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Die Gartenlaube (1891)/Heft 6

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[85]

Nr. 6.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Eine unbedeutende Frau.
Roman von W. Heimburg.
5. Fortsetzung


Antje sah ein paarmal musternd über die Tafel, und als sie alles tadellos gefunden hatte von dem reichgestickten Tafeltuch an, das genau dasselbe Muster aufwies wie das Porzellan, bis zu den silbernen mit Blumen geschmückten Aufsätzen, schien sie das, was um sie vorging, nicht mehr zu beschäftigen. Sie senkte die Wimpern und bröckelte kleine Stückchen vom dem Tafelbrot, die sie rein mechanisch zwischen die Lippen schob. Ihr einer Nachbar war vollauf mit Speisen beschäftigt; Maiberg dagegen beobachtete sie mit diskreter Neugier, ohne das Wort an sie zu richten. Sie hatte so ein liebliches blasses Gesicht, aber der Ausdruck war jetzt nicht mehr traurig, nur gleichgültig. Wenn die Baronin gar zu oft lachte, hob sie wie erschreckt eine Sekunde die Augen, dann versank sie wieder in ihre Spielerei.

„Osten und ich wollen diesmal Weihnacht auf Barrenberg feiern,“ sagte der Vetter der Frau von Erlach.

„Es geht ihnen wie dem Hans, der das Gruseln lernen wollte,“ rief die Baronin, „sie wollen die Barrenbergsche weiße Frau spuken sehen.“

„Barrenberg ist ein altes Schloß drüben jenseit der Elbe, das dem Vetter der Frau von Erlach gehört. Im Sommer und Herbst wird es zeitweilig von dem Rittmeister bewohnt; zur Weihnachtszeit aber, überhaupt im Winter, steht es leer. Schon seit vielen Jahren verlassen die Bewohner um diese Zeit das alte Kastell, weil, wie es im Volksmunde heißt, die weiße Frau dort umgeht; es soll dort einst ein Barrenberg um einer schönen Frau willen am heiligen Weihnachtsabend seinen Bruder erstochen haben.“


Ballabend im Teatro Umberto in Rom.
Nach einer Zeichnung von P. Bauer.

[86] Diese Erklärung gab der Nachbar dem Doktor Maiberg auf dessen Frage. „Ich glaube nur,“ setzte der Berichterstatter lächelnd hinzu, „daß das Verlassen des alten Nestes um diese Jahreszeit weniger der weißen Frau gilt, als dem lockenden Dresden.“

„Ich möchte den Spuk um die Welt gern mit erleben,“ sagte Frau von Erlach.

„Das können Sie ja haben, Cousine,“ erklärte Barrenberg, „ich lade Sie hiermit ein.“

„Und wen noch?“

„Ja, wie wäre es denn, wenn wir alle, die wir hier sind, Weihnachtsabend in dem alten Bankettsaal feierten?“ fragte Barrenberg.

„Hoffentlich hat es geschneit, dann kann es romantisch werden,“ meinte ein bekannter Landschaftsmaler, „das gelbliche Licht der Kerzen strahlt auf den stillen Burghof hinaus, und wir stehen am Fenster und sehen aus der spitzbogigen Pforte des kleinen Burggärtleins die Gestalt der weißen Frau über den Schnee daherkommen – Sie wissen doch, sie kommt immer aus diesem Garten – und die Spuren ihrer Füßchen bleiben deutlich sichtbar im Schnee – –“

„Und –“ unterbrach die Baronin, „wir löschen die Lichter aus, sehen die Gestalt in den Saal treten und mit gesenkten Augen an uns vorüber schreiten – ich habe jetzt schon Herzklopfen. Also, es gilt, meine Herrschaften!“

„Was wird denn aber aus Deinen beiden Kadetten, Cousine?“ rief Barrenberg belustigt, „Du kannst doch unmöglich ihr kindliches Gemüth mit derartigen Gespenstererlebnissen belasten wollen, und außerdem –“

„Stören sie, Vetter, ich weiß es. Sie bleiben natürlich daheim.“

Allein am Weihnachtsabend?“ fragte jetzt Lieutenant Osten. „Wissen Sie, gnädige Frau, wenn meine Mutter mir das hätte zumuthen wollen – ich –“

„Nun?“ erkundigte sich die schöne Frau und trank einen Schluck Champagner.

„Nun – ich hätte mich mindestens recht gewundert,“ vollendete Osten gelassen.

„Das steht meinen Jungens auch frei,“ erwiderte sie. „Sie bekommen am andern Tage beschert. Ich setze ihnen, zum Trost für meine Abwesenheit, eine große Schüssel mit Weihnachtsleckereien hin, und dann –“

„Verderben sie sich gründlich den Magen,“ schaltete Maiberg trocken ein.

„Ach Gott, Herr Doktor,“ seufzte die Baronin, „es wäre das Schlimmste noch nicht; sie sind dann wenigstens während der Ferien etwas geduckt und nicht so gräßlich laut und lärmend.“ Sie sagte das mit einer so kläglichen Miene, daß die Wirkung eine unwiderstehlich komische war und Baron Barrenberg das Glas erhob.

„Ich weihe dieses Glas der wohlwollendsten Mutter! Also, auf einen kleinen fröhlichen Magenkatarrh Deiner Söhne, Irene, zur Schonung Deiner Nerven!“

Die Baronin stieß an. „Ein fröhliches Wiedersehen, meine Herren, am Weihnachtsabend auf Barrenberg!“ rief sie. „Ich werde die weiße Frau bitten, mit uns zu plaudern; ich wette, sie erzählt uns die schönsten Geschichten.“

Der Rittmeister war aufgestanden und hatte sich ritterlich der jungen Hausfrau mit seinem Glase genähert. „Darf ich hoffen, gnädige Frau, daß auch Sie meine Einladung nicht verschmähen?“

„Sie entschuldigen mich gewiß, Herr von Barrenberg, ich bleibe am Heiligen Abend bei meiner Mutter und meiner Kleinen,“ erwiderte sie sehr bestimmt und sehr kühl.

Er verbeugte sich zurücktretend und suchte seinen Platz auf. Leos Augen sahen unruhig von seiner Frau zu dem Rittmeister hinüber.

„Ein Korb, Jussnitz, ein regelrechter Korb von Ihrer Frau Gemahlin.“

„A bah!“ erwiderte der Hausherr scheinbar leichthin, „wenn ich ihr zurede, kommt sie schon mit – nicht wahr, Antje?“

Aber diese schien es nicht gehört zu haben; sie saß bereits wieder ganz theilnahmlos da und sah auf ihr Glas, in dem der Champagner schon lange keine Perlen mehr trieb.

Achselzuckend wandte sich Jussnitz seiner Nachbarin zu; die Baronin war schon wieder mitten in einer lustigen Geschichte.

„Aber ich versichere Sie, diese Brillanten –“ sie deutete auf die blitzenden Steine des Armbands, das wahrscheinlich Jussnitz bewundert hatte, „haben schon einmal elf Jahre lang in einem Grabe gelegen. Wünschen Sie das Nähere zu erfahren, meine Herren? Es ist ein Gegenstück zu Chamissos Lied von der Weibertreue.“

„Das muß interessant werden – also bitte, erzählen Sie!“ rief man von allen Seiten.

„Sie haben gewiß alle von meinem verstorbenen Onkel Wittelstein einmal gehört?“

„Natürlich, von dem mit den sieben Frauen!“

„Bitte sehr – nur vier! Uebertreiben Sie nicht, Osten!“ tadelte sie. „Also, besagter Onkel wurde in seinen jungen Jahren schon zweimal Witwer; dann, nachdem er drei Jahre seine Letzte betrauert hatte, verlobte er sich abermals. Seine jeweilige Braut oder Gattin war in seinen Augen stets die schönste, die er besessen hatte. Diese Dritte fand er einfach überirdisch, und als sie ihm nach einem Jahre wieder entrissen wurde, war er vor Schmerz so außer sich, daß er ihr ein kostbares Brillanthalsband, welches sie sehr geliebt hatte, mit in die Gruft gab.“

„Diesmal,“ fuhr die Baronin fort, „blieb er elf Jahre lang Witwer, dann aber lernte er eines Tages ein junges Mädchen kennen, gegen das alles, was er bisher gesehen hatte, verblich. Er verlobte sich mit ihm, und natürlich hegte er den Wunsch, die abgöttisch geliebte Braut zu schmücken und zu beschenken. Der eingesargte Brillantschmuck ging ihm dabei sehr im Kopfe herum; weshalb sollte er auch neue Steine kaufen? Die Todte würde ihm nicht zürnen. Heimlich schickte er seinen alten Leibjäger und den Gärtner in das Erdgewölbe. das an einer düstern Stelle des Parkes erbaut war, mit dem Befehl, den Sarg der letztverstorbenen Baronin zu öffnen und den Schmuck zu bringen. – Am andern Morgen stand der alte Jäger vor dem Bette seines Herrn mit niedergeschlagener Miene. ‚Herr Baron,‘ stotterte er, ‚in dem Sarge ist nur noch ein Häuflein Staub.‘

‚Aber die Steine, die Steine!‘ forderte mein Onkel ungeduldig.

‚Die gnädige Frau Baronin sind ganz in Asche zerfallen,‘ entschuldigte sich der alte Mann, ‚ich – –‘

‚Nun, zum Henker, so siebt die Baronin durch!‘ schrie der zärtliche Witwer, ‚und zwar auf der Stelle !‘“ –

Die Erzählerin nahm bedächtig eine kandirte Orange, wählte ein paar Konfitüren und vollendete dann: „Und so wurde meine gute Tante gesiebt!“ Sie sagte das letztere unter dem ihr eigenthümlichen ansteckenden Lachen, und die heitere Gesellschaft – man war schon beim Nachtisch – stimmte lebhaft mit ein.

„Und dies sind die Steine!“ Sie hielt den schönen Arm empor und ließ die Spange blitzen. „Jussnitz,“ bemerkte sie dann, zu ihrem Nachbarn gewendet, „dieses Armband müssen Sie nothwendig auf meinem Bildniß verewigen – wenn Sie vielleicht wieder einmal Zeit finden sollten, einige Striche daran zu thun. Ich bescheide mich natürlich und trete vor so wichtigen und zugleich reizenden Arbeiten, wie Sie augenblicklich vorhaben, gern zurück. Sie wissen, ich bin immer rücksichtsvoll gegen meine Freunde.“

„Was malen Sie jetzt, Jussnitz!“ riefen zugleich mehrere Herren.

„Ein Porträt,“ erwiderte er. Die Wendung des Gespräches war ihm offenbar unangenehm.

„Eine Studie, aber was für eine!“ erklärte Frau von Erlach. „Ich sage Ihnen, weine Herren, diese junge Spanierin ist geradezu bezaubernd; wenn ich nur erfahren könnte, wo das Urbild zu finden ist, ich lüde sie mir ein, nur um auch einmal mich nach Herzenslust an ihrer Schönheit satt sehen zu können. Beiläufig, Frau Jussnitz, sind Sie nicht eifersüchtig – gar nicht?“

Antje erhob sich in diesem Augenblick, ein Zeichen, daß die Tafel beendet sei. Die Herren schnellten von den Stühlen empor und ließen die halbgeleerten Gläser und Flaschen im Stich; die Baronin warf einen spöttisch erstaunten Blick auf die junge Frau, aber das Gesicht Antjes war blaß und ruhig, während sie die Verbeugungen der Herren mit einem leichten Kopfneigen erwiderte und die Herrschaften bat, in den gelben Salon zu treten, um dort den Kaffee zu nehmen.

Bald plauderte man wieder ebenso heiter wie vorher. Die Baronin rauchte eine Cigarette im Kreise ihrer Bewunderer; Antje wurde von dem alten Maler über eine Kopie nach Watteau unterhalten; das Original befinde sich in Pillnitz, erklärte er ihr. [87] Lieutenant Osten bemühte sich, unterstützt vom Hausherrn, einen großen Bogen Papier mit jenen geheimnißvollen Zeichen zu versehen, mittels deren man einen „Tempel baut“. Doktor Maiberg trat erstaunt näher.

„Wie, Leo, Hazard?“

„Sehr harmlos, mein Herr,“ erwiderte Lieutenant von Osten, „ich versichere Sie; es wird nur Nickel gesetzt.“

Leo hatte aufgesehen und eben bemerkt, daß Antje unter den Vorhängen der Zimmerthür verschwand. „Ich bitte Dich, Wolf,“ flüsterte er hastig, „gehe ihr nach, sage ihr, ich lasse sie bitten, so bald als möglich zurückzukommen.“

Maiberg folgte ihr in den Flur und erblickte die junge Frau, wie sie eben die Treppe hinaufstieg. „Gnädige Frau,“ rief er, „gestatten Sie ein Wort!“

Sie stützte beide Hände auf das Geländer und bog sich zu ihm hinunter. Der Lampenschimmer des Kandelabers lag wie Gold auf ihrem blonden Haar.

„Leo läßt Sie bitten, uns nicht auf zu lange Zeit zu verlassen,“ sagte er.

„Ich komme gleich zurück,“ erwiderte sie leise, „ich – –“ sie stockte – „ich wollte nur meiner Mutter gute Nacht sagen und die Kleine einmal sehen,“ vollendete sie rasch.

Er trat zurück und sie schritt vollends hinauf. Welch eine weiche kindliche Stimme sie hatte! –

Und oben, an dem Bettchen der schlummernden Kleinen, da setzte sie sich nieder zu Füßen einer stattlichen älteren Frau und schmiegte den Kopf wie ein müdes Kind an die Kniee der Mutter; sie sprach auch hier nicht, sie streichelte nur die Hände, die großen weißen Hände, in denen sich die Thatkraft der ganzen Persönlichkeit aussprach, als wolle sie durch diese stumme Liebkosung wieder gut machen, was der Mutter weh geschehen war.

