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Die Gartenlaube (1894)/Heft 21

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[341]

Nr. 21.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Unterwegs.
Nach einem Gemälde von Ed. Grützner.

Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(20. Fortsetzung.)


23.

Unter dichten Bäumen, durch welche der von rasch ziehenden Wölklein häufig verschleierte Mond nur mit spärlichen Lichtern niederblickte, folgte Eberwein dem Pfad. Schwül und feucht wehte ihm der Nachtwind in das brennende Gesicht, und welkes Laub raschelte um seine Füße. Bei dem Wirbel der Gedanken und Empfindungen, die ihn erfüllten, und in dem mit Finsternis wechselnden Zwielicht übersah er die Zweigung des Pfades und schritt zur Linken weiter. Als er eine kleine mondhelle Lichtung erreichte, mußte er rasten, denn seine Arme zitterten schon unter der Last des Knaben. Er setzte sich auf einen gestürzten Baum, und nun zum erstenmal, im Licht des Mondes, sah Huze das Antlitz seines Retters; leuchtend traf ihn der Blick dieser stillen Augen, und mit bebenden Armen den Mönch umschlingend, seufzte der Knabe wie einer, der nach üblen Wegen die sichere Ruhstatt fand.

Nach einer Weile erhob sich Eberwein; er hatte die Sandalen wieder angelegt, und mit neugestärkter Kraft seinen Schützling tragend, folgte er dem Pfad, der sich nach kurzer Strecke teilte. Zu spät der Weisung Reckas gedenkend, wandte sich Eberwein nun zur Rechten; über steile Stufen ging es nieder; eine Wolke deckte den Mond - doch aus der Tiefe klang ein sachtes Rauschen, und durch die Nacht her leuchtete ein rötlicher Schein wie der Glanz eines Herdfeuers bei offener Thür. Das mußte die Ache sein und der Herdschein des Fischerhauses, dessen Bewohner sich - denn der Morgen war nahe - vor der Dämmerung schon zum Tagewerk erhoben hatten. So meinte Eberwein. Doch als er den Niederstieg über den steilen von Büschen überwachsenen Pfad mühsam vollendet hatte und ebenen Grund erreichte, gewahrte er im auftauchenden Mondlicht, daß er auf engem von Felswänden eingehegtem Raume stand, während vor ihm der See sich dehnte, in weitem Kreis umschlossen von den schwarzen Mauern der Berge. Schreck und Sorge befielen ihn. Wie sollte es seinen erschöpften Kräften gelingen, den Knaben wieder [342] empor zu tragen über den steilen Hang? Da leuchtete weit draußen im See der Feuerschein, und ein hoffender Gedanke zuckte in Eberwein auf: das mußte Sigenot sein, der bei Fackelhelle die Netze warf.

„Sigenot!“ hallte der Ruf des Mönches in die weichende Nacht. Keine Antwort kam; nur das Echo wiederholte dumpf die letzte Silbe des Namens: „Not!“ Doch meinte Eberwein zu gewahren, daß die Fackel näher käme. Auf einer Steinstufe saß er, den Knaben auf seinem Schoß, und harrte ...

Der Himmel wurde bleich, es graute der Morgen über dem See, und der Feuerschein erlosch. In Eberwein verstummten alle Sorgen dieser Stunde vor der ungeahnten überwältigenden Schönheit des Bildes, welches die schwindende Dämmerung vor seinen staunenden Augen entschleierte. In sachten Wellen schwankend, durchsichtig grün wie ein Smaragd, eine geheimnisvolle Flut, welche mit jedem Wellenschlag das Lied der eigenen Schönheit rauschte, so dehnte der See sich hin in stundenweite Ferne. Die Ufer schienen keinen Pfad zu dulden; als hätte die Natur diese herrlichste ihrer Stätten geheiligt vor dem Fuß der Menschen, so stiegen die im Rund geschlossenen Berge steil aus der Flut und wuchsen zum Himmel. Dunkle Fichtenwälder und Laubgehölze, die im Welken alle Farben spielten, bekleideten die ragenden Gehänge, wie bunte Festgewänder die Großen schmücken, wenn sie den Thron umstehen. „Wahrlich, ein Thron der Schönheit,“ rief Eberwein, „ein königlicher See! Er soll den Namen führen, der ihm gebührt!“

Immer herrlicher traten alle Formen und Farben aus dem Duft des Morgens hervor, neue Schönheit wuchs hinter jedem weichenden Schatten, und die Gießbäche schimmerten, als gössen geheimnisvolle Hände flüssiges Silber über die Wände nieder in den See. Ein schwindelnd hoher Felsgrat und der weiße Schnee, der die höchsten Kuppen deckte, begannen schon zu leuchten im ersten Glanz des nahenden Tages. Rot säumten sich die Wolken, welche hoch durch die Lüfte jagten, wie geflügelte Boten. Träumenden Auges blickte Eberwein zu ihnen auf ... wie hätte er bei ihrem rosigen Schimmer ahnen mögen, daß sie die Boten der Vernichtung waren, welche aufstieg aus dem Schoß der Nacht, um diese Stätte der Schönheit heimzusuchen. Er sah die leuchtende Strahlengarbe, welche von Osten her über alle Höhen loderte, und ihm war, als hätte der Himmel sich aufgethan und eine Stimme riefe: „Preise die Größe meiner Allmacht! Genieße, was ich schuf zur Freude der Menschen!“

Aus seiner Versunkenheit riß ihn ein leiser Wehlaut des Knaben. „Hast Du Schmerzen?“ fragte er erschrocken. Der Bub’ schüttelte den Kopf und lächelte; doch es sprachen die Furchen auf seiner Stirn. Hastig trug ihn Eberwein zum Ufer und ließ ihn zwischen Büschen auf weichen Rasen nieder. Mit dem Tuche, das er am Gürtel fand, wusch er ihm die von Blut überronnenen Füße und verband die Wunden. Lächelnd, mit verträumten Augen zur Höhe blickend, saß der Knabe und lispelte: „Wie das kühlet, wie das wohl thut!“ Und nach einer Weile fragte er: „Gelt, das alles thust an mir, weil’s der gute Vater so will?“

Eberwein konnte nicht sprechen, die Prüfung der Wunden hatte ihm gesagt, daß der Knabe an den Füßen gelähmt sein würde für sein ganzes Leben. Huze aber sah nicht, was in den Zügen des Mönches redete; er blickte zum leuchtenden Himmel auf und flüsterte: „So viel gut, wie der ist, so gut ist keiner mehr!“

Und als die Binden geschlossen waren, sagte er: „Ich mein’, ich müßt’ schon laufen können!“ Er zog sich an Eberwein in die Höhe, und der Glaube gab ihm Kraft. Er konnte stehen und schlurfend, mit klunkernden Füßen, that er ein paar kleine Schritte; dann sank er auf einen Stein. „Es geht schon, wohl wohl, es geht schon wieder! Ein lützel hinken werd’ ich halt müssen. Aber das thut nichts! Wer schnell hinket, kommt auch vom Fleck! Gelt? Freilich, hinauf ...“ seine Augen suchten die Alben und wurden feucht, „hinauf werd’ ich wohl nimmer können. Aber herunten ist auch ein gutes Weilen!“

In wortloser Bewegung streifte Eberwein mit den Händen über das Haar des Knaben.

Da deutete Huze: „Und schau’ nur: sell schickt uns der gute Vater auch schon das Schiffl her!“

Eberwein blickte auf und sah den Einbaum schwimmen, noch ferne von ihnen doch nahe dem gleichen Ufer, und der Kahn schien in gerader Fahrt sich zu nähern. Aber nein, nun lenkte er jählings zur Seite und drohte hinter einer Biegung der Felswand zu verschwinden. Eberwein wollte rufen; da hörte er zu seinen Häupten die Stimme Reckas: „Ulla! Hier! Nimm den Mantel und bring’ ihn mir hinunter an das Ufer.“ Auf einer vorspringenden Felsplatte erschien sie, von einem weißen Mantel umhüllt. Durch die Lücken des Buschwerks blickte Eberwein empor und sah, wie Reckas entblößte Schultern sich aus der Hülle hoben. Im Schreck umschlang er den Knaben und deckte die Augen mit der Hand. Doch ob er die Lider auch geschlossen hielt, er konnte das Bild des Weibes nicht mehr aus seiner Seele scheuchen, er sah den Mantel niedergleiten, sah den schimmernden Körper von der Höhe stürzen, umflattert vom Goldhaar, und niedertauchen in die Flut. Als das Wasser rauschte, riß Eberwein den Knaben auf seine Arme und eilte durch die Büsche am Ufer hin, bis die Felswand seine fliehenden Schritte hemmte. Auf den Knien liegend, mit hämmernden Pulsen, zitternd an allen Gliedern, drückte er den Knaben an sich. Er mußte jedes Wort vernehmen, welches Recka aus den Wellen rief, jedes Wort, das die alte Magd erwiederte, und hörte das Wasser plätschern, als die Badende an das Ufer stieg und nach der Hülle verlangte.

„Schau’ nur, wie Du zitterst!“ jammerte die Magd. „Baden! Bei solchem Wetter!“

„Es war wie Eis! Aber diese Nacht ist weggespült!“

Die Stimmen entfernten sich und verklangen auf der Höhe des Felsenpfades; durch die Büsche nieder schimmerte noch der weiße Mantel.

Da rang es sich von Eberweins Lippen: „Hiltischalk! Vergieb mir!“

Scheu blickte Huze in das brennende Gesicht des Mönches. „Was hast denn, Gottesmann! Warum denn thust Dich fürchten vor ihr? Sie hat uns doch geholfen in der Not und wird doch jetzt wider uns nicht feindlich thun?“

Gedämpfte Stimmen klangen, und der Schlag eines Ruders ließ sich vernehmen. Eberwein sprang auf und trug den Knaben durch die Büsche ans Ufer. Als seine heißen Augen niederblickten in die klare Flut, gewahrte er ein wundersames Bild: in der Tiefe des Wassers, auf grünem Moosgrund, hing mit gebreiteten Schwingen ein verendeter Schwan im Kraut verbissen; sacht bewegte der Wellengang das schneeige Gefieder und rührte die Leichname zweier Falken, welche im Tod noch ihre Fänge um den Hals des Schwans geschlagen hielten.

„Wer sendet mir diesen Anblick?“ stammelte Eberwein. „Wie die Falken an diesem Schwan, so hängt der Zweifel und die Sünde an meinem Herzen! Herr! Laß mich niedertauchen in die Tiefen Deiner rettenden Liebe!“

An der Biegung der Felswand glitt der rauschende Einbaum unter den Büschen hervor. In Schreck und Freude erkannte Sigenot den Mönch und trieb mit klatschendem Ruderschlag den Kahn zum Ufer. Eberwein begrüßte den Fischer mit einem stummen Händedruck und ließ sich mit dem Knaben in den Einbaum heben, wußte aber kaum, wohin die Füße stellen; denn der Boden des Kahns war bedeckt mit den Fischen, welche in der an einem Weidenseil nachschwimmenden Kufe nicht mehr Platz gefunden hatten. Immer dem Fuß der Felswand folgend, trieb Sigenot mit wuchtigen Ruderschlägen das Boot. Den Knaben auf seinem Schoß, saß Eberwein schwer atmend und mit gesenkten Augen; seine Lippen blieben geschlossen, er schien nicht zu sehen, nicht zu hören. Doch Huze gab Antwort auf die drängenden Fragen der beiden Fischer, und in tiefer Bewegung hörte Sigenot, was der Knabe erzählte von seinem Leiden, von dem Wunder seiner Rettung. Hinter dem gleitenden Nachen schloß sich der Weitfee. Still, vom Duft des Morgens umflossen lag die Lände und das Fischerhaus, aus dessen Moosdach sich der Herdrauch kräuselte. Dünne Nebel dampften aus dem Röhricht und hoben sich in die weißen Lüfte, als trügen sie den immer dichter ziehenden Wolken Kunde aus der Tiefe zu.

Der Einbaum fuhr in den Sand, und es wurde lebendig im Hag. Eigel und die beiden Sennen kamen gelaufen. Hilmtrud wollte ihnen folgen; doch Kaganhart faßte sie am Arm und zog sie unter leisem Schelten um die Hausecke. Als der Mönch aus dem Nachen stieg, fiel der Kohlmann vor ihm nieder und küßte den Saum seines Kleides. Doch Eberwein sah ihn nicht; seine Augen hingen an dem ragenden Kreuz. Mit gestreckten Armen eilte er dem heiligen Zeichen entgegen, beugte die Knie, umklammerte den Stamm mit beiden Armen und preßte die Stirne an das Holz.

[343] „Er redet mit seinem guten Helfer!“ flüsterte Sigenot. „Laßt ihn allein! Tragt den armen Buben ins Haus!“

Doch Huze wollte sich nicht tragen lassen. „Die Händ’ von mir! Ich geh’ schon, wohl wohl ... mir hilft schon einerl“ Seinen Schwerz verbeißend, richtete er sich auf und duldete kaum, daß Wicho und Eigel ihn stützten, als er Schrittlein um Schrittlein dem Hagthor entgegenhinkte.

Es währte lange, bis Eberwein sich erhob. Unter dem Thor trat Sigenot vor ihn hin und sprach: „Eh’ Du den ersten Schritt in meine Hofreut thust, laß raiten mit Dir. Wie ich selbigsmal von Dir gegangen bin, hab’ ich gemeint, ich könnt’ wiederkommen mit hundert hinter mir. Ich kann mein Wort nicht lösen – frag’ nicht, warum! Aber mich nimm ganz, mich und meine Leut’! Und wo der Mann ist, muß sein Haus sein!“ Er zog das Messer vom Gürtel, schlug vom Pfosten des Hagthors einen Span und legte ihn in Eberweins Hand. „So nimm mein Haus mit allem Recht und Eigen! Thu’ mit ihm nach Deinem Willen, laß mir die Nießung oder gieb sie einem andern ... Du bist der Herr!“

„Was Du bietest, soll gelegt sein in Gottes Hand!“ erwiderte Eberwein mit bebender Stimme. „Du aber schalte in Deinem Haus als freier Mann, und mögen Dir Tage des Glückes und der Ruhe blühen unter seinem Dach!“

„Glück, Herr?“ Schwer hob sich die Brust des Fischers. „Hätt’ ich die Ruh’ allein, ich wär’ zufrieden!“

„Sigenot, was bedrückt Dich? Sprich!“

Da klang es wie ein Schrei aus tiefer Qual. „In mich ist Feuer gefallen, bei lebigem Leib verbrennt mein Herz! Wo ich hoffen müßt’ ...“ Sigenot verstummte und drückte die Fäuste auf seine Brust, mit heißen Augen aufblickend über den See, zur Höhe der Falkenwand.

