dem eintönigen Gesang einer machtvollen Stimme. So laut war diese Stimme, daß aus den Lüften auch kein leiser Ton herniederdrang, wenn auf dem höheren Gewänd der Schnee sich löste und die Steine über den Bergwald stürzten.

Schon war der Einbaum dem steilen Ufer nahe, dem er entgegensteuerte. Da rann ein Zittern über das Wasser, als wäre jählings ein Windstoß auf den See gefallen. Doch es rührte sich kein Hauch in den Lüften. Rings an den Ufern entlang blitzte ein weißer Schaumstreif auf, und während die kleinen Wellen sachte sich wieder glätteten, lief über das steile schwindelnd hohe Gewänd des König Eismann eine weiß zerstiebende Wolke nieder, als hätte die Riesin des Berges ihren Schleier in die Tiefe flattern lassen.

Sigenot und Recka sahen nicht, was rings um sie geschah. Still hingen ihre Blicke ineinander.

Als der Einbaum an das Ufer stieß, atmeten sie beide auf wie im Erwachen. Recka sprang zuerst ans Land. Sigenot folgte, stieß den Beilschaft hinter den Gurt und schleifte den Einbaum auf das Kiesbett, welches der rauschend niederstürzende Wildbach aufgelagert hatte. Seitwärts vom Geklüft des Baches führte ein Jägersteig zur Höhe. Sigenot wollte den Aufstieg beginnen, doch er zögerte. Scheu glitten seine Augen über die Tochter Wazes, dann zum Einbaum.

„Recka! Es ist böser Weg, den ich beginn’. Kehr’ um!“

„Er führt zu meiner Gesellin, der ich Treu’ geschworen! Steig’ an!“

„Der Weg führt wider Deine Brüder!“

Reckas Augen blitzten und ihre Lippen zuckten. „Deine Schwester in Not! Steig’ an!“

Wortlos wandte Sigenot sich ab und begann den mühsamen Pfad emporzuklimmen. Rascher und rascher stieg er, daß sein Atem keuchend ging. Und immer blieb Recka dicht hinter ihm, als wäre eines Mannes Kraft in ihren Gliedern. Noch ehe sie die Höhe der bewaldeten Wand erreichten, begann der Schnee. Sigenot verließ den Pfad und sagte: „Steig’ voran! Es könnt’ Dich der Schnee überwerfen, der sich löst unter meinem Fuß!“ Recka nickte und stieg an ihm vorüber. Ehe Sigenot ihr folgte, warf er einen Blick über den See hinaus ins weite Thal. Tief unter ihm lag in der Ferne sein Haus und Hag, winzig wie ein Spielzeug. Zwei feinen weißen Strichen gleich hob sich das in der Sonne schimmernde Kreuz von der dunklen Erde ab. Sigenot atmete auf und eilte bergan, als hätte dieser Blick ihm [435] Hoffnung und neue Kraft gegeben. Er fürchtete nicht mehr um die Schwester ... er wußte, daß er sie retten würde. War doch Einer. .mit. ihm, Einer, stärker als tausend Arme in Wehr und Eisen! Wer sonst als dieser Eine hatte ihm die treue Gesellin geschickt, die ihm feind gewesen bis zur Stunde, die ihm freund geworden um der Schwester willen! Mit raschen Sprüngen holte er Recka ein, und heiße Röte schlug bei ihrem Anblick über seine Wangen ...

Um die gleiche Stunde geschah es, daß Wicho, der mit dem Schwerte seines Herrn bewaffnet vor dem Fischerhaus die Wache hielt, den sorgenden Blick zum Kreuz erhob und murmelte: „Jetzt muß er weisen, ob er gar so stark ist, wie die da draußen sagen!“ Das Eisen im Arm, schritt er zum Lugaus und spähte über den Weg, der von der Ache kam. Er harrte des Sennen und des Knechtes, die er nach Eigels Rat in die Schönau gesandt.

Doch die beiden dachten nicht der Heimkehr. Beim Hag des Richtmanns standen sie in einem Haufen schreiender Männer und Weiber, die sich um Ulla drängten. Mit kreischendem Hohn weckte die Magd in den Männern die Erinnerung an jede Unbill, die Herr Waze ihnen zugefügt, in den Weibern das Gedenken an jede Schmach, die ihnen gedroht oder die sie erlitten von Wazemanns Söhnen. Lachend zog Ulla weiter und suchte sich neue Lauscher, während hinter ihr der schreiende Haufe blieb. Wirr klangen die heiseren Stimmen durcheinander, einer schürte die Wut des anderen, sie hoben die geballten Fäuste und schrien laut am Tage, was zu anderer Zeit kaum einer im stillen zu denken gewagt. Und über alles Geschrei hinaus hob sich noch die Stimme des Hanetzer, der in seinem verschwollenen Gesicht die blauen und grünen Male der Faustschläge trug, die er von Sindel und Hartwig beim Verhör empfangen. Fast mit den gleichen Worten wie damals auf der Reginalbe vor dem in Schlingen liegenden Bären schrie er auch jetzt. „Raitet! Raitet! Was thun wir ihm an? Ihm und seinen Buben!“

„Raitet, Mannerleut’, raitet!“ schrillte eine Weiberstimme. „Und thut, was Fäust’ vermögen! Soll geschehen, was mag ... ich weiß, was ich thu’: ich lauf’ zum Lok’wald, auf der Stell’, ich geh’ zu den Gottesleuten!“ Um die Schreiende drängten sich mit lautem Zuruf alle anderen Weiber, und der kreischende Haufe wälzte sich über die Halden und wuchs bei jedem Hag.

Bruder Wampos „Wunder“ und der Salmued Fluch, den die verstörte Magd als zweites Wort auf den Lippen geführt: diese zwei Dinge übten stärkeren Zug auf diese Menschen aus als die Botschaft der ewigen Liebe und der fromme Ruf der Glocke, den sie seit Tagen mit verschlossenen Ohren hörten – und tiefere Macht als die schreiende Not des Nächsten und die mahnende Stimme des Rechtes, welche Sigenot im Thing erhoben! Jetzt freilich, als sie durch die reine sonnige Morgenluft vom Lokiwald die Glocke tönen hörten, fiel es in ihre Gemüter wie Raserei, und schreiend rannten sie dem Hall entgegen.

Die Glocke klang. Sanft schwoll ihre freundliche Stimme über die stillen Wälder hin und brach sich an den weißen Bergen. Auch ein Einsamer hörte sie, der in atemloser Hast von der Ache durch den Lokiwald emporeilte über den steilen Hang: der Kohlmann. Geradeswegs eilte er der Klause zu, welche durch die Bäume schimmerte. Als er die Rodung erreichte, hörte er Beilschläge; Bruder Schweiker zimmerte am Waldsaum die Pfähle für den Hag. Der Kohlmann sprang zur Klause, auf der Thürschwelle saß Bruder Wampo in der Sonne und schabte mit einem Holzspan die Honigflecken von seiner Kutte.

„He, Du, wo ist Dein Herr?“

Mit verdrießlichen Augen blickte Wampo auf. „Herr? Welcher?“

„Der Flachsbartige! Der mit den guten Augen!“

„Der ist fort vor einer Weil’!“

Eigel erschrak. „Fort? Wohin?“

„In die Ramsau!“

„Welchen Weg hat er genommen?“

„Sell hinunter!“ Und Bruder Wampo deutete mit dem Arm.

Ohne Wort und Gruß eilte der Kohlmann davon, in wenigen Augenblicken war er im Wald verschwunden. Er folgte der Richtung, welche der Bruder ihm angezeigt. Auf kotigem Pfad fand er die frische Trittspur einer Sandale. „Herr! Herr!“ schrie er mit keuchender Stimme, doch keine Antwort kam. Er eilte weiter, und immer wieder fand er die Spur des Weges, den Eberwein genommen. Als er das Thal der Ache erreichte und gegen die Halden der Strub sich wenden wollte, scholl ihm von dem waldigen Hang, welcher jenseit der Ache sich erhob, ein Gewirr von heiseren Stimmen entgegen. Zwischen den Bäumen tauchte eine Schar kreischender Weiber auf, über dreißig an der Zahl, nur wenige Männer unter ihnen: der Hanetzer, die Winklerbuben, der Waldhauser und Urstaller, der Schmied von Ilsank – und der Köppelecker, welcher dem zur Klause eilenden Haufen begegnet war und sich ihm angeschlossen hatte.

Eigel blieb stehen; er lachte und seine Augen funkelten, als er aus dem hallenden Geschrei vernahm, wohin der Weg dieser Menschen ging. „Ihr lauft mir gut in den Weg! Nur her zu mir! Ich will Euch Feuer in die Strohköpf’ werfen!“

Das weißbärtige Kinn auf den Stecken gelegt, so stand er und harrte. Als sie kamen, rief er sie an. „Wohin, Leut’?“

„Zum Lok’wald! Zu den Gottesmännern!“ schrien ihm die wirren Stimmen entgegen.

Er lachte hell auf. „Zum Lok’wald? Zu den Gottesmännern? So?“ Wieder lachte er. „Laufet nur zu. Ich mein’ aber schier, Ihr werdet schieche Köpf’ machen zu dem Gruß, der bei der Klaus’ auf Euch wartet!“

Wilder Lärm erhob sich, der Hanetzer packte den Kohlmann an der Brust, doch der Köppelecker stieß ihn zurück und schrie: „Red’, Eigel, red’! Was hast im Sinn?“

„Reden? Mit Euch?“ Die Augen des Kohlmanns glitten hinauf gegen den König Eismann, dann warf er einen wägenden Blick über die kleine Zahl der Männer und ihre waffenlosen Fäuste; er schüttelte den Kopf, als müßte er einen Gedanken, der in ihm aufgetaucht, von sich abwehren. „Reden? Mit Euch? Wozu denn sollt’ bei Euch das Reden noch helfen? Ihr habt ja noch all’weil’ saure Milch im Leib! Noch all’weil’ kein Blut!“ Zu greller Schärfe hob sich seine Stimme. „In der Ramsan aber hausen noch Mannerleut’! Zu denen geh’ ich! Zu denen sag’ ich: Herr Waze ist mit seinen Buben zu Berg gestiegen, sein Haus steht leer und wär’ so leicht zu werfen wie ein Strohdach. Und haben die Füchs’ erst ihren Bau verloren, so bleibt für die Jagdhund’ leichte Hatz’!“ Die Augen des Alten sprühten, und der Stecken zitterte in seiner Faust. „Das will ich den Mannerleuten in der Ramsau sagen, und ich mein’ schier, daß ich weiß, was ich zur Antwort hör’. Merket auf, Ihr Milchblüter ... ich mein’, es giebt noch ’was zu schauen, ’vor der Tag ein End’ hat! Und kommt nur morgen zur Klaus’, wenn die Ramsauer ihren Dank holen von den Gottesleuten!“ Lachend schritt er davon.

Tobendes Geschrei erhob sich hinter ihm, und das Kreischen der Weiber mischte sich mit den heiseren Stimmen der Männer. Im raschen Weiterschreiten lauschte der Kohlmann, und jedes Wort, das aus dem Lärm an seine Ohren schlug, weckte in seinem Gesicht den Ausdruck wilder Freude. Noch eh’ er den Waldsaum erreichte, sah er den schreienden Haufen über die Ache zurückweichen, und von dem Hang hernieder, das Kreischen der Weiber übertönend, klangen die Stimmen des Köppelecker und des Schmiedes von Ilsank:

„Zu Wazemanns Haus! Was die Ramsauer können, bringen wir auch noch fertig! Feuer in das Fuchsloch!“

Eigels Blicke suchten die weißen Schneefelder des König Eismann; er hob die Faust und schüttelte den dürren Stecken. „Holt Dich und Deine Buben auch keine wehrende Hand mehr ein auf Deinem heutigen Weg ... kehr’ wieder heim, und Du findest einen Gruß vom selbigen, dem Du die Salmued genommen!“ Jenseit der Ache, auf der Höhe des Hanges, verhallte der Lärm in dichtem Gehölz. „Meinem Fluch sind Füß’ gewachsen ... gieb acht, Herr Waze, er lauft Dir in die Stub’!“ Eilenden Sehrittes folgte Eigel dem Pfad.

Bei einer Furt, welche an seichter Stelle durch die Ache zog, fand er wieder die Trittspuren Eberweins. Sie führten zum Gehöft des Schapbachers. Vor dem Hagthor sah er eine Dirne und rief sie an: „Ist nicht ein Gottesmann vorbeigekommen? Ein Flachsbartiger?“

„Wohl wohl! Der ist bei uns gewesen und hat am Thor gelärmt, bis ihm der Bauer aufgethan hat. Nach dem Huzebuben hat er gefragt und ist weiter gezogen gegen die Windach zu.“

Der Kohlmann eilte davon. Durch dichtes Gehölz führte sein Weg, und schon von weitem hörte er das dumpfe Rauschen des hoch angewachsenen Wildwassers. Als er die Lichtung gewann, [436] sah er den Mönch über das Felsenufer der Windach aufwärts steigen. „Herr, Herr!“ schrie er, doch das Rauschen der Gewässer verschlang den Ruf. Er klomm über den steilen Hang empor, und als er den Mönch erreichte, griff er nach seiner Kutte. Eberwein wandte das Gesicht. Wie vor dem Anblick eines Gespenstes fuhr der Kohlmann zurück und starrte auf die bleichen Züge, die der Schmerz verwandelt hatte, wie das Erlöschen der Sonne den freundlichen Tag verwandelt in dunklen Schatten. Doch was den Greis in seiner innersten Seele erregte, war nicht der Kummer allein, der aus Eberweins Antlitz sprach. Unter lallenden Worten streckte er die Hände. Eberwein verstand ihn nicht; er faßte den Arm des Kohlmanns und zog ihn vom Ufer hinweg gegen den Waldsaum. „Eigel! Es steht auf Deinem Gesicht zu lesen ... Du bringst mir üble Botschaft!“

Der Kohlmann begann zu sprechen: von dem erschlagenen Knecht, von Ruedlieb und Rötli, von ihrer Flucht mit dem Richtmann, von aller Not im Fischerhaus, vom Auszug der Wazemannssöhne und von Sigenots Bergfahrt – doch er schien nicht zu wissen, was er sprach. Wie gebannt hingen seine Blicke an den Zügen des Mönches. Immer wieder strich er mit der Hand über seine Stirn, als möchte er seine Gedanken zur Ruhe bringen und festhalten, was verworren vor ihm aufstieg und wieder versank in die Dämmerung vergangener Zeiten ...

Eberwein rüttelte den Arm des Kohlmanns. „Solche Botschaft bringst Du,“ rief er mit bebender Stimme, „und stehst vor mir wie auf steinernen Füßen? Auf! Und führe mich! Oder hast Du Furcht ... so weise mir den Weg zum Eismann und bleibe!“

„Furcht?“ Eigel erwachte. „Furcht? Soll geschehen mit mir, was mag ... eh’ ich hin bin, bleibt mir wohl noch Zeit zu einem Streich! Und der soll ausgeben!“ Noch einmal streiften seine Augen das Gesicht des Mönches. Schwer atmend schüttelte er den Kopf und an Eberwein vorüber eilte er quer durch den Wald einem Pfad entgegen.