„Du glaubst gar nicht,“ begann Frau Klaartje Frey gütig, „welch ein Fest das heute abend für mich war, mein Enkelchen so ganz für mich zu haben. Ich erzählte ihm Märchen und sang ihm Lieder wie Dir einst; es war so hübsch, Antje!“

Die Tochter drückte jetzt einen Kuß auf die Finger, die sie in den ihrigen hielt. Sie wußte ganz genau, die Mutter sagte dies, um jeden Verdacht zu beseitigen, daß sie etwa nicht freiwillig hier oben geblieben sei. Als ob Antje heute nachmittag nicht gesehen hätte, wie die alte Dame ihr grauseidenes Kleid aus dem Schranke nahm und die kleine Brillantnadel aus dem Etui holte, um sich für die Gäste des Hauses zu schmücken.

„Wie Du es nur aushältst, Kind,“ sprach die Mutter weiter; „ich konnte solche Gesellschaften nie ertragen und ich war so recht froh, als Leo auf meine Klage: ‚Ach Gott, ich wollte es wäre erst überstanden!‘ meinte, ich sollte mich doch nicht zwingen!“

Wie sie, um ihr Kind zu schonen, lügen konnte, diese Frau, die sonst die Rechtlichkeit in Person war!

Antje sprach noch immer nicht. Sie erhob sich endlich. „Ich muß wieder hinunter gehen,“ sagte sie mit abgewandtem Gesicht.

„So schlaf wohl, Herz, und unterhalte Dich gut!“ scholl es ihr nach, „ich gehe zu Bette, ich bin sehr müde.“

Auch das war eine Lüge! In dem Schlafzimmer der Frau Klara Frey schimmerte das Licht bis weit über Mitternacht hinaus; sie selbst saß in ihrem pelzgefütterten Morgenkleide am Tische und hatte eine Menge Papiere vor sich. Auf dem vollen Gesicht, das echt holländisches Gepräge trug, lag in diesem Augenblick kein Hauch mehr von jener Herzensgüte, die es der Tochter gegenüber vorhin gezeigt hatte. Es hatte jetzt nur den Ausdruck ernster, banger Sorge und tiefen Widerwillens, und als sie nun mehrere Reihen namhafter Zahlen auf einem Blättchen Papier zusammengerechnet hatte, legte sie den Bleistift weg, faltete die Hände und sah in finsterem Erschrecken auf die stattliche Summe. „Barmherziger Gott!“ flüsterte sie fassungslos. Nach einem Weilchen erhob sie sich müde, wie gelähmt; die Hände, die das Spitzenhäubchen von dem blonden, hier und da mit Silberfäden durchzogenen Scheitel nahmen, zitterten, und ein tiefer Seufzer zog durch das stille Gemach. „Und wenn sie wenigstens glücklich wäre! – Aber das geht doch nicht so fort,“ sprach sie nach einer Weile, „das geht doch nicht!“ –

Dann fuhr sie erschreckt empor; sie hatte keinen Schritt vernommen, nicht gehört, daß die Thür gegangen war – und dort stand Antje, noch in voller Toilette, aber blaß und verwacht, und ihre Augen sahen erstaunt die Mutter an.

„Du bist noch auf, Mütterchen?“ fragte sie.

Die große, etwas starke Dame hatte flüchtig auf die Uhr gesehen; sie zeigte ein paar Minuten nach halb Vier. „Ja, Kind, je älter man wird, um so weniger braucht man den Schlaf. Ich sah die Abrechnungen durch, Du batest mich ja darum, da habe ich Zeit und Weile darüber vergessen; aber, was willst Du denn, Antje?“

Das Gesicht der Tochter war noch um einen Schein bleicher geworden. „Ich wollte Dich bitten – Du bist es ja gewohnt, Mütterchen – Kinder wollen immer etwas von den Eltern, nicht wahr?“ – sie gab sich Mühe, unbefangen zu sprechen, aber sie faßte sich ein paarmal nach der Kehle, als würge sie etwas – [„]also, ich wollte Dich fragen, ob Du mir vierhundert Mark geben könntest – Leo hatte – Leo braucht es augenblicklich, und ich – Du weißt, Mütterchen, das Vierteljahr geht zu Ende, ich habe soviel wie nichts mehr –“

Die Arme waren ihr niedergefallen, und den Kopf hielt sie gesenkt; sie hatte genau dieselbe Stellung wie als Kind, wenn sie einen Wunsch vortrug, von dem sie annahm, er sei gräßlich unbescheiden.

„Jetzt braucht Leo das Geld, in diesem Augenblick?“

„Ja!“

„Aber, ums Himmelswillen, wozu?“ forschte die Mutter.

„Sie haben aus Uebermuth ein wenig gespielt, Mütterchen – Leo macht sich gar nichts daraus, aber die Baronin liebt es so sehr, und nun – hat Leo verloren.“

Frau Bergrath Frey ging ohne weitere Worte an die Kommode unter dem Spiegel und nahm vier Banknoten heraus. „Hier, Antje!“ sagte sie tonlos.

„Ach, Mütterchett, sei nicht böse!“

„Geh’ nur, Kind, und schlafe aus!“

„Liebes Mütterchen –“

„Ich bin todmüde, Antje!“

Die junge Frau küßte die Mutter und entfernte sich mit dem Gelde.

Die Zurückbleibende stand regungslos, die Hände ineinander gefaltet, und sah ihr nach.

„Du barmherziger Gott!“ sagte sie endlich; dann setzte sie sich auf den Lehnstuhl vor ihrem Bette, und es war, als ob diese große starke Frau unter einer unsichtbaren Gewalt zusammenbräche. „Wenn das Frey erlebt hätte; wie seine Prophezeiung wahr zu werden beginnt, Schritt für Schritt in fürchterlichem Ernst!“ flüsterte sie. Und wieder falteten sich ihre Hände; sie sah ihre Tochter lächeln, mit dem traurigen müden Lächeln, das sie früher nie an ihr gekannt hatte. „Hätte sie doch den Ferdinand genommen, hätte sie auf uns gehört! Aber – was nützt das Klagen noch? – Hilf mir, Gott! Laß das Kind nicht verderben, es ist mein Einziges!“ sprach sie im Gebet, und die Thränen flossen ihr über die Wangen. Als jetzt aber vom Hofe unten Lachen und Plaudern herauftönte und dazwischen das Anschlagen von Schlittenglocken, da lösten sich die verschlungenen Hände und die Rechte schloß sich zur Faust. „Noch bin ich da,“ murmelte sie, „fürchte Dich nicht, Antje, noch hast Du eine Mutter, und es soll biegen oder brechen!“




Am andern Morgen stand Antje in der Kinderstube neben Doktor Maiberg am Bette der Kleinen; das Kind fieberte ein wenig, und so hatte sie den Gast bitten lassen, nachzuschauen, ob es etwas Ernstliches bedeute.

Er beruhigte sie, und, entzückt von dem hübschen blonden Kinde, setzte er sich neben das Bettchen und begann mit der Kleinen zu plaudern; dabei schaute er die junge Frau besorgt an. Antje fühlte sich entschieden elend; sie hatte unnatürlich rothe Wangen und ihre Augen schienen trübe und verweint.

„Wird Leo heute nach seinem Atelier fahren?“ fragte der junge Arzt.

„Er hat mir noch nichts gesagt, aber ich denke doch wohl, daß er heute hier bleibt – Ihretwegen, Herr Doktor! – Sie –“

„Das sollte er nicht thun,“ meinte Wolf Maiberg, „seine Beschäftigung darf unter meiner Gegenwart nicht leiden, sonst bin ich genöthigt, meinen Koffer zu packen und weiter zu ziehen.“

„O, einen Tag Pause – –“ antwortete sie zerstreut, „es würde Leo sogar gut thun – er sieht so schlecht aus in der letzten Zeit – finden Sie das nicht auch?“

[88] Aber sie sah den Gefragten nicht an, ihre Blicke irrten ängstlich nach der Thür, die mit einem Teppich verhängt war, dem man allerhand drollige Figuren eingewirkt hatte, Vögel, Katzen, Puppen, Geräthe. Maiberg hörte, daß im Nebenzimmer gesprochen wurde; er hatte in kurzen Sätzen Leos Stimme erkannt, aber eine Frauenstimme, ein merkwürdig tiefes Organ, das langsam, bedächtig sprach, herrschte vor. Zu verstehen war nichts, Antje hätte nicht nöthig gehabt, mit zitternder Hand den Teppich vollends vorzuziehen.

„Hat Leo diesen Fries gemalt?“ fragte der Gast und zeigte hinauf, wo unter dem vergoldeten Stuck des Plafonds ein breiter lichtblauer Streifen sich um das Gemach zog, von dem sich reizende Gruppen spielender Kinder abhoben.

„Ach nein,“ erwiderte Antje, „nur den Entwurf hat er gemacht!“ Und sie horchte abermals nach der Thür hin.

Leos Stimme war jetzt lauter geworden. „Papa – böse?“ fragte die Kleine mit angstvollem Gesichtchen, während sich Maiberg erhob, um sich zu verabschieden. Aber während er noch das Köpfchen des Kindes streichelte, sprach die Frauenstimme nebenan so laut und heftig, daß jedes Wort zu verstehen war:

„Lassen Sie mich ausreden, Herr Sohn, Tausendwetter! Denken Sie, mir machen solche Unterredungen Vergnügen? Schlimm genug, daß sie nöthig geworden sind! Ich sage, Sie werden Ihre Lebensweise ändern, weil Sie es Frau und Kind schuldig sind! Ich will nicht, daß meine Tochter dermaleinst hungern soll! Und wenn Sie sich nicht dazu entschließen können, Ihren Verhältnissen gemäß zu leben, so treiben Sie Ihre Verrücktheit allein, ich nehme meine Tochter mit Freuden wieder – je eher, je lieber!“

Das letzte hörte Maiberg, als er schon durch den Flur ging, es schallte hier nach deutlicher durch die Thür. Und hinter dem sich eilig Entfernenden zitterte der angstvolle Ruf Antjes: „Aber Mutter – liebe Mutter!“

Im Hause mochte er nicht bleiben; so stieg er die Treppe hinunter und suchte den Garten auf. Dort wanderte er in den Wegen umher, nicht achtend der klaren Winterlandschaft und des duftigen Schnees, dem die Sonne tausendfaches Glitzern und Funkeln entlockte. Diese kräftige Frauenstimme dort oben hatte ihm aus der Seele gesprochen; gestern nacht schon hätte er am liebsten den Freund an den Schultern gerüttelt und gefragt: „Sag’ mal, Mensch, bist Du verrückt geworden? Nennst Du das Geselligkeit, dieses wüste Durcheinandersprechen, dieses Trinken, Rauchen, Spielen? Wohin bist Du gekommen? Kehr’ um, Leo, Du spielst Dir selbst Komödie vor! – Ich kenne Dich besser, Du steigerst Dich in etwas hinein, das Dir gar nicht eigen ist!“ – Doch, was würde das helfen? Wenn Leo eine Idee erfaßte, hielt er fanatisch an ihr fest, und darum hatte die Schwiegermama – denn wer sollte sonst die Sprecherin gewesen sein – ihre Sache beim verkehrten Ende angefangen.

Ein beklemmendes Gefühl bemächtigte sich seiner; er machte Pläne zur Abkürzung seines Aufenthaltes. Es ist schrecklich, Gast in einem Hause zu sein, wo der Friede fehlt. Da hörte er seinen Namen rufen, und als er sich umwandte, sah er Leo am offenen Fenster.

„Komm doch herauf, Maiberg!“

Gehorsam schritt der große blonde Mann ins Haus zurück und trat ins Atelier. Leo wanderte dort auf und ab, indem er leise vor sich hin pfiff.

„Setz’ Dich,“ sagte er, „nimm eine Cigarre und tröste mich in meinem Abschiedsschmerz – meine Frau Schwiegermutter verläßt in ein paar Augenblicken das Haus.“

„Du hattest Streit mit ihr, Leo?“

„Keineswegs! Meine Schwiegermama meinte nur so beiläufig, da ich mit dem Malen nichts verdiente, so möchte ich lieber eine andere Stellung in der menschlichen Gesellschaft suchen, etwa als Schreiber in ihrem Kontor oder dergleichen. Wir konnten uns nicht einigen, und so zieht die würdige Dame es vor, mein Haus zu verlassen. Das ist das Ganze. – Sie ist von thatkräftiger Natur und liebt rasche Entschlüsse,“ setzte er hinzu. „Da siehst Du es, binnen einer Viertelstunde ist sie fertig geworden zum Ausrücken, ja, ja, sie ist schneidig, das ganze Arbeiterpersonal daheim zittert vor ihr, Maiberg; wahrhaftig, da fährt der Wagen schon vor.“ Er ging rasch zum Fenster und sah hinunter.

Wolf war neben ihn getreten und beobachtete, wie Antje die alte Dame küßte und immer wieder küßte, und wie sie, als das Gefährt schon davon gerollt war, noch selbstvergessen in dem kalten Ostwind stand und auf die Spuren der Räder im Schnee blickte.

„Deine Frau thut mir leid,“ sagte Maiberg endlich.

„Weshalb? Ich habe ihr freigestellt, die Mutter eine Zeitlang zu begleiten, sie will aber nicht.“

„Die gnädige Frau läßt die Herren zum Frühstück bitten,“ meldete der Diener.

Als sei nicht das Geringste vorgefallen, begegnete Antje ihnen im Speisesaal; nur das verrätherische Zucken in dem blassen Gesicht gab Kunde von ihrer inneren Aufregung. Leo sprach von der letzten Ausstellung in München und von der neuesten Oper; in den Gläsern funkelte Sherry und der Diener kredenzte zum Sauerkraut, mit Austern gekocht, echtes Münchener.

Maiberg mußte immer wieder die Frau betrachten, die zwischen ihnen saß. „Darf ich nachher noch einmal nach meiner kleinen Patientin sehen?“ fragte er.

Sie bejahte freundlich.

