Die Gartenlaube (1892)/Heft 3
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Halbheft 3. | 1892. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.
(2. Fortsetzung.)
Das also war Massow! Dort wohnten die wetterharten Gestalten, welche das Boot lenkten! Bettina betrachtete sie mit regem Antheil. Es waren Männer mit tiefgebräunten bärtigen Gesichtern, ihre Züge waren so hart wie ihre Hände, und sie sprachen nur, wenn sie gefragt wurden; aber sie antworteten mit jener achtungsvollen Freundlichkeit, welche erkennen ließ, daß ihnen der Besuch von Badegästen willkommen sei. Der Mann am Steuer, der Oberlotse Pischel, gehörte zu den „seebefahrensten“ Leuten
[70] der ganzen Küste und wußte mit Fremden umzugehen. Kurz vor
der Landung rieth er dem Sanitätsrath, der sich nach den Miethswohnungen
des Ortes erkundigte, im Schulhause vorzusprechen.
Das Fahrzeug schoß durch die Brandung und saß plötzlich mit einem so starken Ruck auf dem Sande, daß der schüchterne junge Mann zwischen die Koffer fiel. Die Bootsleute sprangen mit ihren hohen Wasserstiefeln in die seichte Fluth und trugen die Reisenden über die Spritzwellen zum Ufer hin. Dort verabschiedete sich der Fremde mit einer so gedrückten Miene, daß Ludmiller fragte, wer denn der Arme sei. Man gab ihm zur Antwort: der jüngere Sohn des Pfarrers von Großküstrow. Er sei Theologe und im Staatsexamen dnrchgefallen und könne sich auf einen unliebsamen Empfang seitens des gestrengen Herrn Vaters gefaßt machen.
Die Lotsen führten die Reisenden vom Weststrand, vorüber am Gasthaus und einigen Bauernhöfen, bis zum Fuß des Höwts, wo dicht am Rande des Wäldchens das Schulhaus lag. Dort fanden die Horsts drei passende Stuben im obern Stockwerk, von denen sie Bettina das Balkonzimmer einräumten. Lisa schlief mit ihrer jüngeren Schwester und der Sanitätsrath mit Fredi in einem Raum. Der Lehrer, welcher mit seiner Frau und einem kleinen Kinde im Erdgeschoß hauste, war eifrig bemüht, den Gästen sein Haus behaglich zu machen; er ließ die Koffer herbeischaffen, welche Lisa und Bettina rasch auspackten, und sorgte für ein einfaches Abendbrot, das in der Hollunderlaube des sorgsam bepflanzten und von Obstbäumen beschatteten Gartens verzehrt wurde.
Horst fühlte sich von der Reise erschöpft und ging mit Fredi früh zur Ruhe. Lotte, welche eine glückliche Veranlagung zum Hausmütterchen besaß, half der Lehrersfrau in der Küche. Bettina und Lisa aber verspürten den Drang, noch zum Vorgebirge hinaufzusteigen und einen Blick über das weite mondbeglänzte Meer zu werfen. Hinter dem Schulhaus führte ein Pfad zwischen Aehrenfeldern und hohen Buchen zur Höhe hinauf. Barhaupt schritten die Freundinnen in der Abenddämmerung über den schmalen Rain einem Häuschen entgegen, das die Spitze des breiten sattelförmigen Berges krönte. Es war das Lotsenhaus oder, wie es von den Bewohnern der Halbinsel genannt wurde, der „Utkiek“. Von diesem Punkte aus beobachtete der wachthabende Lotse alle Erscheinungen des Meeres und gab den Kameraden im Dorf Glockenzeichen, sobald ein Schiff in Sicht kam, das durch die Bucht nach der fernen Hafenstadt geführt werden mußte. Als die Freundinnen die Höhe erreichten, saß ein Wachtmann vor der Bank des Häuschens und blickte durchs Fernrohr nach einem der Küste zusteuernden Vollschiff. Sobald er die beiden Mädchen gewahr wurde, lud er sie durch eine Handbewegung ein, auf der Bank Platz zu nehmen, während er selbst sich erhob und zu einer tiefer stehenden Buche schritt; von einem starken Ast des Baumes hing die Signalglocke herab, welche er jetzt in Bewegung setzte.
Die Mädchen, durch den raschen Aufstieg etwas außer Athem gekommen, ließen sich auf der Bank nieder und genossen den Rundblick über Land und Meer. Das Höwt fiel nach Osten hin steil zur See ab; in zwei Gipfeln stieg es empor. Dem „Utkiek“ gegenüber erhob sich gen Süden eine etwas tieferliegende, mit Buschwerk überwachsene zweite Kuppe, an deren Fuß einige angepflockte Schafe und Ziegen weideten. Die Nordseite des Vorgebirges senkte sich flach zur Düne hinab und war von dichtem Buchenwald bedeckt. In einer Ausbuchtung zwischen Wald und Düne lag eine Fischerflotte vor Anker; die Männer hatten am Strand Feuer entzündet, deren Rauchwolkchen langsam zu den Strandfelsen aufschwebten. Ueber Bettina kam das Gefühl des Friedens. Die Abenddämmerung, das leise Rauschen der Brandung, welches sich mit dem der Buchen mischte, der Anblick der rastenden Fischer, die sich in der Bucht geborgen fühlten, das alles wirkte beruhigend auf ihre Nerven und löste ihren Schmerz in Wehmuth auf.
„Sieh doch, Lisa,“ sagte sie und legte den Arm um die Freundin, „wie schön und friedvoll dies einsame Land ist! Hier empfindet man den beglückenden Einfluß der allgütigen Natur. Ich bin gewiß: Menschen, die der Hauch des Meeres so unmittelbar trifft wie hier, die sich täglich an der Schönheit dieses Blickes, an der Größe und Erhabenheit des Meeres erbauen, müssen sich unendlich freier und besser fühlen als wir, die von Mauern umschlossenen Bewohner der großen Städte. Hier möchte ich mein ganzes Leben verbringen, dies ist die ‚von der Vergessenheit Reiher‘ überrauschte Insel.“
Lisa schaute die schwärmerische Freundin überrascht an, dann erwiderte sie mit einer schalkhaften Bewegung des Kopfes. „Ja, liebes Herz, hier könnte ich’s zur Noth auch aushalten, aber nicht allein. Dieses Eden müßte einen Adam haben.“
„Um seiner selbst willen geliebt zu werden, ist ein Glück, das nur wenigen Frauen zufällt,“ antwortete Bettina mit Bitterkeit.
Lisa lachte verschämt. „Nun, so gehöre ich zu den wenigen, denn Garcia Diaz liebt mich wahrlich nicht um meines Vermögens willen.“
„Wie?“ rief Bettina überrascht. „Der Spanier liebt Dich? Jener Cellist, mit dem Du den Fandango im Festspiel getanzt hast?“
„Ja,“ gestand Lisa, „dieser Tanz hat unser Geschick entschieden. Garcia liebt mich heiß und leidenschaftlich, ich aber wage es nicht, mich dem Vater zu entdecken ... Ich muß Dir ein Geständniß machen, Betty – er kommt hierher.“
„Wer? Diaz?“
„Ja. Doch still, da ist der Lotse wieder!“ Lisa brach ab und richtete an den Seemann die Frage, ob es gestattet sei, das Innere des Wächterhäuschens zu sehen. Der freundliche Mann bejahte und führte seine Gäste in die halbdunkle Stube. Er entzündete eine Zinnlampe, bei deren mattem Scheine die Mädchen einen riesigen Kachelofen, einen Tisch, auf dem eine abgegriffene Bibel lag, eine breite Bank und einen Schrank bemerkten. Der letztere war mit seltenen Muscheln, Steinen und allerlei fremdartigen Gegenständen gefüllt. Der Lotse zeigte zuvorkommend diese Schätze und erzählte, daß die Pfeilspitzen, die seltsam gefärbten Thongefäße, Korallenschnüre und geschnitzten Kokosnußschalen Andenken seien, welche er und seine Kameraden aus fernen Zonen mitgebracht hätten; dabei gab er zu jedem Gegenstand eine kurze Erläuterung. Unter den Stiftern der Erinnerungszeichen kehrte der Name Ewald Monk am häufigsten wieder, und als Lisa verwundert ausrief: „Dieser Monk muß ja alle Welttheile gesehen haben!“ erwiderte der Alte lächelnd: „Ja, Monks Ewald ist ein höllisch fixer Kerl. Er ist der jüngste Lotse am Ort, hat aber mehr Fahrten gemacht und mehr erlebt als wir alle.“ –
Schweigend kehrten die Mädchen zurück. Als Bettina sich endlich zur Ruhe legte, war es ihr, als wenn in matten Zwielichtfarben noch einmal alle heiteren Erscheinungen des Tages an ihr vorüberglitten: die schönen Gelände des Haffs, das Boot mit dem fliegenden Segel, das im Purpurlicht der Abendsonne erglühende Fischerdorf und die köstliche Mondnacht. Durch die geöffnete Balkonthüre drang süßer Rosenduft ins Zimmer und umgaukelte ihre Sinne. Entschlummernd sah sie den Vater vor sich, der küßte sie im Traume und sagte leise: „Zu diesem Asyl hab’ ich Dich geführt, Bettina; hier bist Du geborgen!“
Sie waren thatsächlich gut aufgehoben im Schulhaus – die stadtmüden Gäste. Bettina, Lisa und Lotte theilten sich in die Wirthschaftssorgen, und die Herstellung der Mahlzeiten gewährte ihnen die angenehmste Beschäftigung. Die Horsts hatten reiche Vorräthe aus Berlin mitgebracht, und da Flundern und andere Fische im Dorfe in Fülle zu haben waren, so konnten die Mädchen den Fleischer wohl entbehren, der nur zweimal in der Woche mit seiner Ware vom Festlande herüberkam. Lisa kaufte zudem alle jungen Hühner auf, die im Massow zu finden waren, und nahm sie in eigene Pflege. Die bewegliche Schar bereitete ihr manche drollige Verlegenheit. Die Hühner wurden in der Scheune untergebracht, Lisa aber hatte den Freiheitsdrang ihrer Schlachtopfer nicht in Betracht gezogen. Nun kam es vor, daß das Federvieh durch das geöffnete Thor entwischte und sich in die nahegelegenen Felder verstreute. In solchen Fällen wartete Lisa die Schulpause ab und rief die Jungen zur Hilfe auf: „Wer mir ein Hühnchen zurückbringt, erhält fünf Pfennig!“ Auf diese Verheißung hin stoben die Kinder nach allen Seiten auseinander. Wenige Minuten später befanden sich die gackernden Ausreißer sammt und sonders wieder in Gewahrsam.
In Massow bestand keine Badeverwaltung, doch der Gastwirth des Orts hatte am östlichen und westlichen Theil des Strandes [71] für den weiblichen und männlichen Theil der Gesellschaft je eine geräumige Badehütte aufgestellt. Die Mädchen standen in der Regel früh am Morgen auf und badeten vor dem Frühstück. Der Anblick der sonnüberstrahlten Meerfluth und der erfrischende Morgenwind riefen dann all ihre Lebensgeister wach. Bettina war eine ausgezeichnete Schwimmerin, deren Ausdauer kaum eine Grenze hatte; war das Meer nicht allzu stürmisch bewegt, so schwamm sie so weit aus der Bucht, daß die Gefährtinnen sie aus den Augen verloren; kam sie zurück, so zeigte sie keine Spur von Erschöpfung. Nach dem Bad kehrten die Mädchen über den Wiesenpfad zum Schulhause zurück, bereiteten rasch den Kaffee und frühstückten gemeinsam mit dem Sanitätsrath und Fredi im thaufrischen duftigen Garten.
Gewöhnlich fanden sich die Horsts und Ludmillers dann während der Morgenstunden zwischen den Buchen- und Fichtenwäldchen in einer Thalmulde zusammen, die sie als die „Wolfsschlucht“ bezeichneten. Hier lagerten sie sich im Schatten der Buchen auf dem Rasen, plauderten und lasen oder vergnügten sich am Croquetspiel. Am Nachmittag unternahm man weite Fahrten im Segelboot nach verschiedenen Küstenpunkten oder man ging über den schmalen Hals ins nahe Pfarrdorf, wo sich ein gutes Wirthshaus mit Kegelbahn befand.
Wiederholt war den Mädchen bei solchen Gängen ein Landhaus an der Südseite aufgefallen, das sich mit seinem breiten Schieferdach aus einem heckenumschlossenen Obstgarten heraushob. Zuweilen hatten sie helle Kinderstimmen hinter dem grünen Gehege vernommen, hie und da begegnete ihnen auch ein stattlicher Herr mit strengen Zügen, an dessen Seite eine rundliche neugierig blickende Dame einherschritt. Der Schullehrer, den sie ausforschten, erklärte den Mädchen, dies seien die Respektspersonen von Massow, nämlich der Lotsenkommandant und seine Gattin.
Ein Zufall sollte bald darauf den Horsts das Landhaus erschließen. Eines Morgens trat der Lotsenkommandant mit dem Lehrer an der Seite vor die Hollunderlaube, in welcher der Sanitätsrath mit seinen Angehörigen eben das Frühstück verzehrte. Mit allen Zeichen der Bestürzung erklärte er, daß ganz plötzlich eines seiner Kinder heftig erkrankt sei. Gelegentlich habe er gehört, daß sich ein Arzt im Schulhause befinde, und so sei er gekommen, den Herrnt Sanitätsrath recht sehr um seine Hilfe zu bitten. Er könne sich zwar denken, daß Badegäste Massow nicht aufsuchten, um Berufspflichten zu erfüllen, allein der nächste Arzt wohne zwei Stunden entfernt, und es handle sich um die Rettung eines Menschenlebens.
Horst hatte sich unterdessen schon erhoben und erwiderte freundlich: „Es bedarf unter uns keiner Bitte, Herr Kommandant, denn wir gehören beide zur ‚Rettungsgesellschaft für Schiffbrüchige‘. Hoffentlich gelingt es mir, das Lebensschiff ihres Kindes wieder flott zu machen und nun lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren!“
Es war dem tüchtigen Arzte wirklich gelungen, das Kind, welches am Scharlachfieber schwer erkrankt war, in kurzer Zeit jeder Gefahr zu entrücken. Nach der Genesung des Bübchens machten die dankbaren Eltern ihren Besuch im Schulhaus und luden dessen Gäste dringend ein, sich in ihrem Heim einzustellen.
Als die Mädchen in Papa Horsts Begleitung dieser Aufforderung Folge leisteten, fanden sie eine größere Gesellschaft im Garten vor. Der Lotsenkommandant hatte den Besuch seiner Schwiegereltern und seines Schwagers, eines jungen Offiziers, erhalten; außerdem hatte sich der Pfarrer von Groß-Küstrow mit seinem Sohn, jenem schüchternen Reisegefährten, eingefunden. Der Hausherr eilte den Ankommenden mit unverhohlener Freude entgegen und stellte seine neuen Gäste vor; dabei reckte sich Lieutenant Ellernbruck gewaltig in die Höhe, als wollte er vor den Augen der jungen Damen in den Himmel wachsen. Seinen blonden Schnurrbart zwirbelnd, ließ er prüfend seine Blicke über Bettina, Lisa und Lotte gleiten und sagte sich in Gedanken: Da haben wir drei Grazien! Nummer eins: verträumtes Wesen, rothe Haare, vornehme Haltung – sucht ein Ideal, kann ich nicht leisten. Nummer zwei: pikantes Gesicht, Schelmenaugen, munteres Wesen, also vernünftiges Mädchen, mit dem sich spaßen läßt. Nummer drei: grethchenhafter Backfisch, naiv und voller Einbildungen – also Zukunftsmusik. Kriegsplan: Vorpostengefecht mit Nummer zwei. Ist kein Terrain zu gewinnen, so werf’ ich mich auf Nummer drei. Vorwärts denn „Lisette^ soll die Losung sein. Und mit Hochgefühl wandte er sich an Lisa. „Hätte ich eine Ahnung gehabt, meine Gnädigste, daß sich unser Höwt über Nacht in den Berg Ida verwandeln würde, so wär’ ich früher um Urlaub eingekommen.“
„In den Berg Ida?“ Lisa blickte zur Höhe hinauf, wo eben einige Schafe blökten und sagte mit Schelmenmiene: „Ich sehe die Schafe, vermisse jedoch den Schäferprinzen.“
„Thut nichts – die Göttinnen wenigstens sind da, gnädiges Fräulein, und wenn ich in dieser Schönheitskonkurrenz den goldenen Apfel zu vergeben hätte ...“
„Aber, Herr Lieutenant,“ unterbrach ihn Lisa spottend, „es hieße der Gerechtigkeit ins Gesicht schlagen, wollten Sie nach so kurzer Bekanntschaft bereits Ihr Urtheil fällen. Auch können Sie versichert sein, daß wir drei keine anderen Aepfel auf dieser Insel suchen als – eßbare.“
Sie wandte sich dem im Schatten eines breitästigen Apfelbaums aufgestellten Kaffeetisch zu, und der Lieutenant sagte sich: Kurzer Angriff ... abgeblitzt ... werde nach dem Kaffeeklatsch Spielchen vorschlagen.
Die kleine Gesellschaft unterhielt sich jedoch in dem schattigen Gartenwinkel so vortrefflich, daß des Lieutenants Vorschlag, eine Croquetpartie zu machen, keinen Anklang fand. Man plauderte über die Tagesereignisse und das gesellschaftliche Leben der Hauptstadt. Zu Bettinas Verwunderung legten der Pfarrer und die Gattin des Lotsenkommandanten eine schwer zu stillende Begierde an den Tag, Neuigkeiten vom Hofe und aus der großen Welt zu erfahren. Sie schienen die Städter nicht wenig zu beneiden, daß diese inmitten rauschender Vergnügungen lebten, von denen sie selbst nur aus der Ferne hörten. Als die Damen später einen Gang durch den blühenden Garten unternahmen, sagte Bettina zur Hausfrau: „Sie leben in einem kleinen Paradies – wie glücklich müssen Sie sein!“
Diese schaute die Sprecherin überrascht an und fragte verwundert: „Sprechen Sie im Ernst? Nennen Sie mich glücklich um dieses Gartens willen, der eine Oase bildet in der Wüste?“
„Sie können für sich allein leben und sind frei ...“
Die Frau des Lotsenkommandanten lachte. „Das Alleinleben ist recht schön für den Uebersättigten, nur darf es nicht zu lange dauern. Während des Sommers finde ich den Aufenthalt auf der Halbinsel ganz erträglich, da haben wir auch viel Besuch, im Winter aber – Sie haben keine Ahnung, wie schauerlich es da wird! Mein Mann hat wenigstens seine Berufsthätigkeit, und diese führt ihn von Zeit zu Zeit nach der nahegelegenen Hafenstadt, ich jedoch sitze mit den Kindern im Schnee und schmachte nach geselligem Verkehr, nach den Vergnügungen, die meine Mädchenjahre so schön und ereignißreich gemacht haben und die ich seit meiner Verheirathung schmerzlich entbehren muß. Mein Mann und ich werden den Tag segnen, an dem unsere Versetzung nach einer Stadt erfolgt. Hoffentlich geschieht’s bald – sonst laufe ich noch davon.“
Bettina erblickte in diesen überraschenden Aeußerungen nicht viel mehr als die Merkmale eines leichtfertigen Charakters. War es denn möglich, daß diese Frau das unaussprechliche Glück, hier in der Einsamkeit ganz dem Gatten und den Kindern leben zu können, um elender Nichtigkeiten willen opfern wollte? Freilich mochte jene die große Welt noch nicht so klein und erbärmlich gesehen haben wie sie selbst, es mochten ihr so bittere trübe Erfahrungen erspart geblieben sein. Allein trotz dieser Entschuldigungen fühlte sie sich von der Frau eher abgestoßen als angezogen.
Spät am Abend erst verließen die Horsts das Landhaus, und der Lotsenkommandant sagte seinen Gästen beim Abschied: „Betrachten Sie mein Haus als das Ihrige, Sie werden mir stets willkommen sein!“
Die neue Bekanntschaft trug viel dazu bei, den Sommergästen den Aufenthalt in Massow angenehm zu machen. Wollten sie segeln, so stand ihnen des Kommandanten Boot zur Verfügung, bedurften sie der Zerstreuung, so stellten der kecke Lieutenant und der schüchterne Theologe sich rechtzeitig ein – kurz, man hatte allen Grund, mit der Gestaltung der Dinge zufrieden zu sein.
In der Bucht vor Massow war ein Kriegsgeschwader vor Anker gegangen, das von den dänischen Küsten herabkam, und dessen Befehlshaber hier einige Uebungen vorzunehmen gedachte. Der Anblick der schwarzen Kanonenboote und zweier Fregatten brachte [72] die Einwohner des Dorfes in große Erregung. Fischer- und Lotsenboote umschwärmten am Abend die eisengepanzerten Kolosse. Nur der Sanitätsrath bekümmerte sich nicht mehr um die Flotte, als daß er die mürrische Bemerkung hören ließ. „Hoffentlich treibt der Kommandant keinen Mißbrauch mit den Kanonen. Jeder Schießversuch käme einem Angriff auf meine Nerven gleich.“
Lisa und Bettina stiegen gegen Abend zum Höwt hinauf, um einen Blick auf das Geschwader zu werfen. Es hatte während des Tages etwas gestürmt, jetzt war die Luft ruhiger geworden, aber die Brandung rauschte und zerflatterndes Gewölk ging über den Himmel hin. So oft die Sonne hinter den Wolkengebilden hervorbrach, leuchteten die schäumenden Wogen und waldigen Küsten unter ihren Strahlen auf. „Welch’ herrlicher Anblick!“ rief Bettina auf der Höhe aus. „Hier erst finde ich mich selbst, finde eine neue Welt, die immer die wahre ist!“
„Hoia ho! Gu’n Tag ooch, Pischel!“
„Gu’n Tag, Ewald. All’ wedder taurück?“
Die Begrüßung, welche so jäh in die überschwengliche Stimmung Bettinas fiel, wurde zwischen zwei Lotsen ausgetauscht, von denen der ältere, Pischel, den Mädchen bekannt, der jüngere dagegen fremd war. Dieser unterschied sich wesentlich von seinen Kameraden durch die leichte aufrechte Haltung, den freien Gang und die äußere Erscheinung, durch den Vollbart und sein kurzgestutztes dunkles Haar. Auch war er nicht mit den landesüblichen weiten Hoseb und der kurzen Jacke, sondern nach Art der englischen Matrosen bekleidet. Er mochte etwa fünfunddreißig Jahre zählen, doch war sein dichtes Haar schon von weißen Fäden durchzogen. Er ließ sich neben dem Oberlotsen auf der Bank nieder, und die Mädchen hörten aus der Unterhaltung der beiden Männer, daß der Jüngere mit dem Kriegsgeschwader eine längere Fahrt gemacht und nun zum „Utkiek“ heraufgekommen sei, um mit Pischel eine gemeinsame Feldarbeit zu verabreden. Lisa, welche gern Aufschluß über die Beschaffenheit der einzelnen Kriegsschiffe erhalten hätte, wandte sich, als das Gespräch der beiden stockte, an Pischel.
Doch der verwies sie an den Fremden mit der Bemerkung: „Hier mein Freund Ewald Monk kann Ihre Fragen besser beantworten als ich, denn er ist jahrelang auf einem Kriegsschiff gefahren und eben wieder mit dem Geschwader draußen gewesen.“
Und Monk grüßte die Mädchen mit einer artigen weltmännischen Verbeugung, nannte ihnen die Namen der Kriegsschiffe, belehrte sie uber deren Ausrüstung und innere Einrichtung und machte sie darauf aufmerksam, daß am nächsten Morgen vom Höwt aus ein vollkommenes Kriegsschauspiel zu beobachten sein werde. Die Uebung beginne schon in aller Frühe.
Die Freundinnen dankten ihm für die Auskunft, und Bettina fühlte sich von der einfachen und natürlichen Sprache des Lotsen, von seiner ruhigen männlichen Haltung sehr angenehm berührt. Sie betrachtete ihn aufmerksamer und hatte die wohlthuende Empfindung, einem grundehrlichen Menschen gegenüber zu stehen. Monk war der jüngste Lotse am Orte und der hübscheste. Seine mittelgroße Gestalt war gedrungen und breit, aber nicht plnmp; sein von Sonne und Wetter gebräuntes Gesicht hatte etwas Starres, unbewegliches, allein aus seiner breiten Stirn und seinen scharfblickenden grauen Augen schloß Bettina auf Willenskraft und natürlichen Verstand. Sie erinnerte sich, daß die meisten der Seltenheiten im Lotsenhaus von ihm herrührten, und während sie sich mit Lisa auf der Bank niederließ, brachte sie das Gespräch auf seine weiten Fahrten.
Der Seemann schob den Strohhut in den Nacken, fuhr sich mit der braunen Hand über die Stirn, als wolle er seine Gedanken sammeln, und sagte dann mit einem Anflug von Verlegenheit: „Ja, wer wie ich seit seinem vierzehnten Jahre draußen gewesen ist und alle Meere befahren hat, der kann mancherlei erzählen. Es liegt ein abenteuerliches Leben hinter mir. Ich war mit den Walfischfängern droben auf Island und befand mich in einem Boot, das ein Wal zertrümmerte, als wir ihm die Harpune in den Rücken gepflanzt hatten; fünf Kameraden gingen zu Grunde, ich aber wurde aus dem blutigen Gischt wieder herausgezogen. Ich bin als Schiffbrüchiger tagelang ohne Trunk, ohne Nahrung auf einem Mast im Meere herumgetrieben und war dem Wahnsinn nahe, als endlich ein vorübersegelndes Schiff mich bemerkte und anfnahm. Das Meer mit seinem Reiz und seinen wilden Schrecken – es ist mir vertraut geworden.“
Bettina betrachtete den Mann mit steigender Verwunderung, er hatte das alles so schlicht gesagt, als rede er vom Gewöhnlichsten, und doch, welch’ tiefe Eindrücke mußte ein solches Leben hinterlassen haben! Der Held so vieler Abenteuer zog sie mächtig an, sie hätte gern tiefere Blicke in sein Inneres gethan und betrachtete forschend seine Züge, allein dort stand nur eherne Entschlossenheit zu lesen.
Als die Mädchen endlich aufbrachen, begleitete sie der Lotse bis zum Schulhaus und verabschiedete sich dort mit der Bemerkung: „Wenn die Herrschaften Lust haben sollten, nach der Uebung eines der Schiffe zu besichtigen, so bin ich gern bereit, Sie mit dem Segelboot hinzufahren.“
Die Mädchen blickten ihm nach, wie er durch die Weizenbreiten zum östlichen Strande schritt. Ein purpurner Duft lag über den Hügeln der Küste, und die Wasserfläche vor Groß-Küstrow schillerte in allen Farben. Es schien Bettina, als webe das rothe Abendlicht einen Glorienschein um den einfachen Seemann, der so manchen wilden Kampf mit den Elementen bestanden, der den ganzen Erdball umkreist hatte. An diesem Abend nahm eine tränmerische poetische Stimmung sie ganz in ihren Bann. Sie glaubte die zirpenden Heimchen zu verstehen, deren Konzert von den Wiesen herauftönte: „Bleib’ bei uns“, riefen sie, „hier ist Deine Heimath!“ – –
Am nächsten Morgen waren Land und Meer voll Sonnenglanz. Eine Kanonade, die an fernen Donner gemahnte, hatte die Mädchen aus dem Schlaf geweckt. Ohne an die häuslichen Pflichten zu denken, kleideten sie sich hastig an und eilten zum Vorgebirge, um die Bewegungen des Geschwaders zu beobachten. Als sie mit gerötheten Wangen und völlig athemlos anlangten, fanden sie schon die Ludmillers auf dem „Utkiek“.
„Meine Herrschaften!“ rief der Schauspieler im Tone des Herolds. „Sie haben das unverdiente Glück, von dieser Höhe aus einer Entscheidungsschlacht von eben so großer geschichtlicher Bedeutung wie die der Völkerschlacht bei Leipzig beizuwohnen. Dies Glück erfährt noch dadurch eine gewaltige Steigerung, daß Sie das denkwürdige Schauspiel genießen, ohne durch Pulverdampf oder platzende Bomben belästigt zu werden. Sehen Sie, es geht los. Himmel, wie das kracht! So mögen bei Trafalgar Himmel und Erde gebebt haben, als Nelson – –“
Er unterbrach sich plötzlich, brachte sein Opernglas vor die Augen und fuhr, in natürlichen Ton zurückfallend, fort: „Kinder, die Sache ist wirklich großartig! Mit welch’ erschreckender Schnelligkeit sich diese schwarzen ungethüme bewegen, wie tief sie die Fluth durchwühlen und welche Sprache sie reden! Ihr Götter des Olymps, laßt mich als Lear nur einmal solche Donnerworte reden! O, wie wollt’ ich Euch niederschmettern, Ihr Entarteten!“ – Von seinem Feuer hingerissen, wandte sich der Schauspieler Bettina und Lisa zu und rief, in der Rolle des seine undankbaren Töchter verfluchenden Lear, mit höchstem Pathos:
„O, laßt nicht Weiberwaffen, Wassertropfen,
Beflecken meine Manneswange! – Nein,
Ihr Hexren, so will ich an Euch mich rächen,
Daß alle Welt –, will solche Dinge thun –
Was, weiß ich selbst noch nicht, doch schaudern soll
Die Erde drob ...“
Lisa lachte hell auf und unterbrach den phantasievollen Künstler mit den Worten: „Bevor ich Eurer Majestät das Recht zugestehe, mich am frühen Morgen als Hexe zu verwünschen, bitte ich mir die Hälfte Eures Reiches aus.“
„Die führe ich nicht bei mir, wohl aber kann ich mit einem Gläschen Cognac aufwarten; sollte diese Herzstärkung den Damen einen Ersatz für halb Britannien gewähren, so bitte ich zuzugreifen.“ – Er entnahm seiner Rocktasche eine Jagdflasche und ein Gläschen, allein die Mädchen lehnten die Gabe ab. Als Ludmiller sich nach einem anderen Abnehmer umsah, kamen gerade Pischel und Monk über die Höhe.