Eberwein sah diesen Blick. „Sigenot!“ stammelte er und umschlang den Fischer mit ungestümeb Armen. –

In Wazemanns Haus kläfften die Hunde, denen der Zwingerknecht das Futter zutrug. Von dem Lärm und Geheul, das sie erhoben, erwachte Herr Waze aus Schlaf und Rausch. Lallend stierte er im Saal umher und fuhr mit beiden Händen nach dem Gürtel; als er den Schlüssel griff, der an ledernem Riemen hing, lachte er heiser, fiel wieder zurück auf die Polster und schloß die Augen.

Es stieg der Morgen. Im Thal der Ache hoben sich schwere Dünste aus allen Sümpfen und zogen wie schleichende Gespenster durch den Wald und über die Halden. Sie stiegen in die Lüfte und verschwammen mit dem Gewölk, das seinen Lauf zu hemmen schien. Wolke schloß sich an Wolke, und immer dichter breitete sich die graue Wand zwischen Erde und Himmel. Als hinter den Bergen die Sonne stieg, fanden ihre Strahlen keinen Weg in das Thal mehr offen.

Fahles Zwielicht wie an einem düsteren Wintermorgen lag über dem Lokiwald. Und nur eine spärliche Helle fiel in die tiefe Wolfsgrube, in welcher Bruder Wompa gefangen saß. Noch immer kauerte er in der gleichen Ecke, die aufgezogenen Knie mit den Armen umschlungen haltend, die schlotternden Backen überronnen von kaltem Angstschweiß ... und ihm gegenüber, in einen Winkel gedrückt, hockte der Wolf wie ein Hund auf den Hinterbeinen. Die lechzende Zunge hing ihm zwischen den Zähnen hervor, und seine Augen waren unverwandt auf den Gesellen in der Grube gerichtet, der dem Wolfe nicht minder schrecklich erschien als der Wolf dem Bruder. Da fürchtete einer den andern. Wampo redete mit keuchender Stimme; seit das erste Grau des Tages in die Grube gefallen, hatte er die Zunge nicht ruhen lassen; verstummte er und ging ihm der Atem aus, so wurde das Tier unruhig – sprach er aber, so saß der Wolf mit schiefem Kopf und äugte nach den tönenden Lippen, halb in Scheu und halb wie in Neugier. Alle Gebete, die er wußte, alle Lieder und Litaneien, deutsch und lateinisch, hatte Bruder Wampo schon hergesagt. Auf die Psalmen Davids waren Salomonis Sprüche gefolgt. Er hatte dem Wolfe die schöne Geschichte der holden Ruth erzählt und war von der Königin Esther auf Hiob geraten. Da hielt er nun im siebenten Kapitel, als fern im Wald die rufende Stimme Schweikers klang. Ein Zittern befiel den Bruder, brennende Röte schoß ihm in das bleiche Gesicht, doch er wagte weder zu schweigen, noch zu schreien; nur langsam hob sich seine erschöpfte Stimme. Näher klang das Rufen Schweikers, der Wolf wurde unruhig und spitzte die Lauscher, seine Haare sträubten sich und mit funkelnden Augen streckte er den Hals. Schritte ließen sich hören: Schweiker kam durch den Wald einhergegangen.

„Nicht wehren will ich meinem Munde,“ scholl die Klage Hiobs in der Grube, „ich will reden von der Bedrängnis meines Herzens und will heraus sagen von der Betrübnis meiner Seele ...“

Schweiker erkannte die Stimme. „Bruder!“ schrie er und spähte nach allen Seiten in den leeren Wald.

„Bin ich denn ein Meer oder Walfisch, daß Du mich so verwahrest?“ klang es aus der Erde. „Wenn ich gedacht ...“

„Bruder, wo bist Du?“ In langen Sprüngen folgte Schweiker dem Hall dieses Jammers und fand die Grube. „Allmächtiger!“ stammelte er und griff nach dem Beil, das er im Gürtel trug. Da erloschen plötzlich die betenden Worte unter lautem Gezeter. Denn mit tollem Satz war der Wolf auf Wampo losgesprungen, und des Bruders Schultern und Glatze als Schemel benutzend, schwang sich das Tier zum Rand der Grube. Schon aber wirbelte Schweiker das Beil und warf. Einen Sprung noch that der Wolf, dann stürzte er blutend ins Moos. Ein wuchtiger Hieb endete sein Leben. „So soll es jedem ergehen, der wider uns anspringt!“

Bruder Wampo hüpfte wie ein Frosch, um die Hände zu fassen, mit denen Schweiker in die Grube niedergriff. Das kostete ein festes Ziehen, denn das Bäuchlein wog, obwohl es in dieser Nacht um einige Pfunde minder geworden.

„Bruder! Das soll Dir Gott vergelten mit reichem Himmelsbrot!“ stöhnte der Erlöste, als er ebenen Grund betrat; er fühlte nach seiner Glatze, ob sie nicht blute, wischte den Angstschweiß vom Gesicht und taumelte ins Moos, alle Viere streckend.

Schweiker warf sich neben ihm auf die Knie und umschlang ihn. „Dich hab’ ich! Aber wo ist der Herr?“

„Ich weiß nicht! Laß mich nur erst mich selber finden!“ Bruder Wampo war so erschöpft, daß ihm die Sinne zu schwinden drohten. Aber der Anblick des erlegten Raubtiers machte ihn wieder lebendig. „Schweiker,“ rief er, „das Fell muß ich haben für mein Bett! Ich mein’, ich hab’s verdient!“ – –

Eine Stunde später war Bruder Wampo an Leib und Seele gestärkt und neu gekräftigt. Der Sterz mit Wasser hatte ihm all sein Leben lang noch nie so köstlich gemundet wie an diesem Morgen. Nun lag er im Halbschlaf auf seiner Stangenbritsche – wie weich ihn das Moosbett dünkte! – und seine Ruhe störte kein Laut. Er war allein. Waldram und Schweiker waren ausgezogen, um nach Eberwein zu forschen.

„Er hat den Bruder in der Ramsau aufgesucht, dort will ich fragen nach ihm!“ hatte Waldram gesagt und war hinausgewandert gegen die Strub.

„Er muß bei dem kranken Kindl gewesen sein, dort will ich suchen!“ meinte Schweiker und stieg über die Gehänge des Göhl empor. Als er die Höhe erreichte und vom Waldsaum aus den Hag des Greinwalders erblickte, hämmerte sein Herz, daß ihm die Adern am Hals wie Striemen schwollen. Er meinte, das käme vom raschen Gang. Freilich, es stockte ihm fast der Atem ... und da begann er nun gar noch zu laufen: so große Eile hatte er, Kunde von seinem Herrn zu hören. Mit Faust und Grießbeil schlug er an das geschlossene Thor. „Thut auf in Gottes Namen!“ Er hörte flüsternde Stimmen im Hof, dann gedämpfte Schritte; doch niemand kam, um das Thor zu öffnen.

Schweiker pochte und rief, aber hinter dem Hag blieb alles still. Er wurde blaß und rot, mit beiden Fäusten trommelte er auf den Bohlen und schrie, daß in der Runde der Wald erschallte: „Thut auf! Aber Leut’, so thut doch auf!“ Als er wieder einmal mit verhaltenem Atem lauschte, war es ihm, als klänge vom Hause her ersticktes Weinen an sein Ohr. Das konnte der Bauer nicht sein, auch nicht die Bäuerin. Kalt wie Eis fuhr ihm ein Schreck in alle Glieder. „Da muß ein Unheil geschehen sein!“ stammelte er, und vor seinen Augen stand ein Bild: Wazemanns Söhne waren in den Hag gefallen, sie hatten den Bauer und die Bäuerin niedergeschlagen oder gefesselt, hatten um die Hände des wunden Mädchens die Stricke geschlungen und ... doch weiter dachte er nicht „Hinzula!“ schrie er, warf das Grießbeil nieder, verschlang die Arme über der Brust und rannte mit der klobigen Schulter wie ein Sturmbock gegen das Thor. Alle Bohlen krachten, der Riegel splitterte, und Bruder Schweiker hatte freien Weg. Er raffte einen Prügel von der Erde und stürzte dem Hause zu. Unter der Thüre trat ihm die Bäuerin entgegen, bleich, mit aufgerissenen Augen; sie knickte fast zu Boden bei Schweikers Anblick, der

[344]

Rubens in der Werkstatt Brouwers.
Nach einem Gemälde von A. Glisenti.

[345] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [346] den Knotenstock schwang mit hallendem Ruf: „Wo sind die Buben? Wo sind sie?“

„Buben? Was für Buben?“ stotterte sie. „Ich hab’ nur einen einzigen! Und der ist auf der Alben!“

Schweiker ließ den Prügel fallen und griff mit beiden Händen an seinen Kopf, in dem er einen Wirbel spürte, als wären seine Gedanken ein Häuflein Blätter, die der Wind gefaßt. Hinter dem Stall kam der Greinwalder hervorgeschlichen. „Da hört sich doch alles auf!“ brnmmte er. „Gleich ein Loch in den Hag rennen! So ein Unfirm!“ Er ging zum Thor, kraute sich hinter den Ohren und besah den Schaden.

„Warum habt Ihr denn das Thor nicht aufgethan? Ich hab’ doch gerufen!“ stammelte Schweiker.

„Gerufen, gerufen!“ Das Weib wurde rot bis über die Ohren und schielte nach ihrem Mann. „So ’was muß man doch hören eh’ man aufthun kann! Was willst denn eigentlich?“

Da mußte sich Schweiker besinnen, nach einer stummen Weile fiel es ihm ein: „Meinen Herrn hab’ ich suchen wollen. Ist er nicht dagewesen?“

„Nein, nein, hab’ nichts gesehen, hab’ nichts gehört.“

„Aber er muß doch dagewesen sein! Ich hab’ doch gesehen, wie er über die Halden heruntergestiegen ist. Wo sollt’ er denn gewesen sein, wenn nicht bei Deinem Kindl?“

Verlegen suchte die Bäuerin nach Worten, doch sie fand nur wieder die alte Rede: „Nein, nein, hab’ nichts gehört, hab’ nichts gesehen!“

Schweiker schüttelte den Kopf und machte ein paar Schritte gegen das Thor. Schwer atmend blieb er wieder stehen und fragte: „Wie geht’s ihr denn?“

„Gut, gut!“ lautete die hastige Antwort. „Da brauchst Dich nimmer sorgen! Kannst schon gehen! Wohl wohl! Sie wird bald wieder hüten können.“

„Der liebe Gott sei drum gelobt!“ Ein tiefer Seufzer, und Schweiker ging zum Thor; doch wieder kehrte er um, und seine Stimme schwankte: „Sag’ ihr ... sag’ ihr, ich thu’ sie grüßen lassen! Gelt, sag’ ihr das!“

Er wollte gehen; da klang es mit zitterndem Ruf aus der Stube: „Gottesmann!“

Mit einem Sprung war Schweiker bei der Thüre; stotternd wollte ihm die Bäuerin den Weg verlegen, aber den das Thor nicht aufgehalten, den hielten auch die Hände des Weibes nicht. Im Halbdunkel der Stube leuchtete ihm vom Bett das Gesichtlein der Hirtin und die weiße Binde entgegen. „Kindl! Kindl!“ Mehr brachte er nicht über die Lippen.

Wortlos streckte Hinzula die Hände nach ihm. Als er zögernd nähertrat, sah er ihre verweinten Augen und die Spur der Zähren auf ihren schmächtigen Wangen. „Gelt, so hab’ ich doch recht gehört!“ stammelte er. „Was ist denn geschehen, Kindl? Sag’ doch, sag’, warum denn hast Du geweint?“

„Weil, weil ...“ da gewahrte Hinzula die Zeichen, die ihr die Mutter hinter dem Rücken des Mönches machte. Sie senkte die Augen und lispelte: „Weil ich Schmerzen hab’.“

Erschrocken faßte er ihre Hände, setzte sich auf die Kante des Lagers und starrte mit kummervollen Augen auf ihre blassen Züge. Sie schien die Sprache seiner Blicke zu verstehen. „Mir ist schon wieder ein lützel besser,“ flüsterte sie mit scheuem Lächeln und ließ sich auf das Heupolster zurücksinken. „Thu’ nur meine Händ’ nicht auslassen!“

Bruder Schweiker hielt fest. Nach einer Weile aber wurde er unruhig und drehte immer wieder das Gesicht zur Thüre.

„Was schaust denn alleweil’?“ fragte sie.

Er zögerte mit der Antwort.. „Ich mein’, ich werd’ wohl fort müssen.“ Sie hob sich erschrocken auf und ihre zitternden Finger umklammerten seine Hände. „So schau’ doch, Kindl,“ jammerte er, „ich muß ja meinen Herrn suchen!“

Sie ließ das Köpflein sinken. Weshalb er gehen mußte, das kümmerte sie nicht – sie hörte nur, daß er nicht bleiben konnte, und seufzte. „So gut ist mir, wenn Deine Händ’ mich halten! Schier völlig gesunden hätt’ ich können ... jetzt muß ich halt wieder liegen in Schmerzen!“

Bei dem fassungslosen Zwiespalt, in welchen Bruder Schweiker durch diese Worte geriet, fiel es ihm gar nicht auf, daß dem Druck seiner Hände eine so wundersame Heilkraft innewohnte. Was sollte er thun? Konnte er gehen? Durfte er bleiben? Im Wirbel dieser Fragen kam ihm wie eine Erleuchtung die Erinnerung, daß Eberwein einst zu ihm gesprochen: „Findest Du ein Menschenkind in Not und Schmerzen, so denke nicht Deiner selbst, nicht Deiner Brüder und des Klosters, Not hat kein Gebot als nur das einzige des Erbarmens!“ Und es war doch sein Herz des „Erbarmens“ so voll, daß es ihm fast zerspringen wollte.

„Ja, Kindl, ja, Du bist in Not und Schmerzen, da muß ich bleiben! Das hat er selber gesagt!“

Ueber die Züge der Hirtin ging ein Lächeln, so hell wie Sonnenschein ...

Draußen aber leuchtete kein Strahl. Grau hing das dicht geschlossene Gewölk über dem Thal, alle Spitzen der Berge verhüllend. Kein Windhauch regte sich, und das trübe Zwielicht verschleierte die Farben. Es hatte sich über alles Leben der Erde gesenkt wie eine dumpfe trostlose Stimmung. Lautlos dehnte sich der welkende Bergwald, und es schien, als stünde jeder halb entblätterte Strauch und jeder fröstelnde Baum in Furcht und Scheu vor einem nahenden Feind. Dunkler und dunkler sammelten sich die Wolken. Aus allen Bergscharten tauchten sie auf, glitten die Gehänge entlang und drängten sich über dem Thal zu Hauf, als wäre in den Lüften ein „Thing“ berufen, welches entscheiden sollte über die kommende Zeit. In schwärzlichem Blau wälzte sich ein gesonderter Wolkenzug, zwischen dem Totenmann und Steinberg, über das Ramsauer Thal einher.