„Du besuchst wohl mit Maiberg heute abend die Oper?“ fragte Leo. „Ich habe indeß eine Besorgung; wir fahren dann miteinander wieder heraus.“

„Ja!“ sagte sie abermals und nickte dazu mit dem Kopfe wie ein schöner Automat.

„Aber,“ widersprach Maiberg, „paßt es Ihnen denn auch, gnädige Frau? Sie sehen angegriffen aus und legten sich wohl erst bei Tagesanbruch zu Bette! Leo, ich bitte Dich, ich bin wirklich nicht so vergnügungssüchtig, wie Du anzunehmen scheinst.“

„Dann bleibt davon!“ erwiderte er.

„Wenn es Ihnen recht ist, gnädige Frau, so verleben wir den Abend daheim. Ich habe ohnehin Briefe zu schreiben, die ich nicht mehr länger aufschieben möchte.“

„Ja!“ sagte sie zum dritten Male. Dann stand sie auf und ging hinaus.

Gleich nach dem Mittagessen fuhr Leo in die Stadt; Antje hörte den Wagen vom Hofe rollen. Sie befand sich im Eßsaal, beschäftigt, das Silber zu verschließen, das bei der gestrigen Gesellschaft gebraucht worden war. Es war nach vier Uhr und die Dämmerung schon hereingebrochen. Mechanisch wischte sie jeden silbernen Löffel, jede Gabel mit einem zierlich ausgebogten Leder ab und legte Stück für Stück in den blauen Sammet des großen Juchtenkastens.

Ihre Gedanken waren bei Leo. Was mochte er beginnen in seinem gekränkten Stolze? Er that ihr in der Seele leid; nie hatte sie ihre Mutter so heftig gesehen. – Als Antje heute früh schreckensbleich in das Zimmer stürzte, in dem sie die beiden wußte, saß die alte Dame zornesroth am Tische, die Abrechnung des Bankiers vor sich. Die Hand, die eben derb aufgeschlagen hatte, lag noch geballt auf der bunten Decke neben dem Tintenfaß. Leo stand kreidebleich, aber ein überlegenes Lächeln um den Mund, am Ofen, in nachlässiger Haltung, als wärme er sich die Hände.

„Mutter, ich bitte Dich,“ hatte Antje gerufen, „was hast Du eben gesagt!“

„Daß Du mir willkommen bist zu jeder Stunde,“ war die erbitterte Antwort gewesen, „daß ich noch immer einen warmen Platz für Dich habe und daß es mir lieb ist, Du kommst bald, ehe Du mitansehen mußt, wie hier – alles in die Brüche geht!“

„Nun weißt Du es, entscheide Dich!“ hatte Leo trocken erklärt.

Aber sie hatte gar nicht auf ihn gehört. Sie war mit gefalteten Händen auf die Mutter zugetreten und hatte sie nur mit einem flehenden, innig flehenden Blick angeschaut.

„Sie brauchen sich nicht zu wiederholen, Mama,“ hatte Leo weiter gesprochen, „meine Frau weiß, daß ich keine Bilder verkaufe, und daß ich Champagner und schöne Pferde liebe – –“

„Leo, so schweig’ doch davon!“ hatte die junge Frau seine Rede unterbrochen; „was mein ist, ist auch Dein, ich habe mich noch nicht beklagt über Deine Ausgaben! Wenn Mutter es thut, so meint sie es nur gut und – hat vielleicht nicht unrecht. O, ich bitte Euch, vertragt Euch doch, bitte! bitte!“

„Du hast Dich noch nicht beklagt, Kind, das ist wahr. Du würdest ihm auch kein Wort sagen, und wenn heute der letzte Groschen zum Fenster hinausflöge! Deshalb bin ich da, deshalb habe ich ihm einfach vorgerechnet, daß Ihr, wenn Ihr so weiter lebt, noch sechs bis acht Jahre reichet mit Deinem Vermögen –

[89]

Maskenzug bei der Piazza Colonna in Rom.
Nach einer Zeichnung von P. Bauer.

[90] nachher ist’s aus! Oder meinst Du etwa, Ihr könnt das Hüttenwerk so nach und nach zum Butterbrot aufessen? Bei Gott, daß das nicht geschieht, dafür sorge ich!“ Die entschlossene Dame wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

Antje schwieg. „Geh’ hinaus, Leo!“ bat sie endlich.

„Ich bedaure! Mich interessirt es, zu hören, was Deine Mutter uns vorschreibt für unseren künftigen Haushalt,“ war Leos Antwort gewesen.

„Nichts weiter,“ hatte langsam Frau Klaartje Frey erwidert, „nichts weiter als das, was Antje lernte, so lange sie in meinem Hause lebte: Einfachheit, Sparsamkeit und Arbeit, Arbeit, wie sie einem Manne geziemt, der für Weib und Kind zu sorgen hat – keine brotlosen Künste! Und nun bitte ich um das Kursbuch.“

Leo war zur Uhr getreten. „Der Schnellzug nach Leipzig geht in dreiviertel Stunden,“ erklärte er sehr ruhig.

„Leo!“ Der jungen Frau war das Herz fast stillgestanden. „Mutter!“ flehte sie nach der andern Seite, „bleib hier – geht nicht so auseinander!“

„Du besuchst mich wohl mal, Antje?“

„Ach, Mutter, es ist ja nicht möglich, daß Du so von uns gehst!“

„Freilich gehe ich! Es soll keiner sagen die alte Frey hetzt ihr Kind gegen den Mann auf. Ich habe Euch gewarnt, und Ihr wißt nun – hilf mir die Sachen packen, Antje!“

Sie war gegangen, ohne sich nach dem jungen Mann umzusehen. Antje bemerkte, wie er ihr eine Verbeugung machte, ironisch tief, bis zur Erde, aber sie sah es durch Thränen. – –

Und endlich war das Silber geordnet. Sie stand da in der farblosen Dämmerung und fürchtete sich fast, so herzenseinsam, so kalt war es um sie her – Leo hatte kein Wort des Trostes für sie gefunden. Er war ihrem suchenden Blick förmlich ausgewichen und sie hätte ihm doch so gern gezeigt, daß sie die harten Worte der erregten Frau nicht billige. Sie grübelte und grübelte, wie sie ihm eine Aufmunterung, eine Anerkennung verschaffen könnte. Ihre Mutter hatte es ja so gut gemeint, wie aber durfte sie ihm Worte sagen, wie das von den „brotlosen Künsten“!

Antje preßte die Handflächen gegen einander in Seelenqual. „Wenn ich nur etwas wüßte,“ lispelte sie, „so eine recht große Freude!“ – Aber es fiel ihr nichts ein; seufzend stieg sie die Treppe empor und suchte ihr Zimmer auf.

(Fortsetzung folgt.)




Vom römischen Karneval.
Von Woldemar Kaden. Mit Zeichnungen von P. Bauer.


 „Lieblich ist’s, schwärmen zu seiner Zeit.“
 Horaz.

Eine wilde Musik zieht unter meinen Fenstern vorbei die Straße entlang. Schreien und Jauchzen der Kinder mischt sich mit dem Klange der Pauke, der Trommeln und Trompeten. In dem Garten drüben glühen aus dunklem Laube die goldenen Früchte; ein blauer klarer Februarhimmel liegt über den Dächern der „ewigen Stadt“. Die Erinnerungen, in Gestalten, in Gruppen und Bildern, ziehen an meinem Auge vorüber und dieses fällt auf ein paar alte Münzen, die der Zufall mir auf meinen Schreibtisch gestreut hat.

„Es war einmal ...“

Es liegt da ein römisches Bajoccostück aus dem Jahre 1787, eine abgegriffene, fast schwarze Kupfermünze. Sie trägt die Umschrift: „Pius VI, Pont. Max. A. XIII.“ d. h. „Papst Pius VI. hat sie geschlagen im 13. Jahre seines Pontifikats.“ Ueber dem päpstlichen Wappenschilde kreuzt sich ein stattlich Schlüsselpaar, schwebt in unangetasteter Hoheit die uralte Tiara ...

1787! Ist das nicht das reiche, das wirkliche Glücks- und Jubeljahr unseres großen Poeten, sein italienisches Jahr? Wohl, 1787 war Goethe in Rom, dort erlebte er den lustigen Karneval. So hätte dieser Bajocco in Gesellschaft von den damals im Kirchenstaat üblichen, heute verschollenen Münzsorten der Rusponi, Zecchini, Laternini und Paoli vielleicht schon in Goethes Tasche geklimpert, da er inmitten der ausgelassenen Maskenwelt schauend, genießend den Korso hinabschritt und abends den vom „18. Febr. 1787“ datirten Brief in die Heimath mit dem Zusatz versah: „Abends, nach verklungener Karnevals-Thorheit.“

Verklungen! Goethe hatte mit prophetischem Geiste gesprochen.

Da liegt neben dem ersten ein anderes, ebenso historisch gefärbtes, etwas zerschnittenes oder zerhacktes Doppel-Bajoccostück. Es ist elf Jahre jünger, hat aber ganz andere Dinge erlebt: es führt die ernste Jahreszahl 1798!

An Stelle des Papstwappens stehen die antiken bedrohlichen Fasces, die Ruthenbündel; vor diesen kreuzen sich ebenso bedrohlich trotzig zwei Beile; die Tiara hat sich in die Jakobinermütze verwandelt, und inmitten eines Strahlenkranzes läuft rundum die stolze Legende: REPUBLICA ROMANA!

Diese römische Republik lag noch in der Wiege und war eben erst gewickelt, d. h. am 15. Februar des genannten Jahres gegründet worden. Im Februar, also mitten im Karneval, und ihr zweites Opfer – das erste war der französische Gesandte Duphot gewesen, der am 28. Dezember 1797 bei einem Aufstandsversuch der römischen Republikaner im Getümmel umkam – ward der arme Prinz Karneval; er erhielt in jenem Jahre, wo die Göttin Vernunft auf den Thron kam, den Todesstreich.

Unsere Zeit aber steht wie einst Hamlet auf dem römischen Todtenacker. Der alte Todtengräber hat eben einen Schädel aufgeworfen und spricht: ... „Dieser Schädel da war des Karnevals Schädel, des Königs der Spaßmacher.“

Hamlet betrachtet ihn ernsthaft: „Ach armer Karneval! Ich kannte ihn, ein Bursche von unendlichem Humor, voll von den herrlichsten Einfällen ... Wo sind nun deine Schwänke? deine Sprünge? deine Lieder, deine Blitze voll Lustigkeit, wobei die ganze Welt in Lachen ausbrach? Alles weggeschrumpft!“

Und wieviel ist das, was wegschrumpfte! Denn die Dynastie ist alt. Es war schon Papst Paul II., der den jungen Ritter Karneval um 1467 aus dem Labyrinth des Mittelalters an seinen Hof zog. Auf den lustiggrünen Volkswiesen am Fuße des Monte Testaccio, in dessen Grotten die römischen Weine lagerten, hatte er bis dahin sein Wesen getrieben, aber jener Papst lockte ihn in das Innere der Heiligen Stadt, um ihm und seinem landstreichenden Gefolge die Via Lata zu den „Corse“, den Pferdewettläufen, anzuweisen, so daß diese Straße davon den noch heute geltenden Namen des „Corso“ bekam.

Ueber vierhundert Jahre sind seit jenem ersten Karneval vergangen.

Auf der Piazza Venezia versammelte damals sich der Nobilissimo convito papale. Senatus populusque Romanus, Roms Volk und Senat, um von ihren mit farbigen Tüchern behangenen Balkonen aus dem Eintreffen der „Barberi“ zuzusehen, den wettlaufenden Juden, Jünglingen, Greisen, Büffeln und Eseln; denn die „Corse“ der Zweifüßler waren damals so beliebt wie die später allein übriggebliebenen der Vierfüßler, der Pferde.

Bis zur Tollheit und Verrücktheit muß damals wohl die Karnevalsfreude ausgeartet sein, so daß selbst die Türken darob verwundert die Köpfe geschüttelt haben. Einer derselben, der um 1550, als Julius III. zu regieren anfing, dem römischen Karneval beiwohnte, erzählte nach der Heimkehr seinem Herrn, wie zu einer gewissen Zeit des Jahres die Christen auf einmal verrückt werden und erst wieder zur Vernunft zurückkehren und genesen durch Kraft eines grauen Pulvers, das man ihnen in den Kirchen auf den Kopf streut.

Das ist die Segenswirkung der Aschermittwochsasche.

Was schwärmte damals, und zu Goethes Zeit noch immer, nicht alles an Masken durch die Straßen der Ewigen Stadt! Mit den Paoli, Scudi und Bajocchi sind sie verweht, der lustige Arlecchino und Pulcinella, der bergespaltende Capitan Spavento, Peppe Nappa, Tabarrino, Tartaglia, Meo Patacca, Pantalone, Florindo und Meneghino, Stentorella und Scaramuccia, Ruzzante und Scapino!

Ihre Namen liest das heutige Geschlecht wie die studirende Jugend die Namen jener Helden der Odyssee und Ilias.

Die alten Götter sind gegangen. Nur ihre Hüllen ließen sie für die Kostümkunde zurück. Der ganze lustige Spukstaat des Prinzen Karneval, seine Masken und Trachten, seine Schellen [91] und Schuhe hängen neben den vertrockneten Kränzen und Blumen, die ihm muntere Schönen dereinst von den Balkonen zuwarfen.

Blumenkorso.

In dieser Rüstkammer vergangener Humore und lustiger Kriege stehen wir klugen Kinder der jüngsten Zeit in schwarzem Frack, die weiße Kravatte um den schnürenden Stehkragen geschlungen, den Cylinderhut auf dem glatt gescheitelten Haar, schauen die alte römische Herrlichkeit mit historischem Interesse an und machen ein gar ernstes Gesicht.