Die beiden Lotsen hatten Korn gemäht und schritten in Hemdärmeln mit der Sense auf der Schulter, über das Höwt. Als Ludmiller ihnen einen Trunk anbot, traten sie lachend herzu. Die Arbeit hatte ihre gebrannten Wangen geröthet, Monks Augen glänzten und seine Zähne blitzten weiß unter dem dunklen Schnurrbart hervor. Im Glanz und Duft des sonnigen Morgens erschien er Bettina frischer und jugendlicher als am Abend vorher. Ludmiller zog die beiden Männer ins Gespräch, und diese erklärten die Bewegung der den Feind markierenden Fregatte, welche auch Segel eingesetzt hatte und jetzt majestätisch am linken Flügel des Geschwaders vorüberrauschte. Der Morgenwind blähte die
[73][74] Segel, daß sie in runden anmuthigen Linien hervorsprangen und sich wie hundert Schwanenflügel über das stolze Fahrzeug bauschten.
„O, wie viel schöner ist doch ein reich aufgetakeltes Segelschiff als diese flachen, nüchternen und schwarzen Kanonenboote,“ rief Bettina aus. „Wäre ich ein Seemann, ich würde niemals auf einem Dampfer fahren, die Schiffsmaschine zerstört die Poesie des Meeres.“ Ihr Blick fiel auf Monk und sie fragte ihn, welche Art von Fahrzeug er vorziehe.
„Das Segelschiff natürlich. Der Dampfer setzt den Matrosen herunter, da ist der Kaschinist die wichtige Person.“
„Und des Katrosen Beruf ist edler, menschenwürdiger," fuhr Bettina mit Wärme fort. „Der Seemann ringt noch mit Wind und Fluth, der Maschinist gebietet lässig einer zum Sklaven herabgewürdigten Naturkraft. Wie muß es doch den Muth stählen, den Stolz aufrichten, wenn ein Mensch mit den Stürmen kämpft und Sieger bleibt! Wär’ ich ein Mann, dann wüßte ich meinen Beruf: ich ginge zur See.“
„Ei,“ sagte Ludmiller scherzend, „Ihr Schicksat läßt sich korrigieren. Heirathen Sie einen Seemann und begleiten Sie diesen auf seinen Fahrten!“
Lisa, welche auf die Uhr gesehen hatte, mahnte ihre Begleiter daran, daß es Zeit sei, ans Frühstück zu denken. So brach man auf, und Ludmiller verabredete mit den beiden Lotsen für den Nachmittag eine Fahrt zu den Schiffen.
Der Tag war heiß und schwül geworden, als Lisa, Bettina und die Ludmillers zwischen vier und fünf Uhr mit Ewald Monk und Pischel auf die Reede hinausfuhren; kein Lüftchen regte sich und es mußte anstrengend gerudert werden. Nach halbstündiger Fahrt erreichte das Boot die vor Anker liegenden Kriegsschiffe. Vom Deck eines der nächstliegenden kamen laute Zurufe. Der Lotsenkommandant befand sich mit seiner Frau und Lieutenant Ellernbruck an Bord und lud die Anfahrenden im Namen der Marineoffiziere zur Besichtigung des Schiffes ein.
Man folgte der freundlichen Aufforderung, stieg an Bord und musterte nun die Einrichtungen von der Kommandobrücke an bis zu delt tiefliegenden Vorrathskammern hinab. Auf dem Wege durch die Schiffsräume hatte Ludmiller durch seine heiteren Randglossen zu den Erklärungen der führenden Offiziere die Unterhaltung rasch in Fluß gebracht, und als die Gesellschaft aus dem dunklen Kielraum wieder zum Verdeck hinaufstieg und die Damen sich verabschieden wollten, baten die Offiziere ihre Gäste dringend, noch ein Stündchen zu verweilen. Die Gesellschaft stieg zum hübschen Speisezimmer hinab, wo ein frischer Trunk gereicht wurde. Bald zeigte es sich, daß die Fäden, welche gewisse Schichten der Gesellschaft verknüpfen, überall neue Verbindungen aufweisen. Bettinas Vater war dem Kapitän zur See, dem Befehlshaber des Schiffs, bekannt gewesen, und dieser erzählte, daß er dem Konsul einst im Hause Ludolf Fabbris begegnet sei. Damals habe Wesdonk ein auffallend hübsches Töchterchen mit dunklem Haar zur Seite gehabt.
„Meine Schwester Mathilde,“ bemerkte Bettina.
„Befindet sich dieselbe gleichfalls in Massow?“
„Nein, sie hat sich mit Herrn von Voßleben, einem jungen Diplomaten, verheirathet und ist gegenwärtig in Mexiko.“
„Georg von Voßleben?“ rief ein Lieutenant überrascht aus, und als Bettina nickte, setzte er erfrent hinzu: „Wir sind Schulkameraden.“
Die Unterhaltung gewann nunmehr einen so vertraulichen und heiteren Ton, daß niemand von der Gesellschaft das Hinschwinden der Zeit bemerkte. Mitten in das fröhliche Lachen hinein fiel die Meldung eines der aufwartenden Schiffsjungen, daß der Oberlotse Pischel den Lotsenkommandanten zu sprechen wünsche. Der Alte wurde hereingerufen und berichtete, daß ein schweres Gewitter im Anzuge sei und daß es ihm bei der anbrechenden Dämmerung räthlich erscheine, vor Ausbruch des Unwetters die Rückfahrt anzutreten.
Der Lotsenkommandant sprang auf und erwiderte: „Sie haben recht, Pischel. Wir waren in so angenehmer Gesellschaft und haben uns verplaudert. Also morgen wird mir das Vergnügen zu theil, die Herren bei mir zu sehen!“
Während die Gäste sich in Bewegung setzten, lud er auch die Ludmillers zu einem Glas Bowle für den nächsten Abend in sein Haus und sagte den beiden Mädchen, daß er den Sanitätsrath personlich bitten werde, mit seinen Damen an dem bescheidenen Feste theilzunehmen.
Auf Deck sah Bettina den Lotsen Monk gegen die Galerie gelehnt zu den bleigrauen Wolken aufschauen. Sie machte sich heimlich Vorwürfe darüber, daß sie ihn stundenlang hatte warten lassen. Warum war er überhaupt von ihrer Gesellschaft ausgeschlossen? Warum stand er, der wohl mehr erlebt hatte als all diese elegant gekleideten Herren, gleich einem Diener bei Seite? War er ein schlechterer Seemann als die Offiziere? Gewiß nicht! Was ihn unter sie stellte, war nur ein Mangel an jener Geistesbildung, die sie gering schätzte, und die Zufälligkeit der Geburt.
Die Offiziere wetteiferten in ritterlicher Höflichkeit gegen Bettina, und als ein heftiger Windstoß deren Hut in die Wogen hinaustrug, wollten sie ein Boot niederlassen, um ihn aufzufischen. Ewald Monk aber, der bis dahin bei Seite gestanden war, trat jetzt rasch zur Schiffstreppe und sagte in bestimmtem Tone: „Wir halten Kurs auf den Hut, er soll nicht verloren gehen!“
Die Gesellschaft stieg in die Boote; das des Lotsenkommandanten stieß zuerst ab, dann folgte das von Pischel gesteuerte. Bettina war in stolzer Haltung an den Offizieren vorübergeschritten; als sie auf der letzten Stufe der Schiffstreppe stand, streckte der im schwankenden Fahrzeug stehende Monk die Arme nach ihr aus und trug sie zur vordersten Bank. Ein seltsamer Schauer ging dabei durch ihren Körper, und nur wie im Traume hörte sie die Abschiedsworte der Offiziere.
Als das Boot, dessen Segel Monk hißte und überwachte, an dem riesigen Schiffskörper keine Deckung mehr fand, fielen Wind und Wogen mit betäubender Gewalt über dasselbe her; am südlichen Horizont zerriß von Zeit zu Zeit ein zackiger Blitz die tiefhängenden Dunst- und Wolkenmassen. Lisa wurde unruhig, als das schwache Fahrzeug unter ihr immer heftiger schwankte, sie hielt den Arm Bettinas krampfhaft mit beiden Händen umschlossen, in der Befürchtung, das Boot werde kentern.
Bettina saß ruhig an ihrer Seite, hielt die heißen Wangen dem Sturm entgegen und schaute mit leuchtenden Augen zum drohenden Himmel empor. Auch in ihr rührten die tosenden Wasser, die wild daherbrausenden Winde starke Empfindungen auf, aber es war nicht Furcht, was sie beherrschte. Sie freute sich, den entfesselten Elementen die Stirn bieten zu können, sie trotzte der Gefahr.
„Halt’ luvwärts, Pischel, dort seh’ ich den Hut!“ Bettina schaute sich nach Monk um, der, hinter ihr stehend, seinem Kameraden am Steuer die Worte zugerufen hatte, er deutete dabei auf eine Stelle, wo aus dem Halbdunkel etwas Weißes hervorschimmerte.
Doch Pischel antwortete unmuthig: „Lat den Hut man swimmen, Ewald! Fischen bei dem Flackerwind lohnt nich.“
Ewald aber schrie in rücksichtslosem Ton „Halt’ das Steuer auf den Hut, sonst spring’ ich in See!“
Pischel fluchte, riß aber doch das Steuer scharf herum. Monk legte sich am Bug nieder, und als die Stelle erreicht war, wo das Strohhütchen schwamm, griff er mit der Rechten weit hinaus und erhaschte es. Blitzschnell sprang er dann auf, warf Bettina ihr Eigenthum in den Schoß und griff mit raschem Ruck wieder in das Segel. Es war die höchste Zeit, denn in der nächsten Sekunde traf der Wind das Boot mit stürmischer Gewalt.
Auf Bettina machte die kühne Mannhaftigkeit des Lotsen einen großen Eindruck. Wenn sie diesen einfachen Kann mit dem Grafen Trachberg verglich, erschien er ihr wie ein Held. Fest wie ein der Brandung trotzender Fels stand er neben ihr und hielt das knarrende Seil des Segels in seinen Händen. Ihn ließ die Gefahr unbewegt. Und Bettina fühlte sich so wohl und sicher an seiner Seite, daß der Ausbruch des Gewitters sie völlig berauschte.
Das Boot flog vor dem Winde mit rasender Eile dem Ufer zu. Zwar klatschte von Zeit zu Zeit eine Sturzwelle über die Insassen und durchnäßte sie bis auf die Haut, aber das wurde mit Humor ertragen. Durch die schäumende Brandung hindurch lief das Fahrzeug auf den Strand, wo sich bereits mehrere Lotsen eingefunden hatten, um beim Bergen zu helfen. Diese sprangen den Wogen entgegen und wollten die Frauen ans Land tragen. Monk aber kam allen zuvor. Mit einem Sprung war er im Gischt der Strandwellen, hob Bettina aus dem Boot und trug sie zur Düne.
Ludmiller zahlte in aller Hast das Fahrgeld und sagte dabei zu Monk: „Sie haben um einer verwegenen Galanterie willen unser Leben aufs Spiel gesetzt, Lotse! Wäre ich Ihr Kommandant, ich strafte Sie.“
[75] Monk erwiderte mit einem Blick auf Bettina: „Ich bin gewohnt, mein Wort zu halten.“
Jetzt rissen die Wolken, und heftige Regenschauer zwangen die kleine Gesellschaft zu eiliger Flucht.
„Im Sturmschritt, marsch, marsch!“ kommandierte Ludmiller, und alle liefen der schützenden Behausung zu.
Der Sanitätsrath erhielt am nächsten Morgen die Einladung des Lotsenkommandanten. Bettina hatte die Absicht, daheim zu bleiben, allein da Lisa sich entschieden weigerte, ohne die Freundin zu gehen, und man von allen Seiten auf sie einredete, so wollte sie nicht als Spielverderberin gelten und schloß sich am Abend den Horsts an. Auf dem Wege zum Landhause begegnete ihnen Pischel. Bettina blieb bei dem Alten stehen, und während ihre Begleiter weitergingen, sagte sie: „Ich konnte Ihnen gestern nicht einmal für die Rettung meines Hutes danken. Bitte, nehmen Sie das und trinken Sie mit Ihrem Kameraden Monk ein Glas Wein auf mein Wohl.“ Freundlich lächelnd drückte sie dem Alten ein Geldstück in die schwielige Hand und schritt weiter.
Pischel, der ganz verdutzt dastand, öffnete nach einer Weile die Hand und sah ein Goldstück funkeln. „Zehn Mark!“ rief er überrascht aus. „Ei, das Mamselken is höll’sch nobel!“
Vor dem Schulhaus knüpfte er mit dem Lehrer, der seine Kuh dem Stalle zutrieb, ein Gespräch an und erzählte, daß ihm das „rothhaarige Frölen“ eine Krone als Trinkgeld gegeben habe.
Der Lehrer nickte lächelnd und meinte, Fräulein Wesdonk müsse wohl Geld haben wie Heu, ihr Vater sei Konsul gewesen und auf ihrer Kommode stehe die Photographie einer Villa; als er sie neulich gefragt habe, was das für ein Schloß sei, habe sie ihm geantwortet. „Mein Vaterhaus.“ Nun, dies Vaterhaus sei ein schönerer Besitz als das Schloß der Gräfin von Lindström drüben an der Küste.
Pischel schüttelte verwundert den Kopf und konnte es nicht fassen, daß Menschen einen solchen Besitz verlassen, um in einem Nest wie Massow den Sommer zu verbringen.
„Ja, siehst Du, Pischel,“ belehrte ihn der Schulmeister, „auch der Reiche will einmal eine Abwechslung haben. Wer immer Austern genießt, kriegt plötzlich Heißhunger nach Pellkartoffeln und Hering.“
Um diese Aufklärung und zehn Mark bereichert, trottete der Lotse nach dem Gasthaus, wo er Ewald Monk mit dem Wirthe bei einem Glase Dünnbier vor der Thür sitzen sah. Breitspurig stellte er sich vor die beiden hin und sagte pfiffig lächelnd: „Nu man rut mit dat grugliche Zeug, wat Ihr drinkt! Jahn, bring’ uns mal ’ne Bottel Rotspohn ut den Keller, äwer feinste Marke, wi möten ’nen deipen Trunk dahn.“
Jahn, der Wirth, ließ sich das nicht zweimal sagen. Als Pischel mit dem ihn fragend anstarrenden Ewald allein war, erzählte er seine Begegnung mit Bettina, wies lachend das Goldstück vor und fügte hinzu, was ihm der Lehrer über die Verhältnisse des Mädchens anvertraut hatte. Die Flasche Wein, welche der Wirth feierlich entkorkte, wurde mit Andacht geleert. Während Jahn nun einen längeren Vortrag über das jammerwürdige langsame Verschwinden unverfälschter Rothweine hielt, schaute Ewald stumm auf den rubinrothen, ein feines Aroma ausströmenden Wein, und Wünsche und Gedanken, die sich bei der ersten Begegnung mit Bettina nur schüchtern hervorgewagt hatten, brachten jetzt mit einem Male sein Inneres in Gährung.
Als jungem Menschen war ihm draußen in fernen Welttheilen das Glück bei den Frauen günstig gewesen; in dem einsamen Massow hatten der Dienst und die Sorge um das tägliche Brot seine Abenteuerlust gedämpft, seine hochfliegenden Wünsche und Hoffnungen herabgedrückt. Allmählich machte er sich mit dem Gedanken vertraut, Kathrein, die Tochter seines Nachbars Bräuning, zu heirathen und mit den zwölfhundert Mark und dem kleinen Stück Land, welches diese ihrem Manne als Heirathsgut zubrachte, sich eine eigene Häuslichkeit zu gründen. Bettinas Erscheinen aber wirkte auf ihn wie ein verjüngender Trank. Weitgehende Hoffnungen, heiße Wünsche stiegen wieder in ihm auf, ein Schimmer kühner Jugendträume fiel in seine Seele. Wenn er solch ein Weib gewinnen könnte! Er dachte an den Blick, mit dem sie ihn angesehen hatte, als er im Sturm um ihres Hutes willen ins Wasser zu springen drohte, und ein Gefühl des Sieges überkam ihn. Warum sollte die Tochter des Konsuls nicht den einfachen Lotsen lieben können? Hatte er nicht vordem manches Frauenherz gewonnen? Bettina Wesdonk war Waise, also unabhängig, und konnte frei wählen. Er leerte sein Glas auf einen Zug und sagte sich heimlich: ich wag’s! Dann sprang er auf und griff uach seinem Hut. Er gehörte zu den Strandwächtern der kommenden Nacht und wollte sich nach dem Wachthäuschen begeben.
„Holt an!“ sagte Pischel. „Du kriegst noch Geld rut.“ Jahn gab von den zehn Mark sieben wieder heraus. Ewald schob drei Mark zurück und meinte, sie hätten es versäumt, auf das Wohl der Spenderin zu trinken, das müsse noch geschehen. „Hast recht, Ewald, die möten wi leben laten.“ Bald darauf klangen die frisch gefüllten Gläser wieder zusammen auf das Wohl des „schenerösen Frölen.“
Monk verließ das Gasthaus mit heißem Blut und klopfenden Schläfen. Er fühlte den Muth kühnen Wagens in der Brust, und als er beim Gatter des nächsten Gehöfts die plumpe Gestalt von Kathrein Bräuning bemerkte, die seiner zu warten schien, bog er nach dem Fichtengehölz der Düne aus. „Du magst lange leben und gesund bleiben, aber für einen andern als Ewald Monk,“ murmelte er. „Deine zwölfhundert Mark und Dein Kartoffelacker locken mich nicht mehr, alberne Dirn’!“
Sein Weg führte am Landhaus des Kommandanten vorüber. Musik und Rosenduft drangen über die Schlehdornhecke. Der Lotse hielt an und schaute in den Garten hinein. Das Haus war hell erleuchtet, und die Gesellschaft befand sich im Salon, dessen Fenster weit geöffnet waren. Fast wie ein Erschrecken ging es ihm durch die Nerven, als er Bettina mit weicher Stimme ein Lied singen hörte; traumhaft klangen die Töne zu ihm herüber und umspannen ihn mit einem eigenthümlichen Zauber. Er merkte nicht, daß er noch immer in Gedanken verloren an der Hecke stand, als der Gesang längst verklungen war. Ein Geräusch ließ ihn aufblicken, in der ersten Ueberraschung zuckte er merklich zusammen, denn Bettina, welche frische Luft schöpfen und die Gesellschaft auf ein paar Minuten los sein wollte, war in den Garten hinausgetreten und kam gerade auf ihn zu; offenbar hatte sie ihn bemerkt. Sein erster Gedanke war, rasch weiter zu gehen und eine Begegnung zu vermeiden, im nächsten Augenblick wurde er sich bewußt, wie günstig dieses Zusammentreffen für seine Pläne sei. So blieb er und grüßte Bettina mit achtungsvoller Höflichkeit.
„Sie hier?“ rief diese, „und regungslos wie ein Träumender? Hat denn für Ihren rauhen Beruf der Zauber einer solchen Sommernacht auch noch seine Gewalt?“
„Warum nicht, gnädiges Fräulein? Unser Beruf führt uns auch unter milderen Himmel, als unser heimathlicher ist, in den lachenden Gefilden des Südens geht uns eine lieblichere Welt auf. Und da hab’ ich im Vorbeigehen Ihren Gesang gehört, der hat mich wieder hinausgetragen in jene schöne Ferne.“
Bettiua schaute ihn überrascht an. Welch’ reiches Innenleben mußte dieser kühne Mann besitzen, wenn er einen so sicheren, tiefen Ausdruck dafür fand. „Und zieht es Sie nicht wieder hinaus – zu fremden Ländern?“ fragte sie leise.
Er sann eine Weile nach, dann schüttelte er den Kopf und meinte, in jedem Küstenbewohuer stecke etwas vom Wandertrieb der Zugvögel; früher habe es ihn im Frühjahr stets gepackt. Aber wer weit in der Welt herumgekommen sei, verliere allmählich die Lust, herumzuschweifen, und denke daran, sich ein Nest zu bauen. Alles im Leben habe seine Zeit ...
„Und Sie möchten sich in Massow Ihr Nest bauen?“ Bettinas Stimme bebte.
Ewald schwieg verlegen und riß einige Sprossen von der Hecke ab, dann sagte er mit plötzlicher Entschlossenheit. „Das möcht’ ich wohl – wenn ein Singvogel, wie ich ihn eben gehört, das Nest mit mir theilte.“
Keck und forschend blickte er dabei Bettina an; diese erröthete und schwieg. Plötzlich wurde ihr Name gerufen und durch die Dämmerung bewegten sich mehrere Gestalten.
„Ich muß gehen, aber ich sage – auf Wiedersehen!“
Sie reichte ihm die Hand über die Hecke, und er drückte sie so rauh und kräftig, daß Bettina Schmerz empfand.
„Auf morgen, lüttge Nachtigall!“ sagte er und schritt seines Weges.
Im nächsten Augenblick flog Lisa an den Hals der Freundin und flüsterte ihr glückselig ins Ohr: „Er ist gekommen – Garcia Diaz.“
[76] Richtig, da trat er hinter dem Boskett hervor, der Spanier mit der schlanken Gestalt und dem dunklen Krauskopf: „Ich bin auf einer Touristenfahrt ganz zufällig nach Massow gekommen,“ plauderte der Schelm mit seiner melodisch klingenden Stimme. „Im Gasthaus sagte mir der Wirth – ganz zufällig, Fräulein Wesdonk und der Herr Sanitätsrath seien in diesem Haus. In der Freude meines Herzens laufe ich hierher, glaube, Sie alle wohnen hier. Wie ich in den Salon stürme, errege ich große Verlegenheit; da man aber gastfrei ist in Deutschland, so bittet man mich, zu bleiben, und ich fühle mich schon wie zu Hause. Massow gefällt mir sehr, sehr; ich werde einige Tage verweilen.“ All das sprudelte er in gebrochenem Deutsch mit solcher Komik heraus, daß Bettina lächeln mußte.
Er küßte galant Bettinas Hand und ging mit den Mädchen in den Salon zurück, wo Ludmiller sehr rasch Fühlung mit ihm gewann. Und die beiden Künstler offenbarten eine so glänzende Unterhaltungsgabe, daß die Gesellschaft in heiterster Stimmung fast bis Mitternacht zusammenblieb.
Garcia Diaz begleitete die Horsts zum Schulhaus und wußte es auf dem kurzen Wege dahin so einzurichten, daß er mit Lisa einige Sekunden hinter einem Erlengebüsch zurückbleiben und einen leidenschaftlichen Kuß mit ihr tauschen konnte. „Ich liebe Dich, Lisa, liebe Dich unaussprechlich und werde wahnsinnig, wenn Du nicht bald die Meine wirst.“
„Gedulde Dich bis zu unserer Abreise, Garcia! Mein Vater hat mir noch nie eine Bitte abgeschlagen, sobald ich zur rechten Zeit kam, ich hoffe . .
„Lisa, wo bleibst Du?“ rief der Sanitätsrath, den die auffallende Anhänglichkeit des spanischen Cellisten etwas besorgt machte, und die Liebenden beeilten sich, den Voranschreitenden zu folgen.
In Garcias leichtentzündlichem Herzen wogten die leidenschaftlichen Gefühle noch nach, als die Horsts längst zur Ruhe gegangen waren. Die fröhliche Unterhaltung der Tafelrunde, der feurige Wein und die Hoffnungen, welche Lisa ihm gab, hatten seine Phantasie mächtig erregt. Er konnte sich noch nicht in dem öden Gasthaus zur Ruhe legen und ging am Strand spazieren, wo er in einer Art schwärmerischer Verzückung mit den Gestirnen sprach. Als die vom Meer heraufkriechenden Nebel ihn einzuhüllen begannen, wanderte er an den stillen Gehöften vorüber zum Schulhaus zurück. Er wollte noch einmal das kleine Giebelfenster sehen, welches Lisa ihm als das ihres Zimmers beschrieben hatte. Ob sie schon schlief? Garcia sagte sich, daß das unmöglich sei. Auch sie mußte ja gleich ihm an die Zukunft denken, an die wonnige Zukunft, auch sie würde vor Sehnsucht den Schlaf nicht finden können. Ach, wenn er sie noch einmal sehen, noch einmal sprechen dürfte, und wär’ es auch nur, um ihr gute Nacht zu sagen!
In solchen Gedanken war der Spanier zur Giebelwand des Schulhauses gelangt und bemerkte zu seiner Ueberraschnng, daß eine hohe Eiche ihren Wipfel über das Fenster der Geliebten hinaus bis zum Dachfirst streckte. Die starken Aeste des Baumes reichten bis an die Wand des Hauses, und ihn lockte es plötzlich, hinaufzusteigen und der Geliebten seine Anwesenheit kund zu thun. Er besaß große Gewandtheit in allen Leibesübungen, und es schien ihm ein Leichtes, hinaufzukommen, umsomehr als eine breite Egge, die an der Wand des Hauses lehnte, ihm den Aufstieg bis zum untersten Ast wesentlich erleichtern mußte. Mit keckem Entschluß knöpfte er das jetzt unbequem schwere Jackett, das er vorhin wegen der empfindlichen Nachtkühle angelegt hatte, über der Brust zu, stellte die Egge gegen den Stamm und stieg aufwärts.
Als er sich, um den Ast zu erreichen, auf der Kante der Egge emporhob, gab diese dem Druck des Fußes nach und fiel rückwärts zur Erde, so daß sie ihre Eisenzacken nach oben streckte. Garcia aber hatte den Ast erfaßt, und mit kräftigem Aufschwung gewann er die Höhe. Die vielen Aeste, von denen einige an der Schattenseite des Baumes bereits abgestorben und verdorrt waren, bildeten von da ab bequeme Stützpunkte und Staffeln, und mit spielender Leichtigkeit erreichte er den letzten festen Ast unter dem Gipfel. Als er auf diesem Fuß faßte, hätte er einen Triumphschrei ausstoßeu mögen, denn er sah das Fenster von Lisas Zimmer dicht vor sich. Wie aber sollte er die Geliebte, von deren Wachen er überzeugt war, von seiner Nähe in Kenntniß setzen, ohne deren Schwester Lotte zu wecken? Er beschloß, einen der Zweige abzubrechen und damit leise gegen das Fenster zu klopfen, und er entdeckte auch einen, der lang genug war, über seinem Kopfe. Aber bei dem Bestreben, das zähe Holz abzureißeu, ließ er es an der nöthigen Vorsicht fehlen, und als nun der Zweig plötzlich brach, verlor er den Halt. Vergebens tastete er im Dunkel nach dem Stamm; er schwankte, glitt aus und stürzte mit einem leisen Aufschrei in die Tiefe. In der nächsten Sekunde empfing er einen schmerzhaften Stoß gegen den Rücken, dann hing er wie ein Aufgespießter am Stumpfe eines abgedorrten Astes, der sich zwischen seinen Rücken und das Jackett geschoben hatte.
Als Garcia nach der ersten Betäubung sich über seine Lage klar geworden war, fand er sie zwar immer noch mißlich genug, war aber dem Schicksal dankbar dafür, daß es ihn vorläufig vor dem völligen Absturz bewahrt hatte. Mit einem Blick maß er dann die Entfernung bis zum Boden, sie mochte etwa zwanzig Fuß betragen; ihm kam der Gedanke, die beiden Knöpfe des Jacketts, welche dem Stoß widerstanden hatten – die beiden untern waren abgesprungen – mit den Händen zu lösen und dann zu versuchen, ob es gelinge, aus den Aermeln zu schlüpfen und sich hinunterfallen zu lassen. Er wollte lieber die Gefahr einer Beschädigung wagen, als vielleicht bis zum Morgen am Baume hängen und dann dem Hohn und Spott der Dorfbewohner preisgegeben sein. Zudem machte ihn der Gedanke rasend, daß Lisa durch sein Abenteuer bloßgestellt werden könne. Lieber ein Bein brechen, sagte er sich, als hier hängen bleiben. Eben begann er an dem untersten der beiden Knöpfe zu zerren, da fiel das Mondlicht durchs Laub und ein heller Schein traf die Erde. Ein heftiges Erschrecken lähmte Garcias Hand, denn er sah, daß gerade unter ihm die umgestülpte Egge lag; wenn er vom Baum fiel, so spießten die Stacheln des Ackergeräths seinen Körper auf. Der arme Bursche befand sich in einer gefährlichen Klemme und in seiner Angst rief er die Santissima Madonna und alle Heiligen an. Aber der Himmel sandte keine Hilfe.