Die ziehenden Schwaden streiften den steilen Bergwald, durch welchen der alte Runot von den Alben niederstieg. Er hatte seine Buben gerufen, um mit ihrer Hilfe sein in Trümmer gefallenes Haus neu wieder aufzurichten. Als er das Thal erreichte und am Kirchleiu vorüberschritt, sah er das greise Paar auf der Steinbank unter der Linde sitzen; um den Baum her war die Erde gelb von gefallenen Blättern. Der Bauer lüftete zum Gruß das lederne Käpplein und deutete nach der Höhe. „Schau’ hinauf, die tragen den weißen Winter im grauen Kittel.“

„Wohl wohl,“ nickte Hiltischalk, „tummel’ Dich nur, daß Du Dein Häusl unter Dach bringst, ’vor der Schnee am Hag hinaufwachst.“

„Ich mein’, es wird sich machen. Bieten doch alle Nachbarsleut’ die Händ’ zum Schaffen.“

„Recht so, recht, nur alleweil’ fest zusammenhalten! Bei solchem Bund ist Gottes Segen. Geh’ nur, geh’ und versäum’ kein Stündl!“

Der Bauer grüßte und wanderte weiter.

„Ist ein guter braver Mann!“ nickte der Greis. „Gott hat sich sichtlich an ihm erwiesen und wird ihm das neue Haus behüten.“

„Ja, das wird er!“ sagte Hiltidiu mit ihrer leisen Stimme und blickte mit verträumtem Lächeln auf das Sträußlein in ihren Händen. Es waren welkende Heideblumen ... die Blüten, die ihr Eberwein gesandt. Nach einer Weile suchten ihre Augen den Weg, der neben dem Kirchhof vorüberzog und am Ufer der Ache unter Bäumen verschwand. „Meinst, er kommt wohl heut’ noch?“

„Freilich, freilich, er hat es ja durch die Mätzel sagen lassen!“ Hiltischalk griff an seiner Kutte umher. „Wo hab’ ich nur das Birkenblättlein?“ Er zog aus einer Tasche die weiße Rinde hervor und las: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden!“ Er faßte die welken Hände der Greisin und wortlos schmiegten sie die faltigen Wangen aneinander. Um sie her fielen die Blätter, und hoch in den Lüften, fast im Gewölk, eilte eine Schwalbenschar der Ferne zu, wie auf hastiger Flucht ...

Die Greisin fuhr auf, zitternd, und deutete gegen das Thal der Ache. „Er kommt! Er kommt! Schau’ nur: zwischen den Bäumen seh’ ich das schwarze Häs!“

„Wohl wohl, das ist er schon!“ rief Hiltischalk. So schnell, als ihre alten Füße sie trugen, eilten sie zum Thor der aus Felsbrocken aufgeschichteten Umfriedung.

„Willkommen, willkommen!“ rief der Greis in bebender Erregung, „willkommen in Gott, Du mein guter Bruder ...“ Er verstummte und blickte erschrocken auf den Mönch, weicher wankenden Ganges den Hof betrat. Pater Waldram war es, kaum trugen ihn die Füße noch, und keuchend ging sein Atem; seine bleiche Wange war blutig geschunden wie von einem Sturz, und übel hatten die Dornen des Weges und die dürren Aeste des Urwalds seine Kutte zugerichtet. Und was er sonst noch auf diesem Wege erfahren, redete aus dem heiseren gereizten Klang seiner ersten Worte. „Ein Thor, das dem Diener Gottes offen steht? Wo sind die Hunde, um mich zu jagen? Wo die Steine, die mich treffen sollen?“ Seine Hände, die den Stab verloren, griffen nach einer Stütze, und taumelnd sank er auf die Steinbank nieder.

[347] Stotternd in Schreck und Sorge umschlang ihn Hittischalk mit beiden Armen. Lauf, Hilti, lauf, bring’ Speis’ und Trank, daß wir den Müden laben! Schau’ nur, der gute Bruder ist völlig von Kräften!“

Die Greisin eilte ins Hans. Bei Hiltischalks letzten Worten hatte Waldram sich aufgerichtet. „Ohne Kraft ist nur, wen Gott nicht stärket!“ Er stand und hob die Arme. „Ich stehe auf Gottes geweihter Erde, und mir ist wohl!“

„Freilich, freilich, mein guter Bruder, freilich: wohl ums fromme Herz ... aber schau’, der schwache irdische Leib, das ist eine andere Sach’!“

„Rede nicht unnütz! Bist Du Hiltischalk, der Leutpriester in der Ramsau?“

„Wohl wohl, mein lieber Bruder, der bin ich. Und Du bist von den Gademer Brüdern einer? Gelt? Der gute Herr hat wohl selber nicht kommen können, so hat er wohl Dich geschickt, um mir die Ruh’ zu bringen ...“

„Mich hat die Sorge geführt. Eberwein, mein Herr und Propst, ist gestern mit dem Morgen ausgezogen und zur Nacht nicht heimgekehrt.“

„Nicht heimgekehrt!“ Erschrocken schlug Hiltischalk die Hände ineinander. „O Du allgütiger Gott im Himmel! Es wird ihm doch kein Unheil widerfahren sein?“

„Er war bei Dir?“

„Freilich, und meine Magd hat ihn hinausgeführt bis in die Schönau und hat das Sträußlein von ihm gebracht und das Birkenblatt und hat mir ausgerichtet, heut’ will er wiederkommen. Stund’ um Stund’ schon warten wir auf ihn mit Schmerzen ... denn wenn mir der liebe Bruder auch gleich das Birkenblatt geschickt hat und das Sträußlein für mein gutes Weib, so hätt’ ich halt doch gern ...“ Der Greis verstummte.

Wie vor einem Aussätzigen war der Mönch vor ihm zurückgewichen. „Dein Weib! Du sagst: Dein Weib, und es öffnet sich unter Deinen Füßen nicht die Hölle!“

„Aber mein lieber Bruder,“ stammelte Hiltischalk, „tausendmal thu’ ich Dich bitten: laß doch reden mit Dir in Ruh’!“ Seine Stimme dämpfte sich zu zitterndem Flehen. „Schau’ nur, da kommt meine gute Hilti ...“

Die Greisin kam aus dem Haus, achtsam ein Kännlein Milch in den Händen tragend; Mätzel folgte ihr mit Brot und Käse. „Nehmet, lieber Gast,“ sagte Hiltidiu, „und genießet der Gottesgäb’ ...“

„Lästere nicht den Himmel mit diesem Wort!“ klang Waldrams schrille Stimme. „Eh’ soll der Hunger mich töten, eh’ meine Lippe kostet, was solche Hand mir bietet. Des Teufels ist, was Du berührtest mit verfluchten Händen!“ Und mit zuckender Faust schlug Waldram die Kanne aus der Hand der Greisin. Bleich und zitternd stand Hiltischalk, zu Tod erschrocken sein Weib. Mätzel ließ die hölzerne Schüssel fallen, rannte kreischend aus dem Hof und durch das Thal hin klang ihr zeterndes Geschrei um Hilfe.

„Herr, Herr,“ keuchte der Greis, während seine Blässe mit dunkler Röte wechselte, „übel thust Du an meinem Weib!“ Er trat vor Hiltidiu hin und breitete schützend die Arme.

„Bangest Du um die Gesellin Deiner Sünde? Rufe zu ihrem Schutz die Hölle an, sie wird erscheinen, denn Jubel und Freude habt Ihr dem Teufel bereitet!“

„Herr, Herr,“ schrie Hiltischalk in wachsendem Zorne; doch die Greisin zog ihn an sich, drückte ihm die Hand auf die Lippen und sagte zu Waldram: „Redet nicht so böse Wort’! Blicket her auf unser weißes Haar und habet Ehrfurcht vor dem Alter!“

Unbewegt, mit einem Antlitz, in dessen Zügen der Zorn versteinert schien, stand der Mönch. „Ich kenne nur eine Ehrfurcht: die Ehre, die ich dem Himmel gebe, die Furcht vor Gott. Wider den Himmel habt Ihr gefrevelt, und Gottes Wohnhaus habt Ihr entweiht zur Stätte des Lasters! Es sandte mich der Herr, sein heiliges Haus zu reinigen und Gericht zu halten über Euch. Wollt Ihr der Hölle nicht ewig verfallen sein, verstoßen aus dem Schoß der Kirche, wollt Ihr nach schreiender Sünde noch Buße gewinnen, so zerreißet ohne Zögern den verruchten Bund, den der Teufel gesegnet! Löset Eure Hände! Tretet auseinander! Ihr sollt geschieden sein wie Tag und Nacht, und Meer und Berge sollen liegen zwischen Euren Herzen!“

Die flammende Kraft dieser Worte versagte auf das greise Paar die Wirkung nicht. Wohl lagen ihre Hände ineinander wie festgeschmiedet, doch zitternd standen sie, mit bleichen Gesichtern und starren Augen.

„Hört Ihr das Geheiß der Kirche nicht? Mit jedem Atemzug, den Ihr noch Seite an Seite schöpfet, mehrt Ihr Eure Sünde! Tretet auseinander! Löset Eure Hände! Verflucht ist jeder Blick, den Ihr Auge in Auge taucht!“

„Aber Bruder, Bruder!“ stammelte Hiltischalk und holte aus seiner Tasche mit schlotternder Hand das Birkenblatt hervor. „Lies doch, lies, welch eine Botschaft uns Dein Herr und Propst gesendet!“

Waldram las und wie in Entsetzen schleuderte er das Blatt von sich. „Er sandte Dir diese Worte? Er? Und er wußte, daß Du in Buhlschaft lebst?“

Hiltidiu schlug die Hände vor das Geacht, der Greis aber richtete sich auf, als wäre seinen Gliedern Kraft und Jugend wiedergekehrt. „Sag’ das Wort nicht wieder!“ klang seine bebende Stimme. „Ich und meine Hilti, wir leben in frommer gottesfürchtiger Eh’. Und was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden! Der mir die Wort’ geschickt hat, dem glaub’ ich mehr als Dir!“

„Er wußte um Deine Sünde und mißbrauchte das heilige Wort! Er hat gehandelt wider Eid und Pflicht, hat die Treue gebrochen, die er der Mutter Kirche zugeschworen ... und ich frage noch, weshalb er nicht heimgekehrt? Geh’ doch, geh’, suche die Tiefe, in die ihn Gott gestürzt zur Strafe seines Treubruchs!“

Hiltischalk drückte das thränenüberströmle Gesicht seines Weibes an die Brust und umschlang sie mit zitternden Armen. „Laß ihn reden, Hilti,“ sagte er schluchzend, „laß ihn reden! Wir zwei, wir können nimmer voneinander. Gewachsen sind wir und gestanden Seit’ an Seit’, zwei gute feste Bäum’. Die Aest’, die sind verflochten, daß keiner mehr die Blätter scheidet, und aneinander sind die Stämm’ gewachsen, daß zwischen ihnen nimmer Platz ist für den Beilhieb. Uns zwei, uns löset keiner mehr. Laß gut sein, Hilti, laß gut sein ... es giebt kein Beil, das solche Schneid’ hat!“ Zärtlich faßte er mit beiden Händen das Haupt der Greisin und küßte ihr weißes Haar.

Zögernd stand der Mönch, als wäre ihm ein menschliches Rühren in das starre Herz geschlichen; doch seine Hände griffen nach dem Kreuz an seinem Gürtel, und schrill hob sich seine Stimme: „Wagt sich die Hölle schon heran an mich? Weichet von mir, Ihr Geister der Verführung! Mit mir ist Gott!“ Er schwang das Kreuz gleich einem Schwerte und faßte den Arm des Greises. „Ihr wollt das Wort der Kirche nicht hören ... so leg’ ich zwischen Euch das Krenz ...“

Da stürzte Mätzel schreiend in den Hof; ihr folgte ein lärmender Haufe, Männer, Weiber und Kinder; sie umringten das greise Paar, drohende Blicke richteten sich auf den Mönch, die Weiber griffen uach Steinen, die Männer hoben die geballten Fäuste, und ihr Geschrei erfüllte den Kirchhof. Waldram wich zurück, doch wenige Schritte nur; brennende Röte flammte auf seinem Gesicht, und seine Augen glühten. „Wollt Ihr den Diener Gottes morden, verführt von diesem falschen Hirten? Schwinget die Steine doch! Lasset die Fäuste fallen auf mein Haupt ... Ihr seht, ich rühre keinen Arm zu meinem Schutz und fessele meine Hände!“ Das Kreuz umklammernd, streckte er die Hände, als wären sie gebunden, den Schreienden entgegen. Da wurden sie still, ließen die Fäuste sinken und die Steine fallen und starrten mit scheuen Augen auf den Mönch; man hörte nur noch das Rauschen der Ache und das Schluchzen der Magd, welche zu Hiltidius Füßen kauerte. Waldram richtete sich auf und hob das Kreuz. „Fühlt Ihr, daß ich ohne Waffen stärker bin als Ihr mit Euren Steinen und Fäusten? Kommt die Furcht Euch an vor jenem, der über den Wolken wohnt als meine Hilfe? Ein Hauch aus seinem Munde, und Ihr seid wie Blätter vor dem Winde, preisgegeben der Vernichtung! Doch Gott der Herr will Euer Elend nicht und Euren Untergang, er hat mich ausgesandt, um Euch zu retten. Höret mich, Ihr Armen und Betrogenen! Wenn Ihr nicht sinken wollt in ewiges Verderben, so löset Euch von diesem Manne, der als ein falscher Hirte unter Euch gestanden, ein Wolf in Eurer Herde!“

Alle Augen wandten sich auf Hiltischalk und einer der Männer stammelte: „So red’ doch, Bruder Hiltischalk, so red’ doch! Wie darfst Du denn so ’was sagen lassen wider Dich? Du, der alleweil’ zu uns gewesen ist wie ein Vater zu seinen Kindern!“

Lallend bewegte Hiltischalk die Zunge und blickte mit verstörten Augen um sich her.

„Sehet, wie Gott mit Stummheit seine Zunge schlägt und die Lüge erstickt auf seinen Lippen!“ Jähen Schrittes, daß die Weiber und Männer erschrocken vor ihm wichen, trat Waldram [348] auf den greisen Priester zu, mit steinernem Antlitz und flammenden Augen, wie ein Dämon der Rache und des Zornes. „So lös’ ich von Dir das heilige Zeichen, das Du geschändet!“ rief er und riß das hölzerne Kreuzlein von der Brust des Greises. „Und höre Dein Gericht nach dem Gesetz der Kirche: Du bist dem Bann verfallen, verlustig Deines Amtes und Deiner priesterlichen Würde! Die Weihe sei getilgt von Deinem Haupt – was Du gebunden sei gelöst, was Du gesegnet, sei verflucht!“ Er wandte sich zu einem Weibe. „Hat er Dein Kind getauft? So hat er es der Hölle übergeben! Reiß es hinweg von ihm, sei Deinem Kinde eine Mutter, trag’ es in Gottes Haus und leg’ es auf den Altar ... ich will Dir helfen, will zum Himmel schreien, daß Gott Deines Kindes sich erbarme!“ Bleich und zitternd hob das Weib ihren Knaben an die Brust und taumelte in die Kirche, während Waldram den Arm eines Mannes faßte. „Vergab er Deine Sünden? Reichte er Deinen Lippen das Sakrament? Unseliger! Dein Herz ist schwer von Schuld, und Brot der Hölle hast Du genossen! Thue Buße, wirf Dich auf die Knie und bete, daß Gott Dir gnädig sei!“ Da folgte der Mann dem Weibe, das greise Paar noch streifend mit einem scheuen Blick.