Ein von russisch-französisch-bulgarischer Politik, von schweren modernen Amtssorgen und Bureauarbeiten, von zweifelhaften Spekulationen, ostafrikanischen Kolonialbestrebungen, Sozialismus und Spiritismus beschwerter Geist hat weder Lust noch Schwung, seinem frühzeitig ergrauten oder entlaubten Haupte die Narrenkappe aufzusetzen oder mit Narren lustig zu sein.

Ist es überhaupt nicht eine Anmaßung kühnster Art, wenn eine Schar vergnügungsbedürftiger Lebemänner für eine bestimmte Zeit des Jahres die Herrschaft an sich reißt und einer ganzen großen ernsten Stadt befiehlt: „Jetzt lacht ’mal vierzehn Tage lang!“

Das gelingt nicht, und so läßt man auch hier den Schein walten, kauft sich eine grinsend lachende Maske, und niemand sieht, wie ernst das Gesicht dahinter ist.

Wir sind Fremde, wir sind in Rom; auch an uns ist das Gebot des Karnevalsausschusses ergangen: wir müssen lustig sein, die Stadt der großen karnevalesken Erinnerungen, das Gedächtniß an Goethe, unser poetisches Gewissen zwingt uns dazu. Gut denn! gehen wir und kaufen uns in einer römischen Osteria ein, zwei, drei Liter weißer oder rother Lustigkeit, oder eine Flasche schäumender Narrheit. Vorwärts! Es giebt noch verräucherte Osterien alten Stils, und wenn du, o Schwärmer, nicht klassisch genug gestimmt bist, so kaufe dir die theure Thorheit bei Nazzarri, bei Spillmann oder Morteo u. Komp.

Und nun fangen wir an, auf dem menschenwimmelnden Korso mit den andern zu springen; dabei fallen die Alltagsschlacken ab, unsere Seele wird blank. Wir stülpen die Narrenkappe aufs Haupt, kaufen einen Riesenveilchenstrauß vor die Brust, eine Klapper, eine Trompete in die Hand und stürzen kopfüber, nicht zögernd wie ein badender Weichling, ins wogende Meer der Lust, wo es am tiefsten ist, daß die Wellen über uns zusammenschlagen.

Jetzt kennt dich in der Welt niemand mehr; du kannst jetzt treiben, was du willst. Abenteuer willst du? Sieh! – da oben auf dem buntbeteppichten Balkone steht Frau Aventiure selbst mit den schwarzen Römeraugen, dem dunklen Haar, den blitzenden Zähnen, dem sonnigen Lächeln. Sie ist nicht allein, alle ihre Schwestern und Basen sind dabei, ihr ganzes reizend schönes Gefolge. Sie haben die Arme hoch über das Haupt zum Wurfe erhoben: eine volle Ladung trifft dein staunendes Gesicht; heute „Coriandoli“, jene feinen stechenden, stäubenden Gipskügelchen, deren Aufschlagen, wenn du in ein Kreuzfeuer geräthst, dich bald in einen „armen weißen Mann“ verwandelt haben wird. Auch von den tüchtige Munition mit sich führenden Wagen trifft es den Straßenwandler hart. Heute also Coriandoli, morgen, am Tage des „Blumenkorso“, Blumen, einzeln, eine Kamelie, eine Rose, vielleicht verheißungsvoll, oder zu Sträußchen und Riesenbouquets gebunden, für den Kranz der Damen auf den Altanen bestimmt. Die Blumen aber sind theuer, dem Manne, dem Burschen aus dem Volke und der lieben Schul- und Straßenjugend sind sie zu theuer, und sie verwandeln den Blumenkorso für ihre Zwecke trotz polizeilichen Verbotes in einen Grünwaren- und Gemüsekorso, auf dem Kraut und Rüben den Gruß bilden, der den unglücklichen Cylindern vor allen, sonst aber jedem anständigen Hute gilt.

Heutzutage artet leider, wie überall, auch in Rom die einst so anständige Freude auf der Straße leicht in Rohheit aus, und die Sicherheitswachmänner, die an Stelle der antiken Aedilen getreten sind, haben der Plebs gegenüber einen schweren Stand.

So flüchtet sich heute das Hauptvergnügen in das Innere der Häuser und Adelspaläste, wo man prächtige Bälle veranstaltet, oder in die Theater, wo man sich der durch auserwählte Karnevalskräfte dargestellten Opern, Operetten und Dramen erfreut oder bei einem öffentlichen Maskenball selbst Vorstellungen giebt.

Und an Theatern fehlt es nicht, sie sind neben den Kirchen wie Pilze aufgeschossen: Manzoni, Costanzi, Umberto, einst als Corea bekannt, Argentina, Capranica, Valle, Valletto, Politeama etc.

Bei einem solchen Theaterball ist das Treiben ganz modern; man mag sich nach Berlin oder Wien oder Paris versetzt wähnen, nur daß hier die Schöne, der du die Einladung machst, mit einem orangensüßen „Sissignore“ antwortet.

Wer aber wissen will, wie der römische Karneval war, der schlage seinen Goethe auf: Licht, Glanz, buntes Farbengewirr, seidene Fahnen und Teppiche, Jubelgeschrei, schellenbehangene Barberi, buntgeschmückte Karren und Wagen mit originellen Masken, die Luft erfüllt mit Blumen, Liebe, sorgloser Freude ...

Alles weggeschrumpft!“[1]



  1. Anmerkung der Redaktion. Der Artikel ist geschrieben auf Grund der Karnevalsfeste, welche der seit langer Zeit in Italien lebende Verfasser in den letztvergangenen Jahren kennenlernte. Neuerdings hat sich in Rom eine Gesellschaft gebildet, die eine Wiederbelebung des richtigen alten Karnevals in allem „Ernste“ in Angriff nehmen will. Vielleicht daß es ihr doch gelingt, ein Stück des alten Glanzes wieder zurückzuerobern.

[92]

 Denksprüche.

 Narrenschuhe.
Narrenschuhe trägt ein jeder,
Und sie sind von derbem Leder,
So daß manchem von den Alten
Sie bis zu dem Grabe halten.


 Guter Rath.
Dein Geheimniß sage nicht!
Was du weißt, das frage nicht!
Geht dir’s schlecht, so klage nicht!
Bau auf Gott und zage nicht!


 Rhythmus.
Das ist die Gewalt des Rhythmus,
Daß unwillkürlich alles mitmuß.


 Thorheit.
Thorheit haftet jedem an;
Doch mir scheint, der größte Thor
Ist der dünkelweise Mann,
Dem die Eitelkeit ins Ohr
Flüstert, daß von Thorheit frei
Er allein auf Erden sei.


 Zwerg und Riese.
Ein Zwerg, wird er auf eines Riesen Schulter stehn,
Kann leicht den Riesen übersehn;
Doch hat mit Recht man immer nur den Riesen
Und nicht den Zwerg als groß gepriesen.


 Erziehung.
„Was ist das Wichtigste bei dem Erzieh’n von Kindern?“
Laß walten die Natur und such’sie nicht zu hindern!


 Zerrissene Freundschaft.
Eine Freundschaft, die zerrissen,
Knüpft nicht so sich wieder an,
Daß man nicht den Knoten drinnen
Deutlich noch verspüren kann.


 Habe.
Die Habe, die du hast, reich’ andern froh als Gabe;
Wenn dich die Habe hat, ist sie dir keine Labe.

  D. Sanders.




Truggeister.
Roman von Anton von Perfall.
(5. Fortsetzung.)


Als die kurze Trauungsfeierlichkeit vorüber war, stieg Stefanelly in einen Wagen mit dem alten Weinmann, der sich in lärmender auffallender Weise mit dem Baumeister wie mit einem guten Freunde unterhielt und die knochige Hand mit dem großen blitzenden Diamant wie ein Aushängeschild plump und schwer zum Wagenschlage heraushängen ließ. Loni, die junge Frau, kokettirte lebhaft mit dem Brautführer, dem jungen Mareschal, ohne es dabei zu versäumen, mit den Augen ihre früheren Verehrer vom Markte zu begrüßen. Trotzdem war sie den neugierigen Leuten immer noch sympathischer als die Bertl Margold, die ihre Umgebung nicht einmal mehr eines Blickes würdigte und sich in die Ecke ihres Wagens drückte – die künftige „gnädige Frau“! –

Die Wagen waren verschwunden, man kehrte zu seinen Geschäften zurück und feilschte wieder um jedes Pfennigstück, der lüsterne Traum vom goldenen Glück war verflogen. – –

Das Hochzeitsmahl fand bei Arnold statt, das ließ sich der alte Weinmann nicht nehmen. Er war jetzt Hausbesitzer und gehörte zu der großen Spekulantengesellschaft, an deren Spitze Stefanelly stand. Da mußte man doch repräsentiren!

Ein besonders üppig ausgestattetes Zimmer des Arnoldschen Anwesens war heute für die Hochzeitsgäste in Bereitschaft gesetzt. Loni war ausgelassen fröhlich; die Atmosphäre dieses Raumes behagte ihr, sie warf sich kichernd auf die sammetnen Kanapees, betrachtete sich in den hohen Spiegeln, knapperte vor Beginn der Mahlzeit schon an dem Konfekte herum, erklärte ihrem Mann, solch ein Speisezimmer müsse sie auch haben, und schien es noch immer nicht vergessen zu haben, daß Ingenieur Mareschal, ihr heutiger Brautführer, ihr einst gefährlich nahe gestanden hatte.

Weinmann erfüllte die Luft mit einem ständigen erschütternden Lachen und machte sich über Margold lustig, der still und schweigsam dasaß und sich offenbar hier ebenso wenig behaglich fühlte wie die übrigen beiderseitigen Verwandten. Mit neugieriger Verlegenheit blickten die Leute auf die reichbesetzte Tafel und umher in dem üppigen Raum, der ihnen wenig Hoffnung gab auf die in ihren Kreisen bei solchen Festen übliche Gemüthlichkeit.

In einem sonderbar erregten Zustande befand sich Bertl; jeder Unbetheiligte hätte sie mit dem hochgerötheten Antlitz, den leuchtenden Augen für die Braut gehalten. Es war aber auch ein harter Tag für sie. Der süße Traum, den ihr Vater erbarmungslos gestört hatte, indem er ihr seine Unterredung mit dem alten Brennberg über ihr Verhältniß zu dessen Sohn mittheilte, umgaukelte sie heute wieder mit seinem ganzen verführerischen Zauber. Sie dachte sich auf den Platz Lonis, und wie mit einem Zauberschlag versank ihre ganze Umgebung, der lärmende Weinmann, die unbeholfenen Verwandten, der verhaßte Stefanelly, ja selbst der Vater, die Mutter und an ihre Stelle trat eine vornehme Gesellschaft, Damen in strahlendem Schmuck, Herren in glänzender Uniform! – O, wie sie jetzt alles um sie her anwiderte! Was nützte es ihr, daß der Vater verkauft hatte, daß ihr Wunsch erfüllt war, in M ... zu sein, wenn sie immer unter diesen Leuten leben mußte! Woher sie nur einen solchen Abscheu gegen dieselben gewonnen hatte? Sie gehörte ja zu ihnen, war mitten unter ihnen aufgewachsen. – Er allein, dem all ihr Denken galt, er war schuld daran, er machte sie unzufrieden durch die trügerischen Hoffnungen, die er in ihr wachrief. – Aber am Ende waren sie doch nicht so trügerisch, diese Hoffnungen? Wie der alte Brennberg sprechen würde, das hatte sie ja von vornherein wissen müssen, ebenso, daß Theodor nicht offen seine Neigung bekennen durfte, ohne alles zu verderben.

Sie fühlte eine heißere Sehnsucht nach ihm als je, nicht nur eine wirkliche Leidenschaft, sondern das angstvolle drängende Gefühl, daß er allein sie retten könne aus diesen ihr jetzt verhaßten Lebenskreisen. Sie erröthete über das spöttische Lächeln der bedienenden Kellner, die sich über die Unbeholfenheit und Ungeschicklichkeit dieser Gäste im stillen lustig machten; ihr selbst fiel heute die häßliche Gier, die unsaubere Art ihres Essens auf, das geräuschvolle Lachen, die harte unbeholfene Sprache. Selbst ihr Bruder Hans, trotzdem er aussah wie ein Kavalier, und sogar der reiche Stefanelly mit seinem Orden auf der Brust, seinem gewandten weltmännischen Benehmen kamen ihr entsetzlich gewöhnlich vor. Der Gedanke packte sie, ob sie nicht am Ende auch so aussehe, auch sich so benehme, ohne daß sie es selbst wußte, und ob nicht der junge Brennberg, nachdem er zuerst oberflächlich Gefallen an ihr gefunden hatte, das plötzlich entdeckt haben könnte. Sie musterte und prüfte sich streng im Spiegel gegenüber, forschte nach jeder Bewegung, jedem Zug ihres Antlitzes, der ihr mißfallen könnte; und obwohl sie nichts fand, was sie sich hätte vorwerfen können, so vermochte sie doch nicht, ihrer Beklemmung Herr zu werden.

Stefanelly beschäftigte sich angelegentlich mit dem alten Margold, der neben ihn zu sitzen kam, trank ihm zu, legte ihm die besten Bissen vor, drückte ihm seine Freude aus, daß es ihm, einem tüchtigen, fleißigen Arbeiter, durch die glücklichen Zeitumstände vergönnt sei, seine alten Tage in Ruhe und Behagen zu genießen im Kreise seiner Kinder, und fragte teilnehmend, wie er sein Kapital wohl anlegen werde. Heutzutage könne man nicht vorsichtig genug sein, es gebe immer Leute, die Unerfahrene auszubeuten suchten.