Allmählich fingen, da der Blutumlauf gehemmt war, seine Arme an, abzusterben. Als die Schmerzen immer unerträglicher wurden, gerieth der nervöse Spanier in Wuth, verwünschte diese qualvolle, ewigwährende Nacht und erging sich in den kräftigsten Flüchen, welche die spanische Sprache aufzuweisen hat. Als auch sein Fluchvorrath erschöpft war, kam er zu einem verzweifelten Entschluß. Er wollte um Hilfe rufen, selbst auf die Gefahr hin, sein und Lisas Geheimniß entdeckt zu sehen. Vielleicht hörten ihn die Schwestern zuerst und brachten ihm Rettung. So rief er denn Lisas Namen erst halblaut, dann stärker und stärker; allein die Schwestern schliefen beide den tiefen Schlaf des Gerechten, niemand vernahm seine Rufe, nur die Hunde in der Nachbarschaft wurden laut und übertönten mit ihrem wüthenden Gekläff seine Stimme.
Als er endlich heiser und zum Tode ermattet verstummte und langsam in einen Zustand völliger Theilnahmlosigkcit zu versinken begann, wurde am Fuß der Eiche eine rauhe Stimme laut. „Halloh!“ rief ein Mann, der vom Höwt herunterzukommen schien, „sitzt jemand da oben?“ Garcia fuhr auf und antwortete mit dem Aufgebot seiner letzten Kraft: „Jawohl, ein Badegast.“
„Ei zum Daus, wie kommen Sie denn in der Nacht auf des Schulmeisters Eichbaum?“
„Ich – ich wollte Vogeleier suchen,“ stotterte Garcia in so kläglichem Tone, daß der Mauu drunten hell auflachte.
„Vogeleier im August, da sieht man, daß Sie ein Städter sind. Bei uns weiß jeder Bauernjunge, daß die Vögel Mitte August keine Eier haben.“
„O, retten Sie mich, ich leide schrecklich, denn ich hänge seit langer, langer Zeit ganz hilflos an einem Ast.“
„Geduld! Ich hole eine Leiter.“
Der Mann verschwand in der Richtung nach dem Lotsenwachthaus und kam nach zehn Minuten, die Garcia eine Ewigkeit dünkten, mit einer Leiter und einem Seil über dem Rücken zurück.
Bald darauf war der Gefangene erlöst. Sein Retter war Ewald Monk, der beim Verlassen seines Nachtpostens auf dem „Utkiek“ die letzten Nothschreie des zappelnden Spaniers gehört hatte. Es währte lange, bis dieser die Arme wieder bewegen konnte. Als es endlich möglich war, wollte er in dankbarer Aufwallung den Seemann umarmen, der aber faßte ihn bei der Brust und rüttelte ihn so heftig, daß ihm fast der Athem verging: „Wollen Sie mir endlich sagen,“ rief er dabei wüthend, „was Sie da droben zu schaffen hatten?“
Der Spanier begriff die Neugierde seines Retters so wenig wie dessen Entrüstung, hielt es jedoch für gerathen, ein offenes
[77][78] Bekenntniß abzulegen. Als er ihm über seine Person Aufschluß gegeben hatte und gestand, daß er Lisa Horst liebe und mit dieser einen letzten Gruß habe austauschen wollen, ließ ihn Monk los und brummte etwas von Narrheiten in den Bart; als aber Garcia seiner Börse ein Zwanzigmarkstück entnahm und es ihm als „Finderlohn“ überreichte, nahm er es dankbar an und begleitete den Fremden höflich bis zum Gasthaus. –
Als sich der Künstler am Nachmittag, noch immer sehr ermattet durch das nächtliche Abenteuer, in der Wolfsschlucht einfand – man hatte am gestrigen Abend verabredet, sich hier zu treffen – fand er Lisa und Bettina allein im Schatten einer Buche. Auf seine Frage, wie die Damen geschlafen hätten, antwortete Lisa: „Wundervoll. Ach, ich habe so schön geträumt. Ich sah eine zauberhafte Mondnacht, und Sie, Diaz, standen unter einem jener blühenden Kamelienbäume, von denen Sie uns neulich erzählt haben, mit der Mandoline im Arm und brachten mir eine Serenade. Sie sangen mit schmelzender Stimme eine anmuthige Weise – das klang so süß! In Wirklichkeit habe ich Sie nie so bestrickend singen hören.“
Garcia lachte. „In Wirklichkeit habe ich unter Ihrem Fenster gesungen in dieser Nacht, aber ein ernsthaftes miserere,“ und er berichtete den aufhorchenden Freundinnen sein Erlebniß und wie er durch den Lotsen Monk aus der schrecklichen Lage befreit worden sei. Lisa schalt ihn um seines Leichtsinns willen, raffte sich aber zu dem Entschluß auf, dem Vater ihre Liebe zu gestehen, damit künftig ähnliche Streiche vermieden würden. Bettina fühlte sich angenehm berührt, daß sich Ewald auch hier wieder männlich und hilfreich gezeigt hatte, und sagte sich, daß sie auf die Verehrung eines solchen Mannes stolz sein könne. –
Der Sanitätsrath war an einem der nächsten Tage nicht wenig überrascht, als Diaz mit einer Rosenknospe im Knopfloch seines schwarzen Rockes, mit hellfarbenen Handschuhen und in ungemein feierlicher Haltung sich bei ihm einfand und kurzweg um Lisas Hand anhielt. Der würdige alte Herr war erst sprachlos vor Erstaunen, dann brach er in die Worte aus: „Sie haben mit dem Entdecker des Kaps der guten Hoffnung, dessen Namen Sie tragen, jedenfalls die Kühnheit gemein. Das Leben erfordert etwas mehr als die Fähigkeit, einen Fandango gut zu tanzen und ein Lied zu singen. Worauf wollen Sie denn die Existenz Ihrer Frau gründen?“
„Ich bin gekommen, um Ihnen das zu erklären, verehrter Herr Sanitätsrath.“ – Mit einer graziösen Bewegung entnahm Diaz seiner Brusttasche zwei Schreiben, die er dem Vater Lisas vorlegte. Das erste war der Vertrag mit einem englischen Konzertunternehmer, in dem er versprach, gegen ein Honorar von dreihundert Mark für den Abend in zwölf Konzerten mitzuwirken; das zweite war der Brief eines spanischen Herzogs, aus dessen Inhalt hervorging, daß Diaz sich verpflichtet hatte, während fünf Monaten auf dem bei Barcelona gelegenen Schloß des Granden mit vier anderen Musikern Kammermusik zu spielen, wogegen der Herzog außer den Kosten des Unterhalts und der Reise ihm ein Gehalt von sechshundert Franken für den Monat zusagte.
Horst schob die beiden Schriftstücke zur Seite und meinte, das seien Geleitbriefe für wandernde Spielleute, die nichts als eine sichere Fahrt auf ein Jahr in Aussicht stellten. Was aber dann werden solle? Diaz möge wiederkommen, wenn er sich eine feste Stellung in der Musikwelt erobert habe.
Der junge Künstler ließ sich jedoch nicht so leicht aus der Fassung bringen. Er erklärte, daß der Herzog eine der einflußreichsten Personen am spanischen Hofe sei und ihm stets das größte Wohlwollen, ja mehr als das, wahre Freundschaft bewiesen habe; diesem werde es ein Leichtes sein, ihm eine lohnende Stellung als Musiklehrer in Madrid zu verschaffen. Er schilderte das Schloß und die Gärten des Herzogs als ein kleines Paradies und die Herzogin als eine der gütigsten liebenswürdigsten Damen Spaniens, welche Lisa sicher mit Freuden bei sich aufnehmen werde. Für die Zukunft aber brauche er keine Sorge zu tragen, denn er sei der einzige Erbe zweier Tanten, die ihn beide mit wahrhaft mütterlicher Zärtlichkeit liebten. Beweise hierfür könne er durch zahlreiche Briefe erbringen.
Der Vater Lisas sträubte sich trotzdem hartnäckig gegen die Werbung. Die Verschiedenheit der Nationalität und der Erziehung erweckte in ihm schwere Bedenken, ob ein glückliches Zusammenleben der Liebenden möglich sei. Vergebens eilte die ängstlich harrende Lisa herbei und bot ihre ganze Beredsamkeit auf, ihr Vater blieb unerbittlich. Da fiel ihr als letzter Ausweg Bettina ein. Sie eilte hinaus und erschien kaum eine Minute später mit der Freundin, welche im voraus über die Werbung verständigt worden war. Was dem leidenschaftlichen Ansturm der Liebenden nicht gelungen war, das gelang den ruhigen Gründen Bettinas. Sie wußte durch die Vorstellung, daß Lisa ja auch dann und viel sicherer unglücklich werde, wenn ihre heißen Wünsche nicht erfüllt würden, den gutherzigen Vater umzustimmen. Schweren Herzens sagte er endlich Ja – Lisa war stets sein Liebling gewesen, und der Gedanke, daß die Tochter, deren sonnige Heiterkeit ihn seit Jahren erwärmt und erquickt hatte, mit einem fremden Manne in die weite Welt ziehen wolle, einem unsicheren Geschick entgegen, schmerzte ihn tief. So konnte ihn nur die Hoffnung trösten, daß Diaz nach einem Jahre zurückkehren und sich vielleicht in Deutschland einen Wirkungskreis schaffen könne.
Tragödien und Komödien des Aberglaubens.
Daß der Glaube an vergrabene, von bösen Geistern bewachte Schätze sich vom dunklen Mittelalter bis in unsere „aufgeklärte“ Zeit hinübergerettet habe, ja daß dieser Aberglaube heute noch von nicht einmal sehr schlauen Betrügern wie eine richtige Schatzgrube ausgebeutet werden könne, möchte wohl manchem unglaubhaft erscheinen, wenn diese Thatsache nicht hin und wieder durch einen Gerichtsfall bewiesen würde. Ein solcher hat sich in jüngster Zeit vor dem Tribunal einer Kreisstadt des schwäbischen Oberlands abgespielt, und die auf mehrere Jahre zurückreichenden Vorgänge, die er enthüllt hat, verdienen, wenn man das allgemein Beklagenswerthe solcher Erscheinungen in Abzug bringt, mehr den Titel einer Komödie als den einer Tragödie des Aberglaubens. Märchenanklänge, vermengt mit den groben Effekten einer Zauberposse älteren Stils, wie man sie um die Jahreswende zur Belustigung großer und kleiner Kinder hier und dort auch auf besseren Bühnen noch aufführt, bilden den Inhalt des Stücks, das durch das Hereinspielen spiritistischer Künste noch einen besonderen modernen Beigeschmack erhält.
Die Umgebung des Bodensees, des Schwäbischen Meers, das Land der Alemannen und die Heimath so vieler Scheffelscher Musengestalten, bildet den Schauplatz für diese Komödie. Trotz des länderverbindenden Charakters, der diese Seegestade zum Mittelpunkt eines lebhaften Verkehrs zwischen Süd und Nord, Gebirg und Ebene macht, haben sich mit den alten Trachten, Gebräuchen und Sitten auch die Sagen der Vorzeit dort länger und lebhafter als anderswo im Bewußtsein des Volks erhalten, und insbesondere gilt das für die ländliche Bevölkerung der kleinen zerstreut liegenden Weiler und Einzelgehöfte, der sogenannten „Einöden“. Die Betrüger sowohl wie die Betrogenen gehörten diesen Kreisen an, und nur einer der letzteren, allerdings auch der am stärksten Geprellte, lebte als Städter von seinen Renten. Doch kommt für ihn mildernd in Betracht, daß er an periodischen Gliederschmerzen und damit verbundener Schlaflosigkeit litt, ein Zustand, in dem man bekanntlich dem Glauben an übernatürliche Kräste zugänglicher ist als bei gesundem Leib, wie dies die Praxis so manchen Wunderdoktors zur Genüge beweist.
Und übernatürliche Kräfte waren es, deren sich die Ehefrau des Tagelöhners Straub rühmte und deren angeblicher Besitz ihr nicht nur an ihrem Wohnort, den sie zu verschiedenen Malen wechselte, sondern auch noch auf einige Meilen im Umkreis eine so einträgliche Kundschaft, so reichliche Tribute an Lebensmitteln und Bargeld eintrug, daß sie sich um die gewöhnlichen Sorgen des irdischen Daseins nicht weiter zu kümmern brauchte, sondern ohne jede sonstige Arbeit jahrelang ein behagliches Wohlleben [79] führte und ohne die unbequeme Einmischung der Gerichte auch wohl noch lange weitergeführt hätte. Der Gatte dieser so hochbegabten Frau fristete indessen sein mühevolles Dasein durch schwere Handarbeit, die ihn oft auf Wochen vom Hause fernhielt, und es ist ihm außer der schier allzugroßen Fügsamkeit, mit der er das Los, der Mann einer berühmten Frau zu sein, über sich ergehen ließ, nichts nachgewiesen worden, was ihn einer bewußten Theilnahme an den Betrügereien der letzteren verdächtig machte. Er war eben ein Gläubiger wie die andern auch.
Nicht so ganz läßt sich dies von einem heruntergekommenen Handlungskommis Namens Marschall behaupten, der sich gewissermaßen als Zauberlehrling in den Dienst der Straub gestellt hatte, ohne in dieser Stellung von dem skeptischen Gericht anerkannt zu werden. Er nannte sich den „engagierten Korrespondenten unserer Walburga“ – auf diesen klangvollen Namen hörte die Zauberin – begleitete sie auf ihren Beschwörungsexpeditionen, warb neue Anhänger und bestätigte und verbreitete ihren Ruf mit allen Mitteln einer im Verhältniß zu anderen Leistungen dieser Art allerdings recht bescheidenen Reklame. Kurz, er war der Jason dieser Medea, ein umgekehrter Jason freilich, insofern er im Gegensatz zu seinem klassischen Vorbild Weib und Kind im Stich ließ, um sich ganz der Schwarzkünstlerin zuzuwenden. Daß die so Verlassene ihr Schicksal nicht nur geduldig ertrug, sondern sogar selbst eine treue Anhängerin der neuen Lehre wurde, ist vielleicht eine der stärksten Kraftproben, die der weibliche Aberglaube je siegreich bestanden hat.
Kommen wir nun zu den Mitteln, durch welche die Straub solche Macht auf die Gemüther ihrer Nebenmenschen ausübte, so überrascht uns zunächst deren Einfachheit, andererseits aber auch die von modernen Einflüssen nicht ganz freie Schlauheit, mit der die Betrügerin den naiv religiösen Sinn ihrer Opfer zugleich mit deren Habsucht in raffinierter Weise ausbeutete und so die edelsten wie die niedrigsten Triebe der Menschennatur in den Kreis ihrer Berechnungen zog. Die Straub besaß nämlich nach ihrer Angabe die Kraft, arme Seelen zu erlösen; dadurch wurden verborgene, von den einstigen Besitzern jener Seelen unrecht erworbene Schätze frei, die sodann ihr und allen, die sich an dem verdienstvollen Werke betheiligt hatten, zufielen. Bereits früher hatte sie diese Kraft an einem Bischof, dem sie bescheidenerweise ihren eigenen Familiennamen beilegte, mit solchem Erfolge erprobt, daß ihr der von jahrhundertelanger Qual Erlöste nunmehr zum Dank bei allen ihren Unternehmungen mit Rath und That zu Diensten war, sie über alle überirdischen Vorgänge, speziell die Ankunft erlösungsbedürftiger Seelen und den Aufbewahrungsort ihrer unterirdischen Depots auf dem Laufenden erhielt und ihr im Kampf mit den Teufeln, die jene bewachten, beistand. Aber auch aus eigener Kraft war sie imstande, die Seelen Verstorbener zu beschwören, um sich von ihnen Auskunft über alles Wissenswerthe in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ertheilen zu lassen. Diese Mittheilungen aus der Geisterwelt erhielt sie durch sogenannte „Ewigkeitsbriefe“, die sie selbst unter höherer Eingebung schrieb und von denen, trotz des strengen Verbots sofortiger Vernichtung, noch einige Exemplare für den Gerichtstisch beigebracht werden konnten. Dieselben enthielten Mahnungen an die Gläubigen zu treuem Ausharren, Warnung vor falschen, der Betrügerin nachtheiligen Gerüchten und Widerlegung derselben mit starken Ausfällen gegen die vermuthlichen Urheber und endlich Versprechungen reichen, zehn- und hundertfachen Ersatzes für alle dem guten Werk gewidmeten Beiträge, welche die Straub nie direkt, sondern stets nur auf diesem Weg eintrieb. Bei der Abfassung dieser Briefe, welche meist in Gegenwart der Adressaten stattfand, verfuhr sie folgendermaßen: sie legte ein unbeschriebenes Blatt Papier auf den Tisch, betete über demselben und besprengte es so lange mit Weihwasser, bis das Papier unter ihrer Hand sich bewegte, worauf sie, angeblich unbewußt von diesen Bewegungen geleitet, mit dem Bleistift in krausen Zügen niederschrieb, was ihr die Geister mitzutheilen hatten.
Dieser Vorgang zeigt eine überraschende Aehnlichkeit mit gewissen spiritistischen Experimenten, wie sie die Herren Slade und Genossen ihrem Publikum vorführten, wie denn auch die so entstandenen Schriftstücke vom orthographischen und grammatikalischen Standpunkt dieselbe naive Unbeholfenheit aufweisen, durch die sich die auf spiritistischem Weg gewonnenen Kundgebungen aus der Geisterwelt oder der vierten Dimension allgemein auszeichnen.
Wenn sich nun für letztere, trotz ihrer offenkundigen Mängel, eine Anzahl gläubiger Verehrer aus den Kreisen der sogenannten gebildeten Stände, ja selbst der Gelehrtenwelt gefunden hat und noch findet, so darf man sich kaum wundern, wenn der Eindruck dieser „Ewigkeitsbriefe“ auf die einfachen Landbewohner ein so großer und nachhaltiger war, daß er selbst vor Gericht nicht ganz überwunden werden konnte und die Angaben vieler Zeugen lähmend beeinflußte.
Die Schätze, um die es sich hier handelte, lagen an den verschiedensten Orten des politisch so vielgetheilten Seeufers, in Bayern, Württemberg, Baden, Oesterreich und der Schweiz zerstreut, meist klaftertief unter der Erde, und es bedurfte zu ihrer Hebung oft größerer Reisen, deren Kosten selbstverständlich die Gläubigen als eine Art Vorschuß zu tragen hatten. Die Straub führte ihre Anhänger zur Nachtzeit in Wälder und an einsame Kreuzwege, hieß sie dort niederknieen und beten, während sie selbst sich zum Kampf mit dem Teufel aufmachte, von dem sie stets mit zerzausten Kleidern und Haaren ganz erschöpft zurückkam, der aber immer ein wenn auch langsames Fortschreiten des Erlösungswerks und ein dementsprechendes Steigen des Schatzes bedeutete. Furchtbar waren die Gefahren, die sie da zu bestehen hatte. So wurde sie einmal, nach ihrem eigenen Bericht, von dem Teufel in eine Höhle geschleppt und dort auf eine Art Metzgerbank gelegt, worauf mindestens 150 andere Teufel mit aufgekrempelten Aermeln auf sie zustürzten, als ob sie an ihr jenes Opfer vollziehen wollten, dem man sonst an ländlichen Fest- und Kirchweihtagen nur friedliche Hausthiere, wenn sie einen gewissen Nährungsgrad erreicht haben, auszusetzen pflegt.
Soweit ließ es indeß der „himmlische Bischof“ nicht kommen, der im Augenblick der höchsten Noth plötzlich auftauchte und die feigen Teufel in die Flucht schlug. Solchen Berichten lauschten die Anhänger schreckensbleich mit gesträubten Haaren, und obwohl sie von dem Schatz selbst, um den solch heroischer Kampf geführt wurde, nie etwas zu sehen bekamen, gingen sie doch stets neugestärkt in ihrem Glauben von dannen.
Mit der Sichtbarkeit dieser Schätze hatte es überhaupt eine eigenthümliche Bewandtniß. Sie erschienen, wenn sie überhaupt erschienen, zunächst – und hier zeigt sich ein fast rührender Anklang an das alte Volksmärchen – in Gestalt von Papierschnitzeln, Asche, Erde und verwandelten sich erst später, wenn die Seelen völlig erlöst waren, in richtiges, „pures Gold“.
Daher mußte das Erlösungswerk auch zu Haus wacker fortgesetzt werden, und dies geschah durch das sogenannte „strenge Leben“, zu dem die Meisterin ihre Gemeinde von Zeit zu Zeit zusammenberief.
Diese Versammlungen fanden meist im Keller bei brennenden Kerzen statt und wurden unter Fasten und Beten drei Tage lang fortgesetzt. Die Theilnehmer mußten frische Kleider und Wäsche anziehen, sie durften weder miteinander sprechen, noch sich gegenseitig ansehen, und wenn der sogenannte „Abwart“ die aus Wasser und Brot bestehende Fastenkost brachte, hatten sie hinter eine aufgespannte Leinwand zu treten, um von ihm nicht gesehen zu werden. Auf dieser Leinwand zeigten sich der Straub geheimnißvolle Erscheinungen, die den anderen unsichtbar blieben. Zum Ersatz wurden diese dann wieder, und zwar stets in Abwesenheit der Meisterin, durch Besuche des Teufels erschreckt, welcher als ungebetener Gast in den verschiedensten Gestalten, bald als feuerspeiender Hund, bald als auf den Hinterbeinen gehender Geißbock mit vielen Schwänzchen am Leib, in der Versammlung erschien und sich seiner Gewohnheit gemäß höchst unflätig aufführte. Auf dem Boden war ein Tuch ausgebreitet, auf dem der Schatz erscheinen sollte, und alle Theilnehmer hielten auf ihrer Brust Tücher bereit, um ihn auf einen Wink der Meisterin damit zu bedecken. Leider blieb aber gerade diese von allen mit großer Spannung erwartete Erscheinung stets aus, das Werk war eben noch nicht vollendet, es fehlte immer noch etwas. Nach dem „strengen Leben“ folgte regelmäßig das lustige, wobei man gemeinsam schmauste und zechte.
Um ihr Ansehen bei der Gemeinde zu erhöhen, rühmte sich die Straub neben ihren Beziehungen zur Geisterwelt auch solcher zu hohen Persönlichkeiten, insbesondere zu Mitgliedern der bayerischen Königsfamilie, an die sie „ihr Bischof“ empfohlen habe, damit sie die Krankheit des Königs heile. Um diese Angabe glaubhafter zu machen, veranlaßte sie einen ihrer Anhänger, sie auf einer [80] Fahrt nach Wasserburg zu begleiten, wo sie von einem Diener der Königin-Mutter mit einer Botschaft erwartet werde. Das selbstverständliche Ausbleiben dieses Dieners wurde durch einen „Ewigkeitsbrief“ erklärt, den sie dem Begleiter ins Notizbuch schrieb, und um diesem jeden Rest eines Zweifels zu benehmen, gab sie später in Lindau einen eingeschriebenen Brief „An Ihre Königliche Hoheit, Maria Theresia in München“ zur Post. Der vorgezeigte Postschein überzeugte denn auch ihren Begleiter so völlig, daß er freudig das Porto und die Reisespesen bezahlte und fürder nie mehr den geringsten Zweifel in die hohen Bekanntschaften der Straub setzte.
Das Stärkste jedoch, was diese in frecher Ausbeutung der Leichtgläubigkeit ihrer Opfer leistete, waren die sogenannten „Teufelsverblendungen“, eine Erfindung, durch welche sie auch jenen, welche durch bloße überirdische Zurede zu keiner oder doch nur zu einer unzulänglichen Gabe zu bewegen waren, das Geld jederzeit nach Belieben aus dem Kasten stahl, ohne je den Verdacht der so Bestohlenen auf sich zu lenken, indem sie die That einfach dem Teufel zuschob, der das Geld „geblendet“, d. h. unsichtbar gemacht habe; dasselbe, so prophezeite sie, werde nach einiger Zeit wiedererscheinen, eine Prophezeiung, die leider nie eintraf.
Ja sie ging soweit, solche teuflische Tücken sogar für einige Zeit vorherzusagen und die bedrohten Truhen und Schränke zu weihen, ein Schutzmittel, das sich gleichfalls erfolglos erwies. Den Höhepunkt erreichte ihre Seherkraft jedoch, wenn sie derartige Verluste den Betroffenen ankündigte, ehe diese sie überhaupt noch bemerkt hatten. Mit Recht mischte sich in solchem Fall in den Schmerz der Bestohlenen ein Gefühl andächtiger Bewunderung für die rückwärtsblickende Prophetin, die sich bei ihren Angaben auch nie um eines Pfennigs Werth getäuscht hatte.
Die Einnahmen, welche sich die Betrügerin auf diesem Weg
zu verschaffen wußte, beliefen sich, ungerechnet den Werth der
regelmäßig gelieferten Naturalien, Kleider, Wäsche und
Hausgeräthe, sowie das auf Reisen verbrauchte Geld, auf viele hundert
Mark, eine Summe, die, wenn man die Dürftigkeit der Beschädigten
in Betracht zieht, immerhin nicht unbedeutend ist. Außerdem
befand sie sich im Besitz einer Schuldverschreibung über 4000 Mark,
die ihr der Eingangs erwähnte Rheumatiker zum Zweck eines
Hauskaufs unter der Bedingung verschrieben hatte, daß sie ihm
auch fernerhin und bis zu seinem Tod mit ihrer wunderthätigen
Kraft beistehe. Die Unanfechtbarkeit dieser Forderung hat der
von seinem Gliederschmerz offenbar noch nicht Geheilte vor Gericht
ausdrücklich anerkannt, obgleich die daran geknüpfte Bedingung
zunächst wenigstens für einige Zeit unerfüllt bleiben dürfte. Denn
der Gerichtshof war grausam genug, die Prophetin sammt ihrem
Agenten, trotz der von beiden behaupteten bona fides, d. h. trotz
der Ausrede, es sei ihnen mit der Sache vollkommen Ernst
gewesen und sie hätten nichts Böses dabei gedacht, trotz der durch
die Befangenheit einzelner Zeugen erschwerten Beweisaufnahme
zu einer längeren Gefängnißstrafe zu verurtheilen und die
Vollendung des begonnenen Erlösungswerks so vieler armer
Seelen zum großen Schmerz der betrogenen, aber in ihrem
Glauben keineswegs erschütterten Schatzgräber wieder um eine
geraume Zeit hinauszuschieben. C. Hecker.
Ein deutscher Volksschauspieler.
Der Jahrhunderte alte Ruhm des volksthümlichen Theaters in Wien ist dem glücklichen Zusammenwirken empfänglicher Zuschauer, berufener Dichter und geistesverwandter Darsteller zu danken. Der erste, weitberühmte Wiener „Hanswurst“, Stranitzky, legte sich selbst die Possenrollen zurecht, in welchen er seine Zeitgenossen entzückte. Und zwei Beherrscher der Wiener Volksbühne in unserem Jahrhundert, Raimund und Nestroy, verstanden es, gleichzeitig als Autoren und Darsteller die Herzen ihrer Landsleute zu gewinnen. Der geniale Volksdramatiker Neu-Oesterreichs, Ludwig Anzengruber, hätte ebenfalls seine Gestalten am liebsten selbst auf der Bühne vergegenwärtigt. Von seinem 20. bis 25. Lebensjahre versuchte er sich als Schauspieler unter Widerwärtigkeiten, die er in der Plauderei „Eine Erholungsreise“ wehmüthig und erschütternd geschildert hat. Blieb es ihm aber auch versagt, als Musterdarsteller seines Wurzelsepp, Meineidbauer, Steinklopferhanns so siegreich hervorzutreten, wie das Ferdinand Raimund als Valentin, Wurzel und Rappelkopf gelang, so war ihm dafür das Glück beschieden, in Ludwig Martinelli einen Mann ganz nach seinem Herzen zu finden, der seine Charaktere so schlicht, wahrhaftig und künstlerisch vollendet spielte, daß der Poet wiederholt erklärte, glaubhafter und überzeugender hätte er selbst seine Gestalten nicht veranschaulichen können.