Ein paar murrende Stimmen ließen sich hören, doch mit hallender Kraft übertönte sie die Rede des Mönches. „Folget mir, Ihr alle, die dieser falsche Hirte von Gott gewendet und der Hölle zugeführt. Kniet nieder und schreiet zum Himmel um Gnade! Oder es könnte geschehen, daß Gottes Langmut ein Ende nimmt und daß er im Zorne sein Fener wirft auf das entweihte Haus!“

„Es hat ja der Blitz schon in die Kirch’ geschlagen,“ kreischte eine Weiberstimme, „und hat das Kreuz geworfen und das Dach verbronnen!“ Und wieder lichtete sich der Kreis um Hiltischalk. Wie Keulenschläge fielen die Worte des Mönches, und das zehrende Feuer, das in seinem Herzen brannte und von seinen Lippen schlug, erfaßte diese zitternden Menschen. Hiltischalk und Hiltidin hatten aus den Lenten der Ramsau allzu gläubige Christen gemacht, als daß der Himmel und die Hölle, welche Waldram vor ihnen beschwor, ihre Gemüter nicht hätten erfüllen sollen mit scheuer Ehrfurcht und drückendem Bangen. Sie sahen den Himmel verschlossen und die Hölle offen und da streckten sie in Angst die Arme nach der Hilfe. Das kleine Kirchlein füllte sich, und es wurde einsam um das greise Paar, das verloren dastand in sprachlosem Jammer, um sich herstarrend wie in eine stürzende Welt.

(Fortsetzung folgt.)




Die Straußenfeder.


Jüngst trat unser Dienstmädchen in das Wohnzimmer, um Abschied zu nehmen, da es seinen Ausgangssonntag hatte. Ich blickte auf: das brave und fleißige Mädchen stand da in seinem schmucken Sonntagsstaate und den weißen Hut schmückte eine mächtige Straußenfeder! Ich mußte lächeln ... nicht über das Mädchen, denn warum soll sich eine junge fleißige Magd am Sonntag nicht schmücken? Nein, über die Straußenfeder – denn es fiel mir ein, welche Wandlungen sie im Laufe der Jahrhunderte durchgemacht hat. Einst hat sie das Haupt der Pharaonen geschmückt – aus alten ägyptischen Bildern tritt sie als echt königlicher Schmuck uns entgegen, als Zeichen fürstlicher Würde wurde sie Jahrhunderte hindurch Asiens Selbstherrschern vorangetragen, dann gab es eine Zeit, wo in Europa nur Edelfräulein und Ritter sich einen derartigen Federbusch erlauben konnten – und nun?

Man sieht sie überall: sie ist billig – und gewöhnlich geworden.

Wenn ich in meiner Jugend eine Straußenfeder ansah, so weckte ihr Anblick in mir gar lebhafte Vorstellungen. Sie berührte mich ähnlich wie ein Hirschgeweih an der mit Waffen geschmückten Wand eines Jagdschlosses – sie war mir eine Jagdtrophäe. Da tauchten vor meinen Augen die unendlichen Gefilde der sonnverbrannten Wüste auf und ein Trupp Beduinen, der auf flinken Rossen hinter dem mächtigen Vogel herstürmte, bis er in den Sand gestreckt war. Erbeutet waren in der That die Straußenfedern, mit denen sich unsere Eltern schmückten, auf mühevollen Wegen durch die Wüste waren sie nach den Häfen Afrikas gebracht. Heute ist das anders: es werden in Afrika wohl noch immer Strauße gejagt, aber in der freien Wüste sind sie äußerst selten geworden, und was heute die Damenhüte schmückt oder zu Fächern zusammengesetzt wird, das sind zumeist – gerupfte Federn, in derselben friedlichen Art gewonnen wie die Gänsefedern, die unsere Betten füllen.

Der Strauß ist kein so wilder Vogel; wird er gut behandelt, so gewöhnt er sich an den Menschen, und viele Negerstämme haben ihn seit lange zu zähmen gewußt. Afrikanische Wüstenreisende waren oft Zeugen des seltsamen Schauspiels, daß zahme Strauße den Karawanen folgten und mit dem Vieh zur Tränke oder auf die Weide getrieben wurden.

Aber die trägen Eingeborenen Afrikas schlugen aus dieser Eigenschaft des Vogels kein Kapital; ihre Straußenzucht blieb beschränkt, verschwindend klein, bedeutungslos für den Welthandel. Was der Strauß einbringen kann, darauf sind erst die Engländer gekommen oder haben es wenigstens zuerst der Welt praktisch bewiesen.

Man hat wohl schon früher in Aegypten und später in Algerien Versuche mit Straußenzucht gemacht, doch erlangten sie keine Bedeutung und verliefen meist im Sande. Sachverständig ist man dagegen im Kapland vorgegangen, wo man ja die Straußenbehandlung von den Wilden erlernen konnte. In den sechziger Jahren begannen dort Europäer Strauße zu halten, und die Statistik berichtet aus dem Jahre 1865, daß es damals in der Kapkolonie 80 Stück zahmer Strauße gegeben habe. Wie haben sich nun diese Vögel von Jahr zu Jahr vermehrt! Nach zehn Jahren, 1875, wurden bereits 32247 Stück gezählt, im Jahre 1885 nicht weniger als 152415 Stück, und im Jahre 1893 wurde der Bestand dieses größten Hausgeflügels in der Kapkolonie auf etwa 200000 Stück geschätzt.

Kein Wunder, daß die Kapkolonie die Welt mit dem prächtigen Gefieder überschwemmte! In dem Jahrzehnt von 1880 bis 1890 betrug die Ausfuhr an Straußenfedern über eine Million Kilo und stellte einen Wert von rund 150 Millionen Mark vor. Die Stranßenzucht wurde in der That zu einer Goldgrube. Aber in dem Maße, als sie wuchs, sank auch der Wert der Straußenfeder. Ausgesucht schöne Federn, sogenannte „Kapitalfedern“ aus den Flügeln des Vogels, werden noch heute mit Liebhaberpreisen bezahlt, wenn sie mindestens 34 bis 35 g wiegen, 10 cm breit und gegen 35 cm lang und rein weiß oder von sattschwarzer Farbe sind; aber der für den Welthandel maßgebende Durchschnittswert der Ware ist bedeutend zurückgegangen. Im Jahre 1860 wurde noch ein englisches Pfund (zu 453 g) mit 170 Mark bezahlt, 1870 konnten nur 61 Mark erzielt werden; der Preis stieg vorübergehend wieder auf 100 Mark, sank dann aber stetig, und seit 1888 beträgt er im Großhandel nur 20 Mark und darunter! In ähnlicher Weise ist der Wert des Vogels selbst zurückgegangen. Zu Anfang der Zucht im Kaplande kostete z. B. ein Brutpärchen bis 5000 Mark, 1888 nicht mehr als 800 bis 1000 Mark, gegenwärtig sind die Preise noch niedriger, und junge Vögel kann man schon für 20 bis 80 Mark erstehen.

Die Erfolge der Kapländer erregten den Neid anderer Völker und Kolonisten, deren Gebiete sich gleichfalls für Straußenzucht eigneten. Bei Buenos Aires und Montevideo, in Australien, auf Neu-Seeland und Mauritius wurde Straußenzucht ins Leben gerufen, so daß die Kapregierung sich schließlich veranlaßt sah, auf die Ausfuhr lebender Strauße einen hohen Zoll zu legen, 2000 Mark auf jeden Vogel und 100 Mark für je ein Ei. Das ist zweifelsohne der höchste Geflügel- und Eierzoll, den es jemals auf der weiten Erde gegeben hat.

Trotz dieser Abwehr wächst der Wettbewerb in verschiedenen Weltteilen und die schönen Straußenfedern werden wohl noch billiger werden, sehr zum Schaden der zahmen Strauße; denn die Züchter legen sich bereits die Frage vor, ob denn dieser große Vogel nur des Gefieders wegen gepflegt zu werden braucht. Das Straußenweibchen legt bekanntlich recht große Eier, von denen jedes im Durchschnitt 1,25 Kilogramm, also 2½ Pfund, wiegt. Die Eier geben wohlschmeckende Speisen, wenn man sie zu bereiten versteht. Das Eiweiß der Straußeneier ist nämlich im Vergleich zum Eigelb unverhältnismäßig stark entwickelt, man muß darum bei der Verwendung in der Küche etwas Eiweiß beiseite thun, dann erhält man aus dem Straußenei Eierspeisen, die denen aus dem Hühnerei gar nicht nachstehen. Die Straußenhenne ist außerdem ein guter Legevogel. In guten Gehegen Südafrikas legt sie jährlich 25 bis 30, manchmal sogar 45 bis 50 Eier. Die Menschen könnten natürlich alle diese Eier nicht aufessen, ein Teil müßte dem Vogel zum Brüten belassen werden; man hat aber berechnet, daß alsdann beim regelrechten Betriehe der Straußenzucht immer noch von jeder Henne eine Eiermasse zu gewinnen wäre, die 600 Hühnereiern entsprechen würde. Während wir aber die Schalen unserer Geflügeleier wegwerfen, hat beim Straußenei selbst diese noch einen nicht zu verachtenden Wert. Die Eingeborenen bereiten aus ihr Gefäße und auch unsere Industrie verarbeitet sie zu allerlei Schmucksachen; also würde ein Straußeneierhandel lohnen. Entfernungen bedeuten heutzutage gar nichts. Am Kap der Guten Hoffnung reift der Obstsegen, wenn wir Frühjahr haben, und seit einigen Jahren sendet die Kapkolonie viele Centner frischen Obstes um jene Zeit nach London; warum sollte man nicht auch frische Straußeneier nach London senden können? Dorthin müßten sie ja nicht verzollt werden!

Ja, man geht noch weiter. Das Fleisch des Straußes ist wohlschmeckend, viel besser als Kaninchenfleisch, es ist zwar nicht so zart wie das des Truthahns, aber dafür nahrhaft und kräftig, dem Rindfleisch ähnlich. Wer weiß, welche Vorzüge es noch zeigen würde, wenn man eine richtige Straußenmast einführte und die Wüstenrenner zu einer beschaulicheren Lebensart veranlaßte!

Es giebt natürlich Leute, die über solche Pläne lachen; das ist ein billiges Vergnügen, das sich auch viele bereitet haben, als in der Kapkolonie vor dreißig Jahren mit einem Dutzend Strauße die ersten Zuchtversuche angestellt wurden. Heute tummeln sich dort 200000 menschenfreundliche Straußenvögel und die Kapländer haben in den dreißig Jahren mit den Federn gegen 200 Millionen Mark verdient.

Ja, das „dunkle“ Afrika wird uns noch viele Ueberraschungen bringen, wenn auf seinen weiten Steppen und Wüsten europäischer Unternehmungsgeist sich breit machen wird! Wer weiß, ob nicht einmal unsere Söhne für deutsch-südwestafrikanische Straußenleberpasteten schwärmen werden? Ob dann auf seinen Damenhüten noch Straußenfedern prangen werden? Wer weiß es? Es kann wohl sein, daß dann der stolze Pharaonenschmuck nicht mehr wert ist – als die bunte Hahnenfeder! J.     




[349]

Papiergeld und Papiergeldfälschungen.

Von Eduard Grosse.

Im zweiten Teile seines „Faust“ giebt Goethe eine recht erbauliche Schilderung von der Einführung des Papiergeldes. Der Erfinder ist dort kein Geringerer als Mephistopheles selbst, „der Geist, der stets verneint“, der Beherrscher des nordischen Hexen- und Geisterreiches. Er befindet sich mit Faust am kaiserlichen Hofe, allwo großer Geldmangel herrscht, und tritt hier als Retter aus der Not auf, indem er das volksbeglückende Zahlungsmittel der Kassenscheine ausfindig macht. Heermeister, Schatzmeister und Marschalk treten fröhlich vor den geldbedürftigen Kaiser, der ob dieser Fröhlichkeit verwundert dreinschaut, bis ihm der würdige Kanzler einen Kassenschein vorzeigt und ihn dabei belehrt:

„So hört und schaut das schicksalschwere Blatt,
Das alles Weh in Wohl verwandelt hat.
(Er liest.) ‚Zu wissen sei es jedem, der’s begehrt:
Der Zettel hier ist tausend Kronen wert.
Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand,
Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland.‘“

Dem Kaiser kommt die Sache verdächtig vor, und er braust zürnend auf: „Ich ahne Frevel, ungeheuren Trug!“ Allein er wird begütigt und wundert sich nur noch, daß der Zettel seinen Leuten für gutes Geld gilt. Aber warum sollte er das nicht? Mephistopheles und Faust haben ja die unschätzbare Entdeckung gemacht, daß in der Erde viel verborgenes Gold liegt; das kann doch als genügende Bürgschaft gelten, man braucht es eben nur auszugraben! Und dann:

„Ein solch Papier, an Gold und Perlen Statt,
Ist so bequem, man weiß doch, was man hat; –
Will man Metall, ein Wechsler ist bereit,
Und fehlt es da, so gräbt man eine Zeit.
Pokal und Kette wird verauktioniert,
Und das Papier, sogleich amortisiert,
Beschämt den Zweifler, der uns frech verhöhnt.
Man will nichts anders, ist daran gewöhnt.“

Oesterreichischer Einlösungsschein vom Jahre 1811.

Die Satire, welche in Goethes Versen liegt, hat einen tiefen Sinn. Denn das Papiergeld – so ungefährlich es bei vorsichtiger Finanzwirtschaft ist – hat doch schon großes Unglück angerichtet und ganze Völker in unsägliches Elend gestürzt. Etwas Teuflisches hängt ihm an, und hinter seiner scheinbaren Harmlosigkeit grinst das satanische Auge Mephistos.

Uebrigens hat Goethe seinem Faust und Mephisto etwas in die Schuhe geschoben, woran sie unschuldig sind. Nicht zu Fausts Zeiten und nicht in Europa wurde das Papiergeld erfunden, sondern schon viel früher im fernen Reiche der bezopften Chinesen. Dort ereignete es sich angeblich um das Jahr 119 v. Chr., daß die Staatseinnahmen mit den Staatsausgaben nicht mehr gleichen Schritt hielten, wodurch die Regierung in große Geldverlegenheit geriet. Um Geld zu schaffen, ließ man Hirschhäute in fußgroße Stücke zerschneiden, mit Schrift und Ornamenten bemalen und gab sie sozusagen als Staatsschuldscheine in Zahlung. Die Großen des Reiches zahlten dafür bereitwillig die geforderten Summen, verkauften die Staatsscheine wieder an andere, und so wurde der erste Schritt zu der Schuldschein- und Papiergeld- (oder eigentlich Ledergeld-) Wirtschaft gethan. – Das wirkliche Papiergeld kam erst viel später, ungefähr um das Jahr 1000 in Aufnahme. Ein chinesischer Minister hatte den klugen Einfall, das schwere Metallgeld durch bedruckte Papierscheine zu ersetzen, die man „Tchitsi“ nannte. Sie wurden, da die Chinesen schon damals den Holztafeldruck kannten, in großen Massen gedruckt und bildeten die ersten Umlaufsnoten. Später führte man Papierscheine ein, die „Kiao-tsu“ hießen und eine Umlaufzeit von drei Jahren hatten, worauf sie vom Staat eingelöst und durch neue Scheine ersetzt wurden.