Als vor Eberwein und Eigel im Wald sich eine Gasse öffnete, griff der Kohlmann erschrocken nach dem Arm des Mönches. „Herr! Sell schaü’ hinauf!“ Und mit dem Stecken deutete er nach der fernen Höhe.

Wie ein weißer Silberguß ging der Fall der Windach über die Felsen nieder, so reich an Wasser wie auch sonst nach schwerem Regen, doch dem Fall zur Seite hatte der See, aus dem sie strömte, sich einen zweiten Ausfluß durch die Felsen gebrochen: in der Steinmauer klaffte eine Spalte, durch welche ein mächtiger Wasserstrahl gleich der blitzenden Klinge eines riesigen Krummschwertes in weitem Bogen mit zischendem Brausen hinausschoß in die Luft, um die Tiefe unter ihm, alle Felsblöcke, Bäume und Moosgehänge, mit wirbelndem Wasser zu überschütten.

„So schau’ nur,“ stammelte Eigel, „der Bidem hat eine Fragel in die Wand gerissen!“

Doch Eberwein hörte nicht. „Was stehst Du? Wir haben Eile!“ Er schwang sich über einen Felsblock, der den Pfad versperrte, und stieg zwischen den Bäumen empor, während Eigel ihm keuchend zu folgen suchte.




33.

Die Sonne stand in Mittagshöhe, als Herr Waze mit seinem Geleit sich dem Ende des Windacher Seethals näherte. Nur kümmerlicher Baumwuchs deckte zwischen dem See und den steilen Wänden das steinige, von zahllosen Schluchten durchrissene Gehäng. Und dennoch bot das öde unfruchtbare Felsthal einen freundlichen Anblick, denn die Sonne übergoß es mit ihrem Glanz; sogar der See und seine sonst so finstere Flut war in ein schimmerndes Bild verwandelt: leuchtend spiegelte das regungslose Wasser den Silberglanz der beschneiten Höhen und das lichte Blau des Himmels.

Lautlose Ruhe herrschte ringsumher auf allen Bergen, hoch im Gewände war das Poltern der fallenden Steine verstummt, und nirgends verriet mehr eine aufstäubende Schneewolke den Sturz einer Lawine. War der Aufruhr, welcher die Natür befallen hatte, zum Schweigen gebracht? Oder sammelten die dunklen Gewalten nur Kraft und Atem zu neuer Empörung?

Wie eine dumpfe Stimme, fern aus dem stundenlangen Thal herauf, klang in die den See umlagernde Stille das seltsame Rauschen der Windach. Herr Waze und seine Söhne, die unter lachenden Reden auf schmalem Pfad am Seeufer dahinritten, achteten der dunklen Mahnung nicht, welche hinter ihnen tönte. Nur die Knechte, die, dem Zug der Rosse folgend, die ungestümen Hunde an den Riemen führten, blieben zuweilen stehen, blickten lauschend nach rückwärts und schüttelten die Köpfe.

Als der See zu Ende ging und der Wald begann, stiegen die Reiter aus dem Sattel. Zwei Knechte übernahmen die Hunde, denen die ledernen Zwingen an die Schnauzen gelegt wurden, um sie stumm zu machen, und während die beiden anderen Knechte zur Bewachung der angekoppelten Pferde am Seeufer zurückblieben, begann Herr Waze mit seinem Geleit den Anstieg über den waldigen Hang.

Als der Wald ein Ende nahm und die verschneiten Halden begannen, hörten die Steigenden leisen Steinfall aus der Höhe. Ueber weißem Grat erschien ein Rudel Gemsen. Schwarz hoben sich die zierlichen Gestalten der Tiere vom Schneegrund ab, und immer neue Köpfe tauchten über den Grat empor. Eine Weile standen die Gemsen regungslos und äugten gegen die höheren Wände des König Eismann. Dann plötzlich begannen sie thalwärts zu flüchten, in dicht gedrängter Schar. Gleich einer schwarzbraunen ins Gleiten geratenen Erdscholle kam das Rudel über den steilen Schneehang niedergefahren. Die Hunde, welche das Wild erspäht hatten, zerrten an den Riemen und winselten unter dem Leder, das ihre Schnauzen schloß. Mitten auf dem Hang hielten die Gemsen inne in der Flucht und äugten auf den Trupp der Leute nieder. Aber nur wenige Augenblicke standen sie, dann wieder begannen sie, ohne die Richtung zu ändern, ihre wilde Flucht, und das Thal auf geradem Wege suchend, stoben sie nah an Wazemann und seinen Leuten vorüber, als wäre in ihnen nicht die Angst vor Menschen und Hunden, sondern andere Furcht. Herr Waze blickte dem verschwindenden Rudel nach und schüttelte den Kopf. „Das versteh’ ich nicht ...“

Henning lachte. „Hinter dem Eismann hausen Leut’ und schüren Feuer in der Oedhütt’ ... und Du verstehst nicht, was die Gemsen laufen macht! Wart’ nur: wie sie Dir die Gemsen scheuchen, so treiben sie Dir auf Deinem Bannberg auch noch das Fahlwild aus!“

„Eher schlag’ ich ihnen die Köpf’ in Scherben!“ fuhr Herr Waze auf, dem sein Fahlwild über alles ging.

„Ich seh’ den Otloh!“ fiel Rimiger ein. „Dort oben hockt er und späht über den Grat hinunter nach der Oedhütt’!“

„Hinauf!“ Ansteigend stieß Herr Waze den Eisenstachel des Grießbeils auf eine Felsplatte, sie brach entzwei, und die Splitter stoben auseinander, als hätte ein Zauber den festen Stein in sprödes Glas verwandelt. Das gewahrten die Knechte, welche hinter dem Spisar die winselnden Hunde führten. Einer von ihnen stieß mit dem Schuh an eine Scholle des zerborstenen Gesteins, und da flogen ihm die Splitter bis an die Brust empor und ins Gesicht. „He, Du,“ rief er seinen Gesellen an, „schau’ nur, was für ein närrischer Stein das ist!“ Er wollte zu Boden greifen, doch die Hunde rissen ihn vorwärts. Unter der Stelle, die der Knecht verlassen hatte, ließ sich ein mattes Knirschen vernehmen. Langsam hoben sich die Brocken des zertrümmerten Steines aus dem Grund hervor, es bildete sich im Boden ein Riß, welcher schleichend in die Breite wuchs, und ein schwarzer Erdwulst legte sich wie zäher Teig über den Schnee heraus ...

Herr Waze und seine Söhne stiegen höher und höher. Sie wunderten sich, daß Otloh, der sie doch lange schon gewahrt haben mußte, so still und regungslos dort oben saß. „Der Bub’ muß heißes Blut haben,“ meinte Sindel, „sonst möcht’ er sich wohl rühren im Schnee und die Arm’ schlagen!“

„Er wird die Hütt’ nicht aus den Augen lassen,“ sagte Rimiger.

Henning lachte. „Jetzt laufen sie uns wohl nimmer davon! Schauet nur: der Rauch steigt aus dem Albenthal über den Grat herauf ... sie kochen ihr Mahl.“

„Die Supp’ soll ihnen versalzen werden!“ keuchte Herr Waze, dem schon der Atem zu Ende ging. Und zu kurzer Rast auf das Grießbeil sich stützend, spähte er nach den dünnen bläulichen Wölklein, welche sich über den weißen Grat emporkräuselten in die klaren sonnigen Lüfte.

(Fortsetzung folgt.)




[437]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Das Schachspiel und seine Meister.

Von Rudolf von Gottschall.      Mit Zeichnungen von A. Liebing.

„Komm, die schattige Laube hält
Fern dem sinnenden Geist jedes Geräusch der Welt,
Streut nur selten ein fliegend Blatt
Aufs gewürfelte Brett – komm, vom Gespräche matt,
Das ein modischer Kreis dort pflegt,
Das nur Richtiges rühmt, Geist nicht und Herz bewegt,
Fliehend leerer Gesellschaft Zwang,
Bannen wir an dies Brett ernsten Gedankengang!“

So konnte ich vor mehr als dreißig Jahren eine Ode an das Schach beginnen; denn es war damals noch die Zeit der Schachidyllen, wo man das „Königliche Spiel“ in aller Ruhe und Stille pflegte, wo der Name eines tüchtigen Schachspielers an seinem Wohnort bekannt war und gelegentlich auch, bei der Begegnung mit einem auswärtigen Spieler, in weiteren Kreisen genannt wurde. Im vorigen Jahrhundert konnte sogar Heinse in seinem Romane „Anastasia und das Schachspiel“ dies Spiel in einen Liebesroman verflechten. Wohl hatte man damals schon zahlreiche Lehrbücher und Musterspiele, und in dem Heinseschen Roman findet sich sogar die eingehende Zergliederung einer Spielweise, des sogenannten giuoco piano, der einfachsten und regelmäßigsten Spieleröffnung. Italiener und Franzosen waren aber in Bezug auf diese Lehrbücher und gesammelten Spielproben von Meistern den Deutschen bedeutend überlegen. Das Schachspiel war im ganzen ein häuslicher Genuß; es wurde auf Schlössern wie in Bürgerhäusern, im Familienkreise, gelegentlich wohl auch in Gasthäusern gespielt, immer aber nur zur Unterhaltung und ohne daß ein weiterer Kreis sich daran beteiligt hätte. Bis zur Mitte unseres Jahrhunderts dauerte diese Schachidylle, und wenn sich hier und dort einzelne Schachklubs bildeten, so ging der idyllische Reiz des Spiels, das nur zuweilen ein mehr wissenschaftliches Gepräge annahm, nicht verloren.

Seitdem ist aber eine große Wandlung eingetreten; das Schachspiel, außerordentlich vervollkommnet durch hervorragende Meister und eine fortschreitende Theorie, ist ein internationaler Sport geworden; ehrgeizige Ritter turnieren jetzt um Zeitungsruhm und hohe Geldpreise, und das Schachspiel in der stillen Laube gehört zu den patriarchalischen Vergnügungen einer längst verschollenen Zeit.

Man trete jetzt in einen größeren Schachklub - da wird man allerlei hören und erfahren, was selbst einen neuauferstandenen Philidor und andere Größen des vorigen Jahrhunderts aufs höchste befremden würde. Auch unser großes Publikum liest ja in den Schachspalten der illustrierten Blätter und der politischen Zeitungen vielerlei, worauf es sich keinen Vers zu machen weiß. Das Schachtreiben hat eben eine ganz andere Gestalt angenommen, und auch denjenigen, die nur gelegentlich von seinen Genüssen gekostet oder einen Blick in seine tieferen Rätsel gethan haben, wird es willkommen sein, etwas Näheres über diese Wandlung zu erfahren.

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Das Blindlingsspiel.   Im Schachklub.
( gemeinfrei ab 2028)

Aus dem Tabaksgewölk, das in der Regel über einer Schachgemeinde schwebt, lösen sich verschiedene Gruppenbilder ab, die man in jedem Klub beobachten kann. Da giebt es zunächst noch einige Duellanten der alten Schule, die zufrieden sind, wenn sie irgend einen Spieler am Schachbrett sich gegenüber haben und sich um alles andere, was in der Schachwelt vorgeht, nicht im entferntesten kümmern. In der Regel ist es ein bevorzugter Gegner, denn es sind Paare, die immerfort gleichsam zusammengewachsen sind; sie sind sehr eifrig in ihr Spiel vertieft, nicht weniger als die Meisterspieler, von denen ja auch der Lichtwersche Vers gilt:

„Wenn sie nicht hören, sehen, fühlen,
Mein Gott, was thun sie denn? Sie spielen.“

Jeder kennt die Redensarten des anderen auswendig; denn wie der eifrige Skatspieler, so hat auch der Schachspieler einen Hausschatz von geflügelten Worten, die er gewohnheitsmäßig in das Spiel einstreut. Die Gegner gehören oft den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten an; wie Klopstock von einer Gelehrtenrepublik sprach, so kann man auch von einer Schachrepublik sprechen. Vor einigen Jahrzehnten [438] spielte in Leipzig allabendlich ein Graf aus einer der ersten sächsischen Familien, der auch Vorsitzender der Schachgesellschaft „Augustea“ war, mit einem Markthelfer. Im Klub giebt es nur eine Rangordnung, die der guten und der schlechten Spieler.

Neben diesen harmlosen Schachkämpfern sieht man andere sich gegenübersitzen, welche mit dem Bleistift in der Hand jeden Zug, den sie selbst oder der Gegner gemacht haben, auf ein zur Seite liegendes Blatt notieren. Es sind die Mitspieler im Winterturnier, das der Klub alljährlich zu veranstalten pflegt. Da giebt es allerlei Bedingungen, denen sich die Mitspieler fügen müssen, und Preise für diejenigen, welche die meisten Partien gewinnen. Hier herrscht ein gewisser ehrgeiziger Eifer, über jeden Zug wird lange nachgesonnen und meist die Zeit nach der Uhr zugemessen. Das Spiel hat einen ernsteren Charakter, denn es handelt sich um eine Geldfrage, und in Geldsachen hört bekanntlich die Gemütlichkeit auf. Die „Kibitze“, die es beim Schachspiel wie beim Skatspiel giebt, enthalten sich hier des Hineinredens, geben nur gelegentlich durch einen halb unterdrückten Ausruf, durch ein leises Mienen- und Gebärdenspiel den kritischen Erwägungen Ausdruck, zu denen sie der eine oder der andere Zug veranlaßt hat. Die eifrigsten Zuschauer gehen an einen anderen Tisch, stellen dort die Partie auf, wie sie zuletzt stand, und beweisen im Flüsterton einigen anderen mit überlegener Einsicht, wie Schwarz oder Weiß hätte ziehen müssen, um die Partie zu gewinnen.

In einer anderen Gruppe geht es etwas lauter zu – da findet ein lebhaftes Gespräch über ein großes Meisterturnier statt, welches gerade im Gange ist, da wird gezählt und gerechnet, man erwägt die Aussichten, die der eine oder der andere berühmte Spieler hat, man gerät darüber in lebhaften Streit, und wenn man bei uns noch nicht auf einen oder den anderen wettet, wie auf die Pferde der Rennbahn, so beweist dies nur, daß der Schachsport glücklicherweise noch nicht ganz die Höhe der Entwicklung erreicht hat, zu welcher er sich noch emporschwingen kann.

Einsiedlerisch neben diesen Gruppen sitzen hier und dort einzelne in die Lektüre der Schachblätter, in das Nachspielen von Partien, in die Lösung von Problemen vertieft, oft stundenlang unbeweglich wie die Säulenheiligen und nur bisweilen einen mißvergnügten Blick auf einen unliebsamen Störer werfend, der ihnen das Licht absperrt.

