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Die Gartenlaube (1890)/Heft 16

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1890
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[485]

Halbheft 16.   1890.
      Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Ein Mann.

Roman von Hermann Heiberg.
     (1. Fortsetzung.)
4.

Im Arbeitszimmer des verstorbenen John Ericius saßen sich die Witwe und Richard Tromholt gegenüber wie zwei Menschen, von denen der eine gebeugt und des Rathes bedürftig, und der andere in ehrlichem Eifer bemüht ist, einen solchen nach bester Einsicht zu ertheilen.

Kurz vorher hatte Richard Tromholt auf Wunsch der Witwe das Testament durchgelesen und hatte nun auch die ihn selbst betreffende Stelle des letzten Willens kennen gelernt.

Der Verstorbene hatte ihm darin das glänzendste Zeugniß seines Vertrauens ausgestellt, indem er ihm die Ordnung seines Nachlasses im Verein mit dem langjährigen Prokuristen des Hauses, einem Herrn Karl Acht, übertrug und es der Entscheidung dieser beiden Generalbevollmächtigten anheimstellte, ob das Geschäft in Kiel veräußert oder für Rechnung der Familie weitergeführt werden sollte. Bezüglich der Limfordener Werke war diese Entscheidung sogar Richard allein überlassen.

Wie es von dem gewiegten Geschäftsmann nicht anders zu erwarten gewesen, waren für jeden Fall die genaueren Bedingungen vorgesehen.

Obwohl das Benehmen der Witwe Richard keinen Zweifel darüber ließ, daß sie sich diesen Bestimmungen nicht etwa nur zwangsweise, sondern mit demselben Vertrauen, das ihr verstorbener Mann ihm bezeigt hatte, unterwarf, ja daß sie in ihrer dermaligen hilflosen Lage auf ihn als auf ihre treueste, festeste Stütze blickte, mußte er sich angesichts der großen Verantwortung, die es zu übernehmen galt, doch eine Bedenkzeit erbitten, ehe er sich für das eine oder das andere entschied.

Bezüglich Limfordens zwar stand Tromholts Entschluß, wenn irgend möglich den Betrieb der dortigen Werke fortzusetzen, fest; was jedoch die Kieler Firma betraf, so schwankte er noch, und jedenfalls mußte er seine endgültige Entscheidung von einer genauen Einsicht in die Geschäftsbücher und einer Rücksprache mit Herrn Acht, seinem Mitbevollmächtigten, abhängig machen. Diesen verhinderte

Waldschnepfe.
Zeichnung von F. Specht.

[486] ein Unwohlsein, der heutigen Verhandlung persönlich beizuwohnen. So konnte Richard der Witwe zunächst nur seine Wünsche und Hoffnungen, sowie sein redliches Bestreben ausdrücken, alles, was in seiner Kraft stehe, zu deren Erfüllung beizutragen.

Sie dankte ihm dafür in bewegter Weise, und da hiermit der geschäftliche Theil des Gesprächs für heute erledigt war und er auch seinem persönlichen Mitgefühl bereits Ausdruck verliehen hatte, stand Richard im Begriff, sich zu verabschieden, als Frau Ericius in bittender, vertraulicher Art ihre Hand auf seinen Arm legte. „Noch eins, Herr Tromholt,“ sagte sie, und man sah ihr an, daß es ihr nicht leicht wurde, den Gegenstand, auf den jetzt die Rede kommen sollte, zu berühren. „Etwas, das mein verstorbener Mann bei der Niederschreibung seines letzten Willens nicht mehr zu berücksichtigen vermochte, obwohl es ihn im Geist viel beschäftigt hat und auch der Grund unserer beabsichtigten Reise nach Limforden war – es betrifft den Bräutigam meiner Tochter Susanne, meinen künftigen Schwiegersohn, den Grafen Utzlar.“ – Bei der Nennung dieses Namens zuckte Tromholt unwillkürlich zusammen, aber wieder legte sich die Hand der Witwe besänftigend auf seinen Arm, als ob sie ihm durch diese Bewegung Abbitte leisten wollte für den Schmerz, den ihre Worte ihm bereiten mußten.