Das Volk scheint aber an dem Papiergeld nicht viel Freude gehabt zu haben, denn viele weigerten sich, ihr gutes Metallgeld gegen die verdächtigen Papierzettel herzugeben. Da druckten die Staatslenker einfach auf die Banknoten: „Es wird angeordnet, daß Papiergeld mit dem kaiserlichen Siegel ebenso in Zahlung zu nehmen ist wie Kupfergeld; wer nicht gehorcht, der wird geköpft.“ Das war deutlich, und da jedermann lieber sein Kupfergeld als seinen Kopf hergab, so kamen die Papierzettel zur allgemeinen Anerkennung, und China genießt die Ehre, das erste Papiergeld besessen zu haben.

Schwedisches Papiergeld vom Jahre 1663.

Während der dreijährigen Umlaufzeit gingen naturgemäß viele Banknoten teils durch Unfälle, teils durch die Unachtsamkeit der zeitweiligen Besitzer verloren. Die Regierung konnte selbstverständlich nur die vorhandenen Banknoten wieder einlösen, die Einlösungssumme für die verlorengegangenen Noten verblieb ihr als willkommener Gewinn, und so war für sie im Papiergelde eine ergiebige Goldgrube entdeckt. Doch wie den Entdeckern von Goldlagern stets Freibeuter nachfolgen, die an der glücklichen Entdeckung teilhaben wollen, so folgten hier die Papiergeldfälscher. Was die Regierungsdrucker machen konnten, das konnten auch die Privatdrucker machen, und bald kamen findige Holztafeldrucker auf den Einfall, die Papierzettel der Regierung nachzumachen und die Nachahmungen als Geld in Umlauf zu setzen. So hatte China neben seinem ersten Papiergeld zugleich die ersten Papiergeldfälscher, mit denen die Regierung schon harte Kämpfe bestand, bevor man noch in Europa etwas von der neuen Herrlichkeit wußte.

Die europäischen Staaten entschlossen sich erst viel später zur Einführung des Papiergeldes. Allerdings ließ schon Kaiser Friedrich II. während der Belagerung von Faënza ein Notgeld aus Leder herstellen, um seinen Soldaten die Löhnung zahlen zu können, und ebenso ließ die belagerte Stadt Leiden im Jahre 1574 Gulden aus Pappe prägen; auch in Rußland wurden schon Notrubel aus Leder ausgegeben, doch hatte dieses Geld immer nur den Zweck, in Zeiten der Kriegsnot einen augenblicklichen Ersatz für das fehlende Metallgeld zu bieten.

Das erste, eigentliche Papiergeld kam in Schweden zur Verwendung. Die schwedische Regierung erteilte im Jahre 1656 dem Finanzmanne Johann Palmstruck die Erlaubnis zur Ausgabe von Banknoten, worauf vom Jahre 1661 an durch die Stockholmer [350] Bank sogenannte „Transportzettel“ ausgegeben wurden. Dem dünnen Papier schenkte man damals noch wenig Vertrauen, man druckte die Scheine auf starke Pappe, wodurch sie allerdings haltbarer wurden, aber auch sehr viel Platz brauchten und gegen das Metallgeld keine erhebliche Verkehrserleichterung gewährten. Die Scheine sind – wie die Abbildung einer Banknote von 1663 auf S. 349 erkennen läßt – sehr einfach mittels Buchdrucks hergestellt, die Nummern und Namen geschrieben. Dem Vorgange Schwedens folgte im Jahre 1694 die Bank von England, 1695 Norwegen, 1713 Dänemark, 1718 Frankreich, wo der Schotte Law eine Staatsbank errichtete und durch übermäßige Ausgabe von Banknoten zum erstenmal das Teufelchen weckte, das verborgen in den Papiernoten lauert; Rußland ließ sich natürlich die neue Errungenschaft auch nicht entgehen und gab vom Jahre 1768 an Papiergeld aus, Oesterreich war ihm 1762 schon vorangeschritten; Sachsen folgte zu Ende des 18. Jahrhunderts, und in Preußen wurde das erste Papiergeld 1805 unter dem Freiherrn v. Stein in den Verkehr gebracht.

Die schlimmsten Erfahrungen mit den heimtückischen Wertpapieren machte Frankreich. Hatte schon der oben erwähnte Schotte Law durch Mißbrauch der bequemen Einrichtung Verwirrung in die französischen Finanzen gebracht, so erreichte die Papiergeldwirtschaft ihren Höhepunkt während der Revolution. Die Güter des Adels waren eingezogen und sollten verkauft werden; da der Verkauf aber nur langsam vorwärts schritt und der Konvent Geld brauchte, so beschloß man, im Werte der in Beschlag genommenen Güter Staatspapiergeld, sogenannte „Assignaten“, auszugeben. Die Güter sollten demnach als Unterpfand oder Deckungswert der ausgegebenen Assignaten gelten.

Französische Assignaten aus den Jahren 1791 bis 1794.
Verkleinert.

Doch eine Revolution kostet sehr viel Geld, und die Regierung sah sich gezwungen, immer mehr und mehr Assignaten drucken zu lassen, und stellte auch diese Druckthätigkeit nicht ein, nachdem der Nennwert der Assignaten den Taxwert der Güter längst überschritten hatte. Fehlte es an Geld, so druckte man ganz munter Assignaten, und da diese sehr leicht nachzuahmen waren, so fanden sich auch bald Falschmünzer, welche nach Kräften bei der Papiergelderzeugung mithalfen. Besonders gaben sich die Herren Engländer große Mühe, möglichst viel gefälschtes Papiergeld in Frankreich einzuführen. Den vereinten Anstrengungen der Regierung und der Fälscher gelang das fast Unglaubliche, den Gesamtbetrag der umlaufenden Assignaten auf nahezu 250 Milliarden Franken zu bringen. Und nun kam der unvermeidliche Rückschlag. Frankreich war mit Papiergeld überschwemmt, die Regierung nicht in der Lage, das Papiergeld jemals wieder einzulösen, dieses verlor schnell an Wert, die Preise der Waren dagegen stiegen ebenso reißend, und endlich kam es so weit, daß die Assignaten ganz entwertet wurden. Niemand wollte die Scheine mehr in Zahlung nehmen, und wer solche besaß, gab seine Mißachtung dadurch zu erkennen, daß er damit einen Ort tapezierte, den man nicht gern öffentlich nennt. Die Folge aber war, daß Tausende um ihr Vermögen kamen und viele Familien ins Elend gestürzt wurden. Dieser große französische Staatsbankrott zeigt so recht das Teuflische, das dem Papiergelde anhängt, und an ihn dachte wohl auch Goethe, als er seine Satire auf die Papiergelderfindung schrieb. Wir wollen nicht unterlassen, hier die Abbildung einiger solcher französischen Unglückspapiere zu geben.

Nicht ganz so schlimm, aber schlimm genug, erging es dem österreichischen Volke. Oesterreich war durch die napoleonischen Kriege tiefer und tiefer in Schulden geraten, es half sich – wie vor ihm Frankreich – mit dem verlockenden Mittel des Papiergeldes. Die Anfertigung wurde ins Ungeheuerliche gesteigert, und im Jahre 1811 war infolgedessen der Wert des Papiergeldes so tief gesunken, daß man für 100 Gulden Silber 1800 Gulden Papiergeld zahlte. Das im Umlauf befindliche Papiergeld betrug in diesem Jahre 1060000000 Gulden, und da die Regierung keine Möglichkeit sah, alle diese Scheine jemals voll einlösen zu können, so war sie genötigt, sie außer Kurs zu setzen und mit den Besitzern eine Art Zwangsvergleich zu schließen. Sie druckte neues Papiergeld, die sogenannten „Einlösungsscheine“, von denen oben S. 349 einer abgebildet ist, und löste damit das alte Papiergeld auf die Weise ein, daß für je fünf Gulden altes Geld ein Einlösungsschein von einem Gulden gezahlt wurde. Die Besitzer von alten Kassenscheinen büßten demnach vier Fünftel ihrer Habe ein.

Wo Papiergeld ist, da sind auch Fälscher. Denn das Papiergeld lockt förmlich zur Fälschung, da die Stoffe, aus denen es besteht, durchaus minderwertig sind, eine glückliche Fälschung von hohen Banknoten aber stattliche Summen einbringen kann. Und vor der Nachahmung auch der kunstvollsten Banknote schreckt ein geschickter Fälscher nicht zurück, denn er sagt sich: „Was Menschen machen, das können auch Menschen nachmachen!“

Die erfahrenen, geschäftskundigen Fälscher gehen mit großer Schlauheit vor, sie arbeiten niemals allein, sondern vereinigen sich zu größeren Banden, die in verschiedenen Ländern ihre Verbindungen haben. Ihr oberster Grundsatz ist, das Geld niemals da auszugeben, wo es angefertigt worden ist. Von diesem Grundsatze weichen nur Stümper ab, und diese werden meist sehr schnell von der Behörde entdeckt. Die erfahrenen Sünder dagegen suchen sich durch ein Gewebe vorgeschobener Personen zu decken, das falsche [351] Geld läuft erst durch verschiedene Hände, bevor es unter das Publikum gelangt, und das erschwert die Entdeckung der Fälscher ungemein. Denn während beispielsweise das Geld in Rußland ausgegeben wird, sitzen die Herren Fälscher wohlgeborgen in London oder Paris, und wird einer der Helfershelfer bei der Ausgabe falscher Scheine ertappt, so ist der Weg bis zu den Fälschern so weit und das Gewebe der vorgeschobenen Personen meist so undurchdringlich, daß es nur selten gelingt, die Fälscherbande selbst aufzuheben.

Die Lieblingsstadt der Falschmünzer ist London, wo falsches Papiergeld in ungeheuren Massen hergestellt wurde und noch wird. Das am meisten von den Fälschern geschädigte Land aber ist Rußland, wo es nach der Aussage erfahrener Finanzleute nahezu ebenso viel falsches Papiergeld geben soll wie echtes. Ist das wohl auch übertrieben, so steht doch fest, daß ganz ungeheure Summen gefälschter russischer Banknoten im Umlauf sind. Die Londoner Fälscher geben sich nicht mit Kleinigkeiten ab, sie machen ihre Geschäfte im großen und bringen Hunderttausende nachgemachter Noten in den Verkehr. So wurde vor einiger Zeit eine Sendung von Gesang- und Gebetbüchern aufgehoben, in denen, sauber zwischen den Blättern verpackt, 80000 Stück falsche Rubelnoten enthalten waren, jede einzelne derselben im Werte von fünf bis zu fünfzig Rnbeln.

Thatsache ist, daß die Fälschungen meist ganz vorzüglich ausgeführt sind und daß es selbst Kennern nicht leicht fällt, die Falsifikate sofort zu ermitteln. Je mehr sich die Staatsanstalten anstrengen, das Papiergeld zu vervollkommnen, desto größere Anstrengungen machen auch die Fälscher, und wenn die Finanzleiter glauben, ein Mittel entdeckt zu haben, das die Nachahmung bis zur Unmöglichkeit erschwert, so werden sie meist sehr bald aus diesem süßen Traume aufgerüttelt.

Daß den Fälschern nichts unmöglich ist, das wurde jüngst der Bank von Frankreich recht eindringlich durch einen Chemiker bewiesen, der durch seine etwas absonderliche Beweisführung großes Aufsehen und berechtigte Heiterkeit erregte. Eine Fälscherbande hatte es für gut befunden, die französische Bank bei der Herstellung der 500-Franknoten emsig zu unterstützen, und bald waren so viel täuschend nachgemachte Noten in Umlauf, daß sich die Bank von Frankreich entschließen mußte, die Noten einzuziehen und neue anzufertigen. Da den Fälschern bei ihren Nachahmungen die Photographie große Dienste leistet, so war man bestrebt, die neuen Noten mit Farben zu drucken die sich schwer photographieren und bei der Aufnahme nicht voneinander trennen lassen. Man glaubte dies zu erreichen, indem man auf einen blauen Unterdruck einen rosafarbenen Ueberdruck machte, wodurch ein violetter Schein entstand. So gesichert, gab man sich der angenehmen Erwartung hin, nunmehr Ruhe vor den Fälschern gefunden zu haben.

Diese ließen auch nichts von sich hören; dagegen teilte eines Tags ein Pariser Chemiker Namens Schlumberger den Leitern der Bank von Frankreich mit, daß es eine Kleinigkeit sei, ihre neuen Scheine nachzubilden, und machte sich anheischig, den Beweis durch die That zu liefern. Zugleich bot er ein von ihm erfundenes Verfahren, welches jede Fälschung unmöglich machen sollte, zum Kauf an. Die Leiter der Bank gingen weder auf den einen, noch auf den andern Vorschlag ein und waren so vorsichtig, Schlumberger das Nachmachen der neuen Scheine zu verbieten. Dieser ließ sich jedoch durch das Verbot nicht einschüchtern, ging unbekümmert an die Arbeit und stellte einen vorzüglich gelungenen Nachdruck der Note her, dem zugleich Abdrücke der blauen und roten Platte beigefügt waren. Er machte – um sträflichen Gebrauch der Falsifikate auszuschließen – die Abdrücke auf dickes Papier und änderte die Hauptzeile „500 Francs“ in „500 Liards“ um. Die Abdrücke legte er dem Fachblatt „Le Moniteur industriel“ bei, und so hatte das französische Volk die eigentümliche Ueberraschung, schon kurze Zeit nach der Ausgabe der neuen, für unnachahmbar gehaltenen Noten eine täuschende Nachahmung in 30000 Abdrücken verbreitet zu sehen.

Schlumberger erlebte die Freude, die Lacher auf seiner Seite zu haben. Aber der Vorhang über dieser Fälschungskomödie war noch nicht gefallen. Der findige Chemiker wurde wegen seines gutgemeinten jedoch eigenmächtigen Vorgehens in Anklagezustand versetzt und mußte das Kunststück, die französischen Banknoten nachgebildet zu haben, mit 500 Frank Strafe bezahlen; sein Mitverschworener, der Redakteur des „Moniteur industriel“ kam mit 100 Frank Buße davon.