Martinelli, geb. 9. August 1833 zu Linz, ist der Sohn eines tüchtigen Dekorationsmalers und einer begabten Schauspielerin. Der Geist des Vaters äußerte sich schon in Zeichenversuchen des fünfjährigen Sohnes; kein Wunder, daß die Eltern den Jungen für einen geborenen Maler hielten! Sie schickten den Knaben nach Wien an die Malerschule Waldmüllers; indessen nach dem vorzeitigen Tode des Vaters mußten diese Studien abgebrochen werden. Als Neunzehnjähriger kam Martinelli zum Innsbrucker Direktor Lippert als Dekorationsmaler. Und hier „gefiel sich der Zufall, bekanntlich der beste Polizist, in der Rolle des Notarius, die ihm mit einmal die Erbschaft des mütterlichen Talentes aushändigte und ihn zum Schauspieler machte.“ Mit anderen Musensöhnen kneipte Martinelli allabendlich in einem Künstlerkränzchen; als sich nun eines Abends in der Weinstube ein friedlicher Streit um den Vorrang der Künste erhob, bekämpfte der junge Dekorationsmaler die Meinung der Schauspieler, daß ihr Beruf der schwerste sei; ja er blieb nicht dabei stehen, sondern wettete zehn Flaschen Tiroler Rothen, innerhalb einer Woche den Beweis dafür erbringen zu wollen, daß die Schauspielerei die am leichtesten zu bewältigende aller Künste sei. Der Handel galt. Nach acht Tagen spielte Martinelli auf der Innsbrucker Bühne den Tratschmirl im „Tritsch-Tratsch“, einer damals beliebten Posse von Nestroy, und zwar mit durchschlagendem Erfolg. Tags darauf lud er die Kameraden, die gegen ihn gewettet hatten, in sein Atelier. Da lag der halbausgeführte Prospekt einer Gartendekoration, Farbentöpfe, Pinsel, Palette waren zur Stelle. „So, jetzt malt!“ Keine Frage: Martinelli hatte seine Wette gewonnen und mit ihr – seinen eigentlichen Lebensberuf. Es trieb ihn unwiderstehlich zur Kunst der Mutter; das Erbe des Vaters aber, seine malerische Begabung, stellte er fortan in den Dienst seiner außerordentlichen Fähigkeit, Trachten, Charakterköpfe und Bühnenbilder mit seinem Geschmack zu vergegenwärtigen.
Wie ein fahrender Schüler, in weiten Pumphosen, großem Kalabreserhut, Joppe ohne Weste, den Stock in der Hand, den Rucksack aus dem Rücken, wanderte er zunächst nach München, wohin der Innsbrucker Souffleur ihn empfohlen hatte. Als er sich in seinem etwas absonderlichen Aufzug dem Direktor des Vorstadttheaters in der Au vorstellte, hielt ihn dieser eher für einen Gymnastiker, Hundedresseur oder Feuerfresser als für einen Mimen; indessen als vorsichtiger Geschäftsmann, der gelegentlich wohl auch einen „Artisten“ brauchen kann, fragte er Martinelli: „Alsdann, was arbeiten Sie eigentlich?“ Nun erwies unser junger Freund die Eigenart seiner Arbeitskraft in den Jahren 1857-60 in München so nachdrücklich, daß er für die nächsten vier Jahre als Charakterkomiker, Regisseur und Geschäftsleiter an das Große Theater nach Amsterdam geladen wurde. In seinen Mußestunden malte er dort gute Aquarelle, Architektur- und Grachten-Veduten; sein Entwurf zur inneren Dekoration des „Palais voor Volksflit“ wurde mit dem ersten Preis gekrönt. So schien seine Laufbahn in schönstem Ansteigen begriffen, als er schwer krank, stimmkrank wurde; sein Organ nahm argen Schaden, und erst nach Monaten konnte er wieder eine Anstellung bei Direktor Kreidig in Graz antreten. Neun Jahre lang blieb er in der Murstadt, nicht nur als erklärter Liebling aller Zuschauer, sondern auch als Freund und Führer aller Genossen; er erwarb sich einen solch hochgeachteten Namen, daß Laube ihn an das Burgtheater berief. Freilich konnte er, durch ältere Verpflichtungen gebunden, dieser Ladung damals nicht sofort entsprechen, und nach Laubes Sturz kam die Sache nicht weiter zur Sprache.
Die Verehrer des Volksschauspiels werden diese Wendung der Dinge nicht beklagen. Als Charakterdarsteller im hochdeutschen Schauspiel hätte Martinelli viele neben, manche über sich gehabt. Im mundartlichen Volksschauspiel war und ist er schlechtweg einzig und unvergleichlich. Seiner italienischen Abstammung dankt er, wie Girardi, die angeborene Beweglichkeit und Geschmeidigkeit, seinen Lehrjahren als Maler eine Technik der Maske, die er, von der Natur mit einem Charakterkopf von seltener Ausdrucksfähigkeit beschenkt, unablässig geübt und vervollkommnet hat. Ueber seiner jahrzehntelangen Thätigkeit als Komiker der größten Theater Deutschösterreichs hat er den steten, lebendigen Verkehr mit dem Volke niemals vernachlässigt. Martinelli kennt das Leben der Aelpler, der Köhler und Wegmacher, der Jäger und Pascher aus eigener scharfer Beobachtung so gut wie Rosegger. Und zu all diesen Gaben, Beobachtungen und Studien der Natur gesellt sich eine große Gewissenhaftigkeit, die nur der Wahrhaftigkeit nachstrebt und jede unbewußte Selbstgefälligkeit, geschweige ein bewußtes Buhlen um Beifall, stolz, fast trotzig abweist. Martinelli stimmt z. B. die Liedeln des Steinklopferhanns genau so an wie ein alter Mann im Wirthshaus das thun würde: er singt mehr in sich hinein als zur Zuschauermenge heraus, immer nur auf des Dichters Absicht, nie auf das Klatschen der Leute im Publikum bedacht.
Solche Anlage und solche Auffassung mußten ihm vor allem als Anzengruber-Darsteller zugute kommen. So unübertroffen Martinelli in Nestroys satirischen und Raimunds gemüthlichen Wiener Charakteren, so trefflich er als lustiger Patron, als Schwätzer und Spötter, als Biedermann und Ränkeschmied in den älteren Lokalstücken sich bewährte: sein Eigenstes und Bestes brachte er doch als Meineidbauer, als Steinklopferhanns, als Grillhofer (im „G'wissenswurm“), als Hubmayr (im „Fleck auf der Ehr’“). Wenn
[81][82] man jeden echten Schauspieler mit Recht den „beeideten Dolmetsch des Dichters“ genannt hat, dann darf Martinelli in Wahrheit diesen Ehrennamen als Anzengruber-Darsteller in Anspruch nehmen. Jeder Feinheit des Textes, den verborgensten Charakterzügen der Helden dieses Poeten ist er gerecht geworden; schöpferisch hat er die Charaktere Anzengrubers nachgelebt und für die Beichte des gleisnerischen Bauern-Tartuffe ebenso überzeugende Töne gefunden wie für die verwegene Gaunersophistik des Gewohnheitsdiebes Hubmayr; seine Verkündigung der „extraigen Offenbarung“ des Steinklopferhanns ist so getreu wiedergegeben wie die Meistergestalt des alten Brenninger in den „Kreuzelschreibern“.
Je bedeutender Martinelli sich aber als Anzengruber-Darsteller hervorthat, desto weniger Lust hatten die Wiener Operettengewaltigen der siebziger und achtziger Jahre, den trefflichen Volksschauspieler, so siegreich er sich auch beim Publikum eingeführt hatte, in ihren Theatern zu beschäftigen. Von 1876 ab wirkte Martinelli über ein Jahrzehnt in Prag, sehr verdienstlich auch im klassischen Schauspiel; die letzten Zeiten vor Eröffnung des Deutschen Volkstheaters zu Wien mußte er, da er mit der Neugestaltung der Dinge im Theaterwesen an der Moldau unzufrieden war, mit Gastspielen sich durchschlagen. Das Unrecht, das Martinelli solcherart widerfuhr, ist durch die überragende Stellung, welche er gegenwärtig im Wiener Theaterleben als ausübender und leitender Künstler einnimmt, theilweise gesühnt. Er ist heute unbestritten der erste Charakter-Darsteller unter den Wiener Volksschauspielern. Dem Kenner hat die zeitweilige, unbillige Verdunkelung von Martinellis äußeren Geschicken den Blick für seine Originalität eher geschärft als umschleiert. „Das auch für den lässigsten Theaterbesucher Auffälligste an diesem Künstler ist,“ nach Anzengrubers Wort, „dessen Vielseitigkeit. Und mit seiner Vielseitigkeit hält sein Talent und seine Kraft immer so weit Schritt, daß selbst noch seine schwächsten Leistungen jene der sogenannten ‚verwendbaren‘ Schauspieler, die nie etwas verderben, hoch überragen. Diese überlegene Vielseitigkeit zeigt, daß wir es mit einem denkenden Schauspieler zu thun haben; das allein würde schon einen Erfolg in bescheidener Sphäre erklären, aber einen großen, nachhaltigen Erfolg erklärt es nicht; dieser liegt in der eigenartigen Begabung Martinellis. Er hat ein sogenanntes schneidiges Talent, er faßt stramm und ehrlich zu; auch wo er fehlgreift, ist der Griff ein ehrlicher, und was er erfaßt, damit befaßt er sich auch, er weiß, daß das Durchdringen, das Bewältigen der Aufgabe der Gestaltung derselben voraufgehen muß. Er vergißt es nie und nimmer, daß der Schauspieler Künstler zu sein hat. Er kann den Weg, den er von seinem Ausgangspunkt bis auf den heutigen Tag zurücklegte, mit Genugthuung überblicken, er verfolgt mit ernstem Wollen und redlichem Streben die offene gerade Straße, die zur verdienten Anerkennung führt; möge es ihm noch lange vergönnt sein, auf derselben rüstig auszuschreiten!“
Seitdem Anzengruber diese Worte und Wünsche niedergeschrieben, hat Martinelli den nie verwundenen Schmerz erlitten, daß ihm sein Lebensfreund und Lieblingsdichter vorzeitig durch den Tod entrückt wurde. Mit womöglich noch erhöhtem Eifer setzte er nun aber neuerdings seine ganze reiche Kraft daran, das Vermächtniß des großen Volksdramatikers der Gesammtheit unverkürzt zu überantworten. Als Schauspieler und Regisseur gab er rastlos sein Bestes für Anzengruber. Seine Inscenierung des „Vierten Gebot“ hat das Ihrige beigetragen zu den Ehren, welche – allerdings erst nach dem Tode des Dichters – diesem mächtigsten Wiener Volksstück im Deutschen Volkstheater bereitet wurden. Martinellis Bühnenbilder in Anzengrubers Bauern- und Wiener Komödien werden von jedem folgenden Dramaturgen so sorgsam festgehalten werden müssen, wie seine schauspielerischen Leistungen jedem kommenden Anzengruber-Darsteller als Muster voranleuchten sollten. Und so lange man nach dem Wiener Volksschauspiel unseres Jahrhunderts, so lange man nach Anzengruber fragen wird, wird man darum auch Ludwig Martinellis in Ehren gedenken.Alle Rechte vorbehalten
Deutsche Städtebilder.
Eine „fürstliche Witwe“ hatte ich die Stadt Wismar nennen hören, welche, einst eine der vornehmsten der Hansa, noch manche Reste des Glanzes und Reichthums in ihr wohlbestelltes Altentheil hinübergerettet hat. Stolz und fürstlich erschien Wismar auch mir, als ich es, aus dem Binnenlande kommend, von einer Höhe herab zum ersten Mal erblickte. Ueber der weiten Mulde, in welche die alte Seestadt traulich eingebettet ist, über der Meeresbucht, zu der sie sich hinabzieht, lag noch der dichte Nebel eines Herbstmorgens ausgebreitet. Aus seinen wolkigen Massen starrten anfangs nur zwei ungeheure stumpfe Säulen in den Himmel hinein, die viereckigen gewaltigen Thürme der Nikolai- und der Marienkirche. Allmählich aber zertheilte sich der Dunst; die beiden rothen Kirchenkolosse tauchten in ihrem ganzen wuchtigen Umfang empor; zwischen ihnen dehnten sich, eng aneinander geschmiegt, die Dächer der Stadt.
Die Nikolai- und die Marienkirche, zusammen mit der thurmlosen, aber in riesigen Verhältnissen erbauten Georgenkirche, verleihen dem Bilde Wismars das Gepräge des Monumentalen. Sie sind die Wahrzeichen einer bedeutenden reichen Vergangenheit, sie geben noch der Gegenwart einen Schimmer von Größe. Bei hellem Sonnenlicht leuchten die großen Ziegelbauten mit ihrem kräftigen Roth weit ins Land hinein, ein dichter grüner Kranz von Gärten und Alleen umzieht sie, und vor ihnen dehnt sich die Bucht in feuchtschimmerndem Blau. Der figurenreiche Schmuck gebrannter Ziegel glitzert dem Ankömmling von den Portalen und Giebeln der Gotteshäuser entgegen, durch die schmalen, schlank emporschießenden Fenster der hohen Mittelschiffe schimmert das Tageslicht in klarem Hellgrün aus der rothen Mauerumgebung.
Doch nicht nur die Kirchen mit ihrem eigenartigen Formenreichthum sind geeignet, das Auge des Fremden zu fesseln: ganz Wismar ist ein großes Museum. Vor allem enthält das Marienviertel ein seltenes Beieinander alter anziehender Bauwerke. [83] Eigenthümlich muthet hier alles den Besucher an, er tritt in eine Scenerie, wie sie etwa für Straße und Kirchplatz in Goethes „Faust“ nicht besser ersonnen werden könnte. Um den altehrwürdigen Dom her reihen sich das Archidiakonathaus mit seinem Steinaltan, das mauerumgebene Pfarrgehöft, die alte, jetzt als Alterthumsmuseum verwendete Schule, hübsche, behaglich dreinschauende gothische Bauten mit bunten Ziegelwänden und mancherlei Zierrath, so wiederhergestellt, daß man das Alte vom Neuen nicht unterscheiden kann.
An den Kirchhof schließt sich der „Fürstenhof“. So heißt der Bereich des früheren Residenzschlosses der Fürsten und späteren Herzöge von Mecklenburg, die als Inhaber der Oberhoheit zeitweilig ihren Aufenthalt in der Hansestadt Wismar nahmen. Im vierzehnten Jahrhundert erstand der erste Bau; Gabriel van Aken schuf dann in den Jahren 1553 bis 1554 den sogenannten „Neuen Hof“, indem er einen Flügel des Schlosses in schönerer Gestalt wieder aufführte. Die Jahrhunderte gingen an diesem Kunstwerk der Ziegelbautechnik nicht spurlos vorüber, und so ließ Großherzog Friedrich Franz II. den „Neuen Hof“ unter Wahrung des alten Charakters gründlich restaurieren. Der Bau ist in florentinischem Stil gehalten, in vornehmer Regelmäßigkeit schmücken erhabene Bildwerke aus gebranntem Thon, die man „gedruckte Steine“ nannte, die Wände und Portale. Biblische Darstellungen, die Porträts mecklenburgischer Fürsten und Scenen aus dem trojanischen Krieg wechseln mit einander ab. Eine auffallende Aehnlichkeit mit den Formen des Fürstenhofs zeigt die neue Bauakademie in Berlin, und in der That soll deren Erbauer – Schinkel – den Plan zu seinem Werke dem Fürstenhof entlehnt haben.
Noch manches andre beachtenswerthe Denkmal vergangener Zeiten ließe sich hier im Marienviertel anführen, wo nur die Menschen in mittelalterlicher Tracht fehlen, um uns ganz in frühere Jahrhunderte zurückzuversetzen. Die übrigen Theile der Stadt enthalten kunstvolle alte Bauten nur vereinzelt, unter moderne Gebäude zerstreut. Neben dem Wasserthor, den Thürmen der Stadtmauer, schönen Giebelhäusern wie dem Wädekinschen Gasthof und dem Kochschen Brauhaus ist vor allem der „Alte Schwede“ als ein vorzügliches Werk des gothischen Stils zu nennen. Der prächtige Bau ist in unserer nüchternen Zeit ein Wirthshaus geworden, und wenn wir über den Markt hinüber wandern, so können wir uns dort bei einer mecklenburgischen „kalten Küche“, bei welcher die berühmten Wismarischen „Krabben“ nicht fehlen dürfen, von unseren mittelalterlichen Träumen erholen.
Inmitten einer stattlichen Häuserreihe an der breiten „Leiste“, wie man in Wismar mit gut deutschem Ausdruck das „Trottoir“ nennt, springt der schmucke Bau dem Beschauer sofort in die Augen. Er zeichnet sich aus durch die zierlichen [84] Verhältnisse seines Treppengiebels, der durch flache graue Spitzbogenblenden mit einer hübschen Umrahmung glänzender runder Ziegel einen anziehenden Schmuck erhält. Auch das Innere des Hauses birgt Merkwürdigkeiten, so einige moderne Wandgemälde, welche die Streiche Till Eulenspiegels zum Gegenstand haben, und ein Bild der festen Stadt Wismar vom Jahre 1550. Die eigentlichen „alten Schweden“ aber, welche Wismar aufzuweisen hat, hausen nicht hier, sie stehen als Erinnerungszeichen aus der Schwedenzeit draußen im Hafen – Strompfähle, schwarze hochragende Gestelle, welche die Einfahrt in den Hafen bezeichnen helfen, und mit buntbemalten, helmbedeckten martialischen Schwedenköpfen aus Holz versehen sind, die noch wirklich aus der Schwedenzeit stammen sollen.
Das Haus zum „Alten Schweden“ wurde früher auch als die Wohnung des Wollenwebers Klaus Jesup betrachtet, der dort in heimlichen Versammlungen die Auflehnung der Bürgerschaft gegen den Rath heraufbeschworen haben sollte. Indeß geschah dies an einer andern Stelle. Der Aufruhr aber bedeutet einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte Wismars. Mit ihm beginnt, allerdings unter Mitwirkung anderer Umstände, der allmähliche Niedergang der Handelsstadt, die bis in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts hinein so mächtig aufgeblüht war. Denn mit Lübeck, Rostock, Stralsund, Greifswald und Lüneburg bildete sie den Kern des wendischen Zweiges des großen hansischen Städtebundes.
Schon vor 1200 gab es ostwärts vom jetzigen ein wendisches Wismar, bis um 1230 beim Eindringen der germanischen Kultur Kaufleute aus Westfalen kamen und hier gute Handelsgelegenheit fanden. Sie gründeten das neue Wismar nahe bei der Mündung des fließenden Gewässers, das man jetzt den „Landgraben“ oder auch wohl den „Wallensteingraben“ nennt, weil Wallenstein als Herzog von Mecklenburg das Gewässer zur Verbindung des Schweriner Sees mit der Ostsee benutzen wollte. Wismar blühte nun schnell empor, hauptsächlich infolge seiner wachsenden Handelsbeziehungen nach dem Norden, dann auch, weil die obotritischen Fürsten, welche bis dahin auf der nahen Burg „Mecklenburg“ gehaust hatten, ihren Sitz in die Stadt verlegten und deren Gedeihen durch Verleihung von Gerechtsamen und durch mannigfache Schenkungen reichlich unterstützten. So erhob sich Wismar, wenn es auch niemals reichsunmittelbar wurde, zu fast gleicher Selbständigkeit wie Lübeck.
Im Ausgang des 14. und zu Anfang des 15. Jahrhunderts erreichte es den Gipfel seiner Macht. Es führte im Verein mit Lübeck siegreiche Kriege gegen die nordischen Reiche, war ein Hauptdurchgangspunkt für den Handelsverkehr des Südens mit dem Norden und fragte nicht mehr viel nach den Fürsten von Mecklenburg. Traten Fehden und Zwistigkeiten mit diesen ein, so wußte sich das starke Gemeinwesen erfolgreich zu behaupten und in den verschiedenen Friedensverträgen immer neue Vorrechte und Besitzungen für sich herauszuschlagen, wenn auch die Oberhoheit der Herzöge nicht ganz abgeschüttelt werden konnte. Bei diesem Stand der Dinge mußte den Fürsten nichts willkommener sein als innere Parteiungen in der widerspenstigen Stadt. Die Quelle dafür bildete der Gegensatz zwischen dem herrschenden Patriziat und den Bürgern. Zwar bestand in Wismar keine Patrizierherrschaft von ähnlicher strenger Abgeschlossenheit wie in der Stadt der „Zirkelbrüder“, in Lübeck, aber der Rath ging auch hier nur aus den vornehmen Geschlechtern hervor und vermied es nicht, zu Gunsten des eigenen Vortheils zu handeln, die Bürger durch Hochmuth zu kränken und dadurch manchen Anstoß zu erregen. Endlich war die Geduld der Bürger zu Ende, der große Kampf der Klassen brach aus, unter Jesups Anführung. Der Rathsherr von Haren und der Bürgermeister Bantzkow wurden auf dem Markte hingerichtet, und noch wird der Stein gezeigt, auf welchem ihr Haupt gefallen sein soll. Klaus Jesup aber triumphierte an der Spitze der Bürger und spielte eine Zeit lang den Bürgermeister. Dann schritten auf Befehl des Kaisers Lübeck und Mecklenburg ein und stellten die alte Ordnung wieder her.
Nach dieser Zeit der Unruhen zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde es friedlicher, allein auch der Verkehr ward stiller. Der Handel nahm andere Wege, der Einfluß der Landesfürsten stieg in demselben Maße, in welchem des Kaisers Gewalt sich verringerte, und so schritt die Stadt seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ihrem Niedergange entgegen. Dieser wurde dann hundertfünfzig Jahre später vollendet, als durch den Dreißigjährigen Krieg die Schwedenherrschaft Platz griff. Wismar war von jetzt an fast nur noch eine schwedische Soldatenstadt, wurde in die schwedischen Kriegsunruhen verwickelt und mußte zusehen, wie die Handelseinkünfte bis auf einen unbedeutenden Rest herabsanken, da namentlich der Kleinhandel durch die Abtrennung vom Lande Mecklenburg äußerst beschränkt wurde. Der Bürger blieb darauf angewiesen, von der schwedischen Besatzung der Festung zu leben.
Mit aller Anstrengung hatte Schweden von 1681 bis 1711 an der Befestigung gearbeitet, nachdem die Stadt 1675 einmal von den Dänen genommen, aber bald wieder zurückgegeben worden war; doch schon 1718 wurden nach einer erfolgreichen Belagerung durch die Dänen, Preußen und Hannoveraner die Festungswerke geschleift. Schweden, das inzwischen seine Stellung als Großmacht verloren hatte, zeigte jetzt noch weniger Interesse für die fremde Stadt, die bis 1803 unter seiner Oberhoheit verblieb. In diesem Jahre verkaufte das arme Schweden die ganze Herrschaft Wismar für 1 250 000 Thaler Hamburger Banco an Mecklenburg-Schwerin, allerdings unter dem Vorbehalt, nach 100 oder höchstens 200 Jahren die Stadt um die gleiche Summe unter Zuschlag von drei Prozent Zinseszins zurückkaufen zu können. Allein dieser Fall dürfte nie eintreten, denn im Jahre 1903 würde der Kaufschilling rund 100, im Jahre rund 2000 Millionen Mark betragen.
Wir haben uns inzwischen erlaubt, Wismar als „deutsche“ Stadt in Anspruch zu nehmen und sein Bild unsern „deutschen Städtebildern“ einzureihen.
[85] Inmitten ihrer wechselnden Geschicke hat sich die Stadt eines getreulich bewahrt, die unabhängige Verwaltung innerhalb ihres Gebietes. Sie hat dies vermocht infolge ihrer reichen Besitzungen, die ihr auch in schlechten Zeiten eine sichere Einnahmequelle waren und die es jetzt mehr als je geworden sind. Neuerdings ist zum Wohl und besseren Gedeihen der Stadt, die heute über 17 000 Einwohner zählt, manches geschehen, ein größerer Zug im geschäftlichen Leben ist zu bemerken. Der Kleinhandel in der Landumgebung hat sich wieder umfangreich gestaltet, und wenn dem Großhandel auch noch bessere Verkehrswege ins Inland fehlen, so hat sich doch der Güterhandel in ansehnlichem Maße vermehrt. Korn, Vieh, Holz, Kohlen und Ziegelsteine aus den zahlreichen Ziegeleien der Umgebung bilden hauptsächlich die Gegenstände des Warenumsatzes; namentlich Kohlen, denn im gleichen Sinn, wie man sonst von „Eulen nach Athen tragen“ redet, sagt man in Mecklenburg „Kohlen nach Wismar fahren“.
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Der Zeitgeist im Hausstande.
Draußen im Saal entstand eine plötzliche Bewegung; alles drängte nach dem untern Ende, wo ein hoher Vorhang den Palmengarten abschloß. „Dort giebt es noch etwas!“ hörte man von allen Seiten. Auch Walters und der Medizinalrath standen auf und schlossen sich dem allgemeinen Strome an. Jetzt ging ein leises Wallen durch den Vorhang, eine sanfte Musik ertönte dahinter, und langsam schoben sich die beiden Flügel auseinander. Ein Ruf der Bewunderung begrüßte den unerwarteten Anblick.
Bis an die Decke hinauf erglänzte mit Hunderten von Glühlichtern ein riesiger Christbaum, dessen Zweige überall Rosenbüschel trugen, und unter dem Baume stand, über eine Gruppe schlafender Kinder gebeugt, der Christengel im weißen Gewand, einen leuchtenden Sternenkranz im Haar – Vilma. Nun richtete sie sich empor und die großen Augen strahlten selbst wie Sterne über die Menschen hin, während sie einfache kurze Verszeilen sprach, vom Baume der Barmherzigkeit, der hier blühe und von dem jeder sich ein Reislein mit heimnehmen solle, auf daß es bei ihm Wurzel schlage und Früchte bringe.
„Sie sieht doch ganz entzückend aus,“ flüsterte Hugo der Gattin zu. „Diese Glorie von blondem Haar um das reizende Gesicht, die wundervolle Gestalt – ich begreife nicht, wie Du sie immer nur pikant finden willst, sie ist geradezu die schönste von allen!“
Solche Anwandlungen von Begeisterung störte Emmy bei ihrem Gatten grundsätzlich nicht, sie gingen so am leichtesten vorüber.
„Sieh einmal dorthin!“ sagte sie, als nun der kurze Prolog beendigt war und unter brausendem Beifallsjubel der Engel sich wandte, die schönen Arme emporhob und mit Hilfe eines rasch aufgetauchten Knechtes Ruprecht die Rosen abzulösen begann. „Dort steht ja unser Francis und starrt wie ein Verzückter herüber! Aha, nun wird er lebendig!“
Der junge Amerikaner sah, daß einzelne sich dem Baum näherten und durch Vermittlung des Pelzmärtels, der bald den irdischen Handel mit himmlischen Rosen schwunghaft betrieb, in Besitz der Zweige kamen. Sofort stürzte auch er vor und bemühte sich angelegentlich, eine Rose unmittelbar aus der weißen Hand zu erhalten, die sie pflückte. Aber diese reichte die Blumen mit einer hoheitsvollen Bewegung an ihm vorüber dem Ruprecht hin, und eine Berührung von dessen rauher Tatze war alles, was Francis für seine drei Mark eintauschte.
Der kleine Auftritt hatte einen stillen Zuschauer; drüben unter den Palmen stand Thormann, sein Töchterlein an der Hand. Die Kleine hatte ihn so lange bestürmt, bis er sie hierhergebracht, er hatte nicht gerade ungern nachgegeben und fand nun die phantasievolle Scenerie dieses Bazars viel anziehender, als seine ernsthafte Seele geglaubt hatte. Er hatte Sigrid für schweres Geld Spielzeug und Bonbons in den Läden gekauft, war an der Bazarpost gewesen, wo er richtig auch für sich einen Brief fand, und hatte zu allerletzt noch – o Triumph! – Fridas Vase erworben, weil er die Malerei „wirklich künstlerisch“ fand. Im stillen bestimmte er sie zum Geschenk für seine Freundin Karoline Wiesner!
Und nun stand er hier und betrachtete, innerlich gefesselt, das schöne Mädchen, das ihm neulich schon im Atelier der Malerin [86] aufgefallen war. Sigrid drängte nach ihrer gewöhnlichen Weise, hinüberzugehen und ebenfalls Rosen zu holen; er war diese quälende Kinderstimme schon gewohnt wie einen körperlichen Zustand, dessen man nicht achtet, endlich aber kam ihm der Sinn ihrer Worte zum Bewußtsein und er lenkte auf den Christbaum zu. Diese unmittelbare Nähe der überirdischen Mächte flößte der kecken Kleinen doch einige Befangenheit ein, sie klammerte sich mit der einen Hand an den Papa und streckte die andere mit einem schüchternen „Bitte!“ nach den Rosen aus. Und siehe da, ehe noch Knecht Ruprecht zur Stelle war, griff der Engel über sich in den Baum, löste zwei der schönsten Rosen mit langen Rauschgoldfäden los und legte sie, holdselig lächelnd, in Sigrids Hand, ohne einen Blick seitwärts nach ihrem Begleiter zu richten.
„Papa!“ jubelte das Kind, während der Menschenstrom die beiden weiterführte, „der Engel hat sie mir selbst gegeben, sieh nur, wie wundervoll!“
Thormann nahm den Zweig in die Hand. „Wunderschön Liebling! Es ist uberhaupt sehr hübsch hier, wir wollen uns unter die Palmen setzen und den Anblick noch ein bißchen genießen!“
„Aber Eis dazu essen, Papa!“
„Auch das.“ Und während nun die Kleine essend und schwatzend ihrem Herzen Genüge that, blieben seine Augen gedankenvoll auf den flimmernden Christbaum gerichtet. Die Gestalten darunter verdeckte ihm die Menschenwand.