Margold entwickelte darauf mit unruhigem Eifer seinen Plan. Er wolle die Gärtnerei durchaus nicht aufgeben, denn ohne Arbeit

[93] könne er nun einmal nicht leben; er habe zu diesem Behufe ein schönes Stück Land außerhalb Hachings, dort, wohin die Stadt doch nie dringen werde, um billiges Geld gekauft, da wolle er einen neuen Garten anlegen, in der Stadt selbst aber vorderhand einen Laden für kunstgärtnerische Erzeugnisse miethen; sein Hans und seine Bertl seien gar geschickt in diesem Fach, er brauche keinen Wettbewerb zu scheuen, und die jungen Leute fänden auch ihre Rechnung dabei, denn sie brauchten sich bei so einem noblen Geschäfte ja nicht einmal mehr die Hände schmutzig zu machen.

Hans und Loni hatten gespannt auf die Reden Margolds gehorcht und warfen jetzt Stefanelly einen bittenden Blick zu.

Das Kloster St. Bartolomä am Königssee.
Nach einer Zeichnung von R. Püttner.

Dieser runzelte die Stirn; er erklärte sich durchaus nicht einverstanden mit dem Plan, es ginge ihn zwar nichts an, aber da er einmal davon wisse, könne er seine abweichende Meinung nicht zurückhalten. Es sei geradezu ein Verbrechen, mit einem Kapital, wie Margold es jetzt in Händen habe, in dieser wirthschaftlich blühenden Zeit anderen Leuten den Diener zu machen, das könne er seinen Kindern doch nicht mehr zumuthen. Das Geld liege ja für ihn auf der Straße; er brauche sich nur zu bücken, um es aufzuheben, doppelt, dreifach so viel, als mit Strauß- und Kränzebinden und dergleichen Kleinkram zu verdienen sei.

Der sonst so kühle, verständige Mann, der auf den alten Margold bisher immer durch sein ruhiges entschiedenes Auftreten Eindruck gemacht hatte, bekam einen rothen Kopf vor Erregung; die Sache schien ihm wirklich zu Herzen zu gehen.

Margold begriff ihn nicht; Stefanelly war doch selbst ein Arbeiter, war durch die Arbeit emporgekommen, wie konnte nun er gerade dem Nichtsthun so das Wort reden! Margold wußte sehr wohl, was Stefanelly mit dem „auf der Straße liegen“ meinte – Häuser- und Börsenspekulation, die Arbeit des Kapitals anstatt derjenigen der Hände. Aber Margold haßte, verachtete diese Art von Erwerb, er konnte sich nicht helfen, Geld verdienen ohne jegliche Arbeit, nur durch Spekulation auf Kosten anderer, dünkte ihm wie Diebstahl. Und er sprach diese Ansicht auch dem Stefanelly gegenüber offen aus.

Hans und Loni lachten hell auf über seine Verschrobenheit; Stefanelly aber stutzte und ging dann scheinbar auf die Gedanken seines Nachbars ein.

[94] „Unter Umständen kann ja ein solcher Erwerb allerdings Diebstahl sein, rechtlich betrieben aber ist er eine absolute Nothwendigkeit für das allgemeine Wohl, ein Segen für die Menschheit und gerade für die arbeitende Menschheit. Je mehr Kapital, desto mehr, desto besser bezahlte Arbeit. Wer leistet mehr und Segensreicheres für unsern Stand“ – er betonte das Wort „unsern“ scharf – „der, welcher mit seiner Hände Arbeit sein tägliches Brot verdient, das heißt, sich und seine Familie ernährt, oder der, welcher mit seiner Kopfarbeit sein Kapital vermehrt und, dieses in den Dienst der Arbeit stellend, Tausende ernährt?“

Das war ein Treffer. Margold blickte mit unverhohlener Bewunderung auf den Unternehmer, der klug die Bresche benutzte, welche er sich in diese harte Brust gebrochen hatte.

„Ich,“ fuhr er mit vollem Bewußtsein seiner Bedeutung fort, „ernähre wirklich Tausende, ohne einen Stein anzurühren oder eine Kelle in die Hand zu nehmen. Ich rufe eine neue Stadt ins Leben, begründe unzählige Existenzen – glauben Sie, ich könnte das für mich, aus eigenen Mitteln? – Leider nein! Das Kapital, das vielgelästerte, das nicht meine beiden Hände, mit denen ich früher arbeitete, sondern mein Kopf, mit dem ich jetzt arbeite, mir dienstbar macht, verleiht mir die Riesenkraft, das alles ins Werk zu setzen, und am Ende hat der Kapitalist, welcher ruhig seinen Zins genießt, dasselbe Verdienst für das große Ganze wie ich, der ich ihm denselben zukommen lasse, wie der Arbeiter, durch dessen Fleiß das alles wird, was den Zins trägt. Wechselwirkung, Austausch der Kräfte – darin liegt das ganze Geheimniß der Maschinentechnik, und die ganze Welt ist eine Maschine. O, es sträuben sich viele gegen diese Anschauung! Der alte Herr von Brennberg zum Beispiel – Sie kennen ihn ja“ – der Unternehmer beobachtete scharf den Alten – „der gehörte auch dazu, so lange er nichts hatte als sein altes Nest Schönau – jetzt ist er Kapitalist und läßt sich bekehren.“

„Der Herr von Brennberg – bekehren?“

Margold brachte das Glas, aus dem er eben hatte trinken wollen, nicht zum Munde vor Erstaunen.

„Und zwar gründlicher, als ich hoffte! Er ist seit einigen Wochen auf meinen Rath und meine Vermittlung hin Hauptaktionär einer Baugrund-Erwerbungsgesellschaft, er wird in einigen Jahren sein Vermögen verdoppeln, ohne einen Schritt dafür machen zu müssen, und er wird dann über seine Schönauer Thätigkeit lachen.“

„Das wird er nimmer, der Herr von Brennberg, auch wenn er ein dreifacher Millionär wird,“ fuhr jetzt Margold empört auf. „Lachen über etwas, was ihm sein ganzes Leben heilig war, das thut der alte Herr von Brennberg niemals.“

„Uebrigens,“ unterbrach ihn. ohne auf seine Erregung zu achten, der Unternehmer, „hätte ich noch einige Aktien zu vergeben – ich bin nämlich der Gründer jener Gesellschaft – und wenn Sie zugreifen wollen, es ist lediglich eine Gefälligkeit von mir; doch da wir einmal schon in geschäftlicher Verbindung gestanden –“

Er zog ein Notizbuch heraus.

„Wollen Sie?“ fragte er, seinen kalten Blick auf Margold ruhen lassend. „Bis morgen ist’s zu spät, die Dinger gehen ab wie warme Semmeln.“

Die ganze Tischgesellschaft war allmählich auf das Gespräch der beiden aufmerksam geworden, andächtig lauschte sie auf die Worte Stefanellys und blickte jetzt neidisch auf den Alten, den es nur ein Wort kostete, einzutreten in das Goldland, das den meisten von ihnen für immer verschlossen war.

Hans und Loni drängten den Vater und Schwiegervater mit funkelnden Augen und vorwurfsvollen Worten; selbst Bertl, auf die der Alte einen hilfesuchenden Blick warf, nickte ihm zu, er solle nur zugreifen. Der Vater war ja dann der Compagnon Brennbergs, und der Ausgleich zwischen dem Gärtner und dem Rittergutsbesitzer, von dem Theodor einst gesprochen hatte, that einen weiteren Schritt vorwärts!

Margold war ganz verlassen, allein mit seinem Mißtrauen, mit seiner instinktiven Furcht, die ihm der Antrag einflößte.

„Nun, Herr Margold –“ ermunterte der Unternehmer, den Bleistift zwischen den Lippen netzend.

„Nun, so nehme ich eine Aktie!“ rang es sich endlich schwer aus der Brust. „Wenn der Herr von Brennberg es riskirt –“ Der Gärtner wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Eine? Das ist ja nicht der Mühe werth, unter fünf thue ich es nicht! Lassen Sie sich doch nicht zu Ihrem Glücke drängen!“ meinte Stefanelly.

„So schreiben Sie nur fünf für den Vater!“ sagte Hans. „Ich nähme alle, soviel Sie mir gäben! – Ums Himmels willen, ist der Mann schwerfällig!“

„Darf ich, Herr Margold?“

„So schreiben Sie fünf,“ klang es gepreßt.

Der Unternehmer that es rasch und schob das Notizbuch ein, indem er einen Augenblick seine stechenden Augen schloß, als wolle er nicht die Freude sehen lassen, die in ihnen aufleuchtete.

Man trank jubelnd auf Margolds Wohl.

„O, er wird schon noch recht werden, wenn er auf den Geschmack kommt!“ meinte Hans. „Wie sollen wir Ihnen nur danken, Herr Stefanelly, für alles, was Sie für uns thun!“

„Bitte, bitte, es liegt ja in meinem Interesse, verständige Leute, welche die Zeit begreifen, für das großartige Unternehmen zu gewinnen. Ich stelle mich Ihnen jederzeit zur Verfügung, Herr Margold. Selbstverständlich werden die Herren Aktionäre bei allenfallsigen Häusererwerbungen von mir besonders bevorzugt und von Gelegenheiten zu vortheilhaften Geschäften zu rechter Zeit in Kenntniß gesetzt. Ich kann das machen, nicht wahr, Herr Weinmann, Sie können sich nicht beklagen über Ihr neues Haus!“

„Das meine ich auch, um das Doppelte gebe ich’s nicht her!“ bestätigte Weinmann.

„Sehen Sie! Machen Sie es auch so, Herr Margold,“ drängte Stefanelly, „ich hätte eben eines an der Hand, vorzüglich für Sie geeignet, auch wenn Sie Ihren Plan mit der Kunstgärtnerei durchführen wollen, von dem ich übrigens abrathe; es ist schade um das Geld, das Sie hineinstecken. Wenn Sie sich das Haus kaufen, so bekommen Sie mehr für die Miethe, als Sie je mit Ihrer Gärtnerei verdienen können, und über Jahr und Tag schlagen Sie es mit einem Gewinn von Tausenden los; wir stehen ja erst am Anfang der Entwicklung von M ... Wollen Sie nicht gleich morgen –“

Frau Margold stieß den Gatten kräftig mit dem Ellbogen an und flüsterte: „Greif zu!“

Der Alte war bös in der Klemme.

„Haben Sie etwas Geduld mit mir, Herr Stefanelly,“ flehte er; „ich bin alt und kann mich nicht so rasch entschließen. Das kommt alles so plötzlich über mich, dazu der starke Wein hier, ich bin das nicht gewöhnt – morgen vielleicht –“

Hans schlug ärgerlich auf den Tisch und leerte auf einen Zug ein Glas Champagner.

Loni und ihr Vater lachten spöttisch, nur Bertl hatte jetzt Mitleid mit dem Vater und unterstützte ihn; heute sei keine Zeit zu Geschäften, morgen könne man ja davon reden. Vorsichtig gab Stefanelly selbst ihr recht und brach das Gespräch ab.

Der Champagner erhitzte die Köpfe. Die Geladenen verloren ihre Schüchternheit, vergaßen den vornehmen Raum, der sie anfangs so eingeschüchtert hatte, und lärmten nun auf ihre gewohnte Art, in ihrer gewohnten Sprache. Als Hans in einer wirren Rede Stefanelly als den Wohlthäter der Arbeiter, den Stolz der Stadt feierte, da erreichte die ausgelassene Stimmung ihren Höhepunkt, und selbst Margold wurde durch die Erregung und den Wein mit fortgerissen. Er lauschte mit unsicherem Blick auf die Erzählungen Stefanellys, wie er das geworden, was er jetzt sei, durch das Vertrauen, das er sich erworben habe; er bewunderte zuletzt selbst den Mann und kam sich recht albern und unwissend neben ihm vor. Was konnte er erzählen? Von Graben und Schaufeln sein Lebtag lang. Er unterhielt sich jetzt trefflich und sah die Welt plötzlich so lustig vor sich liegen wie damals vor vierzig Jahren, da er sie als Gärtnerbursche mit dem Ränzel auf dem Rücken durchwanderte. Auch Bertl konnte sich der allgemeinen Stimmung nicht entziehen, der Champagner löste in ihr alles in weiches, wonniges Sehnen auf; war ihr Vater nur erst ein reicher Mann – und er war ja auf dem besten Wege dazu – so kam das übrige dann schon von selbst nach.

Der Abend war schon angebrochen und noch immer war kein Ende. Gluthhitze erfüllte den Raum und ein schwerer Dunst von Speisen und Wein. Aus dem Zimmer nebenan ertönten klirrende Säbel, Männerstimmen, Gläserklang, – dann trat wieder in bestimmten Zwischenräumen lautlose Stille ein, die nur von einem eigenthümlichen leisen Rascheln unterbrochen wurde.

[95] Bertl saß dicht an der verschlossenen Verbindungsthür; seit sie das erste Klirren gehört hatte, horchte sie mit höchster Anstrengung – er war bei der Gesellschaft – eine innere Stimme sagte es ihr, Arnold war ja sein Stammlokal. Die peinliche Stille, die nun wieder herrschte, hatte für sie etwas Unheimliches, war ihr unerklärlich. Endlich wagte sie es, den Kellner um Bescheid zu fragen. „Es sind Offiziere, die ihr Spielchen machen bei einer Ananasbowle,“ war der Bescheid.

Sie mußte lachen, daß sie das so beunruhigt hatte: aber nach Lieutenant Brennberg zu fragen, wagte sie nicht; sie war bei der ersten Frage schon so frech angelacht worden. Den übrigen am Tische fiel der Vorgang im Nebenzimmer nicht auf.

Plötzlich entstand drüben verworrener Lärm, allgemeines Durcheinander, laute Ausrufe: „Gieb nach!“ „Laß ab!“ „Es ist umsonst!“ „Verdammtes Pech!“ tönten herüber. Ein Stuhl wurde gerückt, eine Thür zugeschlagen, gleich darauf überreichte ein Kellner Stefanelly eine Karte. Bertl hörte deutlich, wie er dem Baumeister ins Ohr flüsterte: „Der Herr Baron möchte Sie sprechen!“

Gewiß, das war er, Brennberg, und was konnte er anders wollen als nach ihr fragen! Am Ende wollte er gar sich von Stefanelly hier einführen lassen, um sie zu sehen! Ueber der Freude bei diesem Gedanken vergaß sie ganz, in welcher unpassenden Verfassung für solchen Besuch sich die Gesellschaft schon befand.