Das deutsche Papiergeld wird unter strenger Ueberwachung in der Reichsdruckerei zu Berlin gedruckt. Die Zeichnungen, mit denen das Papiergeld bedruckt ist, wurden von verschiedenen Künstlern entworfen und gingen aus einer zu diesem Zweck ausgeschriebenen Preisbewerbung hervor. Der Entwnrf zu den 1000-Markscheinen stammt von Professor Luthmer in Frankfurt a. M. und von Maler Otto Knille in Berlin, der Entwurf zu den 100-Markscheinen von Professor Paul Thumann, und die Entwürfe zu den 50-, 20- und 5-Markscheinen rühren von Professor Sohn in Düsseldorf her. Die Druckplatten wurden von den Professoren Meyer, Eilers und Forberg sowie von den Künstlern der Reichsdruckerei gestochen. Der Druck der Scheine erfolgt nicht unmittelbar von den Originalplatten, sondern von verstählten galvanischen Niederschlägen, deren jeder ungefähr 150000 Abdrücke aushält.

Als Schutz gegen Fälschungen sind in das Papier der deutschen Kassenscheine bekanntlich dunkelgefärbte, lokalisierte Fasern eingebettet, die besonders an den 50-Markscheinen deutlich zu erkennen sind. Das Papier wird unter strenger staatlicher Aufsicht gefertigt und darf zu keinen anderen Zwecken abgegeben werden. Da man sich auf den Schutz der Druckfarben und Zeichnungen nicht mehr verlassen konnte, so griff man zu dem Schutz der eingebetteten Fasern und glaubte damit ziemlich sicher zu sein, weil zur Nachahmung des Papiers die Einrichtung einer vollständigen Papierfabrik erforderlich ist. Früher glaubte man dasselbe auch von den Wasserzeichen, die aber doch von den Fälschern vorzüglich nachgeahmt wurden. Ebenso machen diese unternehmenden Herren jetzt große Anstrengungen, die lokalisierten Fasern nachzuahmen, und es sind schon einigemal gelungene Falsifikate aufgetaucht. Man sieht, den Fälschern ist nichts heilig, sie schrecken vor keinem Hindernisse zurück, und wie sich die Regierungen auch anstrengen, die Nachahmung zu erschweren, die Fälscher finden immer wieder Mittel, die Hindernisse zu überwinden und ihr unsauberes Geschäft weiter zu treiben. So lange es Papiergeld giebt, wird es wohl auch Papiergeldfälscher geben.


Die verlorene Tochter.

Humoreske von Ernst Wichert.

Kutscherchen, der Braune spitzt immer so verdächtig die Ohren. Sehen Sie doch einmal nach, was ihm fehlt!“

„Dem Braunen fehlt gar nicht, Madamken, er hat bloß de Fliegen zu viel.“

„Aber wenn ein Pferd die Ohren spitzt ... man sagt doch, das sei ein Zeichen, daß es durchgehen will.“

„Der Braune geht nich durch, Sie können ihm noch en gutes Wort geben. Er is stockblind – es liegt nich in seine Gewohnheiten.“

„Blind! Aber dann sieht er ja gar nicht!“

„Wat braucht er auf de glatte Schosseh zu sehen? Hüh!“

„Schlagen Sie ihn doch nicht!“

„Ik kitzele ihm man de Fliegen weg. Haben Sie keene Sorge.“

„Ich bin so ängstlich beim Fahren!“

Diese Unterredung wurde zwischen einer ältlichen Dame, die auf dem mittleren Sitz eines Kremsers zwischen zwei jüngeren Damen saß, und dem Rosselenker gepflogen, der vorn rechts die Schulter gegen die Verdeckstange lehnte und das Bein über das Querbrett des Wagenkastens ausgestreckt hatte, während die Zügel lose in seiner linken Hand hingen und die Peitsche in seiner rechten von Zeit zu Zeit über die knochigen Rücken der beiden „Andalusier“ hintupfte. Sie sahen nicht danach aus, als ob sie der Haber stäche, im Uebermut mehr als notdürftig ihre Pflicht zu thun. Es wäre bei dieser Julihitze nachmittags zwischen drei und vier Uhr auch selbst für einen Pferdeverstand zu unvernünftig gewesen. Aber die alte Dame – man konnte sie trotz der frischen Farben ihres gutmütigen Gesichts schon eine alte Dame nennen – verfolgte doch, etwas nach vorn gebeugt, mit gespannter Aufmerksamkeit jeden Schritt und hob gleich ängstlich die Hand, wie um in den Zügel zu fallen, wenn der blinde Gaul einmal stolperte oder der andere bei zu lebhafter Abwehr der abscheulichen Stechfliegen die Leine unter den Schwanz klemmte. So breit die noch neue Chaussee [352] war, schien es ihr doch jedesmal Unbehagen zu verursachen, wenn ein Fuhrwerk entgegenkam, dem ausgewichen werden mußte. Schon hundert Schritte vorher machte sie durch ein „Kutscherchen, Kutscherchenl“ auf die drohende Gefahr aufmerksam. Sie saß wie jeden Augenblick zum Sprunge bereit, wenn doch das Unglück unabwendbar sein und der Wagen auf einen Stein auffahren oder in den Graben fallen sollte. Uebrigens hatte sie, obgleich die Sonne auf das Verdeck brannte und die jungen Bäumchen zu beiden Seiten durch keinen Lufthauch aus dem Schlaf geschüttelt wurden, ein Taschentuch um den Hut geknüpft. „Die rasche Bewegung verursacht immer Zugwind,“ behauptete sie, „und man muß die Ohren schützen, um sich vor Zahnweh zu bewahren.“

Neben dem Kutscher hatte ein junger Mann seinen Platz – eigentlich nicht neben dem Kutscher, sondern möglichst weit von ihm getrennt in der anderen Ecke des Vordersitzes. Er saß meist quer, das rechte Bein auf das Polster hinaufgezogen, um der hübschen jungen Dame hinter sich bei der Unterhaltung in die Augen sehen zu können. Auch das schien die ängstliche Frau zu beunruhigen. „Wenn Sie doch lieber auf die Gegend achten möchten, lieber Herr Opitz,“ sagte sie. „Bekommt der Wagen einen Ruck, so fallen Sie hinunter und geraten unter die Räder. Mir wird schon bei dem Gedanken ganz heiß.“

„Da ist gar nichts zu befürchten, Frau Sekretär,“ antwortete er lachend, „die Anziehungskraft von Frau Ida ist zu groß – ich kann beim besten Willen nicht verloren gehen.“

„Sie müssen auch immer Ihren Spaß machen,“ schalt die Hübsche nicht ungnädig, aber doch etwas spitz verweisend. „Es ist gar nicht meine Art, einen anzuziehen, und meinetwegen können Sie die Chausseebäume rechts und links bis zum ‚Eulenkrug‘ zählen.“

„Aber Sie können ja nichts dafür, Frau Ida,“ entschuldigte er. „Es ist eine angeborene Gabe. Jedenfalls hoffe ich, in Ihrer Gunst genügend fest zu sitzen. Dagegen wird die Frau Sekretär nichts haben können. Was?“

„Störe doch die verehrte Frau Sekretär nicht, Schwager,“ ließ sich eine fette Stimme vom hintersten Sitz her vernehmen, „sie muß ja kutschieren.“

Dieser Witz wurde durch ein fröhliches Lachen belohnt, in das auch Frau Sekretär Streckebein einstimmte. „Spotten Sie nur, Herr Schöneberg,“ sagte sie, ohne doch das runde Kinn mehr als einen knappen Zoll seitwärts zu drehen. „Es ist immer gut, wenn einer aufpaßt, und Vorbedacht, behauptet man, hat noch keinem Leid gebracht. Mein seliger zweiter Mann lachte mich auch immer aus, bis einmal ... aber das erzähle ich Ihnen lieber, wenn wir gemütlich beim Kaffee sitzen und sicheren Boden unter den Füßen haben. Beugt sich Lieschen auch nicht aus dem Wagen heraus, Frau Schöneberg?“

„Das Kind sitzt ganz artig zwischen uns,“ versicherte die wohlbeleibte Dame hinter ihr schmunzelnd.

„Aber das ist recht langweilig, Großmama,“ äußerte die Kleine unzufrieden. „Ich möchte lieber zum Kutscher.“

„Daß ich keine Minute Ruhe hätte! Nein, Du bleibst, wo Du bist. Und wenn wir ankommen, wartest Du ab, bis die andern ausgestiegen sind. Herr Opitz wird die Freundlichkeit haben, Dir die Hand zu reichen.“

„Lieschen ist doch ein bißchen zu jung für mich,“ plänkelte er, den Hut aus der Stirn schiebend, auf der große Schweißtropfen standen, „sonst . . .“

„Mein Bruder hat nur immer Heiratsgedanken,“ ließ sich Frau Schöneberg vernehmen. „Das kommt dann so unpassend heraus.“

„Es wäre ganz in der Ordnung, wenn er endlich einmal Ernst machen wollte,“ meinte ihr Mann. „Er muß unter strengere Zucht genommen werden, sonst schlägt er ganz aus.“

„Na, na! Verleumde mich nicht,“ wendete Opitz ein. „Ich denke, einen solideren Menschen zwischen dreißig und vierzig als mich kann es gar nicht geben. Was sagen Sie dazu. Frau Ida?“

„Ihr Herr Schwager muß Sie doch kennen,“ bemerkte sie kichernd.

„Da hast Du’s,“ sagte Schöneberg. Er schob seinen gelben Staubrock ein wenig zur Seite und zog die Uhr an der dicken goldenen Kette aus der prall anschließenden weißen Piquéweste. „Weit vom Ziel können mir übrigens nicht mehr sein.“

„Meinst Du?“ fragte Opitz anzüglich, mit einem Blick auf Ida. „Ach so –“ berichtigte er sich, „Du siehst nach der Uhr.“

„Dem Glücklichen schlägt keine Stunde,“ citierte Schöneberg. „Na – ich für meine Person könnt’s noch ganz gut auch zwei aushalten. Ueberhaupt so eine Landpartie mit dem Kremser, das ist doch erst das richtige Vergnügen. Nicht, Alte?“

„Wenn du mich meinst ...“

Er klopfte ihr über Lieschen hinweg auf die runde Schulter. „Natürlich meine ich Dich, Rosinchen. Herr Gott, meine Frau will noch immer nicht alt werden! Ich denke, wenn man eine erwachsene Tochter hat –“

„Ach! Martha ist noch das reine Kind. Warum sprichst Du denn eigentlich gar kein Wort, Martha?“ Sie stieß das junge Mädchen an, das vor ihr neben Frau Sekretär Streckebein saß, den Kopf mit dem großen gelben Strohhut gesenkt hatte und vor sich hin träumte.

„Es ist so heiß, Mama,“ antwortete sie.

„Ja, heiß ist es,“ bestätigte Schöneberg, „aber das gehört dazu. Was ich sagen wollte: so eine Kremserfahrt, Kinder – das ist ’was! Die Eisenbahn kann man ja eine recht gute Erfindung nennen, aber zum Spazierenfahren taugt sie herzlich wenig. Wie schwer bekommt man ein Coupé für sich! Die Gesellschaft muß sich trennen. Und dann dritter Klasse mit Krethi und Plethi zusammensitzen – zweiter sieht doch zu protzig aus. Paßt mir nicht. Ich möchte auch ’mal wissen, wie’s kommt, daß die Eisenbahn gerade immer an den großen ungemütlichen Restaurants vorüberführt. Sonntags bekommt man keinen Platz und alltags ist man da oft unter Tausenden von Stühlen die einzig fühlende Brust. Und dann die Drängelei bei der Abfahrt! Es wird ja manchmal lebensgefährlich. Hat man nur einen auf den Schoß zu nehmen, so kann man von Glück sagen. Mit dem Kremser – da bin ich mein eigener Herr. So und so viel gehen auf den Wagen herauf – gut! Und nachher: Kutscher, spann’ an! Hat man’s mit dem Hinkommen nicht so eilig, so trifft man auch noch immer ein reelles Wirtshaus vom alten Schlage. Hast Du ’was dagegen, Opitz?“

„I – ich?“ rief der junge Mann. „Sie müssen mir’s bezeugen, Frau Ida, daß ich während der ganzen langen Rede nicht gemuckst habe. Uebrigens, wenn ich meine Meinung sagen soll – mir kommt es meistenteils auf die Gesellschaft an. Ist die danach, so laß ich mir für mein Vergnügen viel gefallen.“

„Und der Kremser hat doch auch seine Schattenseiten,“ gab die Frau Sekretär zu bedenken. „Wenn nicht die Pferde vorgespannt wären! Und es kann doch auch ein Rad abfallen“ – eben wurde einer von den Steinen gestreift, die im Zickzack auf die neue Chaussee gelegt waren. um den Fuhrwerken eine bestimmte Linie vorzuschreiben. „Uh!“ schrie die ängstliche Dame auf, als ob das Unglück schon eingetreten wäre.

„Aber wer wird sich denn alle Möglichkeiten schwarz ausmalen!“ bemerkte Schöneberg.

„Mama hat eine so lebhafte Phantasie,“ sagte Ida lächelnd, indem sie der alten Dame das bei der Bewegung verschobene Tuch unter dem Kinn zurechtrückte.

„Was meinen Sie, Männeken,“ wendete Opitz sich an den Kutscher, „wenn wir uns einen Tobak ansteckten? Beim Rauchen schläft man nicht so leicht ein.“

„Det kann stimmen,“ antwortete der Rosselenker, steckte die Peitsche in die Lederscheide und griff in die ihm vorgehaltene Cigarrentasche. Nun aber erhielt die Frau Sekretär neuen Grund zur Beunruhigung. Um die Cigarre anzuzünden, nahm der Kutscher die Leine zwischen die Knie und rieb Streichhölzchen an, die er lose aus der Westentasche hervorholte und deren ausgesprochene Neigung es war, immer wieder auszugehen, obschon er beide Hände vorhielt. Ihr wurde ganz heiß. „Geben Sie mir doch lieber die Leine,“ bat sie wiederholt. Aber Pieseke meinte bei jedem neuen Versuch „es geht schon“ und setzte endlich auch sein Stück durch. Daß er nun wie eine Dampfmaschine paffte und die Luft hinter sich verräucherte, konnte für das erträglichere Uebel gelten.

Endlich näherte man sich dem Ziel. Erst im letzten Jahr war dieser Teil des großen Forstes dürch die neue Chaussee erschlossen und der „Eulenkrug“ gewissermaßen entdeckt worden, ein Wirtshaus ältesten Stils, mitten im Walde gelegen und auch jetzt von der Kultur noch so wenig beleckt, daß hier sogar Familien

[353]

Heuernte.
Nach einer Originalzeichnung von F. Leuschner.

[354] Kaffee kochen konnten, was denn auch durch ein geschriebenes Plakat an der Ortstafel angezeigt war. Dem Vergnügen der Gäste boten sich eine zwischen zwei alten Kiefern aufgehängte Strickschaukel und ein Ringspiel nicht weit von dem einstöckigen, mit einer Einfahrt versehenen Hause. Tische und Bänke unter den Bäumen waren aufs einfachste durch vier in den Boden geschlagene Pfähle und ein darüber genageltes Brett hergestellt. Wer idyllische Zustände liebte, fand sie hier vollauf.