Zu den großen Veranstaltungen der Neuzeit auf dem Gebiete des Schachs gehören die internationalen Meisterturniere, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an Zahl und Bedeutung gewonnen haben. Es war im Jahre 1851, als ein Deutscher, der Gymnasiallehrer Adolf Anderssen, in einem solchen Turnier in London den ersten Preis gewann und seitdem als der erste der deutschen Schachspieler galt, denn auch in einem späteren Londoner Turnier 1862 und in dem großen internationalen Turnier zu Badend-Baden 1870 war er der erste Preisträger. Bis zur Gegenwart ehrt ihn die ganze deutsche Schachgemeinde mit allen ihren neuauftauchenden Größen als den Meister. Professor Anderssen ruht schon seit 1879 auf dem Breslauer Friedhof, aber die Pietät der Nachstrebenden feiert sein Angedenken, in fast allen Klubzimmern hängt sein Bildnis. Der biedere, kurzangebundene, etwas barsche Mathematiker war ritterlich im Schachspiel wie die höflichsten Meister der Neuzeit und allgemein beliebt. Im Jahre 1877 veranstaltete der Leipziger Schachklub „Augustea“ zur Feier der 50jährigen Wirksamkeit des Meisters eine Anderssenfeier[1], bei welcher die namhaftesten Spieler sich in einem großen Turnier bekämpften. Zwei Jahre darauf, 1879, wurde in Leipzig der Deutsche Schachbund gegründet, der auch in der Gegenwart noch fortbesteht, bis vor kurzem unter der thatkräftigen Leitung des schon damals zum Generalsekretär erwählten Hermann Zwanzig, dessen Tod wir leider zu Anfang dieses Jahres unsern Lesern melden mußten. Es gab schon früher einzelne landschaftlich beschränkte Schachverbindungen, einen westdeutschen, einen mitteldeutschen Schachbund u. a.; aber erst auf dem Leipziger Rütli versammelten sich die Vereine zum Bunde, wurde die große Eidgenossenschaft der deutschen Schachspieler ins Leben gerufen.

Der Deutsche Schachbund umfaßt gegenwärtig ungefähr 85 Schachklubs, er hat seine Satzungen, denen sich auch die ausländischen Meister unterwerfen müssen, wenn sie zu seinen Turnieren kommen. Durch ihn hat das Schachleben in Deutschland großen Aufschwung genommen; freilich hat es auch immer mehr sein früheres häusliches Gepräge verloren und ist an die Öffentlichkeit gedrängt worden. Der Schachbund veranstaltet alle zwei Jahre an diesem oder jenem Vorort große Turniere, mit welchen Generalversammlungen verbunden sind. Die Turniere bestehen aus einem Meisterturnier, einem Hauptturnier und kleineren Nebenturnieren.

Zum Meisterturnier werden die bisher anerkannten Schachspieler aus Deutschland und dem Ausland zugelassen; ferner ist zur Teilnahme an demselben derjenige berechtigt, der im letzten Hauptturnier den ersten Preis gewonnen hat, in zweifelhaften Fällen entscheidet der Ausspruch des Komitees. Es hat sich also allmählich eine gewisse Schachhierarchie herausgebildet und man muß eine Art von Examen bestehen, um die höheren Weihen als Schachmeister zu erhalten. Im Meisterturnier spielt jeder mit jedem; im Hauptturnier wird in Gruppen gespielt und die Sieger der einzelnen Gruppen kämpfen dann miteinander um die Preise. Für jeden Zug ist eine bestimmte Zeit festgesetzt (zwanzig Züge in der Stunde); sie wird durch die sogenannten Schachuhren geregelt, die ersparte Zeit kommt den anderen Zügen zugute. Zeitüberschreitung zieht den Verlust der Partie nach sich. Die Frage wird in streitigen Fällen von erwählten Schiedsrichtern entschieden. Die Spielregeln sind genau festgestellt, es werden keinerlei besondere Abmachungen geduldet. Solche Turniere haben in Leipzig, Berlin, Nürnberg, Hamburg, Frankfurt a. M., Breslau, Dresden stattgefunden und in einigen Städten hat sich ein zahlreiches Publikum dazu gedrängt. Die ausländischen Meister, namentlich die berühmten englischen Schachspieler, sind dabei in letzter Zeit von den jüngeren deutschen Kräften geschlagen worden. Neuerdings hat man beschlossen, in den Jahren zwischen den internationalen Turnieren nationale einzuschieben, bei denen nur deutsche Spieler Zutritt finden; das erste derartige Turnier hat im August vorigen Jahres in Kiel stattgefunden. Auch die einzelnen Schachklubs veranstalten bei Jubiläumsfesten und sonstigen Anlässen Turniere. Die Lanzen splittern daher gehörig in deutschen Landen und von Jahr zu Jahr mehren sich die preisgekrönten Häupter. Nun giebt es aber auch im Ausland, besonders in England und Amerika, häufige Turniere, und deutsche Kämpen haben besonders in England schon mehrfach erste Preise davongetragen.

Neben den Turnieren beschäftigen aber auch die Matchspiele die Aufmerksamkeit der Schachfreunde, es sind dies Wettkämpfe von zwei Gegnern, bei denen eine bestimmte Zahl gewonnener oder zuerst gewonnener Partien den Ausschlag giebt. In der Regel sind die Preise, welche von Schachklubs oder Schachmillionären gestiftet oder durch Sammlungen aufgebracht sind, sehr hoch. In diesen Matchspielen prägt sich die Eigenheit der Spieler noch schärfer aus als bei den Turnieren, sie haben sich gegenseitig die beliebtesten Fechterstellungen abgelauscht und suchen sich in dieser oder jener Weise die Paraden zu durchhauen. Es kommt dabei sehr viel auf die Spielweise an. Schon bei den Turnieren zeigt es sich oft, daß der eine gegen einen andern niemals aufkommen kann, während er doch die Sieger über denselben zu besiegen pflegt. Die Persönlichkeit der Feldherren entscheidet ja auch oft im Kriege, und einem Fabius Cunctator gewinnt ein Hannibal, der sonst die Feinde über den Haufen stürmt, keinen Sieg ab. Die Matchspiele berühmter Schachmeister gehören zu den großen Sensationsstücken des Schachspiels. Solches Aufsehen erregte 1858 der Wettkampf des deutschen Meisters Anderssen gegen den jungen genialen Amerikaner Morphy in Paris, bei welchem der Deutsche unterlag. Vor einigen Jahren (1886) erregte der große Match zwischen Steinitz und Zukertort, der in Nordamerika ausgefochten wurde und bei dem der letztere die Waffen strecken mußte, die allgemeinste Teilnahme und erst in den letzten Tagen hielt der Wettkampf zwischen Steinitz und Lasker die Schachwelt in Spannung. Die Schachmeister sind jetzt mehr oder weniger zu Weltreisenden geworden, die von einem Festland zum andern hinüberschiffen. Für die internationale Bedeutung des Schachspiels ist es bezeichnend, daß der Schachklub zu Habana auf der Insel Kuba jetzt ein Mittelpunkt der Matchspiele geworden ist und von ihm Einladungen an russische Meister wie Tschigorin und an jüngere deutsche Schachspieler ausgegangen sind.

Eine eigentümliche Abart, die das Schach neuerdings gezeitigt hat, ist das Blindlingsspiel. Wer einer solchen Schaustellung beiwohnt, der wird schon durch die Einrichtung des Spielraums einen befremdenden Eindruck erhalten. An einem langen Tische sitzen die Spieler, welche sich bereit erklärt haben, Partien gegen den Blindlingsspieler zu übernehmen, sie haben die Schachbretter vor [439] sich. Aber der Partner scheint zu fehlen, sie scheinen mit Geistern zu kämpfen, die in der leeren Luft hausen. Doch in einem Winkel, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, sitzt der Meister, der, ohne auf irgend ein Brett zu sehen, alle diese Partien spielt und in der Regel die große Mehrzahl derselben gewinnt.

Die Bretter sind numeriert, und von dem einen zum andern gehend, sagt irgend ein Mitglied des Klubs die Züge auf denselben an, worauf der Blindlingsspieler den Gegenzug nach kürzerem oder längerem Besinnen angiebt. Es ist klar, daß diese Art zu spielen einen großen geistigen Kraftaufwand verlangt, eine gesammelte Thätigkeit der inneren Anschauung; dem Blindlingsspieler müssen alle diese Partiestellungen in jedem Augenblick gegenwärtig sein und er darf sich durch den kaleidoskopischen Wechsel derselben nie verblüffen lassen. Ein hoher Grad von Geistesgegenwart und nicht zu verwirrender Ruhe und Klarheit gehört dazu, um alle diese Spiele in ihrem jedesmaligen Stand, im bisherigen Entwicklungsgang und in den sich darbietenden Möglichkeiten der Weiterführung zu beherrschen – man bedenke nur, wie manche Fehler und Mißgriffe, ja Zerstreutheiten sich selbst Meister zu Schulden kommen lassen, welche das Schachbrett vor Augen haben und einem einzigen Gegner gegenübersitzen! Von vielen Blindlingsspielern ist bekannt, daß sie sich am Tage der Vorstellung geistig „trainieren“, um am Abend recht sattelfest zu sein. Ein vorzüglicher Blindlingsspieler war der Deutsche Louis Paulsen, der in Amerika mit seiner Kunst Triumphe feierte, und auch Zukertort hat darin oft seine siegreiche Meisterschaft bewiesen. Es ist natürlich, daß die Gegner des Blindlingsspielers nicht gleichstehende erste Schachhelden sein können, eine Regel, die auch bei einer andern Kraftleistung der Schachmeister gilt, bei dem Simultanspiel, welches darin besteht, daß ein einzelner gleichzeitig eine Mehrzahl von Partien, aber sehenden Auges spielt. Diese Zahl kann eine weit größere sein als beim Blindlingsspiel, hier werden höchstens zwölf, dort in der Regel mehr als zwanzig Partien in Betracht kommen. Der Geistesgegenwart bedarf auch der Simultanspieler; doch ihm genügt meistens der rasche Blick, mit dem er sich den Charakter der Partie und der Stellung stets frisch vergegenwärtigt. Der Simultanspieler geht von einer Partie zur andern und macht die Gegenzüge selbst.

Sehr verbreitet sind gegenwärtig auch die Korrespondenzpartien, welche zwischen verschiedenen Klubs, bisweilen auch zwischen einzelnen Meistern gespielt werden. Hier übermittelt die Post die geschehenen Züge und die Bedenkzeit beläuft sich auf mehrere Tage. Eine größere Vertiefung des Spiels als bei den Meisterturnieren, eine genauere Durchprüfung aller Möglichkeiten wird durch die längere Zeitdauer ermöglicht. In der Regel wählen die Klubs Spielkomitees, die sich gegenübertreten, und wenn in den Klubs selbst bisweilen sogenannte „Konsultationspartien“ veranstaltet werden, bei denen auf beiden Seiten sich mehrere Spieler über die Züge beraten, so haben die Korrespondenzpartien denselben Charakter, nur daß bei ihnen die Einheit von Zeit und Ort nicht gewahrt ist und die Post in Mitleidenschaft gezogen werden muß.

Neben der praktischen Partie, welche vorzugsweise in den Klubs und bei den Kongressen gepflegt wird, spielt das Problem im Schachleben der Gegenwart eine große Rolle, eine viel größere als früher. In der Form des Problems wird das edle Schach insbesondere von den illustrierten Zeitschriften und so auch von der „Gartenlaube“ gepflegt. Diese Schachaufgaben zu lösen, ist eine willkommene Beschäftigung für ländliche Einsamkeit, für müßige Stunden, für die stillen Denker, die sich vom Lärm der Welt zurückgezogen haben, es giebt aber auch geübte Leser, welche den gordischen Knoten der Probleme sehr rasch zu zerhauen wissen. Das Problem hat man mit Recht die Poesie des Schachspiels genannt; hier herrscht die freie geniale Erfindung, das Ueberraschende, Blendende, während die Partien sich längere Zeit in einem durch die Theorie vorgezeichneten Gang bewegen und auch später das Streben nach strenger Regel jedes kühnere, irgendwie zweifelhafte Wagnis ausschließt. Bei den großen Meisterturnieren wird die Spielweise um so leichter ins Nüchterne verfallen, als der Hauptzweck, den Preis zu erlangen, ebenso durch kleine, allmählich eingeheimste Vorteile wie durch glänzendes Spiel erreicht werden kann. In der That findet man, wenn man die Partien der Meisterturniere durchspielt, recht viel dürre Heide, während sich geniale Wendungen häufig in den Spielen einzelner junger Kräfte zeigen, die man aber trotz mancher glänzend gespielter Partien nicht in den Reihen der ersten Preisträger trifft. Um so mehr tritt das Problem in sein Recht, das Epigramm des Schachspiels. Es ist ein künstlich zusammengestelltes Endspiel, das in einer bestimmten Zahl von Zügen, zwei, drei, vier, selten mehr, zum Abschluß, zum „Matt“ führen soll. Es ist natürlich, daß diese Züge nicht auf der Hand liegen dürfen, sondern daß der Scharfsinn herausgefordert wird, sie herauszufinden. Je nach den Zügen des Gegners muß auch der Anziehende verschiedene Züge machen, die aber den Abschluß in der von Hause aus bestimmten Zahl erreichen müssen. Das macht den Reichtum der sogenannten Varianten aus, je mannigfacher und überraschender sie sind, desto mehr glänzt das Genie des Erfinders. Durch labyrinthische Verschlingungen, die ein kühner Zug entwirrt, durch gewagtes Opfern von Figuren üben viele Probleme auf die Phantasie der Schachfreunde eine ebenso anregende wie befriedigende Wirkung aus. Dem Wesen der Zeit gemäß findet auch auf dem Gebiete des Problems großer Wettkampf und eifrige Preisjagd statt. Die Problemturniere sind noch häufiger als die Meisterturniere, mit denen sie in der Regel verbunden werden. Ueber die Preisverteilung entscheiden mehrere Preisrichter, die durch Kenntnis des Problemwesens oder auch als Schöpfer auf diesem Gebiete ihre Berechtigung dazu erwiesen haben. Die Problemkunst hat nicht nur ihre Regeln, sondern auch ihre verschiedenen Richtungen, so daß hier bei den Preisverteilungen die Sicherheit fehlt, mit welcher bei gespielten Partien die Preise an die unzweifelhaften Gewinner vergeben werden, aus diesem Grunde können auch die Urteile höchst unparteiischer Preisrichter von der einen oder andern Seite angefochten werden. Bei den Schachkongressen findet in der Regel auch ein kleines Lösungsturnier statt – den Preis erhält dabei derjenige, welcher ein zu diesem Zweck ausgewähltes Problem am raschesten mit vollständiger Angabe aller Varianten löst.

Das Schachleben steht, wie wir sehen, in voller Blüte, überall Klubs und Turniere, und die Probleme wuchern in allen Zeitungsspalten. Die Namen berühmter Schachspieler liest man fast so oft in den Blättern wie die Namen berühmter Schauspieler, und allerlei Auswüchse, welche mit dem Streben nach Tagesruhm verbunden sind, lassen sich von den einen so wenig fernhalten wie von den anderen. Sie hängen auch damit zusammen, daß das Schachspiel nicht bloß ein Sport, sondern auch ein Erwerbszweig geworden ist – weniger in Deutschland, wo die älteren Schachmeister auch in bürgerlichen Stellungen ihre Tüchtigkeit bewährten, als in England und Amerika, wo es schon seit längerer Zeit Kongreßreisende giebt, die bald auf der einen, bald auf der andern Halbkugel auftauchen, wo nur irgend ein Preis in Sicht ist, und die, wenn sie keine Preise gewinnen, bisweilen in großer Verlegenheit sind, wie sie sich wieder nach Hause finden sollen.