Endlich gedachte er des Briefes, den ihm die schöne Postmeisterin lachend mit der Forderung eines erklecklichen Portos entgegengeschwungen hatte, und holte ihn hervor. Dort im Gedränge hatte er ihn nicht öffnen können, es verlohnte auch schwerlich der Mühe, denn er hatte wohl bemerkt, daß die Briefe rasch je nach den Empfängern adressiert wurden. Irgend ein schlechter Witz ins allgemeine würde darin stehen. Er erbrach den Umschlag. Verse?! ...
Mit wachsendem Staunen las er:
„Es kommen Blätter, es kommen Blüthen –
Doch keinen Frühling erlebt mein Herz,
Ich sitze trauernd, ein Grab zu hüten,
Und um Cypressen schweift mein Schmerz. –
Die sanften Lüfte, fühl’, wie sie kosen!
Die hohen Sterne, sieh, wie sie glühn!
Der neue Sommer bringt neue Rosen
Und nur für einen soll keine blühn?“
Von wem konnte das kommen, wer sollte ihn hier erwartet haben? Er zerbrach sich vergebens den Kopf – am Ende war es doch nur ein Zufall, sie hatten wohl viele Verse in Bereitschaft da drinnen! und doch, und doch das traf so merkwürdig mit den Gedanken zusammen, die ihm auch hin und wieder kamen! Er fand kein Ende mit Ueberlegen und sah sinnend vor sich hin. – –
Eine Stunde später kehrte das Ehepaar Walter mit dem glücklich wiedergefundenen Francis heim.
„Nun, wie war es?“ fragte Emmy den jungen Mann, als sie zu Hause waren.
„O, entzückend!“ rief er begeistert. „Ich nie hätte geglaubt, daß könnte sein so schön in Deutschland.“
„Nun, warten Sie nur, es kommt noch besser! Aber jetzt zum Abendessen, das lange Herumstehen macht einen doch gehörig hungrig!“
Aus seinem Zimmer kam im gleichen Augenblick Hugo, eine namhaft verstaubte Bibel in der Hand, mit sehr enttäuschter Miene:
„Ich dachte wunder, was sie da auf mich gemünzt hätten. Das ist nun wirklich der Mühe werth!“
Und Emmy las die in dem Brief genannte Stelle:
„Wohl dem, der ein tugendsam Weib hat, des lebet er noch eins so lange. Ein häuslich Weib ist ihrem Manne eine Freude, und macht ihm ein fein ruhig Leben.“
„Nun,“ sagte sie mit großen Augen, „Du wirst doch den alten Sirach nicht Lügen strafen wollen?“
„Natürlich nicht,“ erwiderte er, sie umfassend, „aber sie hätten wohl auch einen Spruch für mich persönlich finden können.“
Sie lachte. „Etwa: des Menschen Leben währt siebzig Jahre, aber mit vierzig ist er den klugen Damen nicht mehr interessant? Ja ja, solche Erfahrungen sind schmerzlich für schöne Leute. Doch weißt Du was? Tröste Dich mit dem vorzüglichen Rehragout, das wir heute abend haben. Gebackene Kartoffelklöße dazu, wie Du sie liebst, ist das nicht ausgezeichnet?“
„Komm!“ sagte er und blickte voll Vergnügen in ihr hübsches lachendes Gesicht. „Der alte Sirach hat recht; dort war es schön in aller Feeerei, allein am schönsten ist’s doch zu Hause!“
Geduldige Schafe waren es nicht, die am nächsten Sonntag Stück für Stück bei Walters eintrafen, und ein Stall war es auch nicht, in dem sie sich drängten, aber doch gingen unglaublich viele hinein und fanden Mittel und Wege, denjenigen Lärm in Scene zu setzen, welcher von einer Kindergesellschaft mit Einstimmigkeit das Prädikat „furchtbar lustig“ erhält. Fritz athmete erleichtert auf, als es einmal soweit war; seinem Geiste hatten düstere Ahnungen vorgeschwebt wegen des „geradezu schofelen Menüs“, das abzuwenden er keine Möglichkeit sah. Die Mama hatte seinem flehentlichen Andrängen eine eiserne Kaltblütigkeit entgegengesetzt: „Kaffee mit Kuchen“ lautete ihr unabänderlicher Spruch.
„Und nachher?“
„Apfeltorte.“
„Und was zu trinken?“
„Wasser, vielleicht etwas Limonade!“
Auf das hin hatte Fritz einen Entrüstungsanfall bekommen, der jede weichherzigere Mutter zum Zugeständniß der gewünschten Bowle veranlaßt hätte, denn nach seiner verzweifelten Versicherung war ohne eine solche eine anständige Jugendgesellschaft überhaupt nicht mehr denkbar. Bei Hoffmanns hatte es außerdem noch Gefrorenes gegeben und hinterher belegte Brötchen und Bier!
Das herzliche Lachen seiner Mama auf diese, wie er glaubte, niederschmetternde Enthüllung brachte den jungen Lebemann vollends außer sich. Sie erklärte ihm sehr gemüthsruhig:
„Für kleine Jungen und Mädchen ist zwischen Mittag- und Abendessen Kaffee und Kuchen hinlänglich genug. An mehr könnten sie sich nur den Magen verderben. Und nun lauf, richte die Laterna magica her und besinnt Euch auf hübsche Charaden! Das Vergnügen muß wo anders liegen als im Essen und Trinken, das könnt Ihr nicht früh genug lernen!“
Schwer gekränkt war Fritz abgezogen. Warum hatte ihn das Schicksal nicht bei Hoffmann’s auf die Welt kommen lassen, wo die Söhne ihre Wünsche nur zu nennen brauchten, um sie sofort erfüllt zu sehen! Der harrenden Elsbeth berichtete er nur: „Es giebt eine gräßliche Blamage!“ und weidete sich an ihrem entsetzten Gesicht. Dann ging er aber doch und setzte die Laterna magica in Stand.
Und nun war es so nett geworden! Im Tanzen und Spielen, im Aufführen der Charaden und im Stellen der lebenden Bilder – all das verstand die Mama ausgezeichnet ins Werk zu setzen – waren selbst die blasierten Hoffmanns-Buben warm geworden, vor deren Kritik Fritz heimlich zitterte, und Oskar, der älteste, erklärte bei Gelegenheit eines sehr gelungenen Räuberüberfalls, wobei man Vilmas jüngere Schwester Hedy in offenen Haaren als gefangene Prinzessin weggeschleppt hatte: „So lustig ist’s nie bei uns!“ Er hielt sich fortan dicht zu dem niedlichen Backfischchen, das eine für sein Alter erstaunliche Erfahrenheit in solchen Aufführungen an den Tag legte. Aber Elsbeths ehrliches Innere entsetzte sich, als Hedy im Eifer der Vorbereitung im Schlafzimmer ihr zurief: „Ihr habt ja nicht einmal Puder hier und kein Brenneisen! Dir ist es wohl ganz einerlei, was die Jungens von Deinem Aussehen sagen?“
Jetzt saß das kleine Fräulein während der Tortenpause mit sorgsam ausgebreitetem Röckchen auf dem Sofa und versuchte verschiedene Augenaufschläge an dem jungen Weston, der gekommen war, sich das Fest anzusehen, und sogleich ihr frühreifes Persönchen unter den guten Schulkindern herausgefunden hatte. Daß er sie ganz als Erwachsene behandelte, gab ihr einen hohen Begriff von der Bildung der Amerikaner, sie vergalt es [87] ihm durch eine Unterhaltungsbeflissenheit, die des finster herüberschauenden Oskar Herz mit namenloser, doch leider ohnmächtiger Wuth erfüllte.
Francis erfuhr mittlerweile von dem kleinen Plappermäulchen, daß sie die Schwester Vilmas sei und daß diese wahrscheinlich kommen werde, sie abzuholen. „O, der schöne Weihnachtsengel!“ rief Sigrid, die bis dahin stumm und noch immer etwas verschüchtert neben ihr gesessen hatte. Sie trug einen ungeschickten, von Dienstbotenhänden hergerichteten Anzug und sah sonderbar unkindlich aus unter den andern frischen und beweglichen Gestalten. Hedy hatte Vilma versprechen müssen, sich der Kleinen anzunehmen, und hatte dies auch gethan, allein sie dachte, jede Liebe sei einer Belohnung werth, und hatte als sofortige Abschlagszahlung für ihre Gefälligkeit ein Paar lange dänische Handschuhe und den japanischen Fächer von Vilma mitgehen heißen, den sie jetzt mit großer Befriedigung hin und her bewegte.
„Sehen Sie nur die kleine Kokette,“ sagte, den Blick auf sie gerichtet, im offenen Nebenzimmer der Medizinalrath Hoffmann, der eine Stunde vor der Abholezeit gekommen war, um noch mit den Hauswirthen zu plaudern. „Ja, was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten, und diese Art liegt im Blut.“
„Hier ebenso in der Erziehung,“ erwiderte Emmy, die gerade einen kleinen Tisch mit Wein und Cigarren zwischen den Medizinalrath, Hugo und Fräulein Linchen hineinstellte und dann selbst bei ihnen Platz nahm, die liebe Jugend für eine Weile ihren eigenen Eingebungen überlassend. „Dasselbe Mädchen würde bei einer wahrhaften und pflichttreuen Mutter anders geworden sein.“
„Sie überschätzen die Macht der Erziehung! Man ändert keine Charaktere, wir gewöhnen den Kindern nur die äußern Unarten ab, hauptsächlich, weil sie uns belästigen. Sie würden das später von selbst ablegen – ich habe noch keinen Achtzehnjährigen gesehen, der mit den Fingern aß!“
„Und Sie halten es für unberechtigte Selbstsucht, sich dieses Schauspiel schon früher am häuslichen Tisch ersparen zu wollen?“
„Das nicht. Aber ich bilde mir nicht ein, die grundverschiedenen Naturen meiner Söhne nach meinem Gefallen zu modeln, indem ich ihre eigenthümlichen Regungen unterdrücke. Wenn sie gut gerathen, so danken sie dies ihrer Natur, nicht meiner Erziehung.“
„Dann würde man ja eine Pädagogik gar nicht brauchen,“ wandte Fräulein Linchen ein.
„Viel Nutzen stiftet sie gewiß nicht, denn sie betrachtet das Kind als ein abstraktes Ding und legt ihm unabänderliche Gesetze auf, um ein vorher berechnetes Ergebniß herauszubringen. Das glückt nicht, und zudem geht die Eigenthümlichkeit verloren, welche die Natur gerade diesem Individuum einpflanzte und welche zu pflegen die Aufgabe einer richtigen Erziehung wäre. Man soll die Natur studieren, nicht sie verbessern wollen.“
„Man erzieht aber doch,“ sagte Emmy, „seine Kinder zum Leben in der Welt, wo der am besten durchkommt, der am wenigsten störende Eigenthümlichkeiten hat. Die große Rücksicht auf Individualität bringt schwer umgängliche Menschen hervor, die stets Ausnahmen für sich verlangen, statt sich der allgemeinen Ordnung zu fügen! Und solche vermeidet man im Umgang, also haben sie den Schaden davon.“
„Na, und gnade Gott jemand, der seine Tage zwischen sechs solcher werdenden Individuen zubringt,“ versetzte Fräulein Linchen trocken. „Ich glaube, mir würden unaufhörlich die Finger jucken.“
„Ja, da haben wir das letzte Auskunftsmittel der alten Erziehung, den Stock! In meinem Hause ist er niemals angewendet worden.“
„Ach du himmlische Güte! Buben ziehen, ohne sie zu schlagen!“ rief sie im höchsten Erstaunen.
„Die Zucht ist danach,“ dachte Emmy, und laut fügte sie hinzu: „Wie haben Sie es aber gemacht, um den Gehorsam zu erzwingen, wenn die Kinder eigensinnig wurden?“
„Erzwungen habe ich ihn überhaupt nie,“ erwiderte er. „Wenn der Zornanfall vorüber ist, sehen die Kinder die Zweckmäßigkeit des Befohlenen selbst ein und handeln danach.“
„Na, ich danke!“ rief nun Linchen entrüstet. „Da müssen Sie manchmal nette Tage durchleben, bis die verschiedenen Zornanfälle vorüber sind! Lieber Himmel, da ist es doch kürzer, den Kindern, die noch keine Vernunft, nur einen unbändigen Willen haben, den Standpunkt etwas klarer zu machen und sie in den ersten Jahren wie kleine Thierchett mit Schlägen an Folgsamkeit zu gewöhnen. Einem Zweijährigen entwickelt man ja doch die schönsten Gründe umsonst!“
„Das ist der alte verbrauchte Grundsatz,“ sagte überlegen der Medizinalrath und streifte die Asche von der Cigarre. „Die heutige Zeit stellt andere Aufgaben an die Jugend als die des sklavischen Gehorsams.“
„Aber doch keine größere,“ nahm nun Hugo das Wort, „als die der Achtung vor dem Gesetz, das über uns allen ist. Das Bewußtsein davon sollte auch in dem Kinde früh geweckt werden, denn man will einen künftigen Staatsbürger aus ihm erziehen. Als sichtbares Gesetz stehen seine Eltern da; ihrer Vernunft muß es so lange gehorchen, in Güte oder mit Zwang, bis die seinige entwickelt ist. Und da das Parlamentieren mit einem thörichten Kinderkopf eine unfruchtbare Sache ist, so bin ich auch dafür, auf die endlosen: ‚Warum?‘ einfach zu antworten: ‚Weil ich es Dir befohlen habe‘. Dabei muß er sich beruhigen.“
„Das ist immer wieder der patriarchalische Zustand, dem unser ganzes öffentliches Leben vollständig entwächst. Er ist auch im Hause nicht mehr aufrecht zu erhalten!“
„Erlauben Sie! Für Unmündige ist der aufgeklärte Despotismus die beste Regierungsform. Den erwachsenen Kindern kann man dann die parlamentarische Verhandlung zugestehen, gerade wie den mündig gewordenen Völkern.“
Die Malerin sah während dieser letzten Reden der Männer hinaus in den spielenden Kinderschwarm und bedauerte ordentlich die blassen Hoffmanns-Söhne wegen der vielen Schläge, die sie nicht gekriegt hatten und die ihnen unzweifelhaft ein viel frischeres Aussehen verliehen haben würden.
Derweil sagte Emmy nachdenklich:
„Ein neuer Rousseau sollte einmal einen modernen ‚Emile‘ schreiben, einen Wegweiser für die Erziehung unserer Zeit.“
„Ja,“ lachte Linchen, „darin möchte ich auch ein Kapitel übernehmen, und dieses müßte heißen: ‚Der Elternwahn!‘ Vor Ihnen darf man davon reden, denn wenn auch der Herr Medizinalrath seine Söhne aus Grundsatz nicht prügelt, so gehört er im übrigen doch nicht zu den entzückten Vätern!“
„Leider nein, ich sehe ihre Schattenseiten deutlicher, als mir lieb ist.“
„Nun, und diese beiden hier sind ebenfalls vernünftig. Aber sehen Sie sich weiter um: lauter entzückte Eltern, lauter merkwürdige Kinder, stetes Erzählen vor diesen, was sie gestern und heute wieder für denkwürdige Aussprüche gethan haben, damit sie doch ja in kürzester Frist gezierte, verlogene Krabben werden. Die alte Klugheitsregel, daß man seine schwarze Wäsche nicht auf offenem Markt waschen soll, wird neuerdings dahin verstanden, daß man alles Ungünstige an seinen Sprößlingen verschweigt und ihre Vorzüge hell ausposaunt, ohne zu bedenken, wie man dadurch die Kinder zur Unwahrheit erzieht und obenein den Respekt von ihrer Seite völlig einbüßt. O, was war dieser altmodische Respekt für eine gute Sache! Bei uns zu Hause wurden berechtigte Eigenthümlichkeiten, Nerven und Scenen einfach nicht in Ansatz gebracht. Warf eines die Thüre zu, so mußte es auf der Stelle wieder herein und sie vor aller Angesicht sachte zumachen. Erschien man mit verweinten Augen bei Tisch, so hieß es ruhig: ‚Du scheinst krank zu sein, lege Dich zu Bett!‘ Und man munterte sich sofort auf, um diesem Schicksal zu entgehen. Was hat sich nicht unsere gute Mutter erspart durch die Verfügung: Gesichter werden vor der Thür gemacht, und Launen giebt es hier im Hause nicht! Wie strenge wurden die kleinen Rücksichtslosigkeiten und Pflichtvergessenheiten geahndet, die heute den Kindern ohne weiteres hingehen! Soll das eine falsche Erziehungsweise gewesen sein, welche einfache Pflichttreue, Bescheidenheit und jene tiefe Dankbarkeit gegen die Eltern erzeugte, die der Gewährung folgt, eben weil man weiß, daß die Bitte auch versagt werden kann.“
„Ja, ja,“ versetzte der Medizinalrath, „das letztere ist nicht ohne. Man giebt den Rangen mehr, als sie eigentlich haben sollten.“
„Und alles übertriebener, als ihnen gut ist.“
[88]
[89] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [90] „Auch das. Und sie fühlen sich nicht einmal besonders glücklich darüber.“
„Ist das ein Wunder? Es liegt doch in der menschlichen Natur, stets irgend etwas anzustreben und sich glücklich zu fühlen, wenn es erreicht ist. Wer seine Kinder ein leicht Erreichbares, ein Stück Kuchen, einen Ausflug ins Grüne, erst eine Zeitlang wünschen läßt, der hat es stets in der Hand, sie glücklich zu machen, während der, welcher alles Erreichbare als selbstverständlich giebt, nur erlebt, daß sie dann ihre Wünsche an das Unerreichbare heften – und sich unzufrieden fühlen, weil man ihnen das nicht mehr verschaffen kann!“
„Sie hat eine Zunge wie ein Schlachtschwert,“ sagte Hoffmann anerkennend, „aber manchmal hat sie recht. Na, es hilft also nichts, ich gehöre zur Klasse der schwachen Väter.“
„Trösten Sie sich, Sie haben viele Genossen in Stadt und Land,“ rief sie lachend. „Der Elternwahn beherrscht ja nicht nur die gebildeten Stände, er ist mit andern sozialen Uebeln bereits zu Arbeitern und Bauern gelangt. Auch diese züchtigen ihre Kinder nicht mehr: wenn der Schulmeister einem ungezogenen Jungen eine Tracht Prügel aufmißt, so läuft der Vater, beim Schulzen zu klagen, und die Mutter jammert im Dorf herum. Ich selbst habe diesen Sommer gesehen, wie eine Bäuerin sich von ihrem zornigen Kinde ins Gesicht schlagen ließ, ohne eine Hand dagegen zu erheben, und ich würde diese ‚edle Menschlichkeit‘ in der Erziehung bewunderungswürdig finden, wenn nur nicht so viel freche meisterlose Buben und arbeitsscheue leichtsinnige Mädels von Dienst zu Dienst liefen, um schließlich noch die Anklagebank zu zieren. Und derartige Erscheinungen, zusammengehalten mit der Unbescheidenheit und Blasiertheit unserer eigenen heutigen Jugend, bringen mich immer wieder zu dem Schluß, daß wir aus lauter Menschlichkeit schwachherzig geworden sind. Zucht, ganz ordentliche und tüchtige Zucht sollten wir anwenden, damit aus den merkwürdigen Kindern wieder folgsame und erfreuliche würden. An der geistigen Begabung des Einzelnen ist nichts zu ändern, darin haben Sie recht, allein Pflichtgefühl, Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit und Gehorsam – kurz alles das, was die moralische Reinlichkeit ausmacht, das müßte mit derselben Beharrlichkeit ohne alle Rücksicht auf Individualität anerzogen werden, wie man heutzutage die Körperpflege der Kinder überwacht – um daneben ihre Seelen verwildern zu lassen!“
In diesem Augenblick gab es drinnen im großen Zimmer Lärm, und Emmy eilte hinein. An der Thür traf sie mit der eben eintretenden Vilma zusammen, die sich liebenswürdig lächelnd entschuldigte, so herein zu schneien. Ihr Mädchen könne heute abend nicht abkommen, so habe sie selbst die Pferdebahn genommen, um Hedy abzuholen. Emmy begrüßte sie nur flüchtig, denn ihr Mutterohr vernahm aus dem streitenden Kinderknäuel Töne, welche ihr eine eben erfolgende Niederlage ihres Sohnes Moritz mit Sicherheit verkündigten. Eine Partei der Entrüsteten, Hedy an der Spitze, drang nach rückwärts, über ihren Köpfen aber erschienen Armbewegungen, die man bei minder gebildeten Kindern aus eine Prügelei gedeutet hätte.
Dem mütterlichen Ansehen gelang die Trennung der Streitenden, Moritz und Oskar, und die Aufhellung des Thatbestandes, der so bedauerliche Ausschreitungen veranlaßt hatte. Durch zwanzigfaches Zeugniß wurde festgestellt, daß gerade vorher die „Großen“ eine äußerst gelungene Dramatisierung von „Des Sängers Fluch“ aufgeführt hatten. Hedy thronte als rosenwerfende Königin an des wiederversöhnten Oskar Seite, der junge Sänger, eine niedliche Kleine, spielte statt der Harfe die Zuckerschneidmaschine, und den Alten stellte Fritz im weißen Flachsbart mit äußerster Würde vor. Zwar brach das Roß, als er den Sterbenden darauf lud, unter dem Tischtuch entzwei, aber, es schloß sich sofort wieder zusammen, und die im höchsten Pathos heruntergedonnerten Fluchworte fanden stürmischen Beifall. Dadurch war bei Moritz der Ehrgeiz erregt worden. Er fühlte seine Altersklasse überhaupt schon den ganzen Nachmittag von den Großen unterdrückt, gedachte also einen Hauptschlag zu thnn und Schiller zu dramatisieren. Schnell traf er seine Vorbereitungen, zog ein kleines dickes Mädchen, seine besondere Freundin, herbei, hängte ihr und sich die noch daliegenden Tischteppiche um und bestieg mit ihr das Pfeilerschränkchen. Die gewünschte Stille entstand, und der Tyrann Polykrates erklärte mit leidlicher Festigkeit, hier von seines Daches Zinnen mit vergnügten Sinnen auf das beherrschte Samos hinzuschauen. Aber ach! als sein erhabener Gastfreund antworten sollte, da ergab es sich, daß „Aegyptens König“ den Schiller nicht kannte, also außerstande war, auf die Wandelbarkeit menschlichen Glückes in dichterischer Form hinzuweisen!
Ein Gelächter erhob sich, das dicke Lottchen brach in Thränen aus, und so nahm die Vorstellung ein ruhmloses Ende. Moritz war wüthend, er stieß die weinende Gefährtin seiner Schmach von sich, da traf ihn ein Hohnwort Oskars, das hinzunehmen keine Gastfreundschaft der Welt gebieten konnte. Der Erwiderung „Schafskopf!“ folgte das Handgreifliche mit einer Kraft und Schnelligkeit, die man dem prügellos erzogenen Sohn Hoffmanns gar nicht hätte zutrauen sollen. Moritz hieb blind dagegen, und so standen die Sachen, als Emmy dazwischen trat und ihrem Söhnlein mit Flammenworten das Erniedrigende seiner Handlungsweise gegen den Gast klarmachte.
Es bedurfte trotzdem noch geraumer Zeit und der Einmischung beider Väter, um die Geister soweit zu beruhigen, daß ein friedliches „Wie lieben Sie’s?“ in Gang kommen konnte. Draußen ertönten indessen bereits einzelne Züge an der Klingel, das wirkte zauberhaft auf die Wiederherstellung der guten Stimmung, denn bekanntlich ist es unmittelbar vor dem Abholen immer am schönsten.
Vilma hatte während des Streites die kleine Sigrid, welche vereinsamt und unbehaglich dastand, mit sich nach dem Ecksofa genommen. Dorthin stürzte sich auch der junge Amerikaner, der nur in Hoffnung auf ihr endliches Erscheinen bisher ausgehalten hatte. Nun pflanzte er sich an ihre Seite mit der naiven Selbstverständlichkeit, die überhaupt sein Auftreten kennzeichnete. Francis Weston war ein langer schlanker Junge, stets tadellos gekleidet und mit einem Ausdruck harmloser Lustigkeit in seinem gutmüthigen Gesicht, der rasch für ihn einnahm. Mit der Unergründlichkeit der deutschen Satzverbindung stand er in bitterer Feindschaft, es gelang ihm aber nichtsdestoweniger, sich verständlich zu machen, und mehr begehrte Mister Weston nicht, besonders einem so reizenden Mädchen gegenüber. Heiter und liebenswürdig antwortete Vilma auf seine lebhaften Bewunderungsreden und auf Sigrids zwischendurchfahrende Fragen. Und zugleich prüfte sie innerlich mit ganz kalter Betrachtung die Schattenseite ihres Unternehmens. Ein unangenehmes Kind! Verzogen und unbequem, von gewöhnlichen Gesichtszügen – wohl der Mutter ähnlich, die er natürlich weiter vergötterte … Alles in allem, eine sehr lästige Zugabe! – Vilma streichelte, während sie das dachte, der anschmiegenden Kleinen die Haare aus der Stirn und beantwortete ihre dringende Frage, ob sie auch einmal zu ihr kommen dürfe, mit dem verlockenden Hinweis auf eine Kindergesellschaft, die nächstens bei Hedy stattfinden werde. Sigrid jubelte und Vilma empfand eine lebhafte Genugthuung. So waren die Fäden gelegt, ganz wie sie es sich vorher ansgedacht hatte; es mußte gelingen. Die Hand dieses Mannes bedeutete Reichthum, Ansehen, Befreiung von der bisherigen Armseligkeit – sie würde ihn zu gewinnen wissen, durch das Kind den Vater und den Mann durch ihre eigene Anziehungskraft. Vilma schätzte die Stärke derselben aus vielfacher Erfahrung ganz richtig; was ihr bisher noch nicht geglückt war, nämlich das Festhalten, das gedachte sie diesmal mit der vorsichtigsten Klugheit zu erreichen.
Aufstehend schob sie Sigrids Arm in den ihren und führte sie dem Kinderkreis zu neuem Spiele zu. Während sie sich anmuthig niederbeugte, um die Kleine auf einem Sessel zurechtzurücken, fiel ein Blick unter ihren gesenkten Lidern seitwärts und nahm den Gegenstand ihrer Gedanken wahr, der im Gespräch mit dem Hausherrn auf der Schwelle stand. Augenblicklich wandte sie den Rücken nach dieser Richtung und begann ein heiteres Gespräch mit Emmy, deren geheime Abneigung unter dem Eindruck von Vilmas einfacher Liebenswürdigkeit zu schmelzen anfing. Vielleicht hatte sie dem Mädchen doch Unrecht gethan!
„Da sehen, Sie, wie vergnügt Sigrid ist,“ sagte mittlerweile Linchen zu Thormann und schob ihn lebhaft über die Schwelle herein. Er ließ sich’s gern gefallen, denn so schwer er sich im ganzen zum Hierherkommen entschlossen hatte, so behaglich umfing ihn jetzt die gemüthliche Wärme in diesen Zimmern. Als nun vollends Sigrid den Kinderkreis durchbrach und sich mit einem jubelnden „Papa, Papa!“ an seinen Hals hing, [91] als gleichzeitig Emmy herankam und ihm die Hand gab und das Mädchen ihr zur Seite das schöne Haupt zum Gruß neigte, da hatte Lars Thormann zu thun, um die Vielfältigkeit dieser Eindrücke zu bewältigen und ein paar unvollkommene Dankesworte für die Freundlichkeit gegen sein Kind herauszubringen.
Emmy lobte dessen nettes Betragen, und Sigrid, um diesem Ausspruch Ehre zu machen, sprang mit immer neuen Tigersätzen gegen den Papa an, ihm Arme und Beine umklammernd. Er machte sich sanft von ihr los.
„Sie ist wirklich unbändig, ich verziehe sie,“ sagte er mit hilfesuchendem Blick, indem er ihr sachte über den Kopf strich. „Das wirft mir Fräulein Wiesner immer vor. Aber wie abhelfen? Ich hoffe nur, sie wird selbst vernünftig, wenn sie einmal erwachsen ist! Geh’ jetzt, mein Herz, und spiele noch mit den andern! Du mußt Dich bald genug verabschieden.“
Doch davon wollte Emmy nichts hören. „Nein, nein, Sie sehen sich das Spiel noch ein Weilchen an. Setzen Sie sich dorthin – Vilma, Sie unterhalten mir Herrn Thormann, ich muß nur einmal drinnen nach den übrigen sehen!“
Und sie unterhielten sich; der menschenscheue Künstler vergaß ganz seinen Widerwillen gegen elegante Damen, während er mit dieser sprach. Es überraschte sie wohl, daß er mit keiner Silbe des Weihnachtsengels gedachte, sondern anfing, seine Freundin Karoline zu preisen, sie stimmte aber sofort lebhaft zu und versicherte mit soviel Wärme, wie sie sich stets in deren Nähe gehoben und veredelt fühle, daß der wahrhaftige Mann an ihrer Seite sie freundlich ansah.