Rentier Schöneberg pflegte von sich selbst zu sagen: „Ich bin nun einmal so ein Mensch.“ Sein Vater war Bauer in einem später zur Stadt gezogenen Vorort gewesen und hatte vorteilhaft verkauft. Noch lange nicht so vorteilhaft freilich als zehn Jahre darauf mancher Nachbar, aber er konnte seinen Kindern doch ein recht hübsches Vermögen hinterlassen. Sein ältester Sohn hatte keine besondere Schulbildung genossen, ein Handwerk gelernt, eine kleine Fabrik begründet und ein wohlhabendes Mädchen seines Standes geheiratet, sich dann nach der Erbschaft früh zur Ruhe gesetzt, ein Haus gekauft und fortan recht anständig von seinen Zinsen und Mieten gelebt. Er that sich auf seine vernünftigen Lebensanschauungen etwas zu gute und konnte wirklich als das Muster eines wohlsituierten Bürgers gelten, den nicht der Ehrgeiz plagte, über seine Verhältnisse zu gehen, während er anderseits seine Wohnung hübsch eingerichtet hatte, sein Gärtchen pflegte, den Kegelklub nicht versäumte, auch nach dem eigenen, nicht anspruchsvollen Geschmack Theater und Konzerte besuchte und mitunter auch Vergnüglichkeiten mitmachte, bei denen es „auf die Kosten nicht ankommen“ durfte. Was ihm eine unbequeme Verpflichtung auflegte, schob er von sich ab, und er wählte danach auch seinen Umgangskreis. Er mußte „sich gehen lassen“ können, wollte „nicht geniert sein“. Die Frau paßte gut zu ihm, nur daß sie einen kleinen Stich ins Vornehmere hatte und auf würdige Repräsentation achtete. Man sollte doch jederzeit wissen, mit wem man’s zu thun hätte. Martha war das einzige Kind, jetzt eben siebzehn Jahre alt geworden, bis zur Einsegnung im vorigen Sommer in einer höheren Mädchenschule unterrichtet, deren zweite Klasse sie aber nur erreicht hatte. Selbstverständlich erhielt sie auch Musikstunden und klimperte ganz geläufig einige Tänze; ein Journal-Lesezirkel wurde für sie gehalten, dessen illustrierte Zeitschriften wenigstens sich auch der Beachtung der Eltern erfreuten. Die Mama hielt darauf, daß Martha auch in der Wirtschaft half und sich auf ihren Beruf als Hausfrau vorbereitete. Sie sollte, wenn auch den Anforderungen der Neuzeit entsprechend, so „solide“ erzogen werden, daß sich ein „gebildeter solider Mann“ zu ihr finden könnte, der nicht nach einer Modepuppe verlangte und durch sich selbst etwas hätte und wäre. Das stand freilich für ihre Gedanken noch in ziemlich weiter Ferne. Man hatte bisher mit dem Kinde noch nicht einmal einen richtigen Ball besucht; das sollte nächsten Winter kommen. Schönebergs Liebhaberei war, kleine „gemütliche“ Landpartien zu veranstalten. Mit seiner sonst trockenen Sinnesweise vertrug sich’s ganz gut, daß er gern grüne Bäume, Felder und Wiesen sah – das mochte ihm so angeboren sein – und am liebsten ein stilles Plätzchen im Walde oder am Wasser aufsuchte, wo man sich behaglich einrichten konnte. Kündigte sich so eins in den Zeitungen an, so gehörte er gewöhnlich zu den ersten, die den Versuch wagten. Hermann Opitz, der jüngere Bruder seiner Frau, mußte stets mit von der Partie sein, schon damit er jemand zu necken und zu hänseln hätte, der’s ihm nicht übelnahm. Nur war dieser an den Wochentagen von seinem Agenturgeschäft schwer abkömmlich. Anch andere gute Bekannte wurden zugezogen. Zu ihnen gehörten seit etwa einem halben Jahre die Modistin Ida Döbler, eine junge Witwe, die im Schönebergschen Hause den einen Laden gemietet hatte, und deren Mutter, die Frau Steueramtssekretär Streckebein, welche die dazu gehörige Wohnung mit ihr teilte, die Wirtschaft führte und das kleine Lieschen beaufsichtigte, liebe bescheidene Menschen, mit denen sich’s bequem verkehren ließ. Leider waren auch sie immer viel beschäftigt. Heute, an einem Donnerstag, hatten sie sich nur ausnahmsweise freigemacht, weil Lieschens Geburtstag gefeiert werden sollte.

Der hinterste Wagensitz war für allerhand Gepäck bestimmt worden. Trotz des schönen Wetters hatte Frau Streckebein darauf gedrungen, daß Mäntel, Tücher und Regenschirme mitgenommen würden. Man könnte doch nicht wissen! Nun beim Aussteigen wollte Schöneberg sie auf dem Wagen lassen. Aber die alte Dame stellte nachdrücklich vor, das wäre doch sehr leichtsinnig gehandelt. Man behielte ja das Fuhrwerk hinter dem Hause nicht unter den Augen, und auf den Kutscher sei kein Verlaß, wenn er erst in die Wirtsstube gegangen sei. Die Sachen wurden deshalb abgeladen und in den Garten mitgenommen. Nachdem man einen Tisch aufgefunden hatte, der für die Gesellschaft ausreichte, fanden sie ihren Platz auf dem benachbarten Gestell und wurden von der Frau Sekretär wohl geordnet. Ihren Kober mit Eßwaren ließ sie nicht von der Hand. Frau Schöneberg nahm aus dem unter dem Sitz stehenden Korbe nur ein Päckchen mit Kuchen und das Säckchen mit gemahlenem Kaffee. „Die Wirtin erschrickt sonst,“ meinte sie, „wenn wir gleich alles auspacken.“

Sie begab sich dann ins Haus und in die Küche, um ihre Anordnungen zu treffen. Man hatte auf den Kaffee ziemlich lange zu warten, was aber nur den Appetit steigerte. Dann erschien er in einer großen braunen Kanne, die von der Frau Wirtin nebst dem erforderlichen Geschirr eigenhändig herangetragen wurde. Sie hatte zu Ehren der Gäste eiligst noch eine reine Schürze vorgebunden und ein buntes Tüchelchen umgesteckt.

Indessen hatte man sich’s in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, an dem langen Tisch so bequem gemacht, als die harten Holzbänke ohne Lehne es erlaubten. Schöneberg gehörte zu den Menschen, die sich, wenn ihnen einmal der Wille geschehen ist, in einen Zustand von glücklichem Behagen hineinzureden vermögen. Opitz saß der wirklich sehr hübschen jungen Witwe gegenüber und konnte ihr nun in die Augen sehen, ohne sich den Körper verrenken zu dürfen, und Frau Sekretär Streckebein ruhte von ihren Anstrengungen aus und sammelte neuen Stoff zu Besorgnissen. Auf zwei Teller, die Frau Schöneberg vorsorglich selbst aus der Küche mitgebracht hatte, wurden die Kuchen abgeladen. Das kleine Lieschen, zu Ehren des Geburtstages in einem weißen Kleidchen mit breiter Schärpe von rosa Seide, durfte von jedem Teller ein „Schmeckstückchen“ wählen und noch ein zweites Mal zugreifen.

„Nein, aber ist das ein Wetterchen!“ rief Schöneberg.

„Unberufen, Herr Schöneberg, unberufen!“ fiel die Frau Sekretär eifrig ein.

„Na! Oben das reinste Azur-Ultramarin-Blau.“

„Man kann nie wissen. Hier im Walde sieht man nicht den Horizont.“

„Das ist ja gerade das beste dran. Nichts als grüne Bäume rundum und oben blauer Himmel. Es wird einem ganz grün und blau vor Augen.“

„Und ums Herz,“ setzte Frau Ida mit einem leisen Anflug von Schwärmerei hinzu. „Wenn man so heraus ist ‚aus der Straßen quetschender Enge‘, wie unser Schiller so schön sagt –“

„Ja,“ bestätigte Opitz, „obgleich es eigentlich nicht auf Berlin paßt.“

„Man hat ein bißchen Natur um sich und fühlt sich wieder als ein Mensch. Es ist eine rechte Verrücktheit, daß man sich so ein Vergnügen nicht öfter gönnt.“

„Ja, Du kannst gut reden,“ neckte sein Schwager. „So ein Rentier, der bloß Coupons abzuschneiden hat! Aber wir im Geschäft . . . was, Frau Ida? Aber die Partie ist gelungen.“

„Na, na, nicht den Tag vor dem Abend loben,“ mahnte die Frau Sekretär. „Als wir fuhren, lag unten ein breiter Dunststreifen. Und die Sonne stach so! Daraus entwickelt sich leicht etwas. Es ist doch gut, daß wir die Regenschirme mitgenommen haben.“

„Mama ist immer so vorsorglich,“ sagte Ida lachend.

„Lieber sich zehnmal unnütz schleppen als einmal naß werden.“

„Heute kommt nichts mehr,“ versicherte Frau Schöneberg. Sie handhabte die große Kanne mit viel Geschick und goß rundum wieder und wieder ein. „Darf ich um Ihre Tasse bitten, Frau Steueramtssekretär?“

Die alte Dame reichte sie ihr etwas zaghaft. „Aber auf den Grund verzichte ich, liebe Frau Schöneberg,“ lispelte sie. „So ein ländlicher Kaffee . . .“

„Er ist recht gut, finde ich,“ bemerkte Frau Rosine. ein wenig gekränkt. „Was man an seinen eigenen Bohnen hat, weiß man doch.“

„Ach, ach, ach!“ meckerte die Frau Sekretär. „Sie haben ja doch nicht am Herde gestanden. Was da wirklich in den Topf hineinkommt –“

[355] „Mit Cichorie lasse ich mir kein X für ein U machen, meine Liebe,“ versicherte Frau Schöneberg.

Ihr Mann goß den Rest aus seiner Tasse ins Gras. „Das letzte war wirklich schon dick,“ sagte er.

„Dort kommt auch schon die zweite Portion,“ begütigte Rosine, nach dem Hause zeigend.

Martha, die kaum ihre erste Tasse ausgetrunken hatte, war schon aufgestanden und an das Ringspiel getreten. Sie schien sich aber keine besondere Mühe zu geben, den Ring in den Haken zu werfen, sondern ließ ihn nur hin und her pendeln. Lieschen war ihr gefolgt und sah aufmerksam zu. „Laß mich auch einmal werfen – ja?“ bat sie.

„Du triffst nicht.“

„Du triffst auch nicht!“

„Die Schnur ist zu kurz. Nun versuch’s doch.“ Sie gab ihr den Ring in die kleine Hand, wartete nun aber nicht auf den Treffer, sondern ging von einem Baume zum andern bis in die Nähe der Chaussee und blickte diese entlang, als ob sie jemand erwartete. Sie erwartete auch wirklich jemand, an den sonst keiner dachte.

Lieschen kam ihr bald nachgelaufen. „Warum guckst Du denn immer dorthin?“ fragte sie.

„Das geht Dich nichts an!“

„Ich will’s ja auch bloß wissen“ schmollte die Kleine. Da Martha sie gar nicht beachtete, gab sie ihr einen Schlag auf den Rücken – „den letzten“ – und lief nach dem Tisch zurück. Dort kletterte sie auf die Bank und sprach kniend dem Kuchen zu. Die Großmama zupfte das Kleidchen zurecht.

Die Wirtin hatte an der zweiten Kanne nicht leicht zu tragen. „Wohl bekomm’s den Herrschaften,“ sagte sie.

„Na, wenn das nicht ausreicht!“ rief Schöneberg. Seine Frau hob den Deckel auf und sah hinein. „Und ganz voll!“ sagte sie verwundert. „Sie haben doch das zweite Mal nicht –“

„Das Wasser kostet ja nichts,“ meinte die Wirtin ganz vergnügt.

„Ein schöner Trost,“ zischelte Opitz zu Frau Ida hinüber.

„Trinkt unser Kutscher auch nicht zu viel, liebe Frau Wirtin?“ fragte die Frau Sekretär besorgt.

„Wasser? Ne, das is nie nicht seine Leidenschaft – ich kenn’ ihn. Ach so!“ Sie merkte, was das Kopfwiegen der alten Dame bedeuten sollte. „Ja, die Herren haben ihn doch aufgemuntert, auch ’mal ein Glas zu trinken. Viel bitten läßt so einer sich nicht.“

„Wenn’s nur nicht zu viel wird! Man muß doch auch an die Rückfahrt denken.“

„Jetzt schon?“ rief Schöneberg lachend.

Die Wirtin blickte über den Tisch hin. „Kann ich den Herrschaften mit sonst etwas dienen? Schöne frische Butter –“

„Nachher,“ unterbrach Frau Schöneberg. Sie goß wieder Kaffee ein. „Den Wein haben Sie doch kalt gestellt?“

„Im Brunneneimer.“

„Ich komme hinein.“

„Wird mir eine große Ehre sein.“ Die Wirtin knixte und entfernte sich.

Opitz schien die neue Auflage sehr gut zu munden. „Von unserem Kuchen haben Sie sich noch gar nicht bedient,“ sagte Ida, ihm den Teller hinhaltend. „Darf ich Sie auf diesen Windbeutel aufmerksam machen?“

„Wenn das nicht eine Anspielung ist, schöne Frau –“

„O, was denken Sie! Mit richtiger Schlagsahne.“

Lieschen hatte beide Hände voll. „Aber so laß doch das Kind sich nicht mit dem Kuchen vollstopfen, Ida!“ warnte Frau Streckebein. „Es ist schon das fünfte Stück.“

„Das vierte, Großmama!“

„Du wirst Dich an Deinem Geburtstag noch krank essen.“

„So eine Kremserfahrt macht hungrig, Frau Steueramssekretär,“ entschuldigte Opitz.

Schöneberg hatte seine Tochter vermißt. „Aber was thut das Mädel denn dort?“ fragte er. „Martha!“

Martha kehrte sich erschreckt um. Eben glaubte sie in weiter Ferne mit ihren scharfen Augen etwas entdeckt zu haben. „Papa?“

„Setz’ Dich doch zu uns an den Tisch! Die Chaussee ist ja langweilig.“

Während sie langsam heranschlenderte, meinte Ida: „Junge Mädchen schwärmen gern recht weit mit ihren Gedanken aus. Ich weiß das aus meiner Jugend.“ Opitz schnitt dazu eine Grimasse. „So eine Chaussee hat eine endlose Perspektive.“

„Du bist ja so still, Martha. Fehlt Dir etwas?“ erkundigte sich Frau Schöneberg nach einer kleinen Weile.