Durch den bisherigen Charakter unserer Schachklubs sind die Frauen ausgeschlossen, keineswegs durch den Charakter des Spiels und ihre eigene Fähigkeit für dasselbe. Die jetzige Frauenbewegung wird allmählich auch das „Königliche Spiel“ in ihre Kreise ziehen. Namhafte Problemdichterinnen giebt es in England, aber auch in Deutschland, und es haben auch schon Frauenschachturniere in Berlin und London stattgefunden. Die reiche Phantasie, welche sich in den Werken der schriftstellernden Frauen kundthut, kann auch im Schachspiel zur Geltung kommen, und die kleinen Listen der versteckten Pläne und maskierten Züge darf man den Frauen im Schachspiel wohl zutrauen.

Fragen wir nach den Namen der berühmten Schachmeister der neueren Zeit, so haben so viele hier und dort Erfolge errungen, erste Preise gewonnen und Zeitungsstaub aufgewirbelt, daß nur ein langes Namenregister allen diesen Preisträgern gerecht werden könnte. Hier gilt es, einige Namen hervorzuheben, deren Ruf unbestreitbar ist. Am hellsten leuchtet das Doppelgestirn Anderssen–Morphy, und die geniale Spielweise dieser beiden Meister ist bis auf den heutigen Tag kaum übertroffen worden. Adolf Anderssen (1818 bis 1879), wie schon erwähnt, Oberlehrer in Breslau, unterlag 1858 im Wettkampf gegen den jungen amerikanischen Juristen Morphy, in einer Weise, die seinen Weltruhm gefährdete, doch stellte er denselben durch zwei gewonnene erste Preise in großen Meisterturnieren wieder her. Paul Morphy (1837 bis 1884), in New Orleans geboren, glich einem glänzenden Meteor: so rasch, wie es emporstieg, so rasch erlosch es auch wieder. Der zwanzigjährige Jüngling errang beim Kongreß zu New York den ersten Preis, und zwar ließ er alle Mitspieler weit [440] hinter sich. In Europa schlug er nacheinander in Zweikämpfen Harrwitz, Löwenthal und Anderssen – und nachdem er durch diesen letzten Sieg den Zenith seines Schachruhms erreicht hatte, zog er sich auf einmal gänzlich vom Schachspiel zurück und widmete sich seiner Advokatenpraxis. Er hatte kaum den Schachthron bestiegen, als er schon Krone und Scepter wieder niederlegte. Man hörte nur noch einmal von ihm, als er Ende der sechziger Jahre in eine schwere Krankheit verfiel, von welcher er sich nicht wieder erholte, er starb in geistiger Umnachtung.

Wie Anderssen und Morphy, so haben später zwei andere Meister, Zukertort und Steinitz, in Amerika um den Ruhm gekämpft, die ersten Schachmeister der Welt zu sein. Zukertort (1842 bis 1888) gehörte der Schule Anderssens an und hatte in Breslau, wo er Medizin studierte, vielfach mit dem Meister gespielt. Als freiwilliger Arzt beteiligte er sich an dem Feldzug von 1866, begab sich dann 1867 nach Breslau, wo er als Schachlitterat lebte, und 1872 nach London, wo er dauernd seinen Wohnsitz nahm. Bei verschiedenen Meisterturnieren hatte er erste Preise gewonnen, besonders glänzend in London 1883, und in zahlreichen Wettkämpfen erste Meister besiegt. Steinitz, den er in dem Londoner Turnier in vier Gewinnpartien überholt hatte, forderte jenen 1886 zu einem großen Match nach Amerika, wo Zukertort gänzlich geschlagen wurde, er konnte dies nie ganz verwinden und starb einige Jahre darauf. Er war schon kränklich gewesen in letzter Zeit und dies mag auch zum Teil an seiner letzten Niederlage schuld gewesen sein. Der Sieger, der über ein Vierteljahrhundert lang allgemein für den ersten Schachmeister der Welt galt, Wilhelm Steinitz, ist 1837 zu Prag geboren, machte schon nach 1860 in der Wiener Schachgesellschaft von sich reden, kam 1862 nach London und 1884 nach New York. Wie er Zukertort schlug, so hat er auch später den Russen Tschigorin, den stärksten Spieler des Czarenreichs, in zwei Wettkämpfen 1889 und 1892 geschlagen. Und erst in den letzten Tagen hat der Meister seinen Meister gefunden in dem noch nicht sechsundzwanzigjährigen Neumärker Emanuel Lasker, gegen den er in einem gewaltigen Match zu New York, Philadelphia und Montreal unterlag. Lasker, geboren am 24. Dezember 1868 zu Berlinchen, ist von Beruf Mathematiker und hat außer diesem jüngsten und glänzendsten bereits eine ganze Reihe von Erfolgen auf dem Schachbrett errungen.

Von älteren Schachmeistern erwähnen wir noch den stillen bescheidenen Louis Paulsen (1833 bis 1891), der seit 1854 in Amerika lebte, seit 1861 in Nassengrund, Lippe-Detmold; er war Sieger in zahlreichen Turnieren und Wettspielen, auch mit Anderssen, und ein ausgezeichneter Blindlingsspieler, als welcher er besonders in Amerika Aufsehen erregte.

Von der nachstrebenden begabten Jugend hat sich außer Lasker Siegfried Tarrasch, geboren 1862 zu Breslau, jetzt Arzt in Nürnberg, großen Ruf erworben, da er in drei Turnieren hintereinander, in Breslau 1889, in Manchester 1890 (beide Male ohne Verlustpartie) und in Dresden 1892, den ersten Preis errang. Doch auch andere Namen jüngerer Meister verdienten hier genannt zu werden, denn alljährlich tauchen neue Talente auf und die auswärtigen Meister gehen jetzt mit Zagen zu einem deutschen Turnier, wo ihnen stets neue, hochbegabte und oft siegreiche Spieler entgegentreten.


Skizzen aus dem häuslichen Leben.

Von Hans Arnold.
Unsere Flora.

Diese Flora ist jedenfalls eine Herbstflora!“ hatte der Hausherr mit etwas schmerzlich verzogenem Gesicht gesagt, als unsere damals „neue“ Köchin von ihm bei Gelegenheit der polizeilichen Anmeldung beaugenscheinigt wurde.

Wir übrigen Anwesenden waren mit dem Familienhaupte darüber einig, daß Flora dem Auge nichts Bestechendes darbot. Sie war so über Lebensgröße geraten, daß wir sämtlich das Gefühl hatten, sie thäte besser, in Lieferungen zu erscheinen, und ihre Gesichtszüge waren, der ganzen Erscheinung entsprechend, auch so groß und auseinandergezerrt, daß man zunächst auf den Gedanken kam, sie mache nur Spaß und werde ihr richtiges, ernstgemeintes Gesicht bei passender Gelegenheit erst zum Vorschein bringen.

Jung war Flora auch nicht mehr – wenn auch jedenfalls jünger als jene Dame meiner Bekanntschaft, der von ihren Zeitgenossinnen aus Anlaß ihrer späten Verlobung der Vorwurf gemacht wurde: „Sie spielt sich auf die Vierundfünfzigjährige.“

Nach kurzer Zeit machten wir die Entdeckung, daß unsere Flora – sie hieß übrigens Flora Gewölke, wie ich den Lesern nicht vorenthalten will – also daß unsere Flora eigentlich zur Fauna gehörte, indem sie nämlich ein Drache war. Der kräftige Zug in ihrem Wesen wirkte aber insofern wohlthuend, als ihre Vorgängerin an den entgegengesetzten Eigenschaften gelitten hatte. Diese hatte sich beständig in Thränen und Seufzern aufgelöst – hatte mit unberechtigtem Pessimismus erklärt: „Wenn ich meinen Sonntag habe, regnet es immer!“ und konnte beim Anblick der ihr zum Reinigen überlieferten Wäsche mit einem dumpfen Wehelaut zusammenbrechen: „Ach – was Wäsche!“

Nach dieser trauernden Muse war, wie gesagt, die frische Unternehmungslust unserer Flora sehr angenehm. Sie bezeichnete ihre Eigenart bereits beim Dienstantritt selbst mit den Worten: „Ich bin ein Russe und arbeite wie ein Pferd,“ berechtigte also zu den schönsten Hoffnungen. Da sie nebenbei – oder nicht nebenbei – vorzüglich kochte, so lebte die Familie alsbald sehr glücklich mit ihr. Allerdings konnte dies, der Wahrheit die Ehre, nur durch ein gänzliches Aufgeben der eigenen Selbständigkeit seitens der Hausfrau ermöglicht werden. Flora arbeitete wie ein Pferd, war aber auch eigensinnig wie ein solches und riß das Hausregiment, soweit es ihre Küche betraf, mit beispielloser Herrschsucht an sich. Sie kaufte alles ein, sie bestimmte den Küchenzettel und tobte bei Versuchen, ihr mild und vorsichtig „drein zu reden“, wie ein riesiges Unwetter in der Küche umher. Als die Hausfrau, mit einem letzten, schüchternen Versuch, ihre rechtliche Stellung zu wahren, die Dreistigkeit begangen hatte, ein Suppenhuhn eigenhändig zu erstehen, stieg Floras Empörung ins Maßlose, und sie erklärte das Huhn für bucklig, da sie außer stande war, ihm sonstige Schlechtigkeiten aufzubürden. Die Gegenvorstellung, daß es bei einem Huhn mehr auf zartes Fleisch wie auf tadellosen Wuchs ankäme, prallte wirkungslos ab, und die Hausfrau konnte nur durch das feierliche Gelübde, „es nie wieder zu thun“, unsere Flora wieder in einen erträglichen Zustand versetzen.

Flora war Witwe. Wie ihr Ehestand gewesen, ob sie den seligen Gewölke geprügelt hatte oder er sie, darüber brachten wir nichts in Erfahrung. Flora erzählte nur der Hausfrau beim gemeinsamen Bereiten eines Kartoffelsalats – eine Beschäftigung, die für Köchinnen so sicher das Signal zu Vertrauensergüssen ist wie für Backfische ein Spaziergang im Mondschein – also bei dieser häuslichen Beschäftigung erzählte Flora der Hausfrau von ihrer Hochzeit und fügte die Versicherung bei: „Ich war die schönste Braut, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe,“ was wegen mangelnden Gegenbeweises natürlich blind geglaubt werden mußte.

Jedenfalls hatte der selige Gewölke nie über schlechtes Essen zu klagen gehabt, was ja die erste Grundbedingung zu einer glücklichen Ehe sein soll – und so konnten wir denn annehmen, daß Gewölkes eine Musterehe geführt hatten, um so mehr, da Flora wirklich ein grundbraves Geschöpf war. Eine der besten Seiten unserer Flora war ihre blinde und zärtliche Liebe zu den Kindern des Hauses. Vom „jungen Herrn“, dem Sekundaner, an, dem sie den Scheitel machen mußte, bis zum Kleinsten, dem sie Aniskuchen buk, liebte sie die ganze Kinderschar glühend, und diese Neigung wurde von deren Gegenständen aufs leidenschaftlichste erwidert. Gingen die Eltern in Gesellschaft, so war es das größte Fest für die Kinder, wenn Flora sich zu ihnen gesellte und mit ihnen „Glock’ und Hammer“ um Backpflaumen spielte oder mit ihnen tanzte, wobei sie vermöge ihrer riesigen Körperkräfte stundenlang zugleich Orchester und Tänzerin war und mit brüllender Stimme, ohne zu ermatten, den Walzer vom „Mann mit dem Koks“ ertönen ließ. Diese Freuden waren für die Kinder so entzückend,

[441]

Die Habenschadenfeier der Münchener Künstler auf Burg Schwaneck.
Nach der Natur gezeichnet von Fritz Bergen.

[442] daß sie, nach einem besonders reizvollen Abend mit Flora, sich schmeichelhafterweise bei den Eltern erkundigten. „Geht Ihr nicht bald ’mal wieder aus?“

Im ganzen war Flora überhaupt stets gut gelaunt, außer wenn sie von den geheimnisvollen Besuchen des „Mah“ zu leiden hatte. Der „Mah“ war ein ostpreußischer Dämon von sonderbaren Gewohnheiten, die ungefähr denen des internationalen „Alp“ entsprachen, d. h. er wälzte sich im Schlaf auf die Menschen und drückte ihnen die Kehle zu. Von Zeit zu Zeit machte der „Mah“ denn auch Würgeversuche an der Flora, die, wie gesagt, eine namenlos üble Laune bei ihr hervorriefen. Nach Floras Versicherung hatten nur Sonntagskinder die Aussicht, von den angenehmen Beziehungen zum „Mah“ verschont zu bleiben, und da der Storch so rücksichtslos gewesen war, Flora an einem Mittwoch in dieses Jammerthal zu setzen, so sah der „Mah“ selbstredend nicht ein, warum er ihr eine bevorzugte Stellung einräumen sollte.

Diese Scharmützel mit dem „Mah“ blieben übrigens lange Zeit Floras einzige gesellige Zerstreuung. Sie ging nie aus. Sie putzte sich sonntäglich allerdings sehr schön, aber nur, um nachmittags in der Kirche zu sitzen, dann in ihrem unsäglich zerfetzten Traumbuch zu lesen oder an einer sehr häßlichen, handbreiten Spitze zu häkeln, über deren Bestimmung sie sich selbst nicht klar schien, die sie aber meterweise zu Tage förderte.

Um so überraschender wirkte es, als Flora eines Sonnabends erschien und um die Erlaubnis bat, am folgenden Sonntag nicht allein ausgehen, sondern sogar den Hausschlüssel mitnehmen zu dürfen, da „Portiers“, mit denen sie sich für gewöhnlich ungefähr so gut vertrug wie Brunhild mit Chriemhild, sie zu einem „Vergnügen“ eingeladen hätten. Natürlich wurde dieses Verlangen anstandslos bewilligt. Flora wanderte am nächsten Nachmittag ab, in einem kornblumenblauen Gewande, einen großen Rembrandthut schräg auf dem Kopf und mit weißen Handschuhen, einem Geschenk des Hausherrn, welches Flora mit unsäglichem Stöhnen und geradezu übermenschlicher Kraftanstrengung über ihre Riesenhände gezogen hatte.

Die Kinder staunten die königliche Erscheinung der Flora mit offenem Munde an und besprengten sie mit Parfüm aus ihren Riechfläschchen, um sie vollends zur Weltdame zu stempeln. Duftend und farbenprächtig zog denn Flora ab, und es sollte sich – fast hätte ich gesagt „leider!“ – zeigen, daß sie nicht umsonst so unwiderstehlich ausgesehen hatte.

Etwa drei Wochen nach diesem sorgenschweren Sonntage trat Flora zu ungewohnter Zeit bei der Hausfraü ein, schlug die Augen nieder, zupfte an ihrer Schürze und gebärdete sich wie ein verschämtes Mammut, das ein Geständnis zu machen hat.

Zur Aussprache ermutigt, gab Flora die Erklärung ab, sie habe auf dem „Vergnügen“ mit Portiers einen „jungen Menschen“ kennengelernt, der sich um sie zu bewerben geneigt sei. Da sich bei näherem Befragen ergab, daß der „junge Mensch“ achtundvierzig Lenze erblickt habe und „an der Bahn“ sei, so trug die Sache ein solides Gepräge, und es ließ sich den beabsichtigten Besuchen des Freiers nichts entgegensetzen.