Stefanelly verließ das Zimmer mit einem unwillkürlichen Griff in die Tasche. Draußen auf dem Gang stand Lieutenant Brennberg mit dunkelrothem glühenden Antlitz.

„Eben gehört, daß Sie hier sind, Herr Stefanelly. Bin in verdammter Verlegenheit, eben den letzten Einsatz verloren, und jetzt will und darf ich nicht gehen! Kamerad aus dem Norden hier, von Berlin, da wär’s eine Schande. Der Mensch hat unerhörtes Glück, kann aber nichts, ich kriege ihn doch noch unter, wenn Sie mir aushelfen. Sie haben immer die großen Bohnen bei sich, und wir stehen ja in Geschäftsverbindung, die sich noch erweitern wird, verlassen Sie sich darauf! Fünfhundert Mark? können Sie?“

Stefanelly hatte schweigend seine Brieftasche herausgezogen und einige Worte auf eine Karte geschrieben.

„Hier, unterschreiben Sie!“ Er reichte dem jungen Mann Karte und Bleistift.

Mit zitternder Hand schrieb dieser seinen Namen darunter, während der Unternehmer fünf Banknoten herauszählte.

„Hier, Herr Lieuteuaut! Es ist zwar nicht recht, daß ich Ihre Leidenschaft unterstütze, aber ich sehe Sie doch lieber in meinen Händen als in denen eines anderen.“

Theodor griff hastig nach dem Gelde, aber Stefanelly hielt es fest; ein Gedanke war ihm gekommen.

„Folgen Sie mir erst zu der Hochzeitsgesellschaft, bei der ich mich befinde, Geschäfte halber natürlich. Sie werden sich amüsiren mit dem komischen Volk. Ein paar hübsche Mädels sind dabei – na, Sie kennen sie ja, die Loni Weinmann, die Braut, und die junge Margold. Kommen Sie, es liegt mir daran, Sie erweisen mir einen Gefallen –“

„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich komme, aber zuerst muß ich an den Spieltisch.“ Theodor zerrte an den Banknoten, indem er wiederholte: „Ich komme, ich schwöre es Ihnen, nur jetzt –“

Die Finger Stefanellys gaben nach, Theodor blieben die Banknoten. Im Nu war er damit im Nebenzimmer verschwunden.

Zu Bertls bitterster Enttäuschung kehrte Stefanelly allein in das Zimmer zurück, und Theodor hatte doch sicher erfahren, daß sie da war!

Da erklärte der Unternehmer in selbstbewußtem Tone, daß noch ein Gast sich einfinden werde, ein guter Freund von ihm, den er selbst einzuladen sich erlaubt habe, Herr Lieutenant von Brennberg.

Ein Offizier als Gast bei der Hochzeit! Das setzte dem Ganzen noch die Krone auf, die späte Stunde, in der dieser Gast kam, wurde nicht in Anrechnung gebracht. Aber wohl oder übel mußte man sich nun doch etwas zusammen nehmen.

Frau Margold lachte mit dem ganzen Gesicht und warf selige Blicke auf Bertl hinüber, der die hellen Thränen in den Augen standen

Der alte Margold schlief und hörte von der ganzen Sache nichts.

Im Nebenzimmer herrschte wieder lautlose Stille; nur hier und da ein leises Rauschen von Geld und Karten.

Bertl war mit ganzer Seele drüben, was mußte das für ein Spiel sein, bei welchem so andächtige Stille herrschte? Jetzt verworrene Stimmen, lautes Gelächter, Stühle werden gerückt, Gläser klingen; gleich darauf geht die Thür auf und Lieutenant Brennberg tritt ein, geradeswegs auf Stefanelly zu, dem er herzlich die Hand drückt.

„Berlin ist besiegt, ich danke Ihnen,“ sagte er lachend. Dann wandte er sich, nach einigen mehr als flüchtigen Höflichkeitsworten an den alten Weinmann und an das junge Paar, Bertl zu, die am unteren Ende des Tisches saß, bleich, die großen Augen starr auf ihn gerichtet.

Sie war entzückend als Brautjungfer mit den Blumen im Haar und er sah sie zum ersten Male im festlichen Gewande – kein Zweifel, Bertha ward von Tag zu Tag schöner. Der Anblick fesselte ihn, seine Nerven zitterten noch vom Spiele.

„Warum allein und so ernst, Fräulein Bertha?“ fragte er, sich über sie herabbeugend.

„Warum allein? – Weil ich allein bin!“ flüsterte sie erregt und eine Blutwelle schoß in ihr Antlitz.

Theodor setzte sich, der Kellner füllte das Kelchglas.

„Oder glauben Sie vielleicht, ich fühle mich heimisch hier, glücklich?“

„Bei Ihren Leuten?“ fragte der Offizier spitz.

„Sie waren es, bis ich andere kennenlernte und mir diese anderen weismachten, diese hier seien zu schlecht für mich. Uebrigens sehen Sie mich heute zum letzten Male dabei. Wir sind nicht mehr in Haching, wir haben gut verkauft wie Ihr Herr Vater. Ja, unsere Väter sind ja seit heute Compagnons.“

„Wie so, mein Fräulein?“

„Der Vater hat eben Aktien erworben von Herrn Stefanelly, ich weiß nicht, wie die Dinger heißen, aber Ihr Papa hat dieselben –“

„Ah, in dieser Beziehung meinen Sie’s, das nennen Sie Compagnons? – Reizend, Fräulein Bertha! Uebrigens freue ich mich, daß Sie meinen Rath so rasch befolgt haben.“

„Freuen Sie sich wirklich? Nun, Sie sind auch schuld daran, ich ließ dem armen Vater keine Ruhe mehr; jetzt freilich merke ich, daß damit eigentlich wenig gethan ist, wir nehmen eben Haching mit herein, wie Sie sehen.“

„Das sehe ich gar nicht,“ erwiderte Theodor, der mit seinen Augen die blühende Gestalt des schönen Mädchens verschlang. „Sie können heute jede Fürstin beschämen, jedem Salon zur Zierde gereichen. Sie sind wirklich schön, Bertha, entzückend schön.“

Theodor sprach diese Worte so verlangend, so lang gedehnt, und sie drangen ihr so tief in die Seele, daß alles flimmerte um sie her. Sie saßen dicht nebeneinander, ganz allein. Die übrige Gesellschaft hatte wieder mit sich zu thun und bei neuen Flaschen den neuen Gast rasch vergessen. Der Ingenieur Mareschal flüsterte, unbekümmert um den Bräutigam, der auf die Lehren Stefanellys horchte, mit Loni; nur Frau Margold verlor keinen Blick von dem Paare unten am Tische.

Da erwachte der alte Margold aus seinem Schlafe, blickte verlegen über seine Schwäche umher, und plötzlich blieb sein Blick starr an dem Paare unten haften, an Bertl und Theodor. Er griff sich in das spärliche Haar, er wollte fragen, aber die Sprache versagte ihm. Wo war er denn? Auf der Hochzeit seines Kindes, mit – mit –? Dort saß sie ja an seiner Seite und er neigte sein Gesicht zu ihr – war das die Wahrheit, oder hatte er, der alte Margold selber, den Verstand verloren? Seine Gedanken wälzten sich wirr durcheinander.

„Was gaffst Du denn so auf den Baron?“ schalt seine Frau. „Gehe hin und bedanke Dich für die hohe Ehre, daß er gekommen ist zur Hochzeit von Hans.“

„Zur Hochzeit von Hans – ja so – ist er gekommen! Das ist freilich eine hohe Ehre“ – er lachte bitter auf – „der Sohn von meinem guten Herrn! Aber ich kann ihm nicht mehr danken, ich bin ganz wirr im Kopf, es taugt nichts, das Zeug da, für einen alten einfachen Mann wie ich bin. Komm, Mutter, wir gehen heim, Bertha soll auch mit, es ist schon spät!“

Frau Margold war empört.

[96] „Jetzt gehen? Nun, die Bertl wird sich bedanken! Merkst Du denn gar nichts mehr?“ flüsterte sie ihm zu; „er ist ja ganz vernarrt in sie! Schau’ doch nur, wie er in sie hineinredet! Es vergeht kein Jahr, da sitzen wir wieder da, aber in anderer Gesellschaft!“

„Wir gehen, Mutter!“ Die Worte klangen jetzt bestimmt und klar wie ein Befehl.

Frau Margold wußte aus Erfahrung, daß dagegen nichts zu machen war, wenn sie nicht einen unangenehmen Auftritt heraufbeschwören wollte, und ein solcher mußte jetzt gerade um jeden Preis vermieden werden. Mit einem schweren Seufzer erhob sie sich, ebenso Margold, sicher, fest; er schien wieder völlig nüchtern geworden zu sein.

Alles Zureden der Gesellschaft, selbst Stefanellys war vergeblich. Das Pärchen unten am Tische wurde durch den plötzlichen Aufbruch jäh aufgeschreckt.

Bertl warf einen flehenden Blick auf den Vater, auch Theodor bat um Aufschub. Margold dankte ihm für seinen Besuch, blieb aber dabei, daß es höchste Zeit sei, er fühle sich unwohl von dem ungewohnten Leben, und auch für Bertl sei es nur schädlich. Es war noch kein Wagen da, aber Margold erklärte, lieber zu Fuß gehen zu wollen, die frische Luft, würde ihnen allen gut thun.

Nachdem alle Versuche, ihn zurückzuhalten sich als vergeblich erwiesen hatten, bot Theodor seine Begleitung an. Margold wohnte erst seit kurzem in dem Hause Weinmanns in dem neuen Stadtviertel, und Theodor stellte ihm vor, er könnte leicht irre gehen, er möge ihm darum erlauben, den Führer zu machen. Das konnte der alte Mann mit dem besten Willen nicht abschlagen.

Loni flüsterte beim Abschiede Bertl ins Ohr: „Ich gratulire!“ und empfing dafür einen innigen, ernstgemeinten Kuß; auch Hans gab der Schwester seine Ermahnung mit auf den Weg, die Gelegenheit zu nutzen. Theodor versprach, um sein Anerbieten weniger verdächtig erscheinen zu lassen, wiederzukommen, dann bot er Bertl den Arm.

Polnische Fastnachtsfeier: Der Kulig.
Nach einer Zeichnung von T. Rybkowski.

Die Mutter wußte es, trotz aller Gegenanstrengung Margolds, der doch nicht mehr ganz fest auf den Beinen war, so einzurichten, daß die jungen Leute einen Vorsprung gewannen, den sie sich nicht mehr rauben ließen. Das war ein wonniger Gang für Bertl, eng geschmiegt an den geliebten Mann, durch die nächtlichen Straßen der Stadt. Die frische Luft weckte erst recht die Champagnergeister in ihrem Köpfchen, sie sah alles im rosigsten Lichte, alle Bedenken und Zweifel schwanden. Auch Theodor war erregt vom Spiel und Wein, von dem Anblick des schönen Mädchens, das er bisher stets nur im Werktagskleide, ohne den bestechenden Reiz zu sehen gewohnt war, der jetzt so mächtig auf seine Seele wirkte.

Eine verzehrende Gluth ging von ihr aus und strömte auf ihn über, ihr Arm zuckte in dem seinigen. Sie war für ihn begehrenswerth in diesem Augenblick, und zum Entsagen war er jetzt als der Sohn des reichen Vaters noch viel weniger aufgelegt denn vor wenigen Monaten als armer Lieutenant.

Er nannte das Gefühl, das er jetzt empfand, Liebe und ließ sich ganz davon beherrschen, ohne sich über die Zukunft Gedanken zu machen.

Anders Bertl. Der Sinnentaumel in den sie verfallen war, gipfelte bei ihr in der verlockenden Aussicht auf die Zukunft. Sie gehörte nicht mehr zu den Eltern, die hinter ihnen schweren [97] Trittes und zankend daherzogen, zu der häßlichen Gesellschaft bei Arnold.

Das Gespräch stockte, sie fürchteten sich beide vor Worten, und dieses lautlose Dahinwallen, die stummen heißen Blicke, der leise Druck des Armes – das alles war ja viel süßer als Worte!

Viel zu früh kamen sie in die Neustadt. Baugerüste, denen sie ausweichen mußten, scharfer Mörtelgeruch erinnerten sie daran, ja, sie waren schon achtlos an dem Hause Weinmanns vorbeigeeilt, den Eltern weit voraus.

Der alte Margold schrie in wahrer Todesangst: „Bertl! Bertl!“

Das war ein fürchterliches Erwachen! Die Qual der plötzlichen Empfindung preßte ihr die Worte heraus: „Verlassen Sie mich nicht, Theodor, ich verzweifle sonst!“ Hastig hatte sie ihm das ins Ohr geflüstert, er aber wandte sich rasch, drückte einen Kuß auf ihre Lippen und sagte leise. „Ich verlasse Dich nicht! – Nur Geduld, Bertha! Ich liebe Dich!“

Sie wankte in seinem Arm, das Flüsterwort gellte betäubend tausendfältig in ihr Ohr – da standen auch schon der scheltende Vater, die Mutter vor ihr.

„Ich sag’s ja, Herr Baron, das Mädel ist den starken Wein nicht gewohnt, Sie müssen es nicht so genau nehmen mit dem, was sie jetzt alles daher schwatzt!“ brachte Margold mühsam stotternd hervor.

Theodor aber löste fast gewaltsam den Arm Bertls, der den seinen ängstlich umklammerte, und empfahl sich mit einigen scherzenden Worten, einem herzlichen Händedruck, mit der Gewandtheit eines in jeder Lage gefaßten Weltmannes.

Als hinter Bertha die schwere Hausthür in das Schloß fiel, dröhnte der dumpfe Schlag schmerzlich durch ihr Hirn; sie ächzte laut auf.