„Sie leben wohl sehr in der großen Welt?“ fragte er etwas zweifelhaft.
„Die große Welt ist schließlich immer eine recht kleine,“ gab sie lächelnd zur Antwort. „Es ist stets derselbe Menschenkreis, in dem man sich bewegt. Und oft fühlt man deutlich genug, daß man Besseres thun könnte. Allein es liegt bei uns soviel in den Verhältnissen ... Mama ist eine sehr gesellige Natur, und ich habe nicht die Willenskraft meiner älteren Schwester, die gar nicht ausgehen will.“
„Sie haben noch eine Schwester?“
„Eine sehr gelehrte sogar, die viel mehr werth ist als ich unwissendes Menschenkind!“ Sie hob voll Schelmerei die Augen zu ihm empor, aber er sah nachdenklich vor sich hin und das erwartete Kompliment blieb aus ... Ein schwerfälliger Mensch! Schwieriger zu behandeln als die Herren der Gesellschaft, bei denen dies der rechte Ton war! Indessen verfolgte er die durch ihren Anblick erweckten Erinnerungen von neulich und sagte plötzlich ganz unvermittelt:
„Können Sie mir vielleicht sagen, Fräulein, wer damals die Briefe für die Bazarpost geschrieben hat?“
Sie schaute ihn ohne Wimpernzucken an. „Nein, davon weiß ich nichts, ich hatte nur für den Christbaum zu sorgen, und sie thaten sehr geheimnißvoll mit ihrer Postexpedition. Hat man Ihnen auch einen schlechten Witz geschrieben?“
„Das nicht gerade,“ erwiderte er langsam in ruhigem Tone. Sie wartete auf mehr, es kam jedoch nichts nach; dieser ungelenke Mensch besaß die Kunst des Schweigens offenbar als Naturgabe. Aus dem Nebenzimmer erschienen nun die andern, Hoffmann richtete die dritte eindringliche Mahnung zum Gehen an seine Söhne, ohne mehr Beachtung zu finden als mit den beiden ersten. Aber zu seinem Glück wurde jetzt das Aufbrechen allgemein, man lief hin und her, Emmy stand umdrängt von frohen, dankbaren Kindergesichtern, die Abgehenden machten noch nach Kräften Lärm bis zum Vorplatz hinaus.
Sigrid stürzte herbei. „Papa, Fräulein Vilma hat mich eingeladen, sie hat einen Chinesen, der die Zunge herausstreckt, und Hedy ist auch so lieb mit mir, nicht wahr, ich darf hingehen? Bitte, bitte, Papa!“
„Nun ja ... versteht sich ...,“ kam es in einiger Verlegenheit von seinen Lippen. „Es ist sehr freundlich von Ihnen,“ wandte er sich an Vilma, die nebenan im Gespräch mit dem jungen Amerikaner stand. Dieser blickte wüthend auf: war denn der Grauhaarige wieder da, den er schon vorhin so dringend zum Teufel gewünscht hatte? Doch ohne seinen Zornesblick zu bemerken, fuhr Thormann fort: „Natürlich werde ich Sigrid schicken, sie sollte schon lange mehr unter Kinder ... aber dann erlauben Sie mir wohl auch ... meine Aufwartung ...“ Das weitere erstarb unter dem Schatten des graublonden Bartgestrüpps.
„Mama wird sich sehr freuen,“ erwiderte Vilma liebenswürdig. „Sie empfängt jeden Donnerstag Abend von fünf Uhr an.“
Ein freundliches Nicken noch, ein Kuß auf Sigrids Stirn, und hinaus war sie, begleitet von Francis, der ungestüm nach ihrem Mantel stürzte und ihn mit unbeschreiblichem Hochgefühl ihr um die feinen Schultern legte.
„Darf ich Sie auch machen meine Aufwartung?“ flüsterte er dabei nahe ihrem Ohr.
„Versteht sich –“ lachte sie, „und wäre es auch nur, um ein besseres Deutsch sprechen zu lernen! Komm, Hedy! Gute Nacht, Mister Weston!“
Er öffnete die Gangthür und im Abgehen traf ihn ein über die Schulter zurückgesandter Blick, der unsern Francis als den seligsten der Menschen zurückließ.
Es war Donnerstag nach Weihnachten. Frau von Düring erwartete Gesellschaft, und ihr Salon schwamm in dem für zweifelhafte Einrichtungen so wohlthätigen Licht rosiger Lampenschirme. Um ihn zu erreichen, mußte man einen nassen Thorweg und sehr schlechte Treppen passieren; die Damen wohnten in einem Hinterhaus, dessen Lage zwischen ein paar kleinen Gärten übrigens die Möglichkeit gewährte, eine solche Wahl mit großer Vorliebe für Natur zu erklären. Und die Gesellschaft, welche gern die Armuth ihrer Mitglieder anständig umkleidet sieht, nahm die Erklärung an. Es wurde nicht einmal hinter dem Rücken der Witwe darüber gelästert, man kannte den Betrag ihrer kleinen Pension und fand es aller Ehren werth, wie sie mit ihren Mädchen durchzukommen verstand und noch alles Mögliche mitmachte.
Den Verhältnissen entsprach die Einrichtung. Was geschickte Hände zuwege bringen können mit alten Behängen und Teppichen, selbstgetrockneten Makartsträußen und selbstgemachten Papierblumen, das war hier geschehen. Kein Stückchen Möbel ohne schadhafte Stellen, aber alles so geschickt vertheilt, die fadenscheinigen Divans und Sessel in einem klugen Halblicht so zwanglos elegant herumgestellt, daß die Gesammtwirkung eine entschieden günstige war. Selbst die künstlerische Seite fehlte nicht: aus der großen Fundgrube Tirol hatte Frau von Düring letztes Jahr allerhand Dinge mit heimgebracht, die sie in den Sakristeien entlegener Dorfkirchlein aufgetrieben und welche, von kundiger Hand vertheilt, dem Salon jenen leisen Museumscharakter verliehen, die feinste Blüthe moderner Wohnungseleganz. Da standen rechts und links von einem eisenbeschlagenen Kasten, der den Christbaum trug, wie Wächter zwei lebensgroße holzgeschnitzte und buntbemalte Posaunenengel; aus einer altersschwarzen Chorbank waren verschiedene, ebenso merkwürdige als unbequeme Sitzgelegenheiten gemacht und mit bunten Decken behangen worden. Allerhand verschwärzte Krusten von Heiligenbildern konnten der spanischen Schule angehören, jedenfalls erfüllten sie ihre Aufgabe, große Stücke der schlechten Tapete zuzudecken, ganz ausgezeichnet. Das Bewußtsein, wie „schick und originell“ ihr Salon sei, hob Frau von Düring über seine sämmtlichen Mängel hinweg, Vilma in ihrem starken Gefühl für das wirklich Elegante zuckte heimlich die Achseln darüber, und der ernsthaften Paula war er einfach ein Greuel.
Die beiden Schwestern saßen, nach beendigten Vorbereitungen, in Erwartung der Gäste schweigend da. Vilma machte für die Familie überhaupt niemals Aufwand an Liebenswürdigkeit, und Paula hoffte, noch schnell einen Posten lateinischer Fürwörter zu erledigen, da ihr die eigentliche Arbeitszeit heute genommen war. Ihr über das Buch geneigtes Gesicht hatte nicht entfernt den Liebreiz von Vilmas sonnigen Zügen, jedoch eine klare Ruhe lag auf dieser festen, von braunem Haar schlicht umrahmten Stirn. Wenn sich die dunkelgrauen Augen hoben, so war ihr Blick sicher und prüfend, wohl geeignet, das männliche Verdammungsurtheil hervorzurufen: „Hier herrscht der Verstand über das Gefühl!“ Paula kümmerte sich darum nicht, ihre ganze Seele strebte unverwandt einem Ziele zu, und dies hatte mit Gefallenwollen nichts zu schaffen. Sie trug dunkle Farben, während [92] Vilmas schlanke Figur in einem einfachen aber tadellos sitzenden weißen Wollkleid sich sehr vortheilhaft ausnahm. Dieses wie die gesammte Toilette von Mutter und Schwestern war das Werk ihrer geschickten und fleißigen Hände, allein sie verbarg das gleich einer Schande, und niemand kam in das Hinterstübchen, wo sie sich an der Nähmaschine abmühte, während das Mädchen vorn den Besuchenden „Fräulein ausgegangen“ meldete.
„Quis, qui – quid, quod – aliquis, aliqua, aliquid –“ murmelte jetzt Paula vernehmlich vor sich hin.
Vilma brach in helles Lachen aus. „Ich würde an Deiner Stelle fortlernen, auch wenn die Leute da sind!“
Paula sah auf. „Das würde ich am allerliebsten thun, statt die Zeit damit zu verlieren, die nichtigen heuchlerischen Reden dieser Menschen anzuhören.“
„Oho, nur nicht so von oben herunter! Du bist doch recht froh über die gesellige Stellung, die wir uns und Dir bei diesen Menschen erhalten.“
„Unsere Stellung!“ Paula lachte bitter auf. „Ich bitte Dich, Vilma, nenne mir das Wort nicht! Mitleidige Duldung, das trifft eher zu ... Ich sehe ja ein, daß es so weiter gehen muß, um Dir vielleicht eine wirkliche ‚Stellung‘ zu erringen. Was die meinige betrifft, so will ich sie mir künftig selbst verdanken, will selbständig mein Brot erwerben und nur diejenigen ‚Freunde‘ nennen, welche diesen Namen verdienen.“
Vilma beugte sich über eine blühende Jardinière, die Francis Weston zu Weihnachten geschickt hatte, und sog den Duft ein. „Sehr edel!“ sagte sie in demselben ironischen Ton wie vorher. „Nun, da kannst Du gleich heute abend eine vorläufige Auswahl treffen. Es kommen ja verschiedene von Deiner Art; Mama hat Bedürfniß nach Erweiterung ihres Kreises – wir gehen jetzt zu Litteratur und Kunst über.“
Paula unterdrückte einen Seufzer – sie kannte das regelmäßig wiederkehrende Symptom „Neue Menschen!“ und sie wußte so genau, was stets hinterher folgte – aber ihre Miene hellte sich doch etwas auf, als Vilma jetzt die Erwarteten herzählte: Thormann und Fräulein Wiesner, das Ehepaar Walter, die man sämmtlich noch einmal bestimmt auf heute eingeladen hatte, um ihres Erscheinens sicher zu sein.
„Und Doktor Seiler,“ fügte sie noch hinzu, „Du weißt doch, der gefeierte Kritiker vom Tageblatt, welcher neulich eine so reizende Schilderung über den Christengel in seinem Bazarbericht brachte.“
„Hat er denn hier Besuch gemacht?“
„Natürlich!“
„Ohne daß Ihr ihn aufgefordert habt? ... O Vilma, Vilma!“ brach sie aus, als jene einen Augenblick zögernd schwieg, „hast Du denn gar kein Gefühl für das Entwürdigende eines solchen Lebens? Meinst Du, die andern sehen dieses ewige Haschen und Angeln nicht und verachten es nicht nach Gebühr? Ich möchte vor Scham in die Erde sinken, wenn ich daran denke!“
„Du bist eine lächerliche Pedantin!“ rief Vilma zornig. „Was verstehst Du vom geselligen Verkehr –“
„Streitet Ihr schon wieder?“ tönte jetzt von der Thür her die Stimme der Mutter, die noch athemlos von der eilig vollendeten Toilette hereinkam. Neben ihren hochgewachsenen Töchtern sah sie auffallend klein und dick aus; ihre starken Formen waren in ein schwarzes Seidenkleid gepreßt, auf dem dünngewordenen Scheitel saß ein kleines Häubchen. Die Gesichtszüge mochten einst hübsch gewesen sein, jetzt waren sie roth und aufgequollen – die ganze Persönlichkeit machte den unerfreulichen Eindruck des Alterns ohne Würde.
„Nein, es ist doch schrecklich,“ fuhr sie jammernd fort, „daß Ihr auch nie Frieden halten könnt, Du hast sie gewiß wieder gereizt, Paula, mit Deinen überspannten Redensarten, Du fängst ja allemal an. Ich kann wohl sagen, Du bist der Kummer meines Lebens –“
Paula senkte die Augen und hörte ohne ein Wort der Erwiderung den weiterrauschenden Redestrom an. Plötzlich ging draußen die Klingel, die Vorwürfe verstummten jäh und lächelnde Freundlichkeit legte sich wie Oel auf die Wogen der mütterlichen Aufregung.
Musik und Elektricität.
In einer Zeit, in welcher die Elektricität von Jahr zu Jahr neue Verwendung für die verschiedensten Zwecke findet, in welcher der Phonograph die menschliche Stimme wiedergiebt und das Telephon dieselbe auf einige hundert Kilometer fortpflanzt, erscheint die Anwendung elektrischer Kraft für die Zwecke der Tonkunst sehr natürlich. Das ist nicht etwa so zu verstehen, daß die Elektricität einfach als Mittel benutzt wird, um bei Tastaturinstrumenten an Stelle der menschlichen Hand die Tasten niederzudrücken – eine solche Anwendung, welche thatsächlich schon längst geschehen ist, ergiebt nichts weiter wie einen Leierkasten, der sein Stück abspielt, ohne daß die menschliche Empfindung, die nur in den Anschlag mittels der Hand hineinzuströmen vermag, zu ihrem Rechte gelangt. Nein, es handelt sich um die Erzeugung der Töne durch unmittelbare Einwirkung der Elektricität auf die Saiten, wobei für die Hand der Druck auf die Tasten gewahrt und es mithin der menschlichen Empfindung unbenommen bleibt, sich im Spiel in reichstem Maße zu äußern.
Eine solche Erfindung liegt vor in dem „elektrophonischen Klavier“ des Dr. Richard Eisenmann, eines Berliner Rechtsanwalts. Dem Erfinder ist schon vor längerer Zeit ein Patent ertheilt worden auf „eine elektromagnetische Mechanik an Flügeln und Pianinos zur Verlängerung einzelner Töne, sowie zur Nachahmung anderer Instrumente“. Auf einem von Hagspiel in Dresden gebauten Flügel angebracht, wurde diese Erfindung auf der elektrotechnischen Ausstellung zu Frankfurt a. M. vorgeführt, und der Zudrang des Publikums zu dem Instrument bewies am besten, welches Aufsehen diese neue Verwendung der Elektricität in den weitesten Kreisen erregt.
Der Gedanke, ein Tastaturinstrument zu erfinden, an welchem man jeden Ton nach Belieben fortdauern und durch mehr oder weniger Druck auf die Tasten anschwellen bezw. abnehmen lassen kann, ist allerdings nicht mehr neu. Unter den älteren Versuchen ist besonders jener bemerkenswerth, welchen Dr. Florens Friedrich Chladni, der Begründer der Akustik als Wissenschaft und seltsamerweise von Beruf ebenfalls Jurist, im Jahre 1800, allerdings auf völlig anderem Wege und ohne Elektricität, angestellt hat und welcher zum Bau seines Klavicylinders führte – eines auf Reibung beruhenden Instruments, dessen Hauptbestandtheile ein wagrecht gelagerter Glas- oder Zinkcylinder, abgestimmte Metallstreifen und eine Tastatur bildeten.
Mit diesem Klavicylinder konnte bereits der Ton vom pianissimo zum fortissimo gesteigert und in beliebiger Stärke festgehalten werden, wenn die Metallstreifen mittels der Tasten gegen den in schnelle Drehung versetzten Glas- oder Zinkcylinder gepreßt wurden, so daß Reibung entstand.
Chladni mag zu dieser Erfindung durch das von Benjamin Franklin erfundene Glasharmonium veranlaßt worden sein, das im wesentlichen aus einem drehbaren Kegel bestand, der aus ineinandergeschobenen und abgestimmten Gläsern zusammengesetzt war und auf welchem in der Weise gespielt wurde, daß während seiner Drehung mit angefeuchteten Fingern fester oder loser gegen die Oberfläche der einzelnen Gläser gedrückt und jedes derselben zum Tönen gebracht wurde.
Auch bei diesem wundervoll klingenden Reibungsinstrument, für welches sich die Gesellschaft zu Ende des vorigen Jahrhunderts lebhaft begeisterte und welchem insbesondere Jean Paul die größte Verehrung entgegentrug, kann der Ton zum Anschwellen gebracht und beliebig lange gehalten werden. Das Klavier dagegen, das Pianoforte und der Flügel, wie überhaupt alle Instrumente, auf welchen der Klang nicht durch Reibung, sondern durch Anschlag hervorgebracht wird, besitzen jene Eigenschaft nicht, so daß man Bindungen, synkopirte Noten und lange Aushaltungen, bei welchen die Töne nach dem ersten Angeben an Stärke zunehmen oder mit gleicher Stärke fortdauern sollen, nicht auf denselben vortragen kann. Erinnert sei nur an die Schwierigkeit, welche es kostet, im Schlußsatze von Robert Schumanns „Papillons“ (op. 2) das tiefe d sechsundzwanzig Takte hindurch zu halten.
Mit der Eisenmannschen Erfindung ist jene schwierige Aufgabe gelöst.
In seiner Lehre von den Tonempfindungen beschrelbt Helmholtz das berühmte Experiment, die Vokale der menschlichen Stimme durch eine Anzahl von Stimmgabeln nachzuahmen, welche durch Elektromagnete in Schwingungen gesetzt werden. Dadurch kam Dr. Eisenmann auf den Gedanken, Elektromagnete mit intermittierendem Strom als Erzeuger der Schwingungen für die Saiten des Flügels und Klaviers zu verwenden, um diese Instrumente gesangreicher zu machen und das Anschwellen und Halten der Töne zu ermöglichen. Demgemäß ist über jeder Saite ein kleiner Hufeisenelektromagnet in geringer Entfernung angeordnet. Alle diese Elektromagnete sind befestigt an einer quer über die Saiten laufenden Leiste. Das eine Drahtende aller Elektromagnete ist an eine gemeinsame Metallschiene gelegt, welche durch den Druck auf ein Pedal mit dem einen Pol einer galvanischen Batterie verbunden wird, deren anderer Pol mit Stromunterbrechern in Verbindung steht. Das zweite [93] Drahtende eines jeden Elektromagneten führt zu je einer Metallfeder, welche durch das Anschlagen der Taste die Schließung der Batterie, unter gleichzeitiger Einschaltung der Stromunterbrecher, herbeiführt.
Jene Stromunterbrecher, als welche der Erfinder anfänglich Stimmgabeln, dann aber mit vortrefflichem Erfolge Mikrophone verwendet hat, sind nothwendig, damit die Saiten an dem Elektromagneten unter der Einwirkung des Stromes nicht haften bleiben, sondern wieder abgestoßen werden. Das eingestrichene a schwingt in der Sekunde 440, das zweigestrichene a 880 und das dreigestrichene a 1760 mal. Wird das dreigestrichene a angeschlagen, so muß also der Strom 1760 mal unterbrochen werden.
In dem Augenblicke, wo nun das vorerwähnte Pedal niedergedrückt und eine Taste angeschlagen wird, fließt ein Strom durch die Umwindungen des zugehörigen Elektromagneten und durch die Mikrophone; diese unterbrechen den Strom ebenso oft, wie die Saite Schwingungen macht, und dieser schwingende Zustand der Saite kann solange angehalten werden, als die Taste niedergehalten wird: so klingt der Ton in gleichmäßiger Stärke beliebig lange fort. Drückt man die Taste nur mäßig nieder, fließt also weniger Strom zu den Elektromagneten, so tönt die Saite leise, um aber stärker und stärker anzuschwellen, je tiefer die Taste herabgedrückt wird und je kräftiger der Strom wirkt.
Die Mikrophone ruhen auf einem dünnen Brettchen über den Saiten, sie könnten aber ebenso gut unmittelbar auf oder unter dem Resonanzboden angebracht werden.
Werden nun zwei oder mehrere Tasten angeschlagen, so theilt sich der Batteriestrom in ebenso viele Zweigströme, welche durch die zu den betreffenden Saiten gehörigen Elektromagnete und Stromunterbrecher fließen und daher nach dem Verhältniß ihrer Verzweigung schwächer werden. Dementsprechend wird auch die Wirkung der Elektromagnete auf die Saiten schwächer und die Tonstärke geringer sein. Um aber beim Anschlagen von Accorden eine unverminderte Tonstärke zu erhalten, ist noch ein besonderes Pedal angebracht, welches beim Niederdrücken die Leiste mit den Elektromagneten den Saiten nähert. Schon eine geringe Annäherung der Elektromagnete an die Saiten genügt, um die Wirkung der ersteren erheblich zu verstärken, da die Anziehungskraft der Elektromagnete im quadratischen Verhältniß zur Entfernung von den Saiten wächst.
Bei der Vorführung der Erfindung in Frankfurt zeigte sich, daß die musikalische Wirkung des elektrophonischen Klaviers eine ganz eigenartige ist. Die gewöhnliche Klangfarbe des Klaviers ist völlig verändert, so daß eigentlich die Bezeichnung als elektrophonisches „Klavier“ nicht ganz zutreffend ist. In den höheren Lagen klingen die Töne ähnlich denen einer vom Winde bewegten Aeolsharfe, in den Mittellagen ähnlich jenen des Cellos und in den tieferen Lagen ähnlich jenen der Orgel und des Harmoniums. Die Vereinigung dieser verschiedenfarbigen Klänge des Instruments ergiebt eine eigenartige, reizvolle Harmonie.
Nicht unerwähnt mag bleiben, daß gleichzeitig elektrisch und mit dem gewöhnlichen Hammerwerk, also gemischt gespielt werden kann. Ebenso ist es möglich, den ganzen elektrischen Apparat völlig außer Thätigkeit zu setzen und einfach wie bisher zu spielen. Auch ist der Apparat an jedem beliebigen Flügel oder Pianino anzubringen, erforderlich sind nur die Elektromagnete, die Mikrophone und eine Batterie von mehreren Elementen welche aber fortfällt, sofern Anschluß an eine elektrische Leitung vorhanden ist.
Was dem Erfinder bei dem elektrophonischen Klavier noch zu thun übrig bleibt, das ist, die Stärke und Modulationsfähigkeit der Töne zu steigern und zu ermöglichen, daß der Spieler den Klangkörper noch mehr wie jetzt beherrschen und seine Empfindung nachdrücklicher in denselben übertragen kann. Aber es steht zu erwarten, daß auch nach diesen Richtungen in kurzem Fortschritte erzielt werden, welche das Instrument zu einem nach unsern Begriffen denkbar vollkommenen erheben.
Jedenfalls handelt es sich um die geniale Lösung eines Problems, welche auf musikalischem Gebiete die bedeutsamsten Nachwirkungen erzeugen dürfte. Zwar behaupten viele, daß unsere gegenwärtigen Flügel und Pianinos das Ausgezeichnetste leisten. Allein dasselbe glaubten auch zu Anfang dieses Jahrhunderts Beethoven und die berühmte Firma Broadwood zu London von den ihrigen. Damals schrieb Beethoven in einem vom 3. Februar 1818 datierten Briefe an jene Firma, daß der ihm geschenkte kostbare Flügel vollkommen sei und ihn zu neuen Inspirationen begeistern werde. Noch jetzt wird jener wenig bekannte Brief von der Firma als ein heiliges Vermächtniß aufbewahrt. Und in unseren Tagen hat sich Hans von Bülow veranlaßt gefunden, in seiner Cottaschen Beethoven-Ausgabe eine Stelle in der As-dur-Sonate (opus 110) umzukomponieren, weil dieselbe nur in Rücksicht auf Beethovens unzureichendes Instrument in solcher verbesserungsbedürftigen Weise habe entstehen können.
Man ersieht aus diesem Beispiele am besten, daß anscheinend Vollkommenes immer durch noch Vollkommeneres ersetzt wird und daß auch auf dem Gebiete der Tastaturinstrumente kein Stillstand stattfinden kann. Fortschritt ist auch auf diesem Felde der Arbeit die einzig gültige Losung.
Neunzig Jahre Männermode.
Unzweifelhaft soll durch die Kleidung der Welt über das Wesen des Trägers Aufschluß gegeben werden. Wenn jemand einen Schlapphut, einen flatternden Schlips, eine Sammetjacke und einen Radmantel trägt, so will er der Welt nicht nur sagen. „Ich gehöre dem Stand der Künstler an!“ sondern auch. „Ich bin ein genialer Mensch!“ Und der eng anliegende Gehrock, der hohe steife Kragen, der sorgfältig gebügelte Cylinder, die Beinkleider mit Stegen sollen nicht nur von dem Reichthum des Besitzers, sondern auch davon Kunde geben, daß er ein ordentlicher Mann sei, ein solcher, der sich seinen Vorgesetzten und der Mitwelt durch Sorgfalt empfiehlt. „Kleider machen Leute!“ sagt das Sprichwort – aber das ist nicht in allen Fällen richtig. Man erkennt auch am Kleid den Charakter des Mannes, denn die Leute machen die Kleider. In genau demselben Anzuge wird der über das Maß des gewöhnlichen Lebens hinausstrebende Künstler anders aussehen als der pflichttreue, in der Einordnung seiner Person in das öffentliche Leben sein Ziel erblickende Beamte! Jener bildet das Kleid nach seiner Individualität durch das bloße Tragen um, dieser trägt sich, wie es das Kleid verlangt.
Die Absicht, etwas durch den Anzug darzustellen, hat wesentlich auf unser modernes Herrengewand Einfluß gehabt. Denn dieses ist unverkennbar eine Nachbildung dessen, was man vor hundert Jahren ein Wertherkostüm nannte. Goethes Werther, der zum Inbegriff der thränenreichen und nervenschwachen Empfindsamkeit wurde, trug eine Kleidung, welche noch heute nicht eben sehr auffallen würde, welche jedenfalls keine der heutigen Mode wesentlich fremde Form hat, außer daß ihr der gesteifte Hemdkragen fehlte. Er trug einen Cylinder, einen Frack, eine Weste, enge Reithosen, hohe Stiefel. Der Frack war farbig – wir kennen nur den schwarzen und auf gewissen Jagden den englischen rothen Frack. Das ist aber auch der einzige grundsätzliche Unterschied in der Kleidung, wenn man dazu nicht rechnen will, daß die hohen Stiefel heute [94] nur noch unmittelbar zum Zweck des Reitens angelegt zu werden pflegen.
Es ist eine nicht ganz einfache Frage, warum denn dieses knappe Reitergewand gerade von dem empfindsamen Helden des Goetheschen Romans gewählt wurde. Sie wird aber alsbald geklärt, wenn man erfährt, daß diese Kleidung in Paris à l’anglaise genannt wurde. Und die Geschichte der Kleidungsart bestätigt dies: es beginnt mit diesem Anzug der vorwiegende Einfluß des bürgerlichen, freiheitlichen und empfindsamen Englands auf die Modenentwicklung.
Schon der Hut bekundet dies, er hat eine lange Geschichte: denn der Vater unseres Cylinders ist der starke Filzhut aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges. Damals diente seine schwere Krempe zur Sicherung gegen Schwerthiebe. Später wurde sie erst an einer, dann an zwei und drei Seiten aufgekrempt und als Dreispitz die Kopfbedeckung der Heere. Die Puritaner Englands und ihre Geistesverwandten in Holland, jene Leute, welche auf allen äußeren Tand verzichteten und in dunkeln Farben das ihnen allein anständige Kleid finden zu können glaubten, sie scheuten sich, die Krempen keck aufzubiegen, sie trugen auf den „Rundköpfen“, den kurz verschnittenen, perückenlosen Häuptern, den absichtlich häßlichen hohen Hut. Er ging von England nach Amerika über und wurde die Kopfbedeckung der Freiheitskämpfer der Vereinigten Staaten. Dadurch wurde er zu einem der Sturmzeichen der politischen Revolution in Frankreich wie der litterarischen in Deutschland. Nicht nur Werther, sondern auch Camille Desmoulins trug ihn.
Auch in anderer Beziehung war das Wertherkostüm das der jungen Geistesrichtung. Es war das des Reiters, des in freier Luft sich Bewegenden, also des naturliebenden, einfachen und natürlichen Menschen, während das andere Gewand, jenes mit Schuhen und Strümpfen, Galanteriedegen und offener, mit dem Jabot geschmückter Weste, das Kleid der Salons, der vornehmen Welt, der überfeinerten und entsittlichten französischen Gesellschaft war. Wie in der braunen Sammetjacke des Künstlers selbst etwas Genialisches nicht liegt, sondern nur in der Gewohnheit, dieses noch aus den Tagen der Befreiungskriege stammende Kleidungsstück für ein Zeichen der Loslösung vom allzu strengen Zwang der geselligen Sitte zu halten, so war das Wertherkostüm in seiner Knappheit und vermeintlichen Natürlichkeit das eigentliche Zeichen der Ideen Addisons, Swifts, Rousseaus und Montesquieus. Im Wertherkostüm ging man vom Klassizismus zur Naturschwärmerei, von Homer zu Ossian über, von der Ueberfeinerung und der in dieser lebenden Dürre zur Natur und zu hingebendem Gefühlsleben. Der einzelne Träger war sich dieser kulturgeschichtlichen That sicher nicht bewußt. Aber der Geist der Zeit wirkte trotzdem in der Kleidung wie in jedem Werke aus Menschenhand.