„Ein sehr ordentlicher junger Mensch!“ versicherte Flora. „Wie er mir Guten Abend sagte, schlug er so mit dem Fuß aus, daß ich dachte, er wollte mich verscharren,“ ein Zeugnis für die Salonmanieren des „Scholz“ – so hieß der Glückliche – das einen Mann von feinsten Umgangsformen zu verheißen schien.

Wir waren natürlich alle sehr gespannt, die persönliche Bekanntschaft des Scholz zu machen, doch dauerte es ziemlich lange, bis uns das zu teil ward. Vorläufig wurde Flora von heftiger Vergnügungssucht ergriffen und erklärte in ihrer wunderbaren Ausdrucksweise, sie sähe nicht ein, warum sie „ihr bißchen Jugend verknatterm sollte“.

Wir sahen das auch nicht ein, und Flora wanderte allsonntäglich mit unverknatterter Jugend ab und traf sich irgendwo mit dem Scholz, so daß er für uns eine mythische Figur bleiben zu wollen schien.

An einem Sonntag aber war entsetzliches Wetter, der „Mah“ hatte die Flora gewürgt, und sie blieb zu Hause. Wir hofften schon im stillen auf ein Zerwürfnis mit dem „jungen Menschen“, es war aber nichts.

Wie der Geist im Märchen sein Erscheinen durch eine Wolke von Wohlgeruch anzukündigen pflegt, so meldete sich abends der Scholz durch einen entsetzlichen Tabaksqualm an, der aus der Küche im Erdgeschoß drang und sich mitteilsam durch die ganze Wohnung verbreitete. Die Kinder, mit der ihnen eignen Findigkeit, errieten sofort den Grund dieses Uebelstandes, stürzten mit mühsam unterdrücktem Jubel nach der Küchentreppe, pufften sich gegenseitig bis in die Nähe der Thür und wichen quieksend zurück, bis sie endlich sich überstürzend und überschreiend, ins Wohnzimmer drangen.

„Der Scholz ist da! Wir haben ihn gesehen!“

Die Hausfrau ertrug die Qualen der Neugier nun auch nicht länger. „Sagt ihr doch, sie soll ihn einmal heraufbringen!“ befahl sie.

Nach wenig Minuten trat denn auch unsere Flora an – anscheinend allein. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckte man in ihrem Schatten ein kleines, sehr kleines, blondes, verhungert aussehendes Männchen, etwa einundeinenhalben Kopf kleiner als seine riesige Erwählte und entschieden etwas überwältigt von seinem Glück.

Flora schubste mit der ihr eignen Zartheit an dem Scholz herum und brachte ihn in den Vordergrund. Die Hoffnung, er werde sich auch vor uns so verbeugen, als wenn er uns verscharren wollte, trog leider, das schien er sich nur für Eroberungsversuche aufzubewahren. Er lächelte stumm und verlegen und schien sehr erleichtert, als er sich wieder empfehlen durfte. Bei uns hieß er von dem Tage an nur „Floras Spazierstöckchen“, denn den Eindruck machte er durchaus, wenn er mit seiner Riesin zu sonntäglichen Belustigungen abwanderte.

Wie vorauszusehen, kündigte unsere Flora uns binnen kurzem an, sie würde nun heiraten und uns verlassen. Da der „junge Mensch“ achtundvierzig Jahre und die Braut, sagen wir, nicht jünger war, so lag ja auch kein Grund vor, warum beide „ihr bißchen Jugend verknattern“ sollten, und die Hochzeit wurde auf eine nahe Frist festgesetzt.

Die Thränen der Kinder versiegten bei der Aussicht, daß Floras Ehrentag bei uns gefeiert werden sollte und die gesamte Jugend des Hauses dabei sein dürfte.

Flora begann nun mit wahrem Feuereifer für ihre Häuslichkeit mit dem „Spazierstöckchen“ Vorräte zu sammeln, die furchtbare Spitze erwies sich als für Vorhänge durchaus geeignet, wir alle schenkten natürlich auch Kleinigkeiten in die junge Wirtschaft. Schließlich erstand Flora noch auf einer Versteigerung sogar ein Klavier – für drei Thaler! – daher man sich von dem Kunstwert und der Klangfarbe des Instruments ungefähr eine Vorstellung machen kann. Auf die erstaunte Erkundigung der Hausfrau: „Aber Flora, was wollen Sie denn mit dem Klavier?“ erwiderte die Befragte seelenruhig: „Wenn es nichts anderes ist, ist es ein Tisch“ – wogegen sich ja nichts einwenden ließ.

Die Hochzeit verlief aber nun wirklich prunkend, und sogar mit einem unerwarteten Schlußeffekt, den ich meinen Lesern nicht vorenthalten will.

Der große Tag fiel in den Mai, und der Scholz hatte schüchtern, wie es ihm zukam, den Vorschlag gemacht, nach der Trauung eine Landpartie zu unternehmen.

„Er denkt sich das so schön, mit mir unter grünen Bäumen herumzusäuseln,“ sagte die zarte Braut. „Ich werde ihm was säuseln! Hübsch zu Hause geblieben wird und ‚Schloklade‘ getrunken!“

Flora sagte aus unbekannten Gründen immer „Schloklade“ statt „Chokolade“, „Appelrosinen“ statt „Apfelsinen“ und „Pöpelfleisch“ statt „Pökelfleisch“.

Also ein Hochzeitsmahl mit „Schloklade“ wurde beliebt, zu dem Flora eigenhändig ein sehr schönes und sehr fettes Gebäck, „Räderkuchen“, gebacken hatte, in dem sie besonders stark war.

Der Hausherr ließ es sich nicht nehmen, der „Schloklade“ noch eine Bowle beizufügen, und wir alle, die Kinder, Portiers und einige Kollegen vom Scholz, saßen um den festlich geschmückten Hochzeitstisch. Die Flora war natürlich auch dieses Mal die schönste Braut, die sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte, und nahm die allgemeinen Huldigungen herablassend entgegen. Zunächst sprach fast niemand ein Wort, wie das bei so verschieden zusammengesetzten Gesellschaften so leicht kommt. Alle tranken taubstumm und freundlich ihre „Schloklade“, und selbst die Bowle vermochte die Zungen nicht zu lösen. Nur der glückliche Bräutigam trug insofern etwas zur Unterhaltung bei, als er allen Anwesenden und vielleicht auch sich selbst zur Ueberraschung plötzlich in bittere Thränen ausbrach, von denen es bis zur Zeit unaufgeklärt blieb, ob sie der Bowle oder der Seelenangst vor seinem neuen Glück und dessen riesiger Vertreterin zuzuschreiben waren.

Die Kinder, von diesem Verfahren ermutigt – Weinen und [443] Lachen steckt bekanntlich so leicht an wie Masern – begannen jetzt auch zu schluchzen, da die Stunde herannahte, wo sie ihre Flora hergeben sollten.

Da erhob die Braut ihre Stimme und sprach die denkwürdigen Worte: „Weint nicht erst, Kinder! Man weiß ja nie, wie’s im Leben kommt! Der liebe Gott kann ja einen von uns beiden ’mal bald zu sich nehmen – und dann ziehe ich wieder zu Euch! Nicht wahr, Scholz?“

Daß der Bräutigam diesem heiteren Zukunftsplan nicht gerade mit Jauchzen und Begeisterung zustimmte, sondern sich mit der zu nichts verpflichtenden Bemerkung begnügte: „Wir werden ja sehen!“ wird ihm wohl niemand verdenken können.

Wir andern saßen natürlich „zu Statuen entgeistert“ um den Hochzeitstisch, und der eigentümliche Toast, durch den Flora diese feierliche Stille hervorgerufen hatte, diente zugleich als Zeichen für das Aufheben der Tafel.

Als dann unsere Flora mit ihrem Scholz abgeschwebt war, sahen wir dem kleinen Ehemann ungefähr mit den Empfindungen des alten Kinderliedes nach, in dem es heißt: „Putthöneken, Putthöneken, wie ward et Dir ergahn!“

Einige Wochen nach der Hochzeit schrieb Flora einen Stadtpostbrief und lud unsere Kinder sämtlich zum Kaffee ein. Die Aufregung war ungeheuer, wie man sich denken kann! Mit Vorräten an Würsten, Butter und Semmeln beladen, um den Scholzschen Haushalt durch ihren Masseneinfall nicht zu schwer zu schädigen, zog die Gesellschaft ab und kam erst ziemlich spät wieder heim, im höchsten Grade befriedigt von den gewonnenen Eindrücken.

Bei Scholzens war es „reizend“ gewesen! Sie hatten an dem gedeckten Klavier, was richtig zum Tisch herabgewürdigt war, Kaffee getrunken. Die Flora hatte Räderkuchen in ungeheuren Mengen gebacken, und alle Kinder schwärmten für den Scholz, der Reuters Werke besaß und sich als liebenswürdigster Wirt gezeigt hatte. „Und das Beste ist,“ berichtete unser Aeltester, „die Flora fürchtet sich vor dem Scholz! Der Scholz kommandiert sie wie ein Feldwebel, und als wir weggingen, mußte sie ihm die Pantoffeln anziehen.“

Und so war es! Durch welche geheimnisvollen Eigenschaften der Scholz sich ein so beispielloses moralisches Uebergewicht über seine riesige Lebensgefährtin verschafft hatte, blieb unaufgeklärt, aber die Thatsache ist nicht wegzuleugnen, daß die große Flora ganz gehörig unter dem Pantoffel stand und auf den Wink des „Spazierstöckchens“ wie ein Apportierhündchen hin und her laufen mußte.

Ob sie angesichts dieser Verhältnisse es beklagte, daß sie ihre Selbständigkeit bei uns mit den Rosenketten der Ehe vertauscht hatte, das weiß ich nicht zu sagen. Ich glaube es aber nicht, denn Scholzens machen einen sehr zufriedenen Eindruck, so daß es scheint, als hätte Flora doch zu sanfter Unterwürfigkeit mehr Talent, als wir an ihr bemerkt hatten.

Ihre schönen Ausdrücke hat sie übrigens noch beibehalten, neulich trennte sie sich von uns mit den Worten: „Jetzt muß ich aber machen, daß ich nach Hause komme, denn wenn der Scholz sein Abendbrot zu spät kriegt, macht er ein Gesicht so lang wie ein Ausziehtisch zu vierundzwanzig Personen.“

Und da hat ja der Scholz ganz recht!

Flora hat ihn übrigens vermöge ihrer vorzüglichen Küche so herausgefüttert, daß er aufblüht wie eine Rose. Und obwohl damit für uns die Aussichten auf Floras Wiederkehr geringer werden, so freuen wir uns doch seines Wohlergehens – man muß ja kein Egoist sein!




Das Ende eines königlichen Abenteurers.

Von Eduard Schulte.
(Schluß.)


In Castellamare angekommen, hatte Othello, noch ehe er seine Briefe abgab, mit seinem Schwiegervater über seine Aufträge gesprochen. Dieser aber wurde zum Verräter und erstattete der Polizei Anzeige. In der nächsten Nacht drang die Polizei in das Haus, nahm die Briefe in Beschlag und verhaftete den Mamelucken. Die durch die Aufschriften als Empfänger bezeichneten Personen wurden ebenfalls verhaftet und angewiesen, dem Verfasser der Briefe so zu antworten, als wenn sie auf freiem Fuße wären, ihren Antworten aber den Wortlaut zu geben, den der Polizeiminister in Neapel dafür festgesetzt hatte und der dahin ging, daß ein Landungsversuch alle Aussicht auf Gelingen habe und daß dafür Salerno zweifellos der geeignetste Hafen sei. Zwei der Briefempfänger, ein aus Spanien stammendes Brüderpaar, weigerten sich, diesem Befehle nachzukommen, sie wurden in Haft behalten. Die übrigen, fünf an der Zahl, erkauften ihre Freiheit durch Befolgung des Polizeibefehls. Mit der Ueberbringung der Briefe an Murat wurde vom Minister ein gewisser Luigi beauftragt, der in Diensten der Polizei stand. Luigi kam am 28. September früh in Ajaccio an, stellte sich dem König Joachim als Bote Othellos vor, der noch in Castellamare bleiben wolle, überreichte die Briefe und spielte vor dem Könige den begeisterten Parteigänger. Murat ahnte nicht im entferntesten, daß er einen Verräter vor sich hatte, der ihm gefälschte Briefe überbrachte. In der Freude über die günstigen Berichte, die er mündlich und schriftlich empfangen, gab er seinen Offizieren ein großes Fest, ließ den Soldaten doppelte Löhnung auszahlen und ordnete den Aufbruch des Geschwaders für den Abend desselben Tages an.

König Murat saß noch an der Tafel, da meldete man ihm einen Herrn von Maceroni, der im Auftrage des Kaisers Franz von Oesterreich kam. Murat empfing den Abgesandten in einem Nebenzimmer und nahm aus seinen Händen ein unter dem 1. September erlassenes kaiserliches Schreiben entgegen, worin Kaiser Franz ihm eine Zufluchtsstätte auf österreichischem Gebiet anbot, jedoch nur unter der Bedingung, daß er fortan den Königstitel ablege, als Privatmann lebe und das österreichische Staatsgebiet ohne Erlaubnis des Kaisers nicht verlasse. Murat beendete lächelnd die Lesung dieses Briefes und trat mit dem Boten auf die Terrasse des Gasthofs. Dort sah man Murats Königsbanner wehen, man blickte auf sein im Hafen liegendes Geschwader und auf die die Straße füllende Menschenmenge, die beim Erscheinen Murats zu den Klängen seiner Militärkapelle rief: „Es lebe König Joachim!“ Staunend betrachtete der Bote das alles. Nun führte Murat ihn in den Salon, wo Offiziere Murats in glänzenden Uniformen versammelt waren, wie während der vorhergehenden Jahre in den Königsschlössern zu Neapel und Caserta. Von dem Gesehenen etwas eingeschüchtert, fragte der Bote: „Welchen Bescheid habe ich dem Kaiser von Oesterreich zu überbringen?“ Stolz antwortete Murat: „Sagen Sie meinem Bruder Franz, was Sie gehört und gesehen haben, und dann bestellen Sie ihm, daß ich noch heute abend ein Schiff besteige, um mir mein Königreich wiederzuerobern.“ Einige Stunden später ging Murat mit seinem Geschwader, an dessen Spitze er einen aus Malta stammenden Kapitän mit Namen Barbara gestellt hatte, unter Segel.