„Bring’ das Mädel zu Bett, es ist ihr ja todtenübel,“ sagte Margold, während er sich um das Schließen der Thür bemühte.

Die Mutter befolgte seinen Rath und führte ihr halb ohnmächtiges Kind die Treppe hinauf; sie konnte es ohnehin nicht erwarten, bis sie mit Bertl allein war.

Der Alte stolperte lärmend durch das finstere Stiegenhaus, das der Neubauten eigene dunstig feuchte Geruch erfüllte, und brummte von Schwindel und Schande.

Oben in der Stube fiel Bertl schluchzend der Mutter um den Hals.

„Macht er Ernst, sprich, Kind?“ fragte sie neugierig.

„Er liebt mich, er hat es mir gestanden!“ jubelte das Mädchen auf unter Thränen, ihr Gesicht im Sturm der Gefühle an das der Mutter pressend.

„Sonst nichts? – das kann jeder!“ entgegnete diese in kaltem ärgerlichen Tone.

Bertl riß sich los. Hier fand sie kein Verständniß – nur einen Augenblick hatte sie, in dem Drang, sich mitzutheilen, vergessen, daß sie allein stand – jetzt war sie sich dessen wieder voll bewußt. Sie wich den Vorwürfen, mit denen sie von der Mutter jetzt überhäuft wurde, weil sie mit dem Baron nicht deutlich gesprochen habe, aus und ging auf ihr Zimmer. Dort genoß sie auf ihrem Lager mit geschlossenen Augen tausendfältig den glückseligen Heimgang an seinem Arme: – der Säbel klirrte, die Blicke bohrten sich ineinander, es zuckte hinüber und herüber von Arm zu Arm, und das Zauberwort: „Ich liebe Dich!“ zitterte ihr im Ohre. Da störten der die Treppe herauffluchende Weinmann, das gemeine Lachen Lonis die Bilder ihrer Seele – der Tag graute schon hinter dem Vorhang.

(Fortsetzung folgt.)

WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[98]

Geschichte eines deutschen Liedes.

 „Ein Veilchen auf der Wiese stand,
 Gebückt in sich und unbekannt:
 Es war ein herzigs Veilchen.“
 (Goethe – Mozart)


Wir Deutsche haben eine stattliche Reihe von patriotischen Liedern aufzuweisen, denen in der Geschichte der politischen Entwicklung unseres Vaterlandes eine gewisse Bedeutung nicht abzusprechen sein dürfte.

Das große schleswig-holsteinische Sängerfest, das im Sommer 1844 in der Stadt Schleswig gefeiert wurde, hat mehr für die Befreiung dieses Landes gethan als alle Diplomaten und Staatsmänner zusammen.

„Schleswig-Holstein, stammverwandt“, das Lied, welches jene zweitausend Sänger zum ersten Male sangen, fuhr wie mit einem elektrischen Schlage durch die Bevölkerung des Landes, es errang noch am selben Abend – 24. Juli – die Würde eines Nationalgesanges und stand als eine unvertilgbare Verwahrung gegen alles Dänenthum und als einer der gefährlichsten Feinde desselben da.

Der kritische Realpolitiker schüttelt vielleicht sein Haupt und meint, auch ohne dieses Lied wären die Ereignisse so gekommen, wie sie schließlich kommen mußten, denn mit Singen allein sei in der Politik noch nie etwas erreicht worden!

Gewiß! – wenn es zum Handeln kommt, dann ist das richtig. Man kann nur Gleiches mit Gleichem bekämpfen, hunderttausend Repetirgewehre greifen mehr durch als alle Sängerfeste. Aber die Welt würde sich doch sehr täuschen, wenn sie vergessen wollte, daß der Geist unserer Dichter und Sänger unseren Armeen voranzog und ihnen den Weg gezeigt hat.

Lied wird That
Frueh oder spat!

Auf Arndts bereits 1813 ausgesprochene Frage: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ erfolgte 57 Jahre später die Antwort und sie lautete: „Das ganze Deutschland!“ Die „Wacht am Rhein“ hat im letzten Kriege Millionen von Deutschen begeistert, und das Schönste an Schneckenburgers Dichtung und an Wilhelms Musik (zu der ein anderer Wilhelm den Takt und – den Feind schlug) war: „Fest stand sie und treu, die Wacht am Rhein“. –

Lied wird That
Frueh oder spat!

Die wahre Kunst hat ein Johannesamt, sie hat Prophetenaugen, sie ist eine ethische Macht, es schuf sie Gott, auf daß sie die Welt entflamme! –

Das neuerstandene Deutsche Reich besitzt eigentlich keinen Gesang, der strenggenommen als Volkshymne gelten könnte. Das offizielle „Heil Dir im Siegerkranz“ hat aus verschiedenen Gründen keinen rechten Anspruch auf die Bezeichnung Nationalhymne, zumal seine musikalische Form einem fremden Lande entlehnt ist, nämlich England (dem „God save the king“ von Carey, 1750). Ja es scheint geradezu eine berechtigte Eigenthümlichkeit der hervorragendsten politischen Dichtungen zu sein, daß sie ihre Sangesweise bei einem anderen Volke suchen und – finden.

Die Marseillaise, „das revolutionäre Tedeum“, wie sie Goethe nannte, hat ihre weltgeschichtlich gewordene Melodie einer Messe entnommen, die der deutsche Musiker Hofkapellmeister Holtzmann 1776 komponirt hatte, und es ist das Verdienst der „Gartenlaube“, diese Thatsache durch J. Hamma (Jahrgang 1861, Seite 256) zuerst und endgültig festgestellt zu haben. Holtzmann hat es sich wohl gewiß nicht träumen lassen, daß sein, „Credo“ dereinst den Feuerworten des französischen Sturmliedes brausende Fittiche leihen würde.

Im Deutschen Reich hat meines Erachtens noch immer den meisten Anspruch auf die Bezeichnung als „Nationalhymne“ Hoffmanns von Fallersleben prächtige Dichtung „Deutschland, Deutschland über alles“, aber diese wird wieder ausschließlich nach der Melodie – der östereichischen Volkshymne gesungen.

Es liegt in der Natur der Sache, daß patriotische Gesänge über die Grenzen ihres Landes, oder richtiger gesagt, ihrer Nationalität nicht hinausgehen.

Bedeutend weiter ist der Kreis schon beim religiösen Liede, das, über Staaten hinausgreifend, die Bekenner einer Konfession bindet; aber es sind doch verhältnißmäßig nur wenige geistliche Gesänge, welche Katholiken und Protestanten gemeinsam haben.

Zu diesen wenigen gehört einer, der füglich auf die Bezeichnung „Weltlied“ Anspruch erheben darf, der um die Weihnachtszeit in tausend und abertausend Kirchen, Schulen und Wohnstätten, vom Palast bis zur Hütte, gesungen wird, der jung und alt erhebt, weil er in aller Herzen Friede und Freude ausgießt, der mit der so echt deutschen Christbaumfeier unzertrennlich verbunden ist und dessen Anfangsworte lauten: „Stille Nacht, heilige Nacht.“

Die Männer, die uns dieses Lied geschenkt haben, verdienen es wohl, daß ihr Name genannt und ihr Andenken dem deutschen Volke erhalten bleibe.

Das kleine, aber so herrliche Salzburger Land, dem die deutsche Kunst ihre zwei großen M (Mozart und Makart) zu danken hat, ist auch die Heimath unseres Liedchens; der Dichter desselben ist der katholische Priester Joseph Mohr, der, ein Sohn des Musketiers Franz Joseph Mohr, am 11. Dezember 1792 in der Stadt Salzburg geboren wurde. Der kleine Joseph erhielt frühzeitig Musikunterricht und wurde als Sängerknabe in das fürsterzbischöfliche Kapellhaus aufgenommen, das der berühmteste von uns Kapellknaben, – denn auch der Schreiber dieser Zeilen gehörte einst diesem Institute an – Karl Maria von Weber, kurz vorher verlassen hatte. Mit Eintritt des Stimmwechsels schied Mohr aus dem Kreise der Domsänger, studierte an dem damals königlich bayerischen Lyceum zu Salzburg Theologie und wurde im Jahre 1815 zum Priester geweiht.

Als Coadjutor lebte er auch zu Oberndorf an der Salzach, und dort war es, wo er das Weihnachtslied dichtete: „Stille Nacht, heilige Nacht.“ Joseph Mohr starb als Vikar zu Wagrain – nicht Wagram! – im Pongau am 4. Dezember 1848.

Und nun der Komponist?

Es war ein armer Weberssohn, 1788 zu Hochburg im Innviertel geboren, und hieß Franz Gruber. Er erlernte das Handwerk seines Vaters und saß bis zu seinem 18. Lebensjahr hinter dem Webstuhl. Aber besondere Neigung zur Musik führte ihn nach Burghausen, wo er beim Organisten Hartdobler Unterricht im Klavierspielen sowie im Generalbaß erhielt und sich als ebenso fleißig wie talentvoll erwies.

Franz Gruber widmete sich dem Schulfach, wurde 1806 als Lehrer zu Armsdorf angestellt und versah nebenbei den Dienst eines Organisten in der nahen St. Nikolauskirche zu Oberndorf; 1833 erhielt er die Stelle eines Chorregenten an der Stadtpfarrkirche zu Hallein, förderte das Musikleben in dem alten Salzstädtchen auf erfreuliche Weise, war seinen zwölf Kindern ein braver, sorgender Vater und starb allgemein betrauert am 7. Januar 1863.

Soviel des Biographischen! Nun einiges über das „wann und wie!“

Am Heiligen Abend des Jahres 1818 kam Mohr zu seinem Freunde Gruber und überreichte diesem das eben fertiggestellte Gedicht: „Stille Nacht, heilige Nacht“ mit der Bitte, dasselbe in Musik zu setzen; willig ging Gruber darauf ein, und in überraschend kurzer Zeit war das Liedchen fertig. Mohr besaß eine wunderschöne Tenorstimme und sang noch in jener Christnacht das Lied in der St. Nikolauskirche zu Oberndorf. Der verständnisvolle Vortrag des Sängers sowie die einfach zum Herzen gehende, im besten Sinne volksthümliche Melodie machte auf alle Anwesenden einen großen, ergreifenden Eindruck. Und nun beginnt unser Liedchen ein Wanderleben, so merkwürdig, so interessant, wie man es kaum glauben sollte!

Nicht nur Bücher, sondern auch Lieder haben ihre Schicksale! Und das Merkwürdigste an demjenigen unseres Weihnachtsliedes ist, daß F. Gruber seine Komposition nie veröffentlicht hat; sie wurde im Salzburger Land und im nahen Bayern hier und da nach Abschrift, meist aber nach dem Gehör gesungen.

In Tirol wurde unser Christkindellied aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst durch den Orgelbauer Mauracher aus Fügen bekannt, der am Ende des Jahres 1818 die Orgel in der St. Nikolauskirche zu Oberndorf ausbesserte und dabei das Lied in jener Christnacht von Mohr hatte singen hören.

Kurz vor Weihnachten 1833 kamen die vier Geschwister Straßer aus dem Zillerthal nach Leipzig, trugen das „Stille Nacht“ dem Kantor an der katholischen Kirche Alscher vor und sangen es dann auch in der Christmette. R. Friese in Dresden ließ das Lied den trefflichen Natursängern treu nachschreiben und Dr. Gebhardt nahm es in den „Musikalischen Jugendfreund“ auf, dem bald Kocher in seiner „Zionsharfe“ folgte. Leider hat sich bei dieser Frieseschen Nachschrift ein Fehler eingeschlichen, auf den ich später zu reden kommen werde.

Nun ging es mit Riesenschritten vorwärts; dem Süden Deutschlands, wo das Lied eine fast beispiellose Verbreitung gefunden hatte, folgte bald der Norden; anfangs der vierziger Jahre war dasselbe in Niedersachsen schon allgemein bekannt, in Berlin sorgte besonders der königliche Domchor für seine Verbreitung, ja dieser schlichte Hirtensang war geradezu das Lieblingslied des kunstsinnigen Königs Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, der es sich alljährlich während der Weihnachtszeit im königlichen Schlosse vom Domchor vorsingen ließ. Wie und wo ich mir die Ueberzeugung verschaffte, daß unser Lied auch in England, in Schweden, in Britisch-Indien etc. gesungen wird, das darzustellen würde zu sehr auf das Gebiet der persönlichen Erlebnisse führen.

Nur eines will ich noch erzählen!

An einem heißen Julinachmittag des Jahres 1873 betrat ich auf der Weltausstellung zu Wien ein nordamerikanisches Blockschulhaus, wie es die Farmer im fernen Westen zu errichten pflegen. Die Eigenart des Baues und der Einrichtung interessiere mich, und als ich rechts vom Lehrertisch ein kleines Harmonium gewahrte, konnte ich es, da gerade niemand zugegen war, nicht lassen, mich an dasselbe zu setzen und etwas zu präludiren.

Auf dem Pulte des Instrumentes lag ein gedrucktes Notenbüchelchen – Orgelsatz ohne Text –, ich blätterte darin ein wenig herum, und etwa auf der neunten oder zehnten Seite blieb mein Auge haften an der sonderbaren Aufschrift: „Choral of Salzburg“! – Und was war dieser „Choral von Salzburg“?! – Unser Weihnachtsliedchen: „Stille Nacht, heilige Nacht“!


[99]

Also bist du kleiner Hirtensang auf deiner Wanderung aus dem schönen Salzachthal schon bei den Pionieren der Kultur, bei den ersten Ansiedlern in den nordamerikanischen Urwäldern angelangt, – dachte ich mir, – Glück auf zur seltenen Fahrt!