Die franzosische Revolution hatte die englische Sitte in ihrer Weise abgeändert, indem sie die Kniehosen zum englischen Frack hinzufügte. Sie schuf keinen neuen Kleidertypus, sondern nur eine schrullenhafte Verbindung und Verunstaltung der beiden alten. Das Kinn verschwand vollständig in einer hohen Binde aus feinem Batist, die bis an die Backenknochen reichte, die Weste und der Frack bedeckten kaum den Magen, während die Schöße endlos lang herab reichten, die Hose begann an der Brust und endete über dem Knie: es war die Zeit der „Merveilleux“ und „Incroyables“. Denn „Wunderbare“ oder „Unglaubliche“ nannte man die Stutzer jener Zeit, Leute, die ein für den Verständigen unmöglich scheinendes Gewand liebten. Sie ahmten das hochgeschnürte Gewand der Frauen nach, bei dem auch aller Schmuck auf Brust, Hals und Kopf vereinigt war. Der Welt blieb als dauerndes Angebinde dieser Modenausschweifung das Halstuch, jene hohe Binde, die sie erst in den siebziger Jahren für den Civilstand los wurde. Noch heute tragen sie in veränderter Form unser Heer und der preußische Geheimrath. Es scheint, als könne die Welt nicht vergessen, eine wie kitzlige Stelle des Körpers in der Zeit der Schreckensherrschaft der Hals war, und als müsse sich der vorsichtige Beamte heute noch durch Tücher vor den Unannehmlichkeiten des Fallbeils schützen.
Jenes Kostüm der Merveilleux und Incroyables war also der Widerpart gegen die Schreckenszeit, das Kleid ihrer republikanischen Ueberwinder. Es sollte nach den Tagen der Gleichheit das Recht der Eigenart darstellen. Die junge männliche Welt kehrte zu den hellen fröhlichen Farben zurück, welche sonst den Hof beherrscht hatten. „Man giebt,“ sagt ein Modeblatt jener Zeit, „nicht nur in den Gesinnungen und Grundsätzen, sondern sogar in den Pelzmützen dem Hellen den Vorzug vor dem Dunkeln.“
Die Halsbinde war aus geblümtem Musselin, die Weste aus weißem Kaschmir oder Manchester; der seidene Rock war in lila und grün „gegittert“ und hatte zwei Kragen, einen hochaufstehenden und einen umgeklappten, beide aus grünem Sammet; die Beinkleider waren aus rothem Kaschmir, „ungarisch“, sehr eng, die Stiefel à la Suwarow, also nach russischem Vorbild mit „bottes collantes“, das heißt engen, gelb gefirnißten Umschlägen und mit kleinen Sporen; ein „Busenstreif“ drang mit seinem Gefältel aus der bunt eingefaßten Weste hervor, aus deren Taschen mächtige „Parade-Petschafte“ niederhingen.
Dazu kam der Tituskopf, dessen Natur schon wieder zu völliger Unnatur geworden war: „Vor zehn Jahren,“ sagt ein Bericht von 1800, „hätte ein Mädchen einen Bräutigam mit einer Perücke ausgeschlagen, jetzt sind die Perückenköpfe wieder in Mode!“
Und zwar gehörte der Backenbart mit zu dieser Mode, die es liebte, das Kopfhaar blond, den Bart aber schwarz zu tragen. Die Haarbeutel, das Pudern kamen an den Höfen wieder auf, selbst Napoleon ordnete es für seine Hofbeamten an.
Damals erfand man auch den niedrigen steifen
Hut, der jetzt so viel getragen wird. Das
Modejournal, welches ihn zuerst darstellt, thut dies nicht,
ohne ihn eine Karikatur zu nennen und ihn dem
Gelächter preiszugeben. Ich sah mit stiller
Wehmuth die hübschen Formen, welche dieser Hut
anfangs erhielt, ehe er in die allerabscheulichste,
die kugelrunde von heute, gepreßt wurde.
So trugen sich die „Elegants“ des beginnenden Jahrhunderts, indem sie scheinbar alle Thorheiten der alten Zeit auf die neue zu häufen bemüht waren. Aber schnell verging die Ausschweifung. Napoleon legte ihr selbst Zügel an, seit er Kaiser geworden war. Schon 1810 war der völlige Katzenjammer da, man erkannte, daß man „vor dem Götzen des Ungeschmackes die Kniee gebeugt habe“, und kehrte zur Natur, zum Wertherkostüm zurück, an dem nun allerlei kleine Wandlungen vorzunehmen die ganze Aufgabe der Mode wurde.
Als die wichtigste Frage erscheint die Gestaltung des Beinkleides. Man unterschied damals „Hosen“ und „Pantalons“, und zwar verstand man unter ersteren das, was wir heute „Kniehose“ nennen würden, unter „Pantalon“ ein die ganze Länge des Beines umfassendes Kleidungsstück. Im Mittethochdeutschen heißt die Kniehose „Bruoch“, während unter Hose ursprünglich und zum Beispiel in Westfalen heute noch das verstanden wird, was wir jetzt Strumpf nennen. Daher spricht man jetzt noch wie von einem Paar Strümpfen auch von einem Paar Hosen und verstand noch im 17. Jahrhundert unter dem Witzwort der „Partei mit den langen Hosen“ nicht etwa die Männer, sondern die Frauen. Die Hose war also ein schlauchförmiges Ding; als solches erscheint sie noch im Wort „Windhose“; daher ist ferner der „Hosier“ in England immer noch der Strumpfhändler. Dann erst wurde durch das „Hosenbändel“ Bruoch und Hose fester aneinander geknüpft und ging der letztere Name auf beide Theile über, ja blieb endlich auf der Kniehose, dem alten Bruoch, sitzen. Als um 1800 die Deutschen für ein Kleid von ganzer Beinlänge keinen Namen mehr wußten, begnügten sie sich mit dem aus dem Französischen angenommenen „Pantalon“. Dies wieder ist ein Spottwort, welches von Pantalone, dem Narren der italienischen Posse, abstammt, der lächerlich lange und weite schlauchartige Beinkleider trug. Von da wurde es auf das Beinkleid des 19. Jahrhunderts übertragen, welches seiner Form nach mit Fug und Recht Hose genannt werden kann.
[95] Anfangs wurde dieses ganz eng, sorgfältig nach den Formen des Beins zugeschnitten, erhielt aber am unteren Ende seitlich einen zuzuknöpfenden Schlitz, damit es über den Fuß gezogen werden konnte. Gelber Nankin war der bevorzugte Stoff dieses Kleidungsstückes. Dieser Anzug war sehr leicht und zierlich; er paßte sowohl für die Schuhe als für die langen noch beliebten Stiefel. Vielfach trug man auch Gamaschen, die über Schuh und Strumpf geknüpft wurden. Bis in die zwanziger Jahre hinein ging man selbst auf Bälle in hohen Stiefeln, die vielfach reich verziert wurden, am oberen Abschlusse Posamenten und Quasten zeigten, umgeschlagen und verbrämt waren. Die Aerzte wendeten sich gegen sie, weil man sich beim Ausziehen erkälte, ferner weil ihre große Wärme Blutandrang zum Kopf, „Kriebeln“ an den Füßen, endlich Kopfweh und Schlagfluß verursache. Aber noch heute leben sie weiter, wenn auch heimlich, unter weiten Hosen getragen als Schaftstiefel.
Die Knöpfe, mit welchen man die Beinkleider am Knöchel schloß, führte man vielfach in einer langen Reihe längs der Naht empor, als wenn das ganze Beinkleid seitlich sich öffnete. Die Lützowsche Freischar trug z. B. solche Knopfreihen. Aber mehr und mehr kam man dazu, die Hosen in weiteren Maßen zuzuschneiden, so daß sie bald um die Waden des Trägers flatterten. Anfangs reichten sie nicht bis auf den Fuß, sie zeigten noch den Strumpf und den Halbschuh; dann nach den Befreiungskriegen kamen die russischen „Pantalons“ auf, die zwar über dem Knöchel gebunden wurden, aber so weit und lang zugeschnitten waren, daß ihre Bauschen bis auf den Boden fielen. Weiche Stiefel in Kastor oder Juchten gehörten zu dieser Tracht. In den zwanziger Jahren hat das Beinkleid endlich die Gestalt erlangt, die es im wesentlichen noch heute besitzt: es ist ein vom Schneider aus starkem Tuch gefertigtes, von der Taille bis auf den Stiefel reichendes, häufig an diesem durch Stege befestigtes Gewand. Ob nun wie in den zwanziger, vierziger und sechziger Jahren oben am Bund Einnäher gemacht werden, damit der Träger an den Hüften breit aussehe, oder ob die Beinkleider an den Knieen eng und unten weit erscheinen, wie sie Jungdeutschland um 1830, der preußische Offizier bis etwa 1880 liebte und die Marine noch heute trägt, ob sie eng sich spannen, damit die Formen des Beines deutlich sichtbar werden, ob sie zu lang gemacht werden, damit sie sich in Falten stauchen, wie es die österreichischen Offiziere lieben, ob sie ballonartig aufgebauscht sind wie in der Blüthezeit der Krinoline, oder gleich weiten Säcken nach dem Vorbild der englischen Lawn-Tennis-Anzüge – das sind so kleine Scherze der Mode, in denen ein ernsterer Sinn kaum zu erkennen ist: es sind die Phantasieblüthen der Schneider und Modejournalzeichner.
Ich erinnere mich sehr lebhaft des Staunens, als ich, in jungen Jahren zum Hofball eines deutschen Fürsten geladen, auf der Ansage die Bemerkung fand „Anzug: Schuhe und Strümpfe.“ Ich war zwar Soldat gewesen und hatte die löbliche, weil praktische Einrichtung der leinenen Fußlappen kennengelernt. Wollte der Fürst sich durch jene Bemerkung davor verwahren, daß ein Gast solche in langen Stiefeln trüge? Darauf, daß diese Nachricht nur den Hofbeamten gelte, kam ich erst während des Festes selbst, nachdem ich mit Selbstgefühl mich gekleidet hatte wie zu jedem andern Balle, entschlossen, allen Angriffen auf mein Selbstbestimmungsrecht zu trotzen, falls man von mir Unbilliges fordern sollte. Um sicher zu gehen, hatte ich mir neue Lackstiefeletten gekauft – wenn schon auf das Fußzeug so viel Gewicht gelegt ward!
Noch heute trägt man ja an den Höfen das alte französische Kleid, die enge Kniehose und den bestickten Frack. In der Gesellschaft, deren Kleid nicht von oben geregelt wird, erhielt es sich bloß bis in die dreißiger Jahre. Die hellen Farben verschwanden aber auch hier mehr und mehr. Sie blieben wie überall das Vorrecht der Uniform. Am längsten hielten sie sich an den Westen und an den mächtigen Binden. Lange waren Frack und Beinkleider wenn auch schwarz, so doch noch von Seide, Atlas oder einem gerippten, „Cords“ genannten Stoff. Erst seit den vierziger Jahren herrscht das Tuch allgemein, verschwindet das tiefe Blau und Grün, verlieren sich selbst die Goldknöpfe vor dem matten Schwarz des heutigen Gesellschaftsanzuges. Und so war das moderne Ballkostüm fertig!
Die Halsbinden blieben am längsten Versuchsfelder für einschneidendere Neuerungen. Zwar machte das 19. Jahrhundert das Kinn bald wieder frei, aber es blieb dabei, den Hals mächtig zu recken. Man sehe nur alte Uniformen mit ihren unglaublich hohen Kragen und Binden an! Die deutsche Armee trägt sie heute noch, diese Erfindung der Revolutionszeit, wenn auch in gemilderten Abmessungen. Es galt 1823 für eine große Neuerung, als statt der fest geschneiderten, mit Fischbein oder Draht ausgesteiften Binden aus England solche kamen, die man sich selbst anlegen konnte. Hatten sich doch die „Kleinmeister“ bisher besondere Leute gehalten, die gleich dem Friseur aufs Zimmer kamen, um die Binde anzulegen oder gegen einen Gulden Lehrgeld eine neue Mode ihrer Kunst zu lehren.
Lange Jahrzehnte ist so der Hals kunstgerecht verbarrikadiert worden. Erst die Nähmaschine hat hier Wandel geschaffen, weil sie die Hemdenmode beeinflußte und an Stelle der „Chemischen“, jener Vorhemden, welche sich nur zu oft durch die hinten zwischen den Frackschößen heraushängenden Bändchen peinlich bemerkbar machten, die Hemden mit fester Brust einführte. Jetzt konnte man diese ja auf billige Weise fälteln, so daß es nicht als Luxus erschien, sie mit dem Hemd selbst zur Wäsche zu schicken, man konnte sie steifen, wie man vorher nur die Binde gesteift hatte, jenen wunderbaren Leinwandpanzer schaffen, der heute noch die Männerbrust nach vorne deckt. Erst in den sechziger Jahren wurde es allgemein Sitte, die Kragen an das nun mit dem Hemd vereinigte Vorhemdchen angeknöpft zu tragen, und die Mode begann sich hauptsächlich auf die Gestaltung dieser Leinwandkragen zu werfen, endlich durch den Klappkragen – wenn ich nicht irre, auch in den sechziger Jahren – den Hals der großen Mehrzahl der Männer wieder befreiend. Byron freilich und die deutschen Idealisten hatten diese Tracht schon vierzig Jahre früher anzubahnen gesucht. Mit dem Stehkragen trat an Stelle der Binde der Schlips, wieder, wie der Name sagt (von slip, Knoten), eine englische Erfindung, ursprüglich jenes geknotete Tuch, welches die Seeleute tragen, später ein schmaler bandartiger Streifen, endlich eine vom Fabrikanten mit allerhand „Mechanique“ zum Anschnallen ausgestattete Schleife. Der Klappkragen ist leider, wie es scheint, wieder im Verschwinden. Als ich mich im vorigen Frühjahr in England aufhielt, mußte ich mir schon Stehkragen kaufen, weil ich nur für solche geeignete Schlipse vorfand. Ein Ladenfräulein in einem nahe dem Hafen von Liverpool gelegenen großen Geschäft fragte mich ohne schelmische Absicht, als ich ihr meine Noth klagte, ob ich aus Australien käme?
Der Schlips hat sein Gegenstück in der Krawatte, deren Name vielleicht vom englischen craw, Kropf, abstammt.
Beide zusammen haben als verkünstelter Rest des frei geschlungenen Halstuches noch heute das Vorrecht, farbig sein zu dürfen und den kleinen Fleck am Kleide des Mannes darzustellen an welchem er einen selbständigeren Geschmack bekunden darf – soweit er etwas diesem Entsprechendes in den Läden findet!
[96]
Fürstenworte als Fürstenspiegel.
Der griechische Geschichtschreiber Plutarch sagt irgendwo einmal, daß es für die Erkenntniß der Geschichte oft wichtiger sei, eine bezeichnende Aeußerung eines hervorragenden Mannes zu wissen, als in lange Beschreibungen von Kriegen und Schlachten sich zu vertiefen; denn aus einer einzigen Aeußerung lasse sich oft das ganze Wesen eines solchen Mannes abnehmen. Unter diesem Gesichtspunkt stellen wir im Nachfolgenden eine Anzahl von Worten bedeutender Herrscher zusammen; nicht bloß zur Nachahmung fordern sie auf, sie zeigen auch Abwege, auf die ein Fürst gerathen kann.
Die Reihe der römischen Kaiser eröffnet Augustus, dem das römische Volk die Herstellung des Friedens nach den Greueln der Bürgerkriege dankt: nicht ohne Grund hat es ihm den Namen eines Vaters des Vaterlandes aufgedrungen; die Lobsprüche der Dichter seiner Zeit waren insofern wohlverdient, als er einer der größten Reorganisatoren der Geschichte ist. Obwohl er das Heer in seiner Hand hatte, gründete er doch nicht, wie man gewöhnlich sagt, schlechthin die Monarchie; er theilte die Gewalt mit dem Senat, dem hohen Rath des Reiches, in welchem die Angehörigen der alten aristokratischen Geschlechter vertreten waren, und ließ sich in der Debatte widersprechen, ohne zu zürnen. Als einem gewissen Aemilius Aelianus vorgeworfen ward, er denke schlecht vom Kaiser, weigerte sich Augustus, eine Untersuchung anzuordnen: „Es ist genug, wenn man uns nicht thätlich schaden kann!“ Er hörte es mit an, daß ihm, wenn er wohl über die Hitze der Debatten im Senat sich verstimmt zeigte, gesagt wurde, es müsse den Senatoren frei stehen, sich über die öffentlichen Angelegenheiten unumwunden zu äußern. Der Sitte nach empfahl er seine Stiefsöhne und Enkel dem Volke bei den Wahlen zu den Ehrenämtern. „Wählt sie,“ sagte er dann, „wenn sie es verdienen"; niemals ließ er diesen Zusatz weg. Bei seinem Tode fragte er die sein Bett umstehenden Freunde, ob sie glaubten, daß er seine Lebensrolle gut durchgeführt habe; im Sterben wünschte er, ein gutes Zeugniß über sich zu erhalten, und die Geschichte hat es ihm nicht versagt, wenn wir auch wohl wissen, daß seine Persönlichkeit oft in entgegengesetztem Sinne aufgefaßt worden ist.
Wie oft ist sein Stiefsohn und Nachfolger Tiberius als ein Scheusal ohnegleichen abgeschildert worden, weil man über ihn nichts hörte als den Klatsch der Hauptstadt. Für Kammerdiener, sagte der Marschall Catinat und nach ihm Hegel, giebt es keine Helden. Aber die große Anklageakte, welche der Geschichtschreiber Tacitus über ihn zusammengestellt hat und welche mit der Wirkung eines in sich geschlossenen Kunstwerks die Seelen der Leser ergreift – sie enthält doch auch zahlreiche Dinge, welche ihre eigene Wirkung aufheben.
Als das jenseitige Spanien beim Senat um die Erlaubniß bat, dem Tiberius und seiner Mutter einen Tempel erbauen zu dürfen, da lehnte er es nach des Tacitus eigenem Bericht mit den schönen Worten ab! „Die Nachwelt wird meinem Andenken mehr als genug Ehre erweisen, wenn sie urtheilt, daß ich meiner Ahnen werth, für euer Wohl besorgt, standhaft in Gefahr und im Interesse des Gemeinwesens nicht furchtsam vor Feindseligkeiten gewesen sei. Das sollen meine Tempel in euren Herzen sein, das meine Bilder, und zwar solche, die dauern werden. Bilder aus Stein werden gleich Gräbern gemieden, wenn das Urtheil der Nachwelt umschlägt. Ich bitte die Götter, daß sie mir bis zum Schluß meines Lebens einen maßvollen Sinn erhalten, welcher weiß, was Menschen und Göttern recht ist; meine Mitbürger und die Bundesgenossen aber bitte ich, daß sie mir, wenn ich einst abgeschieden bin, ein gutes Gedenken bewahren.“ Ist es möglich, daß ein Fürst, vor dem alles zu kriechen bereit ist, schöner und würdiger die andern, zum Bewußtsein dessen erweckt, was ihm und was ihnen geziemt?
Als ihn einer mit dominus, Herr, anredete – worin lag, daß er seinen Willen den Bürgern wie seinen Sklaven auflegen könne – da verbat er es sich als eine ihm angethane Schmach. Schriften, welche ihn und die Seinen angriffen, ließ er ohne Anstand verbreitet werden; „denn in einem freien Staate müßten Zunge und Gesinnung frei sein.“ Gewiß, Tiberius hatte seine Schattenseiten, aber in den wichtigsten Fragen dachte er größer als mancher gepriesene Herrscher, welcher von der Menge weit über ihn erhoben wird. Je entschiedener er seine Stellung an der Spitze des Staates behauptete, desto mehr war er davon überzeugt, daß er diese Stellung täglich verdienen müsse; die Kritik, die er nicht verwarf, suchte er zu entwaffnen durch seine Thaten.
Von den mittelalterlichen deutschen Herrschern wollen wir vor allem einen herausgreifen, welcher vorbildlich ist für die besten unter ihnen, Karl den Großen. In dem Augenblick, wo der Stand der Gemeinfreien der mächtigen Ausbreitung des Lehnswesens zu erliegen, von den großen Grundherren abhängig zu werden begann, hat er den Grundsatz aufgestellt: „Jeder Grundherr muß seine Armen von seinen Lehen oder seiner eigenen Familie ernähren und darf nicht zugeben, daß sie anderswohin gehen und betteln.“ Er hat damit die Armen nicht bloß auf die Almosen verwiesen, sondern ihnen, wie der Kirchenhistoriker Albert Hauck sagt, ein Recht auf Hilfe gewährt – was das besagt, das weiß unser Geschlecht besser als irgend ein früheres.
Das Mittelalter ist die eigentlich kirchliche Periode der Menschheit gewesen, es mißt auch den Herrscher mit dem dadurch [97] gegebenen Maßstab. Wer wollte bestreiten, daß der Schutz der Religion im Interesse der Herrscher wie der Beherrschten gelegen ist; aber selbst derjenige französische König, welcher der Heilige schlechtweg heißt, Ludwig IX., hat begriffen, auf was es dabei ankommt. Er äußerte wohl, es sei besser, aussätzig zu sein als eine Todsünde zu begehen, weil der Aussatz nur den Leib, die Todsünde aber die Seele verderbe; allein diese Frömmigkeit war nicht knechtischer Art. Einst klagten die Erzbischöfe und Bischöfe seines Reiches, daß so viele Leute im Banne der Kirche stürben; der König möge durch seine Statthalter und Vögte anordnen, daß die, welche ein Jahr und einen Tag gebannt seien, sich bei Verlust ihres Vermögens um Absolution durch die Priester bemühen müßten. Darauf antwortete der fromme Monarch. „Das will ich gerne allen denen befehlen, von denen Ihr mir gewiß macht, daß sie unrecht haben; anders aber nicht, da ich sonst gegen Gott und gegen sie mich versündigen würde.“
Der König begriff sehr gut, daß die Prälaten ihre eigene Autorität mit der vorgeblichen Rücksicht auf das Ansehen der Kirche Christi decken wollten. Mit fester Hand zerriß er diesen Schleier; wer mit Unrecht gebannt ist, braucht keine Absolution; den Satz: „Die Kirche hat gesprochen, die Sache ist erledigt,“ läßt er nicht gelten, weil er sich nicht Priestern verantwortlich weiß, sondern Gott.
Ein Zeitgenosse des heiligen Ludwig war Friedrich II., der Hohenstaufe, einer der geistvollsten und gewaltigsten Fürsten des Mittelalters, welcher in vielen Stücken seiner Zeit voraus war. Er schuf in Neapel und Sicilien einen bureaukratisch regierten Staat; inmitten einer Zeit, wo das Lehnswesen noch die Grundlage des staatlichen Lebens war, hat er neue und feste Stützen seiner Macht gefunden. Oft hat man ihn als einen von der Kirche abtrünnigen Ketzer bezeichnet, schon bei seinen Lebzeiten, und es unterliegt keinem Zweifel, daß er innerlich freier dachte, als man von dem Manne erwarten sollte, welcher, um den Papst nicht unnöthig zu reizen und schlimmen Verdacht auf sich zu laden, die Einführung der Inquisition in Deutschland geschehen ließ. Ein Anzeichen dieser inneren Loslösung von dem Ueberlieferten und dabei ein lehrreiches und wehmüthiges Bekenntniß von den Schranken, welche Zeit und Menschen auch dem Mächtigsten ziehen, ist sein Wort: „Wer darf im Leben das scheinen, was er ist?“
Die Gestalt Friedrichs II. gehört schon in die Pforten des Uebergangszeitalters vom Mittelalter zur Neuzeit. Die Monarchie dieser neuen Zeit hat die feudale Aristokratie überwältigt welche als der Stand der Kriegsleute und der Grundherren sich zwischen das Königthum und die Masse des Volks hineingeschoben und jahrhundertelang jenem Schach geboten, diese aber ausgesogen hatte. Indem das Königthum die unbeschränkte Gewalt an sich brachte, erlangte es die Möglichkeit, sich der unteren Schichten des Volkes anzunehmen, zu welchen ihm Jahrhunderte hindurch sozusagen der Zugang fast versperrt gewesen war. Der Absolutismus des 17. Jahrhunderts ist deshalb kein Rückschritt in der Geschichte, sondern ein Fortschritt: durch ihn ward die tiefe Kluft einigermaßen ausgefüllt, die zwischen dem Adel und dem Volke gegähnt hatte, und der Gleichheit aller vor dem Gesetze vorgearbeitet. Der Absolutismus war ein Zuchtmeister zur Freiheit. Einer der tüchtigsten Vertreter dieses Absolutismus war Heinrich IV. von Frankreich, mit welchem 1589 das Haus Bourbon auf den Thron gelangte. Er wollte, sagt ein Bericht, überall und in allem König sein; deshalb war auch sein Leben wiederholt von Verschwörungen der Edelleute bedroht, und er ist schließlich unter dem Messer Ravaillacs gefallen, welcher nicht bloß den König als Verräther an der Kirche haßte, weil er dieser die Hugenotten nicht unterworfen habe, sondern auch, was oft übersehen wird, ein früherer Diener des hingerichteten Verschwörers Biron gewesen ist. Dem Volke war Heinrich ein gütiger Vater, von dem das Wort herumgetragen ward: „Ich will, daß am Sonntag jeder Bauer sein Huhn im Topfe habe.“ Die Leute nannten ihn schlechtweg den „guten König“, und Frankreich hat unter ihm nach den Greueln eines dreißigjährigen Religions- und Bürgerkriegs, in welchem über 130 000 Häuser niederbrannten, eine Wiederauferstehung gefeiert, gegen welche die nach 1871, so großartig sie war, sich doch wie ein Kinderspiel ausnimmt.
Unter Heinrichs Enkel, Ludwig XIV., erstieg der französische Absolutismus den Höhepunkt. Es wäre ungerecht, dem König eine gewisse Größe abzusprechen. Macaulay rühmt ihm eine der Haupttugenden eines Herrschers nach, daß er nämlich verstanden habe, die richtigen Männer für jede Aufgabe zu finden, und in der That ist es königlich, die Kräfte des Landes zu überblicken und sie, eine jede an ihrem Orte, in Bewegung zu setzen; auch hat der König Frankreich für Jahrzehnte an die Spitze des Welttheils gebracht. Aber er erstickte durch seine Selbstherrschaft jeden unabhängigen Willen. Es ist bezeichnend dafür, daß der erste Feldherr Frankreichs, der Vicomte de Turenne, 1668 mit der Begründung zum Katholicismus übertrat, es gezieme ihm nicht, eine andere Religion zu haben als der König. Ludwig XIV. soll, als ein Richter die Worte gebrauchte[:] „Der König und der Staat“, ihn unterbrochen und majestätisch ausgerufen haben. „Der Staat, das bin ich,“ „l’etat, c’est moi“ –: das will heißen: in meiner Person verkörpert sich das Ganze; wer mir widerstrebt, der widerstrebt dem Ganzen. Dabei bleibt dann freilich nur ein Wille übrig, der oberstes Gesetz für alle anderen ist. Diese Ueberspannung des monarchischen Prinzips führte mit Nothwendigkeit schließlich zum entgegengesetzten Satze, daß, wenn der Staat nicht in einer Person aufgehen, wenn Platz für die anderen sein solle, man mit dem Königthum gründlich aufräumen müsse. Durch sehr erkennbare Zusammenhänge, wenn sie auch nur allmählich in Wirkung getreten sind, hängt die Revolution von 1792 mit all ihren Schrecken zusammen mit dem System Ludwigs XIV.
Der Absolutismus hat auch in Deutschland und Preußen seine geschichtliche Sendung gehabt und vollbracht; es gab auch dort ein feudales, bezw. patrizisches Joch, unter dem die Masse des Volks seufzte. Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, fand in Cleve Zustände von schreiender Ungleichheit vor, der Bauer war dreimal härter belastet als der Städter; auch das [98] war eine Erbschaft aus früheren Zeiten, daß zwar das stolze und kraftvolle Bürgerthum sich hinaufgearbeitet hatte, der Bauer aber – namentlich seit dem Aufkommen des römischen Rechts, das jeden zu Bodenzins verpflichteten Mann als hörig ansieht, und seit der gewaltigen Katastrophe des Bauernkriegs – immer tiefer hinabgedrückt ward. Friedrich Wilhelm war sich bewußt, daß er verpflichtet sei, des Volkes sich anzunehmen; er hat einmal seinen Söhnen den Satz als Wahlspruch diktiert: „Ich werde das Regiment so führen, daß ich stets eingedenk bleibe, es sei des Volkes und nicht meine persönliche Sache!“ Dem, der diesen Satz zuerst auswendig wisse, hat er sechs Dukaten versprochen. Wer vermöchte zu verkennen, daß in diesen Worten eine andere Art von Absolutismus sich ausspricht als in dem „l’état, c’est moi!“ Der Herrscher übt noch die selbstherrliche Gewalt aus; aber er fühlt sich als Beauftragten des Volkes, der Gesammtheit, welche hinter Ludwig XIV. sozusagen verschwunden war. Und was Friedrich Wilhelm fühlte, das hat sein Urenkel Friedrich II., der Große, klar ausgedrückt in seiner Vorrede zum „Antimacchiavell“, zu dem Werke, in dem er als Kronprinz sein politisches Glaubensbekenntniß ablegte: „Das Wohl der Völker, die er regiert, muß der Fürst jedem andern Interesse vorziehen. Der Souverän, weit entfernt, der unumschränkte Herr der Völker zu sein, die unter seinem Regiment stehen, ist nur ihr erster Diener“ – „le premier domestique“. Seine Hauptfürsorge wendete der König den kleinen Leuten zu. Als Schlesien ihm 1741 huldigte, da durften die Bürgerlichen stehen, während der Adel knieen mußte: Friedrich wollte „le roi des gueux“, der „König der Armen“ sein.