In welcher Selbsttäuschung befand sich doch der leichtlebige, hoffnungsfreudige, sorglose Murat! Mit den Vorbedingungen für ein Gelingen seines Unternehmens stand es so mißlich wie nur möglich. In den von Luigi überbrachten gefälschten Briefen hatte König Ferdinands Polizeiminister ihm deshalb Salerno als Landungsplatz bezeichnen lassen, weil von dem österreichischen Heere, das die Truppen Murats besiegt hatte, dort 3000 Mann standen. Die Anwesenheit der Oesterreicher im Königreich Neapel reichte bei der Ueberlegenheit der österreichischen Soldaten über die neapolitanischen allein hin, um eine erfolgreiche Schilderhebung zu gunsten Murats zu verhindern, und von dieser Anwesenheit mußte Murat Kenntnis haben, wenn er auch nicht für jede Stunde wissen konnte, an welchen Punkten sie standen. Erst nach dem Abzug der Oesterreicher hätte das Gelingen des Eroberungszuges einige Wahrscheinlichkeit für sich gehabt. Im neapolitanischen Heere hatte Murat wohl noch einige Anhänger, und es ist bezeichnend, daß König Ferdinand ihm lieber österreichische als neapolitanische Soldaten entgegenstellen wollte. Aber alle Offiziere, die als Parteigänger Murats bekannt waren, hatte König Ferdinand längst abgesetzt und in die Verbannung geschickt. Immerhin hätte Murat beim Eindringen in das Land einige Bataillone seines alten Heeres um sich versammeln können, wenn er selbst nur, wie Napoleon es that, mit einigen hundert Mann hinter sich gelandet wäre; aber so viele hatte er nicht, und auch nur mit denen zu landen, die er hatte, wurde ihm zum Teil durch Verrat unmöglich gemacht. Fast [444] alle seine Schiffskapitäne, Barbara nicht ausgeschlossen, sind, vielleicht durch Luigi gewonnen, der Verräterei dringend verdächtig, und überwiegend durch ihre Schuld wurde Murats Unternehmen einem kläglichen Ausgang zugeführt.

Nachdem das Geschwader Murats die Wasserstraße durchsegelt hatte, welche Korsika von Sardinien trennt, wurde er bald durch widrige Winde von der Richtung nach Salerno abgedrängt und südwärts getrieben. Das war, wenn man will, nur ein Glück für ihn, denn so lief er den Oesterreichern, welche ihn erwarteten, nicht geradezu in die Arme. Aber nun veranlaßte auch entweder der Wind oder das verräterische Verhalten der Kapitäne oder beides, daß die Schiffe nicht zusammenblieben. Murat, der auf dem vom Kapitän Barbara befehligten Schiffe fuhr, sah ein Fahrzeug nach dem anderen in der Ferne verschwinden; am 7. Oktober hielten sich in der Nähe seines Schiffes nur noch zwei andere. Als auch eines von diesen verdächtige Bewegungen ausführte, ließ es Murat ins Schlepptau nehmen, aber sein Kapitän kappte das Tau in einem unbewachten Augenblicke, befahl seinen Leuten, die Ruder anzuwenden, und entkam. So hatte Murat jetzt außer dem eigenen, auf dem er fuhr, nur noch ein einziges Schiff zur Seite, und nur 28 Soldaten waren noch verfügbar. Der getreue Franceschetti riet dem Könige, von der Landung abzustehen, durch die Straße von Messina nach Triest zu fahren und den bereits zugesagten Schutz des Kaisers von Oesterreich anzunehmen, und Murat war auch nicht abgeneigt, diesen Rat zu befolgen. Aber als man nun, an der Küste von Kalabrien südwärts hinsegelnd, am Morgen des 8. Oktober auf der Höhe von Pizzo angekommen war, behauptete der Kapitän Barbara, er müsse landen, um Wasser und Lebensmittel einzunehmen. Wahrscheinlich wollte Barbara den König in einem der letzten Häfen, die für eine Landung überhaupt noch in Betracht kommen konnten, zu landen zwingen, damit er sich nicht nach Oesterreich rettete. Das kleine Gefolge war ja kaum noch gefährlich, und ohnehin hatte Murat in seinem früheren Königreiche nirgends entschlossenere Gegner als in Kalabrien, das dem König Ferdinand die eifrigsten Vorkämpfer „für Thron und Altar“ schon gestellt hatte, als Murat noch regierte. Anfangs widersetzte sich Murat der Landung, aber dann wurde ihm der Gedanke unerträglich, daß er, der den Gefahren der Schlacht so oft getrotzt, für die Wiedereroberung seiner Krone gar nichts wagen und daß er eine Fahrt, die er als Triumphator begonnen, als Schutzflehender beenden sollte. So befahl er, daß die beiden Schiffe vor Anker gingen.

Abschied in der Tierpension.
Nach einer Originalzeichnung von H. Krause.


Auf dem Kirchturm von Pizzo schlug es 10 Uhr, als Murat in Generalsuniform und mit Federhut, zwei Pistolen im Gürtel und eine Fahne unter dem Arme, das Ufer betrat. Mit ihm landeten einige Offiziere, darunter der General Franceschetti und der Adjutant Campana, die 28 Soldaten und einige Diener, unter ihnen der Verräter Luigi. Mnrat stieg, seinem Gefolge voranschreitend, den steilen, treppenartigen Zugang zu der kleinen Stadt Pizzo hinauf, die auf einer etwa 100 Schritt vom Ufer entfernten und 10 Meter über das Meer emporragenden Anhöhe liegt. Dem Wege folgend, betrat er den Markt- und Kirchplatz des Ortes. Es war eben Sonntag, und viele der Einwohner standen auf dem Platze versammelt, um beim Beginn der Messe in die Kirche einzutreten. Staunend schaute die Menge auf die in glänzende Uniformen gekleideten Fremden. Murat erkannte unter den Leuten einen Mann wieder, der bei seiner Garde in Neapel als Sergeant gestanden hatte. „Tavella,“ sagte er, ihn bei Namen rufend, „kennst Du mich niht?“ Da jener schwieg, fuhr er fort: „Ich bin Joachim Murat; ich bin Dein König, Du sollst die Ehre haben, zuerst zu rufen: Es lebe Joachim!“ Das Gefolge wiederholte diesen Ruf mit lauter Stimme, aber der Angeredete und die übrigen Umstehenden verharrten in Schweigen, ja es wurde bald ein Gemurmel des Unwillens bemerkbar. Murat begriff, daß hier nicht der Punkt war, wo er den Hebel einsetzen konnte. Er beschloß, sich nach der nächstgelegenen größeren Stadt, nach dem eine Meile entfernten Monteleone zu begeben. „Wenn Du mich doch nicht hochleben lassen willst,“ wandte er sich weiter an Tavella, „dann verschaffe mir wenigstens ein Pferd, und ich will Dich dafür zum Kapitän ernennen.“ [445] Tavella jedoch entfernte sich schweigend und ließ sich nicht wieder sehen. „Nach Monteleone!“ rief Murat seinem Gefolge zu und schlug den Weg dahin, der in südlicher Richtung unfern der Küste hinlief, in Ermangelung eines Pferdes zu Fuß ein.

Inzwischen war einer der auf dem Platze versammelten Männer, Pellegrino mit Namen, in sein Haus gegangen, hatte seine Flinte zur Hand genommen und erhob nun auf dem Platze den Ruf: „Zu den Waffen!“ Während die meisten Männer, diesem Rufe folgend, ebenfalls ihre Flinten holten, benachrichtigte Pellegrino den Kapitän Capelli, den Vorsteher der nächsten Gendarmeriestation, der zufällig in Pizzo weilte, und diese beiden Männer nahmen nun an der Spitze von etwa 200 bewaffneten Bürgern und Bauern die Verfolgung Murats auf. Nach zehn Minuten schon hatten sie ihn eingeholt. Murat wandte sich zu ihnen zurück, blieb mit den Seinigen stehen und kam der Anrede Capellis, der mit dem Degen in der Hand auf ihn zuschritt, mit den Worten zuvor: „Wollen Sie, mein Herr, Ihre Kapitänsepauletten mit Generalsepauletten vertauschen so rufen Sie ‚Es lebe Joachim‘ und folgen Sie mir mit diesen tapferen Leuten nach Monteleone!“

„Sire,“ antwortete Capelli, „wir sind treue Unterthanen des Königs Ferdinand, und wir kommen, um Sie zu bekämpfen, nicht, um Sie zu begleiten; ergeben Sie sich, wenn Sie Blutvergießen vermeiden wollen.“

Wiedersehen in der Tierpension.
Nach einer Originalzeichnung von H. Krause.

Murat winkte ihm zu, sich zu entfernen, und legte die Hand auf den Griff einer seiner Pistolen. Capelli trat zurück, Pellegrino aber, der die Bewegung Murats beobachtet hatte, schoß seine Flinte auf diesen ab; die Kugel streifte das Haar Murats. Nun wollte der General Franceschetti die paar mitgekommenen Soldaten feuern lassen, aber Murat wehrte ab und suchte, indem er mit seinem Taschentuche winkte, auch die Gegner von weiteren Feindseligkeiten abzuhalten. Er winkte jedoch vergebens, die Gegner schossen, und von Murats Gefolge fielen ein Offizier und mehrere Soldaten. Nun gab Murat das Spiel verloren. Er wandte sich, um sein Schiff wieder zu erreichen, in eiligem Laufe von der Landstraße ab der nahen Küste zu, und an der Kante des die Stadt tragenden felsigen Höhenzuges angekommen, wagte er den Sprung auf den wohl 10 Meter unter ihm liegenden Meeresstrand. Der hier aufgehäufte tiefe Sand schützte ihn vor Verletzungen, obwohl er zu Falle kam, und auch die beiden einzigen Begleiter, die ihm bei seinem Laufe gefolgt waren, der General Franceschetti und der Lieutenant Campana, führten den Sprung glücklich aus. Auf dem Wege zum Ufer hatten die drei Flüchtlinge ein kleines Gehölz zu durchschreiten, das sie auf kurze Zeit den Blicken der an der Kante der Anhöhe zunächst stillstehenden Verfolger entzog. Aber als sie das Gehölz verließen, wurde wieder nach ihnen geschossen, ohne daß jedoch jemand getroffen wurde. Mit Schrecken entdeckten sie nun, daß die beiden Kapitäne, die bis auf weiteres am Ufer hatten warten sollen, mit ihren Schiffen treuloserweise wieder in See gegangen waren. Als einziges Rettungsmittel bot sich ihnen ein Fischerkahn dar, der mit der einen Hälfte im Wasser, mit der anderen auf einem zum Trocknen ausgebreiteten Netze am Strande lag, und sie bemühten sich nun, den Kahn ganz ins Wasser zu bringen. Indessen hatten die Verfolger, die hier ortskundig waren, einen Abstieg von der Höhe gefunden und gaben noch einmal aus nächster Nähe eine Salve auf die Flüchtlinge ab. Durch die Brust getroffen, sank Campana tot nieder. Franceschetti sprang in das Boot, das endlich ganz ins Wasser geschoben war, und Murat wollte nach einem letzten Abstoß vom Lande folgen, aber seine Sporen verwickelten sich in das Netz, während das Fahrzeug seinen Händen entglitt. Er fiel nieder, und ehe er Zeit hatte, sich zu erheben, stürzten sich die Verfolger, zu denen sich auch Frauen gesellt hatten, über ihn her, nahmen ihm seine Fahne, rissen ihm die Epauletten ab, zogen ihm seinen Rock aus, und eine der Frauen raufte sogar seinen Bart. Die wütende Menge würde ihn getötet haben, wenn ihn Capelli und Pellegrino nicht geschützt hätten. Eine Stunde nach der Landung wurde Murat, getrennt von allen seinen Gefährten, in das Gefängnis geführt, das sich im Schlosse zu Pizzo befand und das er mit Dieben, Räubern und Mördern teilen mußte. Der Kommandant des Schlosses, der ihn bald nach der Verhaftung [446] aufsuchte, erfüllte seine Bitte, ihm einen anderen Raum anzuweisen; er wurde in einem zur Pförtnerwohnung gehörenden Zimmer untergebracht. Die übrigen Teilnehmer des Zuges wurden ebenfalls sämtlich gefangen genommen und später zum Tode oder zu Kerkerstrafen verurteilt.

Der optische Telegraph, der damals noch in Gebrauch war, um wichtige Nachrichten in die Ferne gelangen zu lassen, und der übrigens nur den Regierungen zur Verfügung stand, meldete Murats Landung und Verhaftung nach den nächsten Militärstationen und nach der Hauptstadt. Der Befehlshaber in Kalabrien, General Nunziante, der, einige Stunden von Pizzo, in Tropea stand, traf nach einem Eilmarsch noch am Nachmittage mit mehreren Regimentern in Pizzo ein. Nunziante hatte früher unter König Joachim gedient, inzwischen aber dem König Ferdinand Treue geschworen. Als er sich dem Gefangenen vorstellte, mochte dieser im ersten Augenblick wohl noch einige Hoffnung hegen, den alten Waffengefährten auf seine Seite zu ziehen. Aber schon nach Nunziantes ersten Worten erkannte Murat, daß er einen General König Ferdinands vor sich habe. Nunziante hielt, wenn auch in Form eines Gespräches, eine Art Verhör mit ihm ab. Der Gefangene erklärte unbefangen, daß er mit einem vom Kaiser Franz ausgestellten Passe – so bezeichnete er den oben erwähnten Brief des österreichischen Kaisers – von Korsika nach Triest reise und daß widrige Winde und der Mangel an Lebensmitteln ihn gezwungen hätten, bei Pizzo an Land zu gehen. Er wußte vermutlich nicht, daß ein von ihm erlassener Aufruf an die Neapolitaner und andere Schriftstücke, die das Festhalten seiner Ansprüche auf den Thron bewiesen, bei seinen Gefährten aufgefunden und mit Beschlag belegt worden waren. Weitere Fragen ließ er unbeantwortet, und Nunziante grüßte und ging.

Mnrat täuschte sich vollkommen über den Ernst seiner Lage, wenn er sich einredete, daß die Darstellung des Geschehenen, die er dem General Nunziante gegeben hatte, Anklang finden werde. Aber falls König Ferdinand sie nicht glaubte, so sollte wenigstens der Befehlshaber der österreichischen Truppen in Neapel und der englische Gesandte daselbst sie insoweit glauben können, daß sie ihm zu sofortiger Befreiung aus der Haft behilflich waren. An diese Persönlichkeiten schrieb er also im Sinne der von ihm dem General Nunziante erteilten Auskunft, auch seine in Triest weilende Gemahlin benachrichtigte er. Als er nach Beendigung der Briefe an das Fenster trat, sah er, daß man den bei der Landung gefallenen Lieutenant Campana nicht weit vom Schlosse begrub. Der General Nunziante, der jetzt wieder eintrat, traf den Gefangenen in ernster Stimmung, aber ohne Besorgnisse für sich selbst. „Campana, Campana,“ äußerte Murat, „wenn ich den Thron je wieder besteige, so lasse ich Dir ein königliches Grabmal bauen!“ Die Gefälligkeiten, die man dem Gefangenen erwies – man bereitete ihm ein Bad, verschaffte ihm eine neue Uniform und umgab ihn mit den kleinen Annehmlichkeiten des Lebens – mochten mit dazu beitragen, ihn, den allezeit Hoffenden, in der Meinung zu bestärken, daß man ihn bald in Freiheit setzen werde. Der General Nunziante speiste mit ihm zu Abend und ließ ihn dann allein.