Und die Eltern dieses Liedchens? Niemand, – oder doch nur eine verhältnißmäßig sehr kleine Zahl von Menschen –, kannte sie, ihre Namen waren und blieben dem großen Publikum vollständig fremd. Auf diesen Umstand ist auch die Thatsache zurückzuführen, daß das Lied "Stille Nacht" unter den verschiedensten Bezeichnungen erschienen ist und noch erscheint, als „Volkslied“ oder „Volksweise“, als „komponirt von M. Haydn“, als „Volkslied aus dem Zillerthal“ etc. In hundertfacher Form ist Grubers Komposition an die Oeffentlichkeit getreten, liegen doch hier vor mir auf meinem Schreibtische über zwanzig verschiedene, im Drucke erschienene Bearbeitungen derselben, – nebenbei bemerkt, bloß für Klavier oder Gesang –; aber nur in einer einzigen Ausgabe ist der Name des Dichters Mohr angegeben, des Komponisten F. Gruber geschieht nirgends eine Erwähnung!

Ich richte nun an alle Bearbeiter, Herausgeber und Verleger dieses Liedes die freundliche Bitte, künftighin bei der Veröffentlichung des „Stille Nacht“ nach sonst üblicher Weise den Namen des Komponisten und des Dichters anzugeben. Ich glaube, daß die beiden Männer, die uns das herzigste, das volkstümlichste aller Weihnachtslieder geschenkt haben, auf diese kleine Aufmerksamkeit schon Anspruch erheben dürfen, und daß das Wort: „Ehre, wem Ehre gebührt!“ wohl auch hier nicht ganz am unrechten Platze sei.

Und dieser meiner Bitte möchte ich noch eine zweite hinzufügen: ich habe bereits früher erwähnt, daß sich wahrscheinlich schon bei der von Friese in Dresden veranlaßten Niederschrift des Liedes ein Fehler eingeschlichen hat; der neunte Takt ist falsch, derselbe muß eine Terz tiefer gelegt werden, denn die Septime – doch wozu theoretische Auseinandersetzungen?

Um allen weiteren Erklärungen und Zweifeln zu begegnen, setzen wir das Liedchen in seiner ursprünglichen und darum einzig richtigen Form hierher:

Weihnachtslied.

Möge wenigstens in den Landen,

So weit die deutsche Zunge klingt
Und Gott im Himmel Lieder singt –

das Andenken an die bescheidenen Salzburger Dioskuren F. Gruber und J. Mohr nicht ganz verloren gehen, mögen diese Vorstellungen ein freundliches Gehör und ein geneigtes Entgegenkommen finden, das wünscht

Joseph Bletzacher


Blätter und Blüthen

Die „heilige Zahl“ der Narren. Wenn sich auf den Straßen und Gassen Kölns, der rheinischen Residenz Sr. Tollitat des Prinzen Karneval, in den närrischen Tagen Hanswurst und Clown ein Stelldichein geben, da darf auch die kriegerische Figur des in die städtischen Farben roth und weiß gekleideten „Kölner Funken“ nicht fehlen. Kein Museum hat die Waffenrüstung des altkölnischen Stadtsoldaten aufbewahrt, und so flüchtete er sich denn unter das Narrenvolk und bildet dort eine gern gesehene Figur. Die „Funken-Infanterie“, der eine blauweiße Artillerietruppe nachgebildet ist, wie sie in geschlossener Reihe mit klingendem Spiel einhermarschirt, bildet stets eine nicht geringe Zierde des großen karnevalistischen Umzuges am „Rosenmontag“. Im rothen kleidsamen Waffenrock, weiß eingefaßt und weiß ausgeschlagen, den zierlichen Tschako auf dem gepuderten Haupte, mit Lockentollen und dem sorgfältig geflochtenen Zöpfchen, das neugierig auf die vielknöpfigen Gamaschen herabzugucken scheint – mit dem historischen Ober- und Untergewehr, an denen duftige Blumensträuße angebracht sind – so nimmt sie muthig den Kampf auf gegen die bösen Unholde Sorge und Griesgram und ist stets bereit zum Dienste der süßen Minne.

Denn elf „Flammen“ hat jeder Funke, wie das Symbol auf dem Tschako zeigt[1]. Deshalb ist die Zahl elf jedem rheinischen Narren heilig. Am elften des elften Monats um elf Uhr wird der Karneval „inaugurirt“. Und kommt dann die närrische Zeit, so leitet unter dem Vorsitz des weisen Rathes der Elfe „Dores der Elfte“ mit komischem Ernst die tollen Verhandlungen, zu denen jeder Narr für elf Mark bei Wein, Weib und Lied Sitz und Stimme sich erkaufen kann, in denen es nur Pausen von elf Minuten giebt und von denen jedermann nach dem Genuß von höchstens elf Schoppen des flüssigen Rheingoldes – wenn er will um elf Uhr nach Hause gehen darf.


Das Ozon. Seit unvordenklichen Zeiten bleichen die Frauen Garn und Leinwand auf dem Rasen – aber erst seit fünfzig Jahren ist uns durch Schönbein in Basel der Stoff bekannt geworden, der jenes Bleichen bewirkt. Der Erfinder nannte ihn nach seinem eigenthümlichen Geruch „Ozon“ von dem griechischen ozein, riechen. „Das Ozon ist ein verdichteter Sauerstoff,“ so wird gewöhnlich dem Laien erklärt. Das muß man sich so vorstellen: die kleinsten Theilchen der Elemente, die Atome, sind sehr gesellige Wesen – sie schweben nicht allein im Raume, sondern verbinden sich sofort, wenn sie frei geworden sind, mit anderen Atomen. Solche Atomgruppen nennt man ein „Molekül“. Ein Molekül Sauerstoff besteht nun aus zwei Atomen Sauerstoff; so ist der gewöhnliche Sauerstoff der Luft beschaffen. Unter gewissen Umständen aber verbinden sich drei Atome Sauerstoff zu einem Molekül, und diese Verbindung nennen wir alsdann „Ozon“. Das dritte Atom Sauerstoff ist mit den zwei anderen nur lose vereinigt; es zeigt immer das Bestreben, sich mit den Atomen anderer Elemente zu verbinden, darum wirkt das Ozon energischer als der gewöhnliche Sauerstoff. In der Natur ist es in der Seeluft, in der Waldluft etc. vorhanden. Es tritt reichlicher nach Gewittern auf, und der eigenthümliche Geruch, den wir verspüren, wenn wir eine Elektrisirmaschine in Gang setzen, ist auch auf Ozonbildung zurückzuführen.

Man hat dem Ozon auch viele gute Eigenschaften in hygieinischem Sinne nachgerühmt; in der That reinigt es die Luft, in dem bei seiner Gegenwart viele üble Gerüche, die von der Zersetzung herrühren, verschwinden. Die physiologische Wirkung des Ozons ist jedoch noch nicht genügend erforscht. Wird es künstlich dargestellt und in größeren Mengen eingeathmet, so reizt es die Schleimhäute. Man hat auch dem Ozon bakterientödtende Eigenschaften zugeschrieben. Versuche, die von russischen Aerzten angestellt wurden, haben jedoch ergeben, daß diese Eigenschaft eine recht schwache ist und die meisten Bakterien dem Ozon trotzen. Die Zimmerluft kann man mit Ozon von diesen Feinden vollends gar nicht reinigen, denn die auch dann noch schwache Wirkung tritt erst ein, wenn der Prozentgehalt der Luft an Ozon so stark wird, daß in den betreffenden Räumen die Menschen nicht athmen könnten. Der Nutzen der „Ozonwässer“ ist somit ein eingebildeter; überhaupt ist es erwiesen, daß in keinem einzigen der so viel angepriesenen Wässer Ozon vorhanden war, so daß man annehmen muß, daß Ozonwasser, selbst wenn es hergestellt wird, nicht haltbar sei.


Goldbeschlagene Streitrosse. Orientalische Fürsten und europäische Verschwender haben schon manchmal ihre Pferde mit „goldenen Hufeisen“ beschlagen lassen. Die Weltgeschichte kennt aber auch einen Fall, wo eine ganze Schwadron goldbeschlagene Streitrosse ritt. Das hat sich im Goldlande Peru im Jahre 1533 ereignet. Francisco Pizarro hielt in Caxamarca den Inka gefangen, sein Bruder Hernando stand in dem berühmten Tempelorte Patschakamak, wo er den düsteren Tempel des Orakelgötzen nach Gold durchstöberte. Da erhielt er die Nachricht, daß der indianische Häuptling Tschalkutschima an der Spitze von 30 000 Mann einen Aufstand plane. Der mutige Hernando wollte ihm zuvorkommen und brach am letzten Februar nach Chaucha auf. Es war ein furchtbarer Marsch über einen steilen Gebirgszug. Auf dem mit spitzen Gestein besäeten Saumpfade verloren alle Pferde ihre Hufeisen und traten sich die Hufe so wund, daß die Reiter absitzen mußten. Man hatte kein Eisen, um die Rosse wieder zu beschlagen. Da sahen sich die Krieger gezwungen, von peruanischen Schmieden Hufbeschläge aus Silber und Gold anfertigen zu lassen, und nun überwand die Schwadron die schneebedeckten Pässe. Die Geschichtschreiber von Peru erzählen, daß diese theueren Beschläge sich ganz gut bewährt und länger ausgedauert hätten als eiserne. Der Marsch brachte übrigens Hernando und seinen Kriegern einen glänzenden Ersatz für die goldenen Hufeisen; denn Tschalkutschima wagte nicht, Widerstand zu leisten, und lieferte den Spaniern dreißig Lasten Gold und vierzig Lasten Silber aus.


Polnische Fastnachtsfeier. (Zu dem Bilde S. 96 und 97.) Wie so vielfach das Eigenartige unter dem nüchternen, ausgleichenden Zuge der Zeit zu leiden hat, wie da und dort altüberkommene Sitten und Gebräuche zurückgedrängt werden und zu verschwinden drohen, so geht es ganz besonders dem Karneval mit allem, was drum und dran hängt. Unser

[100] heutiges Geschlecht ist nicht mehr naiv genug zu solch allgemeiner, rückhaltloser Hingabe an die tolle Lust der närrischen Tage; nur einige vereinzelte Bezirke haben sich ihren alten Karneval mit all seinem urwüchsigen Humor als örtliche Merkwürdigkeit erhalten - und auch dort hört man die Klage: „Es ist nicht mehr wie einst!“ Auch die polnische Fastnachtsfeier, die unser Bild vorführt, kämpft um ihr Dasein. Doch wird sie noch immer da und dort in herkömmlicher Weise begangen. Es ist der „Kulig“, eine Festfahrt und ein Festball in Kostüm, der sich in die äußeren Formen einer Hochzeit kleidet. Wenn es gegen den Schluß der Faschingszeit geht, da sucht sich der reichste Glutsbesitzer der Gegend zwei schmucke junge Männer, die zugleich tüchtige Reiter sind, verabredet sich mit ihnen, daß er den „Kulig“ auf seinem Gute halten will, und beauftragt sie mit dem Laden der Gaste. Die zwei Vertrauensmänner lassen sich das nicht zweimal sagen; sie miethen sich eine Musikbande, wie sie fast in allen polnischen Städten zu haben ist, setzen sie auf einen Schlitten und fahren mit ihr beim ersten der zu Ladenden vor. Hier ein lustiges Gelage - dann ziehen Wirth und Gäste zum zweiten, dritten, vierten; überall wird gegessen, getrunken, getanzt - dann geht's weiter. Immer länger wird der Zug, immer mehr Schlitten folgen, oft bis zu vierzig oder fünfzig. Das schönste Paar der Gesellschaft wird für Braut und Bräutigam erklärt und spielt die vornehmste Rolle, vorn bei dem Musikschlitten reiten die zwei Festordner. Endlich trifft die Kavalkade auf dem Gute des Reichsten ein - und nun beginnt erst die richtige Faschingslust, die fortgeht, bis der Aschermittwoch mit seinen grauen Schatten heranbricht.

Das Duell. Gezeichnet von F. Stuck.

Das Kloster St. Bartholomä am Königssee. (Zu dem Bilde auf S. 93) Ein herrliches Fleckchen Erde, jener eigentümliche Zipfel an der südöstlichen Ecke des bayerischen Oberlandes! Wir brauchen nur Namen zu nennen: Reichenhall, Berchtesgaden, Watzmann, Königsee! Der Königssee! Tiefgrün, in wunderbarer Klarheit liegt dieses „Auge des Gebirgs“ zwischen seinen gewaltigen, bis zweitausend Meter hohen Felswänden eingebettet, ein Seebild von so erhabener landschaftlicher Schönheit, wie es im Deutschen Reiche wohl ein zweites nicht giebt, dessen gleichen vielleicht nur der Gosau-See zu Füßen des Dachsteins bietet. Am Westrande des Königssees, wo seine Ufer am nächsten zusammentreten liegt auf grünem Vorland das Kloster St. Bartholomä von dem der See auch den Namen „Bartholomäussee“ hat. Ein Heiligthum stand dort nach der Sage schon in den ältesten Zeiten da das Christenthum einzog in den deutschen Landen, aber der Bau, der heute steht, ist ganz im Zopfstil umgebaut und mahnt an die Zeit, wo die Chorherren von Berchtesgaden hier in der Verborgenheit ihre fröhliche Sommerfrische hielten. Jetzt dient das alte, durch seine Saiblinge Lachsferche noch besonders berühmte Kloster den bayerischen Herrschern als Jagdsitz. Und ist ein dankbarer Jagdgrund hier: das hat sich auch unserem Künstler geoffenbart, als er zur Winterszeit das einsame Kloster zu zeichnen unternahm. Drei Stück Hochwild, ein kapitaler Hirsch darunter, sind nahe herangekommen, wohl vom Hunger getrieben, denn das eine Stück sucht schnuppernd im Schnee nach kärglicher Nahrung, während die beiden andern wie sehnsüchtig das stille Bauwerk betrachten, als hofften sie, daß von dort ihnen Hilfe kommen müsse.


  1. Das Kölner Stadtwappen zeigt im oberen Felde 3 Kronen, darunter 11 Flammenzeichen oder Funken