„Ach, nichts, Mama!“

„Ich schlug Dir vor, Bethmanns Laura aufzufordern, damit Du Gesellschaft hättest. Du wolltest ja nicht. Merkwürdig! Immer am liebsten allein.“

„Ich unterhalte mich mit Lieschen sehr gut,“ versicherte Martha und rückte zu ihr.

„Iß nicht mehr, Lieschen!“ befahl die Frau Sekretär und zog ihr den Teller fort.

Im nächsten Augenblick wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine schreckhafte Erscheinung abgelenkt. Ein Bettler hatte sich vom Walde her dem Tisch genähert, nach dem langen schwarzen Haar und den dunkeln Augen zu schließen ein Zigeuner. Er hielt, dicht hinter ihr, den breitkrempigen Filzhut vor sich hin und bat um eine milde Gabe. Sie rückte eiligst fort. „Was ist denn das für ein Mensch?“

„Armes Zigeuner – bitten um eine milde Gabe, gnädige Herrschaften.“

„Hier wird nicht gebettelt,“ wies Schöneberg ihn ab.

„Haben Mitleid mit armes Zigeuner. Frau und Kinder hungern sehr.“

„Zigeuner im Walde!“ rief Ida. „Das ist ja romantisch. Könnt Ihr auch wahrsagen?“

„Laß ihn doch!“ bat Frau Streckebein ängstlich.

Der Zigeuner blinzelte in seinen Hut. „Kann ich wohl wahrsagen, gnädigstes Fräulein,“ sagte er, „äber weiß ich doch nicht, ob zutrifft. Gnädige Herrschaften sein zu klug – glauben doch nicht armes Zigeuner.“

Ida ließ sich so nicht vertrösten. „Es kommt darauf an. Hier meine Hand – nun?“

„Aber nicht doch, Ida!“

Der Zigeuner sah in die ausgestreckte Hand. „Kann ich gnädiges Fräulein versprechen eine schöne junge Mann, serr reich, serr fein –“

„O weh!“ rief Opitz.

„Weshalb?“ fragte Schöneberg.

„Ich hoffe, er lügt.“ Opitz warf eine Silbermünze in den Hut. „Für das schöne Fräulein!“

„Er vertrinkt’s doch nur,“ meinte Schöneberg, fügte aber doch einen Nickel hinzu. „Nun macht aber, daß Ihr fortkommt!“

Der Zigeuner zog sich mit lebhaften Dankbezeigungen zurück.

Die Frau Sekretär stand sogleich auf und trat an den Tisch, auf dem die Sachen lagen. Sie hob Mäntel, Tücher und Schirme einzeln auf.

„Was suchst Du, Mama?“ fragte Ida.

„Ich sehe nur nach, ob nichts fehlt,“ antwortete die vorsorgliche Dame. „Wenn ein so verdächtiger Mensch in der Nähe ...“ Sie kehrte weiter Stück für Stück um.

„Aber er ist gar nicht an den andern Tisch getreten.“

„Wir können vorher nicht aufgepaßt haben. Zigeuner sind Diebe, das ist bekannt. Hast Du Deinen Sonnenschirm, Ida?“

„Ja, Mama!“

„Aber Lieschens Handschuhe – ach, da stecken sie im Mäntelchen. Es scheint alles da zu sein.“ Sie setzte sich wieder.

Indessen hatte sich auf der Chaussee ein Radfahrer genähert. Vor dem Wirtshause sprang er geschickt ab, leitete sein blitzendes Zweirad zu Fuß um das Haus herum bis zur hinteren Thür und stellte es dort an die Wand. Er trug das bekannte Kostüm der Radfahrer: kleine Schirmmütze, blaues enganschließendes Wams mit Außentaschen, Kniehosen, Strümpfe und Schnürstiefel. Er war mittelgroß und wohlgewachsen, das schwarze, an den Spitzen aufgedrehte Bärtchen gab ihm ein keckes Aussehen. Mit einem Taschentuch klopfte er sorgfältig den Staub von den Kleidern ab.

Martha hatte ihn sogleich bemerkt und ein leises: „Ach, da ist er!“ nicht unterdrücken können.

„Wer?“ fragte Schöneberg, sich umsehend. „Ein Radfahrer! Die Kerls machen auch alle Straßen unsicher.“

(Fortsetzung folgt.)




[356]

Zum Freiligrathfest am 19. Mai 1894 in der „Krone“ zu Aßmannshausen.[1]

Von Emil Rittershaus.


Hier ist der Ort! Im jungen Laub am Rheinstein Nachtigallen schlugen.
Maiglockenduft und Buchenduft die Winde auf den Flügeln trugen.
Es ging wie Auferstehungsweh’n durch Blumen und durch Menschenherzen.
Der Frühling gab ein großes Fest. Es flammten die Kastanienkerzen;
Es funkelte das Ginstergold herunter von den Bergeshängen
Und murmelnd aus den Wellen klang’s herauf gleich leisen Nixensängen. –
Frühstund’ am Rhein! – Im Maienhauch kam’s von der Lorelei gezogen;
Mit Sausen und mit Pfeifen kam’s vom Wisperthal herangeflogen.
Der Wisperwind, er blies beiseit’ den Nebel, der im Thale rauchte,
Daß goldne Sonnenherrlichkeit in Gluten Strom und Berge tauchte.
Hurra, das war der Wisperwind, der wach schon vor dem Morgenrote,
Der Nebelfeind, der Sonnenfreund, des Rheingaus erster Frühlichtsbote!
In eines Dichters Seele drang der Rheingeist auf gewalt’gen Schwingen
Und ließ den deutschen Singemund der Freiheit helles „Credo“ singen!
0000000000
Hier ist der Ort, hier ist das Haus! Hier steht der Weinstock noch in Blättern,
Aus dessen Zweigen frisch erklang ein mächtiges Trompetenschmettern! –
Vor fünfzig Jahren – anders war’s wohl damals in den deutschen Gauen,
Da lagen Wolken dumpf und schwer rings auf der deutschen Männer Brauen,
Da war das Vaterland zerstückt, da trug das freie Wort die Bande –
Da, horch, ein heller Weckeruf ertönt’ vom Rhein in alle Lande,
Da hat ein Dichter laut bekannt: Deutschland und Freiheit über alles –
Und dieser Ruf ein Echo fand in tausend Herzen vollen Schalles! –
Wer sang von jener Wunderblum’, der schönsten an den Weltenbäumen?
Wer sah der deutschen Flotte Ruhm voraus in seinen Dichterträumen?
Er, der der Freiheit „Credo“ sang und dem es ward von Gott gegeben,
Daß er mit ungebrochner Kraft noch Deutschlands Größe durft’ erleben,
Daß im „Hurra, Germania!“ er fand die schönste aller Weisen,
Um Deutschlands hohen Siegestag mit freudetrunkner Brust zu preisen! –
Schau’ her, du steinern Dichterhaupt! Wir ehren unsre Schlachtenmeister,
Doch jene auch, die Führer sind und Wecker in dem Kampf der Geister,
Die unverzagt und stolzen Muts der Freiheit Banner hoch erhoben,
Als noch für jede trotz’ge Stirn der Kranz von Dornen ward gewoben! –
Zum Rheine schau’, du steinern Haupt! Dir gelten dieses Tages Ehren,
Der uns die Treu’ zum Vaterland, die Treu’ zur Freiheit wußt’ zu lehren!
Es mög’ in jenes Kämmerlein, wo du geweilt, die Jugend kommen,
Wird’s um der Freiheit Kampf und Sieg in schwülen Zeiten ihr beklommen;
Es mög’, wo du den Becher schwangst, in Weinlaub alt und jung sich einen
Und deines starken Geists ein Strahl leuchtend in alle Seelen scheinen –
Und also mög’s auch heute sein! – Laßt von dem Werk die Hülle fallen,
Und laßt aus allen Kehlen dann den Jubelruf begeistert schallen:
Er, der der Freiheit „Credo“ sang in diesem Gau, im Land der Reben,
Er lebe hoch, der deutsche Mann! Hoch soll der deutsche Dichter leben!
  Hoch Freiligrath!



  1. Im Frühling 1844 begab sich Freiligrath nach Aßmannshausen, um in der Stille jene Zeitgedichte zu vollenden, in denen er seiner freien politischen Anschauung machtvollen Ausdruck gab. Im Mai schrieb er dort im Gasthof zur „Krone“ zu seiner Sammlung, die bald darauf unter dem Titel „Ein Glaubensbekenntnis“ erschien, als Schlußgedicht die frischen Zeilen:

    „Zu Aßmannshausen in der Kron’,
    Wo mancher Durst’ge schon gezecht,
    Da macht’ ich gegen eine Kron’
    Dies Büchlein für den Druck zurecht!

    Ich schrieb es ab bei Rebenschein,
    Weinlaub ums Haus und saft’ge Reiser!
    Drum, wollt Ihr rechte Täufer sein,
    Tauft’s: Vierundvierz’ger Aßmannshäuser!“

    Das Erscheinen des Buches war ein frohes Ereignis für die deutschen Patrioten, ein weniger erfreuliches allerdings für den Dichter selbst: er mußte vor der drohenden Verfolgung sein Vaterland verlassen und erst das Jahr 1848 führte ihn nach Deutschland zurück. Der jetzige Besitzer der Aßmannshäuser „Krone“ hat nun zum Gedächtnis an jene Maitage vor 50 Jahren seinen Gasthof mit einer Büste Freiligraths und einer Gedenktafel schmücken lassen, die am 19. Mai in Gegenwart der Angehörigen und vieler Freunde Freiligraths enthüllt worden ist. Zugleich wurde das Zimmer, in dem der Dichter 1844 gewohnt hat, genau in seinem damaligen Zustand wiederhergestellt. Zu der Feier selbst hat Emil Rittershaus die markigen Verse verfaßt, die wir hier veröffentlichen. Die Redaktion. 



Blätter und Blüten.


Rubens in der Werkstatt Brouwers. (Zu dem Bilde S. 344 und 345.) Wenn uns nicht Adriaen Brouwers eigene Gemälde erzählten, welches lebenslustige Kneipgenie ihr Schöpfer war, so würden wir es aus dem ansprechenden Bild von Glisenti erfahren. Rubens, der königliche Künstler, der damals auf dem Gipfel seines Ruhmes stand und nebenbei als hochangesehener Gesandter zwischen den Regenten der Niederlande, Englands und Spaniens hin und herging, erachtete es nicht unter seiner Würde, den Fuß in die räucherige Schenke zu setzen, wo Brouwer seine Originale frisch vom Wirtstisch und der nachfolgenden Prügelei weg auf die Leinwand malte. Rubens achtete in dem unordentlichen Genie den großen Künstler und war ein ganz so liebevoller Betrachter und Bewunderer von Brouwers Bildern, wie ihn hier Glisenti darstellt, in der kostbaren Sammetkleidung auf dem fragwürdigen Tonnensessel vor der Staffele! sitzend. Die zechenden Bauern im Hintergrund ahnen nicht, welch hohe Persönlichkeit hier unter ihnen weilt, sie schreien unbekümmert weiter, während Rubens sich an ihrer bildlichen Darstellung ergötzt, und der sonst so tolle Brouwer ehrfurchtsvoll und mit zweifelnder Bescheidenheit die Lobsprüche des großen Mannes empfängt.

Ein paar von den besseren Elementen des Ateliers haben sich herbeigemacht und horchen, neben dem alten Reitknecht stehend, aufmerksam der interessanten Unterhaltung, die Musikanten im Hintergrund aber ziehen entschieden vor, mit der hübschen Kellnerin weiter zu schäkern und das große Weinfaß im Vordergrund bietet tröstliche Aussichten für alle.

Es ist ein echtes Stückchen altniederländischer Lebenslust, das hier der Künstler darbietet; wer jemals in den großen Galerien Brouwers Bauern- und Soldatenbilder mit Vergnügen betrachtet hat, der wird auch hieran seine Freude haben. Bn.     

In der Heuernte. (Zu dem Bilde S. 353.) Die Tage der Heuernte sind gekommen, und es sind glücklicherweise dieses Jahr für weite Striche unseres deutschen Vaterlandes freudigere Tage, als sie es im vergaugenen Jahre waren, wo eine anhaltende Trockenheit den Schmuck der Wiesen so vielfach verdorren und verkümmern ließ. Mit Behagen ruht darum auch unser Auge auf dem Bilde von Franz Leuschner, das uns mitten hinein versetzt in die heiße Arbeit des Frühsommers und uns eine Gruppe von Mägden beim Zusammenharken und Aufhäufen des Heus zeigt. Ein fast wolkenloser Himmel wölbt sich über der Wiese am See, aber daß die wackeren Mähderinnen nicht allzusehr dürsten müssen, dafür sorgt der handfeste Krug, den wir im Vordergrunde erblicken, und auch bei dem Topf, um dessen Inhalt sich das kleine mithelfende Mädchen so angelegentlich kümmert, scheint es sich um irgend eine angenehme Herzstärkung zu handeln. Und wenn dann der Feierabend gekommen ist, dann wird die fleißige Gesellschaft Rast machen und im Schatten der mächtigen Bäume sich ausruhen von des Tages Last und Hitze.

Unterwegs. (Zu dem Bilde S. 341.) Meister Grützner ist sonst allenthalben bekannt als launiger Schilderer des Mönchslebens, und auch den Shakespeare-Helden Falstaff hat er gern zum Gegenstande seiner Kunst gemacht. Das Bildchen, das wir heute von ihm bringen, führt uns hinein ins schöne Land Tirol, vor das Fenster irgend einer frischen fleißigen „Vroni“ oder „Kathi“ oder „Annamirl“, in die Gesellschaft eines stämmigen „Jagaburschen“, der auf der Bank vor diesem Fenster erst noch einen behaglichen Schwatz halten muß, ehe er mit Hund, Büchse und Grießbeil einsteigt in die Berge. Und wenn er heimkehrt, dann wird er wohl auch an diesem Fenster nicht vorübergehen, es wird sich im wesentlichen derselbe Vorgang wiederholen, höchstens daß dann in der Ecke bei der Büchse ein feister Rehbock lehnt oder daß statt des Fensterflügels die Hausthüre sich dem glücklichen Jäger aufthut.



Inhalt: Unterwegs. Bild. S. 341. – Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (20. Fortsetzung). S. 341. – Rubens in der Werkstatt Brouwers. Bild. S. 344 und 345. – Die Straußenfeder. S. 348. – Papiergeld und Papiergeldfälschungen, Von Eduard Große. S. 349. Mit Abbildungen S. 349 und 350. – Die verlorene Tochter. Humoreske von Ernst Wichert. S. 351. – Heuernte. Bild. S. 353. – Zum Freiligrathfest am 19. Mai 1894 in der „Krone“ zu Aßmannshausen. Gedicht von Emil Rittershaus. S. 356. – Blätter und Blüten: Rubens in der Werkstatt Brouwers. S. 356. (Zu dem Bilde S. 344 und 345.) – In der Heuernte. S. 356. (Zu dem Bilde S. 353.) – Unterwegs. S. 356. (Zu dem Bilde S. 341.)



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.