Am folgenden Tage, dem 9. Oktober, erhielt Nunziante morgens ein Telegramm aus Neapel, welches ihn anwies, den Gefangenen als einen mit bewaffneter Hand in das Land eingedrungenen Friedensbrecher und Staatsfeind vor ein Kriegsgericht zu stellen. Er begab sich darauf zu Murat, um ihn auf sein Schicksal vorzubereiten, das nun nicht mehr zweifelhaft sein konnte. Aber da er ihn, der noch über einen mit Goldstücken gefüllten Geldbeutel verfügte, dabei beschäftigt fand, zwei Schneidern wegen einiger neuer Anzüge Weisungen zu geben, konnte er sich nicht entschließen, seine Absicht auszuführen und die ahnungslose Lebensfreudigkeit des an schöne Kleider denkenden Gefangenen zu stören. Er nahm es auf sich, mit allen weiteren Schritten so lange zu warten, bis das Telegramm durch ein amtliches Schreiben bestätigt sein würde. Erst am 12. Oktober früh kam dieses Schreiben, das am 9. von Neapel abgegangen war, in Pizzo an. Es enthielt eine königliche Verfügung, welche so lautete:

„Wir Ferdinand von Gottes Gnaden König etc. haben beschlossen, was folgt.

Artikel 1.0 Der General Murat wird vor ein Kriegsgericht gestellt, dessen Mitglieder von unserem Kriegsminister ernannt werden.

Artikel 2.0 Dem Verurteilten wird zum Empfange der Tröstungen der Religion nur eine halbe Stunde bewilligt.
 Ferdinand.“ 

Beigefügt war ein Schreiben des Kriegsministers, welches den Vorsitzenden, die sechs Beisitzer, den mit dem Vortrage über den Thatbestand beauftragten Berichterstatter und den Protokollführer des Kriegsgerichts, sowie den Ankläger und den Verteidiger des Gesangenen mit Namen bezeichnete.

Am frühen Morgen des 13. Oktober trat das Kriegsgericht im Schlosse zu Pizzo zusammen. Um sechs Uhr begab sich der mit der Verteidigung betraute Kapitän Starace in das Zimmer Murats. Da dieser, der von den Befehlen König Ferdinands nichts ahnte, noch ruhig schlief, so gewann es der Kapitän nicht über sich, ihn zu wecken. Indem er sich entfernen wollte, stieß er unwillkürlich an einen Stuhl, und Murat erwachte. „Was wünschen Sie?“ fragte er.

Dem Kapitän, der wie die meisten Teilnehmer an dem Kriegsgericht noch unter Murat gedient hatte, versagte die Stimme.

„Sie haben wohl Nachrichten aus Neapel?“ fragte Murat weiter, der nun erst seine Lage zu begreifen anfing.

„Ja, Sire,“ murmelte der Kapitän.

„Was besagen diese Nachrichten?“

„Sie sollen vor ein Kriegsgericht gestellt werden.“

„Wer soll dann aber als Richter auftreten?“ wandte Murat ein, indem er sich an die letzte Hoffnung klammerte. „Wie will man Männer meines Ranges finden, die allein mich würden richten können? Gelte ich als König, dann muß ein Gerichtshof von Königen gebildet werden, gelte ich als Marschall, dann müssen sich Marschälle versammeln, gelte ich als General, und weniger bin ich doch nicht, dann müssen Generale über mich richten.“

„Sire, Sie sind für einen Staatsfeind erklärt, und so können Sie vor ein gewöhnliches Kriegsgericht gestellt werden, das haben Sie früher selbst bestimmt.“

„Meine Verfügung war gegen Räuber gerichtet, nicht gegen gekrönte Häupter,“ erwiderte Murat verächtlich. „Nun denn, wenn man mich morden will, ich bin bereit. Ich hätte den König Ferdinand einer solchen Handlung nicht für fähig gehalten.“

Abbrechend fragte der Kapitän den Gefangenen, ob er die Namen der Richter zu erfahren wünsche. Murat bejahte. Nachdem sie vorgelesen waren, schlug der Kapitän vor, Murat selbst möge seine Sache vor Gericht vertreten. „Nichts davon,“ antwortete er. „Zu viele Seiten Geschichte müßten zerrissen werden, wenn ich die Richter anerkennen wollte, die man mir gesetzt hat. Dieser Gerichtshof ist unzuständig, und ich würde mich schämen, vor ihm zu erscheinen. Ich weiß, daß ich mein Leben nicht mehr retten kann – lassen Sie mich wenigstens die königliche Würde retten.“

Das Kriegsgericht beruhigte sich bei der Weigerung Murats, sich in Person zu stellen, und erzwang sein Erscheinen nicht. Dafür trat der mit der Berichterstattung vor Gericht beauftragte Lieutenant Froio bei ihm ein und fragte ihn nach Namen, Alter und Geburtsort. Ungeduldig antwortete Murat mit erhobener Stimme. „Ich bin Joachim Napoleon, König von Neapel, und ich fordere Sie auf, mein Zimmer zu verlassen.“ Der Offizier ging, und die Sitzung des Kriegsgerichts begann.

Murat schrieb indes an seine Gemahlin folgenden Brief: „Teure Frau! Die verhängnisvolle Stunde ist da, ich stehe vor der Hinrichtung. In einer Stunde hast Du keinen Gatten, haben unsere Kinder keinen Vater mehr. Denkt an mich und vergeßt mich nicht! Ich sterbe unschuldig, und das Leben wird mir durch ein ungerechtes Urteil genommen. Adieu, Achilles, adieu, Lätitia, adieu, Lucian, adieu, Louisa. Zeigt Euch meiner würdig! Ich lasse Euch auf einer Erde und in einem Lande, wo ich viele Feinde habe. Zeigt Euch dem Unglück überlegen und haltet Euch nicht, an vergangenes Glück denkend, für mehr, als Ihr seid! Lebt wohl, ich segne Euch. Flucht meinem Andenken nicht! Erinnert Euch, daß bei meinem Tode mein größter Schmerz ist, fern von meinen Kindern und von meiner Frau zu sterben und niemand zu haben, der mir die Augen zudrückt. Adieu, meine Karoline, adieu, meine Kinder! Empfangt meinen väterlichen Segen, meine Sehnsuchtsthränen und meine letzten Küsse! Lebt wohl und vergeßt Euren unglücklichen Vater nicht!
Pizzo, den 13. Oktober 1815. Joachim Murat.“ 

Nach einer längeren Weile – es war zehn Uhr geworden – trat der General Nunziante schweigend und mit bekümmerter Miene wieder ein. Murat verstand ihn; es war ein Todesurteil gefällt worden. Er ließ sich von Nunziante versprechen, die Besorgung des Abschiedsbriefes zu übernehmen, und sagte dann, als [447] wenn er den Gerichtsherrn trösten müßte, in heiterem Ton: „Mut, mein lieber General, wir sind Soldaten, wir wissen, was es heißt, in den Tod zu gehen. Sie erlauben mir doch, daß ich selbst kommandiere?“ Nunziante gab seine Zustimmung. Bald darauf kam der Lieutenant Froio mit einem Schriftstück in der Hand; es war das inzwischen niedergeschriebene Urteil. „Lesen Sie!“ sagte Murat und hörte gleichmütig zu. Dann fragte er den General, wann die Erschießung stattfinden solle. Trotz des oben mitgeteilten zur Eile antreibenden königlichen Befehles überließ es Nunziante dem Verurteilten, den Zeitpunkt der Hinrichtung selbst zu bestimmen. Murat setzte sie auf vier Uhr nachmittags fest, und die Offiziere verabschiedeten sich.

„Sehe ich Sie nicht mehr?“ rief Murat dem General nach.

„Ich habe Befehl, bei Ihrem Tode zugegen zu sein, aber ich werde die Kraft dazu nicht haben.“

„Gut, ersparen Sie sich das, aber ich möchte Ihnen doch noch einmal Lebewohl sagen.“

„Sie werden mich auf Ihrem Wege finden. Hier vor der Thür warten zwei Geistliche auf Sie. Wollen Sie sie empfangen?“

„Ja, lassen Sie sie eintreten!“ – –

Als es vier Uhr schlug, trat Murat aus seinem Zimmer. Vor der Thür erwarteten ihn der General Nunziante und ein Offizier. Nunziante warf sich dem Könige weinend in die Arme und verließ dann eiligst das Schloß. Murat durchschritt den Hausgang der Pförtnerwohnung, in der er seine letzten Lebenstage zugebracht hatte, und gelangte dann auf den großen, einem Saale gleichenden Flur des Schlosses, hier sah er die zum Vollzug der Hinrichtung bestimmten zwölf Soldaten aufgestellt. Er trat auf die erste Stufe eines Treppenaufgangs und rief, indem er seinen Rock über der Brust öffnete, mit lauter Stimme. „Feuer!“ Von acht Kugeln getroffen, sank er lautlos nieder. Man ließ dann die vor dem Thore wartende Volksmenge ein, damit sie sich von dem Tode Murats überzeuge.

In Pizzo erhielt sich das vielleicht nicht unbegründete Gerücht, daß die Leiche Joachims ohne Kopf begraben worden sei und daß der Geheimpolizist Luigi, der sich auf dem Landungszuge im Gefolge Murats befunden hatte, aus Neapel den Befehl erhalten habe, im Einverständnis mit dem Schloßkommandanten den Kopf abzutrennen und nach der Hauptstadt zu bringen. Es hieß, man habe sich auf diese Weise am besten gegen die Möglichkeit zu sichern gemeint, daß irgend ein Abenteurer, der sich für den König Joachim ausgeben könnte, Anhänger finde, denn dessen Unechtheit wäre durch den in Neapel verwahrten Kopf von vornherein verbürgt gewesen.



BLÄTTER UND BLÜTEN.


Ein Frauenheim. Seit etwas mehr als Jahresfrist hat in der schönen, romantisch gelegenen Stadt Hirschberg in Schlesien ein Haus seine Pforten aufgethan, das in der Kette der gemeinnützigen und wohlthätigen Anstalten unseres Vaterlandes ein wichtiges Glied bildet und darum in den weitesten Kreisen freundliche Beachtung und thatkräftige Unterstützung verdient. Es ist das ein „Frauenheim“, gegründet von Fräulein Marie Brückner, dessen Bestimmung es ist, unbemittelten Witwen, unversorgten alleinstehenden arbeitsunfähigen Damen um geringes Entgelt eine trauliche Heimat zu bieten. Wer es erfahren hat, wie schwer es für vermögenslose Frauen und Mädchen gerade des Mittelstandes ist, ein auch nur annähernd ihrer gewohnten Lebenshaltung entsprechendes Unterkommen zu finden, wie unsäglich hart auf ihnen oft die Sorge um des Lebens Notdurft lastet, der wird das hochherzige Unternehmen der mutigen Schlesierin mit Freuden begrüßen und gern dazu mitwirken, es im Geiste seiner Bestimmung weiter auszubilden. Zu dieser Ausbildung gehört u. a. wesentlich auch die Gründung von halben oder ganzen Freistellen. Bis jetzt wird den Bewohnerinnen des Heims ein mäßiger Pensionspreis von 600 Mark im Jahre berechnet, wofür sie in der Regel ein besonderes (unmöbliertes) Zimmer, Anteil an dem für das Zusammenleben bestimmten Raume, gute Hausmannskost, Heizung, Bedienung etc. genießen. Die Begründerin hofft aber, daß es ihr mit der Zeit, wenn erst die auf dem Gebäude lastenden Hypothekenschulden oder deren Zinsen durch einmalige oder jährliche Beiträge freigebiger Menschenfreunde gedeckt sein würden, gelingen werde, neun bis zwölf Freistellen zu errichten. Außerdem hat sie die Einrichtung getroffen, daß sich Damen um den Betrag von 300 Mark ein für allemal einkaufen können, um für Lebenszeit dauernd Wohnung zu besitzen, wobei das Kapital nach dem Ableben der Pensionärin an die Anstalt verfällt. Ueber alles Nähere giebt Fräulein Marie Brückner zu Hirschberg in Schlesien Auskunft, wie sie auch zur Entgegennahme von milden Stiftungen, einmaligen oder jährlichen, gern bereit ist. Das Heim liegt, von Garten umgeben, an einer ruhigen friedlichen Straße und gewährt einen herrlichen Ausblick auf das nahe Gebirge. Möge ihm eine glückliche Zukunft und eine segensreiche Wirksamkeit beschieden sein!

Sein Bild. Es ist ein lauschiges Plätzchen, recht geschaffen zum Träumen und Sinnieren, das der Maler auf dem Bilde S. 433 dargestellt hat. Auch das hübsche Mädchen, das mit seiner Näharbeit sich hierher gemacht hat, empfindet offenbar den Zauber der Oertlichkeit. Eines schönen Augenblicks sinkt ihr das Kleid, an dem sie gestichelt hat, in den Schoß, die Hand greift in die geheimste Tasche, um Brief und Bild des Geliebten hervorzuziehen. Zum wievielten Male sie wohl so sitzen und schauen mag? Und wäre es auch das hundertste Mal, es wird nicht das letzte sein!

Wie findet man seinen Platz im Bahnwagen? Diese schon oft gestellte Frage ist nicht so einfach zu beantworten, wie man glaubt. Wer viel in direkten schnellfahrenden Zügen verkehrt, weiß, wie schwierig es ist, unterwegs nach Einnahme einer Herzstärkung in der Bahnhofswirtschaft einer Zwischenstation unter den vielen einander aufs Haar gleichenden Wagen des Zuges den richtigen herauszufinden. Manchem ist es schon begegnet, daß er im Packwagen Platz nehmen mußte, weil er sich schlechterdings nicht zurechtfinden konnte. Bekannt ist die Geschichte von dem Reisenden, der unter Benutzung eines beliebten Hilfsmittels der Gedächtniskunst die Nummer seines Wagens dadurch festzuhalten suchte, daß er sich ein darauf bezügliches weltgeschichtliches Ereignis merkte. Er vergaß die Nummer und wollte diese nun mit Hilfe der Geschichtszahl feststellen, kam aber dadurch in die viel schlimmere Lage, für geisteskrank gehalten zu werden, weil er mit allen Zeichen der Erregung aus dem Stationsvorstande herauszubringen versuchte, wann Gottfried von Bouillon Jerusalem erobert habe.

Ein französischer Techniker suchte dem oft gefühlten Uebelstande dadurch abzuhelfen, daß er die einzelnen Wagen in auffälliger Weise mit Tiergestalten bezeichnete, z. B. mit einem Hund, einem Fisch, einem Krebs. Neuerdings hat die österreichische Kaiser Ferdinands-Nordbahn in den einzelnen Wagen Zettelblöcke angebracht, deren Blätter auf der Vorderseite mit der Firma der Bahn und der Nummer des Wagens versehen sind und von dem reisenden Publikum leicht abgetrennt werden können. Durch diese Einrichtung wird es dem Reisenden beim Aussteigen unterwegs ermöglicht, den zuerst benutzten Wagen, der sein Handgepäck, seinen Hut etc. enthält, ohne weiteres wieder aufzufinden, wenn ihm dessen Nummer aus dem Gedächtnis entschlüpft sein sollte.

Speisereste im Sommer. In der warmen Jahreszeit verderben unsere Speisen besonders leicht, und es ist keine geringe Verantwortung für die Hausfrau, in der Leitung der Wirtschaft diesem Umstand gerecht zu werden. Vor allem ist die Schädigung der Gesundheit durch verdorbene Speisen in Betracht zu ziehen. Durch die Zersetzung der Nahrungsmittel bilden sich in denselben Gifte, welche sehr schwere Erkrankungen und unter Umständen selbst den Tod verursachen können.