Man hat diese Art des Despotismus den „aufgeklärten“ Despotismus genannt; neben Friedrich dem Großen ist sein Hauptvertreter Joseph II.; ja dieser ist vielleicht der lehrreichste Typus der ganzen Richtung. Wenn irgend ein Fürst es mit seinen Unterthanen gut gemeint hat, so war er es: er hat von sich bezeugt, daß in ihm ein „wahrer Fanatismus für das Staatswohl“ wohne, dem er alles opfere. Mit Recht sagt deshalb die Inschrift auf seinem Denkmal zu Wien von ihm: „reipublicae vixit, non diu, sed totus“ – „er lebte dem Gemeinwesen, nicht lange, aber ganz.“ Allein indem Joseph II. die Menschen beglücken wollte, fragte er nichts danach, ob sie seine Maßregeln auch als Beglückung empfänden; den ihm entgegentretenden Widerstand glaubte er zerschmettern zu dürfen, ja zu müssen, um die Bahn zum Guten frei zu machen. „Alles,“ sagt Ludwig Häusser, „sollte ohne Vorarbeit, im Sturm erreicht werden; die Aufgaben, zu denen in Preußen über ein Jahrhundert und drei hervorragende Regenten nöthig gewesen waren, wollte er mit der Ungeduld des Enthusiasten lösen. In seinem Freisinn und seiner Humanität war ein gut Stück Despotismus und Absolutismus versteckt.“ Da sich nicht alles im Handumdrehen anders machen ließ, so entstand „ein Mittelzustand zwischen Altem und Neuem, der wegen seiner Unentschiedenheit auch die Besten verstimmte.“ Joseph II. hatte nach dem Bericht eines Engländers strenge und feste Grundsätze über Gerechtigkeit und Billigkeit, und kein Herrscher konnte ein größerer Feind der Unterdrückung sein. „Es ist jedoch eine gewisse Härte und Steifheit in ihm, welche erst die Reife und die Erfahrung des Alters mildern kann und welche ihn zu schnell und zu oft zu dem Schlusse verleitet: dies ist recht, also soll und muß es sein. Er bedenkt zu wenig, mit welcher außerordentlichen Vorsicht allgemeine Neuerungen eingeführt werden müssen, selbst wenn sie weise sind.“ Indem Joseph II. neben der Riesenaufgabe einer Modernisierung des österreichischen Staats auch noch die Last eines auswärtigen Krieges auf sich nahm, brach seine Kraft zusammen. Er bleibt der Befreier der Bauern vom Joch der Leibeigenschaft, der Begründer einer wenn auch noch eingeschränkten religiösen Duldung; aber er scheitert mit seinem Versuch, die römische Kirche in Oesterreich zu entwurzeln, alle Provinzen und Völker zu einem einheitlichen Ganzen zu verschmelzen, Slaven und Magyaren zu verdeutschen; er nennt sich kurz vor seinem frühen Tode – er starb im 50. Lebensjahr – den „Unglücklichsten aller Sterblichen“. Im Angesichte des Todes war er ruhig in seinem Gewissen; aber ihn kränkte, „daß er durch so viel Lebensplage so wenig Glückliche und so viel Undankbare gemacht habe.“
Joseph II. ist ein Beweis dafür, daß der beste Herrscherwille nicht genügt, wenn er nicht von praktischer Weisheit und Kenntniß der Menschen berathen wird. Die Niederländer, welche sich gegen ihn erhoben, haben ihm mit ähnlicher Begründung den Gehorsam aufgesagt wie ihre Vorfahren einst Philipp II.: „Er hat den uns geleisteten Schwur gebrochen; also sind wir auch unseres Eides quitt.“
Und doch – welch ein Unterschied zwischen dem menschenfreundlichen Joseph II. und dem strengen Despoten Philipp II., welcher nicht einmal dem hohen Adel des Deutschen Reichs einen huldvollen Blick oder eine Verbeugung gönnte! So ist Joseph II. die schlechthin tragische Gestalt unter den aufgeklärten Despoten, die alles für das Volk thun wollten, aber nichts durch das Volk. Die Zeit dieses Regiments war aber schon vor hundert Jahren um, und mit Recht hat Karl Grün im Dezember 1880 in der Allg. Zeitung an das Wort Macchiavellis erinnert: „Der Fürst wird glücklich sein, dessen Streben und Handeln mit dem Charakter seiner Zeit übereinstimmt; denjenigen aber wird das Unglück verfolgen, dessen Streben und Handeln mit dem Zeitgeist in Widerspruch ist.“ Joseph II. war in einem solchen Widerspruch, manchmal weniger nach Seite seiner Absichten, als nach der seiner Mittel; aber seine Mittel wurden seinen Absichten verderblich. Verus.
Friedrich Harkort. Es ist ein prächtiges Charakterbild, das des „alten Harkort“, des wetterharten Westfalen, des unermüdlichen Kämpfers für wirthschaftlichen und sittlichen Fortschritt, das uns aus der Geschichte seines Lebens und seiner Zeit von L. Berger entgegenleuchtet. Den älteren Lesern der „Gartenlaube“ ist der „alte Fritz“ kein Fremder. Im Jahrgange 1870 und wiederholt ist über ihn berichtet worden. Die jetzt von seinem Schwiegersohne herausgegebene ausgezeichnete Biographie ermöglicht es, die Laufbahn des trefflichen Mannes ins einzelne zu verfolgen; aber nicht bloß das: der Verfasser hat es auch verstanden, für die einzelnen Abschnitte dieses Lebensganges den allgemeinen politischen und kulturgeschichtlichen Hintergrund in wirkungsvoller Deutlichkeit zu entwerfen und uns so die Bedeutung des Geschilderten erst recht verstehen zu lehren. Nicht versäumen möchten wir, darauf hinzuweisen, daß der Reinertrag aus dem bei Julius Bädeker in Leipzig erschienenen Buche – ganz im Sinne des thatkräftigen Streiters für Schule und Lehrerstand – zur Unterstützung nothleidender Lehrerwitwen bestimmt ist.
Ein „Bahnbrecher der Industrie“ wurde Friedrich Harkort zunächst durch seine Maschinenwerkstätte in Wetter. Als sein Vater starb – am 10. Mai 1818 – da blieb nach westfälischem Erbrechte dem ältesten der hinterlassenen sechs Söhne der Stammsitz Harkorten als Majorat, die übrigen fünf sahen sich auf ihre eigene Kraft gestellt. Friedrich betrieb erst kurze Zeit eine Gerberei und übernahm daneben ein Kupferhammerwerk, bald aber überließ er diese Unternehmungen jüngeren Verwandten, die ihn bei der Einrichtung und Führung unterstützt hatten, um sich selbst einem neuen Industriezweige zu widmen, welcher für die gewerbliche Entwicklung Westfalens von höchster Bedeutung zu werden bestimmt war. Er trat in Verbindung mit Heinrich Kamp, einer genial veranlagten Persönlichkeit, welcher für ihre Unternehmungslust ansehnliche Mittel zu Gebot standen. Durch das eifrige Studium englischer technischer Zeitschriften auf die riesige Entwicklung des Maschinenwesens in Großbritannien aufmerksam gemacht, in der Erkenntniß, daß Deutschland sich die gleichen Vortheile zu eigen machen müsse, wenn seine Industrie nicht binnen kurzer Zeit von England vollständig überflügelt werden solle, vereinigten sich beide zur gemeinsamen Anlage einer Maschinenfabrik oder sogenannten „mechanischen Werkstätte“.
Kamp sollte die erforderlichen Geldmittel beschaffen, Harkort die Leitung übernehmen. Bei der Suche nach dem geeigneten Ort für das neue Unternehmen kam man, da das Augenmerk vorzugsweise auf die Herstellung von Dampfmaschinen gerichtet war, nothwendig auf den Industriebezirk an der Ruhr, dessen bedeutender Bergbau nicht nur die gute Aussicht auf Absatz solcher Motoren, sondern auch den Vorzug billigen Bezugs von Eisen und Kohlen darbot. Die Wahl fiel schließlich auf die alte Burg in Wetter, die, vom Fiskus zum Verkaufe gestellt, im Jahre 1818 von den beiden Theilhabern der neuen Firma Harkort und Comp. erworben wurde. In demselben Jahre noch führte Harkort seine Braut heim, mit der er sich einst, 1813, am Vorabend der Befreiungskriege verlobt hatte, dann segelte er im folgenden Jahre, über die unzähligen Bedenken zaghafter Verwandten und Freunde sich hinwegsetzend, nach England, um von dort Sachverständige und Arbeiter herüberzuholen.
Das war freilich keine leichte Sache. Tüchtige Leute waren nur durch hohe Gehälter zu bewegen, die Heimath zu verlassen, die Zahl der anständigen Männer, die Harkort folgten, war darum nur klein, und er mußte, aus der Noth eine Tugend machend, auch solche annehmen, denen der Aufenthalt in ihrem Vaterlande aus irgend welchen Gründen schwül geworden war, wenn sie nur Kenntniß der Maschinenarbeit besaßen. „Ich habe damals verschiedene meiner Engländer,“ pflegte er in späteren Jahren zu äußern, „sozusagen vom Galgen herunterschneiden müssen, nur um überhaupt welche zu bekommen.“
[99] Und auch zu Hause waren die Schwierigkeiten groß. „Der Uebermuth und die Völlerei der Ausländer,“ berichtet Harkort in seiner „Geschichte von Wetter“, „Mangel an passenden Materialien und guten Wegen, die Unerfahrenheit der hiesigen Arbeiter – all dies führte eine Menge Uebelstände herbei, welche man heute nicht mehr kennt. Allein durch Beharrlichkeit behauptete sich die neue Industrie. Sie hat die alte feudale Burg erobert und in ihr einen bleibenden Sitz aufgeschlagen, in welchem Eisen und Stahl in die mächtigsten Waffen des Gewerbfleißes umgeschaffen werden.“
Nach siegreicher Schlacht. (Zu dem Bilde S. 73.) Dem Sieger öffentlich den Kranz zu reichen, ist der Frau des Morgenlandes untersagt, aber der Orientale legt ebenso gern als der Abendländer die erbeuteten Trophäen einer geliebten Frau zu Füßen und erzählt stolz und freudig seine Thaten. So steht hier in dem säulengetragenen reichgeschmückten Gemach der junge Mamelukenbey Ali, der Sieger über die räuberischen Nomadenstämme der Wüste. Einen Theil der erbeuteten Waffen hat er in den Harem bringen lassen, unter Fatmes Augen, die seit kurzer Zeit hier als Alleinherrscherin gebietet. Er hoffte auf einen entzückten Willkommgruß – und sieht sich getäuscht. Stumm hingestreckt ruht die Schöne auf ihrem von reichen Decken verhüllten Lager und hört mit unbewegter Miene Alis Schlachtbericht an. Ist sie selbst eine Tochter des Stammes, dessen Männer und Jünglinge er hingeschlachtet hat, oder fühlt sie überhaupt Abneigung vor dem stolzen herrischen Aegypter, der sie als Ware gekauft hat, um dann in plötzlicher Leidenschaft für sie zu entflammen? Die vertraute Sklavin wüßte das jedenfalls zu sagen – sie läßt den Arm mit dem Straußenfächer ruhen und blickt gespannt der Herrin ins Gesicht. Wird sie sich beherrschen oder verrathen? Wer weiß?
Der Künstler will offenbar den Beschauer mit dieser Frage entlassen. Das Original dieses Bildes aus nordafrikanischer Vergangenheit, eine bewundernswerthe Leistung farbengesättigter Aquarelltechnik, hat auf der Münchener Ausstellung von 1890 lebhaften Beifall gefunden.Bn.
Die Ermordung König Gustavs III. von Schweden. (Zu dem Bilde S. 88 und 89.) Im Jahre 1771 hatte Gustav III. den Thron bestiegen, und sein ganzes Streben ging nun dahin, gestützt auf den Bürger- und Bauernstand, die in dem Reichsrath verkörperte Macht des Adels zu brechen; es gelang ihm auch, mit Hilfe des Heeres, dessen Offiziere er für sich gewonnen, 1772 den Umsturz der bestehenden Verfassung durchzuführen. Er ließ die Reichsräthe verhaften und dann eine neue Verfassung verkündigen, in welcher die Herrschaft der Stände durch eine gemäßigte Königsherrschaft ersetzt wurde. Gustav that viel für das Land, für Ackerbau, Handel und Bergbau, Kunst und Wissenschaft – er richtete sich ganz nach dem Vorbild seines Onkels Friedrich II. von Preußen. Doch französischen Einflüssen zugänglich, dem Glanz des Königthums der Bourbonen nacheifernd, richtete er seinen Hofstaat auf großem Fuße ein und führte ein verschwenderisches Leben. Seine Politik hatte einen phantastischen Zug, und zuletzt faßte er gar den abenteuerlichen Gedanken, im Bunde mit den Großmächten Europas der französischen Revolution Halt zu gebieten, den König Ludwig XVI. zu retten und in seine alte Macht und Herrlichkeit einzusetzen; doch ehe er den Kreuzzug gegen die Pariser Volksherrschaft beginnen konnte, wurde er vom Verhängniß dahingerafft: am 16. März 1792, also vor hundert Jahren, wurde er auf einem Maskenball in dem Stockholmer Theater durch einen Schuß in den Rücken schwer verletzt und erlag am 29. März seiner Wunde.
An der Verschwörung gegen den König betheiligten sich die Grafen Horn und Ribbing, die Freiherrn Bjulke und Pechlin, der Oberstlieutenant Liljehorn und endlich der Hauptmann Anckarström, der bereits früher als Führer der Unzufriedenen in Untersuchung gekommen war und den König erbittert haßte. Nach allgemeiner Annahme war er es, welcher den tödlichen Schuß abfeuerte. Doch nach einer Ueberlieferung in der Familie Anckarströms soll nicht dieser der Mörder des Königs gewesen sein, sondern Graf Ribbing, welcher dem zögernden Anckarström die Pistole aus der Hand riß und selbst auf den König feuerte. Jedenfalls wurde Anckarström als Mörder hingerichtet, nachdem er vorher in grausamer Weise mit Ruthen gezüchtigt worden war.
Das Bild von E. Brüning stellt uns die Scene auf dem Maskenball
dar, welche manche unserer Leser schon auf der Bühne gesehen haben, sei’s
in der Oper von Auber, „Gustav oder der Maskenball“, oder der späteren,
„Ein Maskenball“ von Giuseppe Verdi. Wir sehen die Masken, die
den Fürsten umdrängen, nachdem er aus einer Loge in den Saal
getreten ist; wir sehen ihn zusammenbrechen, von der tödlichen Kugel
getroffen; der an den feuernden Anckarström geschmiegte Verschworene
ist Graf Clac Fredricks von Horn, der mit den Worten: „Gute Nacht,
Maske“ dem König auf die Schulter geklopft und damit das Zeichen zur Ausführung
der That gegeben hat; die schon halb zur Flucht sich wendende
Gestalt mit dem Profilkopf ist Graf Adolf Ribbing. In dem prachtvollen,
architektonisch schön gegliederten Festsaal, der binnen kurzem infolge Abbruchs
des nunmehr hundertundneun Jahre alten Stockholmer Theaters
vom Erdboden verschwinden soll, in den Logen, auf den Treppenstufen
drängen sich die mannigfachsten Gruppen meist mit dem Ausdruck der
größten Bestürzung; doch giebt es auch Gesichter, die theilnahmlos dem
Schauspiel zusehen oder in deren Zügen sich ein geheimes Einverständniß
spiegelt. Der auf der linken Seite des Bildes befindliche Herr, welcher
eben im Begriff ist, seinen Platz am Tisch, an dem er mit einigen Damen
gesessen, zu verlassen, um dem König beizuspringen, ist General Armfeldt,
der später nach der Verwundung den König in ein Seitenkabinett begleitete,
während der Maler unter der nur zum Theil sichtbaren Rückenfigur
im spanischen Mantel mit dem Kreuz sich den Grafen Essen gedacht
hat, der kurz vorher, ehe der König den Saal betrat, mit diesem allein
in der Loge gesessen hatte. Schreck und Mitleid zeigen besonders die
Frauen. Machte doch auf ganz Europa der jähe Tod des ritterlichen
Fürsten einen tiefen Eindruck. †
Das Eisschießen. (Zu dem Bilde S. 96.) Wenn bunte Plakate an
den Straßenecken Münchens verkünden, daß die Eisfläche des Kleinhesseloher
Sees im Englischen Garten fahrbar geworden ist, dann ziehen auch die
„Eisschützen“ zu dem echt altbayerischen Vergnügen, das eigentlich mit dem
„Schießen“ in landläufiger Hinsicht nichts zu thun hat. Mit Pulver und
Blei wird auf der spiegelglatten Eisfläche nicht geschossen, sondern es wird
der „Eisstock“, eine eisenbeschlagene hölzerne Wurfscheibe mit einem tüchtigen
Stehgriff, nach dem Ziele, „Haserl“ oder „Daube“ genannt, geworfen.
Die Eisschützen theilen sich in zwei Parteien, je nachdem die Spielkarten
sie zusammengeben. „Herz“ aus dem Tarockspiel zieht die eine Partei,
„Laub“ oder „Grasen“ die andere. Jede Partei wählt ihren Anführer,
ihren „Moar“ (Mayer = Obermann, wie im Oberbayerischen der Oberknecht
auch „Moar“ genannt wird), der den Eisstock zuerst der Daube möglichst
nahe zu bringen sucht. Dazu gehört ein treffsicheres Auge und
Gewandtheit, mit Kraft gepaart. „Taucht“ einer zu viel, d. h. giebt er
dem Eisstock zu viel Schwung, dann fliegt der Stock über das Ziel hinaus,
zu wenig Kraft hingegen bewirkt, daß der Stock „verkümmert“ oder
„verhungert“, d. i. vor dem Haserl liegen bleibt. Ist dem „Moar“ der
„Schuß“ soweit gelungen, daß sein Stock nahe der Daube liegt, dann
sucht der Moar der Gegenpartei mit seinem Stock den gegnerischen Stock
wegzuputzen. Stock auf Stock rutscht nun hinaus, einer sucht den andern
vom Ziele abzudrängen, bis die Munition zu Ende ist und die Parteien
keinen Schützen mehr haben. Wer jetzt am nächsten der Daube sitzt, ist
Sieger. Dieses Kraftspiel auf dem Eise in frischer Winterluft erfordert
kernige Leute, die, wie man zu sagen pflegt, einen „Puff“ aushalten
können. An anzüglichen Bemerkungen und derbem Spott ist kein Mangel,
wenn ein Frischling unter alte Schützen geräth. Beliebt ist dieses Wintervergnügen
in ganz Altbayern, und so lange des Winters Gewalt anhält,
findet man Eisschützen überall auf hartgefrorener Wasserfläche. A. A.
Ein vornehmer Ofen. (Zu dem Bilde S. 97.) In dem Gebäude der Reichsdruckerei zu Berlin befindet sich ein Ofen, welcher nicht mit gemeinem Holze oder noch gemeineren Kohlen gespeist wird, nein, seine Hauptnahrung besteht aus lauter Werthpapieren. Nicht als ob es heute in Berlin einen Fugger gäbe, der sich ein Vergnügen daraus machte, von Zeit zu Zeit zur Ergötzung eines bedrängten Schuldners Schuldscheine in Rauch aufgehen zu lassen, sondern die Sache verhält sich folgendermaßen: Alljährlich sind eine ganze Anzahl eingezogener Kassenscheine, Reichs- und preußische Staatsschuldscheine, ferner solche Werthpapiere, welche beim Druck einen Fehler bekommen haben, zu vernichten. Vorschriftsmäßig hat dies durch Verbrennen zu geschehen. Früher kam es nun vor, daß nach solchen Verbrennungen unverbrannte Reste Gelegenheit zu allerlei Mißbrauch gaben. Um dem für die Zukunft vorzubeugen, hat man ein zwar umständliches, aber sicheres Verfahren eingeschlagen. Eine besondere Kommission, bestehend aus fünf bis sechs hohen Beamten, empfängt die zur Vernichtung bestimmten Papiere, deren Nennwerth sich oft auf Hunderte von Millionen beläuft, in kleinen verschnürten Paketen; sie überliefert dieselben dem eigens hierzu angelegten Ofen, in welchem schon vorher ein starkes Feuer entzündet worden ist – unser Bild zeigt die Herren eben bei dieser Thätigkeit. Sind die Päckchen vor den Augen der Kommission verbrannt, so wird dicht über dem Feuer ein enger Rost vorgeschoben, welcher ein Herausnehmen unverbrannter Papierreste verhindert, außerdem wird der ganze Ofen seitens der Kommission noch durch einen Deckel geschlossen. Damit aber nicht etwa ein nur angesengter Hundertmarkschein durch den Schornstein entweiche, hat man diesem einen langen Weg unter dem Hof durch, dann an einem Hinterhause empor angewiesen, und erst dort führt er vier Treppen hoch ins Freie. Und selbst hier hat man noch eine Absperrung vorgenommen; ein Rost mit feinem Maschennetz deckt die Mündung, daß auch nicht der kleinste Fetzen entwischen kann. – So ist mit allem Aufwand von Scharfsinn dafür gesorgt, daß die zum Feuertode verurtheilten Werthpapiere auch wirklich diesen Tod sterben und nicht etwa irgendwo wieder zu einem gänzlich gesetzwidrigen Leben erwachen.
Ein Kleeblatt. (Zu unserer Kunstbeilage.) Lange schon hat sie das stille geschäftige Walten des Vogelpärchens in der grünenden Hecke des Gartens beobachtet, sie hat das kleine Nestchen werden sehen und jetzt gar drei niedliche zartpunktierte Eier darin entdeckt. Voll Entzücken zeigt sie den heimlichen Schatz den besuchenden Freundinnen, um ihn dann behutsam an die alte Stelle zu setzen. Die drei Schönen, die wohl gar selten zu solchem Anblick gelangen, sie ahnen nicht, daß das Kleeblatt im Neste bereits ein tragisches Geschick ereilt hat. Denn irgend ein heimtückischer Feind, eine Katze, ein Wiesel oder dergleichen, muß das Elternpaar verscheucht haben, sonst hätte es das Gelege nicht schutzlos dem Erkalten und damit dem Verderben preisgegeben. Dem Maler aber lag vor allem daran, uns ein reizendes Mädchen-Kleeblatt zu zeigen, und das ist ihm auch vollauf gelungen. In feiner Abstufung spiegeln sich freudige Neugier, stilles Beobachten und liebevolle Theilnahme auf den Gesichtern der drei anmuthigen Freundinnen, die in die Betrachtung des Nestchens versunken sind.
Kleiner Briefkasten.
M. K. in H. Wir sind gern bereit, Ihre Novelle auf ihre Verwendbarkeit für die „Gartenlaube“ zu prüfen. Selbstverständlich erhalten Sie das Manuskript zurück, falls sich die Arbeit als ungeeignet erweisen sollte.
B. K. in S. Friedrich Albert Lange, von dessen politischer Thätigkeit in der Schweiz Sie gehört haben, ist wirklich zugleich der Verfasser der ausgezeichneten „Geschichte des Materialismus“. Eine Lebensbeschreibung des geistvollen Mannes hat jüngst O. A. Ellisen im Verlag von Julius Bädeker in Leipzig erscheinen lassen.
C. P. 2 in Greiz. Marlitts Erzählung „Die zwölf Apostel“ finden Sie im Jahrgang 1865, dagegen ist „Schulmeisters Marie“ nicht in die „Gartenlaube“, wohl aber in die illustrierte Gesammtausgabe von Marlitts Romanen und Novellen aufgenommen, welche eben lieferungsweise in neuer Auflage erscheint.
[100]
A, B, C und D nehmen je sieben Steine auf. B hat auf seinen Steinen 46 und D auf seinen 47 Augen.
A hat:A setzt Doppel-Zwei aus und gewinnt dadurch, daß er seine Steine zuerst loswird. Er setzt zuletzt Blank-Zwei an Blank. B kann nur bei der vierten Runde ansetzen. C muß bei der ersten, dritten und fünften und D muß bei der fünften Runde passen. C behält vier Steine mit zusammen 10 und D zwei Steine mit 18 Augen übrig. Die 16 Steine der Partie haben 106 Augen.
Welche Steine behielten C und D übrig? Wie war der Gang der Partie?
Es sind 11 Wortpaare zu bilden, bei denen das zweite Wort (b) aus dem ersten (a) dadurch entsteht, daß ein Buchstabe in die Mitte des letzteren eingefügt wird, z. B. a. Elsa, b. Elisa oder a. Iser, b. Ister.
Die Wörter unter a. sind vierlautig, die unter b. also fünflautig. Es bezeichnet: 1. a. einen griechischen Gott, b. eine Stadt in Frankreich, 2. a. einen Fluß in Unteritalien, b. etwas, das jeder Mensch hat, 3. a. ein Wild, b. einen Nebenfluß der Ems, 4. a. eine Theilzahlung, b. eine geometrische Figur, 5. a. einen biblischen Namen, b. eine Halbinsel von Europa, 6. a. eine Stadt in Hannover, b. einen Stoff, der zu gewissen Bekleidungsgegenständen verwendet wird, 7. a. einen Komponisten, b. eine Truppengattung, 8. a. ein Schiff der griechischen Sage, b. einen französischen Physiker, 9. a. einen Berg im schweizer Jura, b. einen Vogel, 10. a. ein im Kriege angewandtes Zerstörungsmittel, b. einen Gefühlsausdruck, 11. a. eine griechische Göttin, b. einen Fluß in Thüringen. – Wenn alles richtig gefunden worden ist, ergeben die Mittelbuchstaben der b-Reihe den Titel eines Romans, den alle Leser der „Gartenlaube“ kennen. A. St.
Räthsel.
Mein Wort mit i darin: ein Schutz war’s und war schwer;
Mit u ein Fluch ist’s nun und drückt dich noch viel mehr.
Eduard Schulte.
Logogriph.
Nicht Stadt, noch Städtlein ist’s mit d,
In manchem Ofen steckt’s mit t.
Emil Noot.
Auflösung des Eiszapfenräthsels auf S. 68:
Die mit Eiszapfen behängten Buchstaben sind zweierlei Art, solche mit einem Punkte oder Knopf und solche mit zwei Knöpfen. Werden erstere nach der Anzahl der von ihnen herabhängenden Eiszapfen geordnet und ebenso die Buchstaben der zweiten Art, so geben erstere das Wort: Eis– – letztere das Wort: Sport.
Auflösung der Logogriphaufgabe auf S. 68:
Hader, Gehalt, Geste, Reihe, Weide, Leier, Kind, Leiter, Raupe, Barde, Stille, Sonne, März, Huë, Kaste, Last, Cid, Bohne, Retter, Minne. Das Heideprinzeßchen. (Von E. Marlitt.) Hauer, Gehalt, Gerte, Reife, Weide, Leder, Kinn, Leiter, Raute, Baude, Stelle, Sonde, Märe, Hub, Kante, Laut, Eid, Bonne, Ritter, Miene. Eine unbedeutende Frau. (Von W. Heimburg.)
Auflösung des Schieberäthsels auf S. 68:
Reede, Reis, Egel, Reife, Nero, Saur, Gaul, Amme, Berlin, Senta, Scheide, Esel, Enz, Inka, Gral, Ehre, Riff, Landhaus, Hund, Wieke, Leben, Eli, Gast, Ernte, Norden, Armin, Zeno, Laren, Zinn. – Die Frau mit den Karfunkelsteinen.
Auflösung der Skataufgabe Nr. 1 auf S. 68:
Wenn zu den gegebenen 7 Karten
Freude an der schönen Natur, am Leben des Waldes und seiner Bewohner, ein tiefes Verständnis für die Herrlichkeiten dessen, was das „Freie“ dem empfindenden Menschen bietet, dabei ein freier Blick und eine seltene Gabe der Darstellung finden in diesem Werke ihren Ausdruck. Aber nicht nur ein ästhetisches Interesse gewährt dasselbe, sondern auch ein wissenschaftliches. Denn der Verfasser hat die Thiere des Waldes viele Jahre hindurch beobachtet und er bringt über deren Leben und Treiben viel Neues in Form lebhaft erzählter, ansprechender Geschichten. Für Förster, Jäger und Jagdfreunde, sowie überhaupt für alle Naturfreunde, bildet der stattliche Band das schönste und passendste Festgeschenk.