Als leicht verderblich und im Sommer besonders gefährlich sind zunächst die Fischgerichte hervorzuheben. Ein frisch geschlachteter und sofort zubereiteter Fisch bildet eine gesunde Nahrung, aber nicht bloß das rohe, auch das gekochte oder gebratene Fischfleisch zersetzt sich rasch. An warmem Orte kann es schon in Stunden die schlimmsten Eigenschaften annehmen, und es sollte darum als Regel gelten, Fischreste, die vom Mittag übrig geblieben sind, noch am Abend desselben Tages zu verzehren. Noch leichter verderben Krebse. Gekochte und längere Zeit stehen gebliebene Krebse haben oft zu Erkrankungen Anlaß gegeben, so daß selbst Behörden sich veranlaßt sahen, warnend auf diesen Umstand hinzuweisen.

Durch besondere Neigung zu raschem Verderben zeichnen sich ferner die Büchsenkonserven aus, nachdem die Büchse geöffnet worden ist. Namentlich bei Sardinen in Oel sollte man vorsichtig sein und in einer einmal geöffneten Büchse während des Sommers nichts für den folgenden Tag aufheben. Dasselbe Verfahren ist auch beim Hummer zu beobachten.

Was die übrigen Speisen anbelangt, so sollte es die Hausfrau sich angelegen sein lassen, daß Reste von gekochtem und gebratenem Fleisch, von Milchspeisen u. dergl. möglichst kurz aufbewahrt werden. Je rascher man sie verbraucht, desto besser ist es. Verdorbene Speisen verursachen nicht immer so schwere Vergiftungen, daß allgemeines Aufsehen erregt wird, wohl aber führen sie häufig Störungen der Verdauungsthätigkeit herbei, die namentlich in der heißen Jahreszeit stets etwas Bedenkliches haben. Dies muß die Hausfrau als Vorstand der Küche zu verhüten suchen, und die Familie kann nur gewinnen, wenn die gesundheitlichen Grundsätze während des heißen Sommers möglichst streng gehandhabt werden.

Speisen und Speisereste, die verdächtig aussehen oder riechen, muß man unbedingt vernichten. Es herrscht vielfach die Unsitte, daß solche verdächtige Nahrungsmittel anderen Personen, Aufwartungen, weniger bemittelten Leuten aus der Bekanntschaft zur beliebigen Verwendung umsonst überlassen werden. Das ist eine sehr gefährliche Art von Wohlthätigkeit, und wir möchten die Hausfrauen darauf aufmerksam machen, daß eine solche Handlung unter Umständen eine gerichtliche Bestrafung der „wohlmeinenden“ Geberin nach sich ziehen kann. Alle diese Unannehmlichkeiten sind jedoch zu vermeiden, wenn die Hausfrau beim Einkaufen und Kochen im Sommer stets einen möglichst raschen Verbrauch der Speisen im Auge behält.

[448] Die Habenschadenfeier auf Burg Schwaneck. Wer unser Bild Seite 441 aufschlägt, ohne zufällig mit der Münchener Künstlergeschichte genauer vertraut zu sein, der wird zunächst ratlos vor dem seltsamen Ausdruck „Habenschaden“ stehen bleiben. Was ist „Habenschaden“? Ist es ein volkstümlicher Rest uralten Heidenbrauchs, hat es gar mit dem berüchtigten „Haberfeldtreiben“ etwas gemein? Oder ist’s eine scherzhafte Wortbildung, ein Anklang an das bekannte Sprichwort, daß, wer den „Schaden hat“, für den Spott nicht zu sorgen braucht? – Nichts von alledem! „Habenschaden“ ist ein Name, und ihn trug u. a. einst auch ein wackerer Münchener Künstler, Sebastian Habenschaden, der im Jahre der Leipziger Völkerschlacht geboren ward und später als Maler und Bildner anmutiger Landschaften und Tierstücke sich einen geachteten Ruf erwarb. Heute noch wirkt sein künstlerisches Erbe fort in den Berchtesgadener Bildschnitzern, die vielfach nach Modellen von Habenschaden arbeiten, heute noch gedenkt man alljährlich seiner bei der – Habenschadenfeier. Vor etwa einem Vierteljahrhundert nämlich hatte Habenschaden dem Münchener Künstlerunterstützungsverein ein Kapital von 10000 Gulden (17000 Mark) ausgeworfen unter der testamentarischen Bestimmung, daß alljährlich im Mai für ihn zu Pullach (eine Stunde südlich von München) eine Messe gelesen und dann der Tag von den anwesenden Künstlern mit Gesang und Tanz gefeiert werde. Da nun dieses Jahr zugleich das fünfzigjährige Jubelfest des Künstlerunterstützungsvereins zu begehen war, so begnügte man sich nicht mit diesem einfachen Zuschnitt, sondern erweiterte den Gedanken zu einem richtigen prächtigen Künstlerfest, das, nach wiederholten Verschiebungen infolge der Ungunst der Witterung, endlich am 31. Mai von statten ging, leider wiederum nicht ohne reichliche, gänzlich programmwidrige Festgrüße aus des Himmels Wolkenschleusen.

Auf der nahe bei Pullach gelegenen Burg Schwaneck, dem reizenden Bau Schwanthalers, der unsern Lesern aus Nr. 39 des Jahrgangs 1892 bekannt ist, fand das Fest statt, dessen Mittelpunkt ein schön erdachtes Festspiel bildete. Vor den Thoren des Schlosses erscheint ein Herold mit dem Bannerträger der Künstler und verlangt nach dem Burgherrn. Schwanthaler erscheint, umgeben von Freunden und Genossen, darunter Habenschaden selbst. Nachdem der Herold das Begehren der Ankömmlinge vorgetragen, den 50. Jahrtag des Künstlerunterstützungsvereins in den Mauern der Burg zu feiern, wird ihnen zum Willkomm das Künstlerbanner gehißt, und ein buntes farbenprächtiges Leben mit Gesang und scenischen Darstellungen aller Art entwickelt sich auf dem Wiesenplane vor der Burg. Ein Trupp von Landsknechten und von Bauernbündlern des 16. Jahrhunderts mit dem Bundschuh in der Fahne zieht auf und ein Pfaffe hält ihnen eine lustige Kapuzinerpredigt. Die Gestalten des Märchens von den Sieben Raben und dem treuen Schwesterlein schweben vorüber, und endlich erscheinen die Isarnixen auf den Zinnen der Burgmauer, lassen die grünlichen Schleier wehen und singen ein weiches träumerisches Lied; nachdem sie geendet, schreiten sie herab und mischen sich, Blumen spendend, unter die profane Menge der irdischen Menschen. Die Zeichnung unseres Künstlers giebt einen Begriff von der reichen Schar malerischer Erscheinungen, die sich hier zusammendrängten. Manches Schöne, was noch weiter geplant war, ging unter in den unerbittlichen Regenfluten, die sich, nach einer rücksichtsvollen Pause während der Dauer des Festspiels, bald von neuem über Burg Schwaneck und seine launige Künstlerbevölkerung ergossen. Und vielleicht ward der Name „Habenschaden“ an diesem Nachmittage doch noch von unheilvoller Bedeutung; denn gar manche Festtoilette wurde in kläglicher Verfassung nach Hause getragen.

Leiden und Freuden in der Tierpension. (Zu den Bildern S. 444 u. 445.) Nun nahen sie sich wieder, die holden Tage der Rosen und der Sommerferien! Am häuslichen Herde beansprucht das Thema des sommerlichcn Landaufenthalts mehr und mehr eine bevorzugte Stellung und die Stammtische im Wirtshaus wie die Kaffeevisiten werden gleichsam zu ebensovielen Sommerfrischenörsen, an denen über Wert oder Unwert der einzelnen Plätze nach Maßgabe der vorjährigen Erfahrungen abgeurteilt wird.

Eine Schwierigkeit wirft vielfach bängliche Schatten über das fröhliche Planen und Rüsten – was wird aus dem „Karo“, den man doch nicht von Berlin auf den Ortler, aus Mieze, die man nicht von Königsberg nach Ilmenau, aus „Joko“, dem Papagei, den man doch nicht samt seinem großen Käfig von Frankfurt ins Seebad schleppen kann. Wohin mit all den zwei- oder vierfüßigen, geflügelten oder ungeflügelten Lieblingen, die man doch ebensowenig allein in den verlassenen Räumen der Stadtwohnung ihrem Schicksal überlassen darf? Glücklich noch der, dem ein guter Freund, ein gefälliger Nachbar, eine aufopferungsvolle Familientante die Sorge für Hund, Vogel oder Katze abnimmt – aber nicht jedermann verfügt über so bequeme Hilfstruppen; und vielleicht hat schon manche freundlich lächelnde Luftkurhoffnung um eines nichtsahnenden Köters oder Kanarienvogels willen unter stillen Seufzern über die Unvollkommenheit des menschlichen Erdenloses begraben werden müssen.

Indessen, es ist eine alte Erfahrungsthatsache: Bedürfnisse schaffen Erwerbszweige. Aus dem Zusammendrängen der Menschen in Großstädten entstand das Bedürfnis nach einem Gegengewicht, einem Aufatmen in reiner Luft, und aus dem Bedürfnis der reinen Luft entstand die Sommerfrischenindustrie; als Nebenerscheinung dieser Vorgänge entwickelten sich aus dem Bedürfnis einer sommerlichen Unterkunft für die verlassenen tierischen Hausgenossen die „Tierpensionen“. Zünftige Tierzüchter oder unternehmende Liebhaber erboten sich, gegen ein entsprechendes Entgelt die zum Dableiben verurteilten Haustiere in „Kost und Logis“ zu nehmen und für eine zweckmäßige Wartung während der Abwesenheit der verehrlichen Herrschaften Sorge zu tragen. Derartige Tierpensionen bestehen zum Beispiel in Berlin, zweifellos auch in anderen Großstädten, und sie finden, was in Anbetracht der Verhältnisse nicht wundernehmen kann, lebhaften Zuspruch.

In eine solche Tierpension führen uns die Bilder von H. Krause. Auf dem einen nimmt eine vornehme Dame mit einem letzten „zärtlichen Liebesblick“ Abschied von ihrem prächtigen Kakadu, einem rechten Luxusvogel, den der stattliche Livreediener im großen Käfig zur Stelle gebracht hat, während ein kleines Mädchen noch liebevoll das gelbe Gefieder seines Kanarienvögelchens streichelt, ehe auch dieses von dem Herrn Pensionsbesitzer ihr abgenommen und in das „Fremdenbuch“ eingetragen wird. Auf dem zweiten Bilde äußert sich die Freude des Wiedersehens nach wochenlanger Trennung bei Menschen und Tieren in der mannigfachsten Weise. Am freudigsten mag wohl die junge Dame überrascht sein, die bei ihrer Rückkehr ihre schöne Leonberger Hündin als glückliche Mutter von vier hoffnungsvollen Leonbergerchen wiederfindet.




Aufruf
zur Wiederaufrichtung des Denkmals für Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland.


Ein frisches Loblied hellen Schalles
Für jenen deutschen Sänger klang,
Der „Deutschland, Deutschland über alles“
Vor mehr denn fünfzig Jahren sang.
Am Strand der Helgoländer Küste,
Welch’ buntes Leben war es da,
Als stolz des deutschen Dichters Büste
Auf schaumgekrönte Wogen sah!

Da dachten wir: Nun mögen blasen
Die Stürme nur in tollem Weh’n!
Vor ihrem Toben, ihrem Rasen
Granit und Erz bleibt ruhig steh’n.
Ein Wintertag hat’s uns bewiesen,
Daß nicht auf Sand sich bauen läßt.
Granit und Erz und mächt’ge Fliesen,
Nur auf dem Felsen steh’n sie fest. –

Des Meisters Bildwerk hat behütet
Vor Schaden wack’rer Männer Kraft,
Doch weh, wie hat der Sturm gewütet
An Fundament und Säulenschaft! –
Wohlan denn! Nochmals deine Spenden,
Du deutsches Volk! – So soll’s gescheh’n:
Hoch auf der Insel Felsenwänden
Soll fest das Ehrenzeichen steh’n.

Da soll es nicht den Wogen weichen
Und nicht der Winde wildem Spiel –
Und nimmt einst dieses Ehrenzeichen –
Verhüt’ es Gott! – ein Feind zum Ziel,
Dann mag’s die Kugel nur zerschmettern!
Wenn’s Deutschland gilt, nur dran und drauf!
Wir wissen’s ja: Aus Kriegeswettern
Blüht’s dann noch zehnmal schöner auf!

Dann werden wir nicht Frieden schließen
Vor uns’res letzten Feindes Fall,
Bis wir den alten Hoffmann gießen
Neu aus erobertem Metall!
Doch geb’ in Gnaden Friedensegen
Uns Gott und Glückes Sonnenschein.
Deutschland hält seine Hand am Degen,
Doch, wenn’s nicht sein muß, schlägt’s nicht drein!

Wohlan! Der Markstein deutscher Ehre,
Auf Felsengrund sei er gestellt
Dort, wo des Deutschen Reiches Wehre
In Treue ihre Nordwacht hält.
Da soll das Erzbild niederschauen! –
Du deutsches Volk, thu’ auf die Hand!
Du gabst die Spende zum Erbauen,
Nun gieb die Spende zum Bestand!

 Emil Rittershaus.


Den herzbezwingenden Worten des Dichters ist nur wenig hinzuzufügen. Die Leser wissen, daß die gewaltige Sturmflut des Monats Februar das Fundament des Hoffmann-Denkmals gänzlich zerstört hat, und nur den aufopferungsvollen Bemühungen der Helgoländer ist es zu danken, daß die Büste selbst gerettet wurde. Nunmehr hat die Regierung die Aufstellung des Denkmals auf der Südspitze des Oberlandes genehmigt und es gilt jetzt, die Kosten für die Wiedererrichtung an der neuen Stätte aufzubringen. An alle Freunde und Verehrer des deutschen Dichters Hoffmann von Fallersleben ergeht die herzliche Bitte, durch freiwillige Gaben dieses Werk zu unterstützen. Geheimer Regierungsrat Robert Fischer in Gera ist wie früher bereit, die Spenden in Empfang zu nehmen, über welche seinerzeit in der „Gartenlaube“ Quittung erteilt werden wird.



Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (25. Fortsetzung). S. 429. – Sein Bild. Illustration. S. 433. – Das Schachspiel und seine Meister. Von Rudolf von Gottschall. S. 437. Mit Abbildungen S. 429 und 437. – Skizzen aus dem häuslichen Leben. Von Hans Arnold. Unsere Flora. S. 440. – Die Habenschadenfeier der Münchener Künstler auf Burg Schwaneck. Bild. S. 441. – Das Ende eines königlichen Abenteurers. Von Eduard Schulte (Schluß). S. 443. – Abschied in der Tierpension. Bild. S. 444. – Wiedersehen in der Tierpension. Bild. S. 445. – Blätter und Blüten: Ein Frauenheim. S. 447. – Sein Bild. S. 447. (Zu der Illustration S. 433.) – Leiden und Freuden in der Tierpension. S. 448. (Zu den Bildern S. 444 und 445.) – Aufruf zur Wiederaufrichtung des Denkmals für Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland. Gedicht von Emil Rittershaus. S. 448.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.