„Graf Utzlar hatte die Absicht und hat sie noch, von der Marine auszuscheiden, seinen Wohnsitz in Limforden zu nehmen und sich an der wirthschaftlichen Leitung des Guts zu betheiligen. Wie denken Sie darüber, Herr Tromholt? Es ist die Mutter, die Sie fragt.“

Tromholt schwieg eine Weile. Trotz der letzten Worte weckte das Mitgefühl mit Blitzesschnelle eine Reihe so trüber und bitterer Vorstellungen in ihm, daß er nicht gleich darauf antworten konnte. Es lag nicht in seiner Art, zuerst an sich selbst zu denken. Er sah zunächst die Stellung Altens, seines Mitarbeiters und Freundes, aufs schwerste bedroht, wenn der Graf sich in die Gutsverwaltung mischte, und dann – dann erst dachte er an die Qual, die es ihm selbst bereiten würde, so in ihrer, in Susannens Nähe leben, sie täglich sehen, Zeuge ihres Glückes und des Glückes jenes Mannes sein zu müssen, den sie ihm vorgezogen hatte. Es ging schier über seine Kraft, und doch kämpfte er gegen diese Schwäche, schämte er sich eines Gefühls der Eifersucht, das in ihm aufgestiegen war.

Es konnte Frau Ericius, die angstvoll seiner Antwort harrte, nicht verborgen bleiben, wie sich seine Stirne bei diesen Gedanken verfinsterte. „Er liebt sie noch,“ sagte sie sich, „aber er wird sich beherrschen.“

Und wie schwer es ihm ward, verrieth der Ton seiner Stimme. Sie hatte einen fremden, heiseren Klang, als er erwiderte: „Es ist mir ja unmöglich, gnädige Frau, ein Urtheil darüber abzugeben, ob Ihr künftiger Herr Schwiegersohn die für eine solche Thätigkeit erforderlichen Eigenschaften besitzt. Ohne mir an seinen Fähigkeiten den geringsten Zweifel zu erlauben, glaube ich doch bemerken zu müssen, daß die Bewirthschaftung eines so ausgedehnten Landbesitzes wie Limforden einen Mann erfordert, der vor keiner Anstrengung zurückscheut und mit der nöthigen Entschiedenheit des Charakters eine Kenntniß der Geschäfte verbindet, wie sie sich eben nur durch längeres theoretisches und praktisches Vorstudium erwerben läßt. Einen solchen Mann besitzen wir in Herrn von Alten. Daß dieser sich einer Einmischung, deren innere Berechtigung nicht klar am Tag liegt, willig fügen werde, muß ich, wie ich ihn kenne, bezweifeln. Andrerseits ist er aber ein so treuer, eifriger und zielbewußter Beamter, daß ich seinen Verlust, noch dazu im gegenwärtigen Augenblick, schwer beklagen würde.“

„Ich weiß, ich weiß,“ fiel hier Frau Ericius ein, „und mein seliger Gatte wußte es. Deshalb standen ihm Altens Verdienste höher als gewisse Zuträgereien von anderer Seite, und es würde weder seinen, noch meinen Ansichten entsprechen, wenn man Alten aus seiner Stellung verdrängen wollte. Auch mir wäre es lieber gewesen, mein künftiger Schwiegersohn wäre in seiner Stellung verblieben, allein der Dienst zur See ist mit Reisen oft von Jahresdauer verbunden, und ich kann es weder ihm, noch Susannen verdenken, wenn ihnen solche Aussicht für die Ehe wenig erfreulich scheint.“ Sichtbar lastete eine schwere Sorge auf dem Gemüth der Sprecherin, wieder berührte sie Tromholts Arm, als sie in weichem, fast bittendem Ton fortfuhr:

„Herr Tromholt, da wir, wie ich hoffe, nunmehr Verbündete fürs Leben sein werden, gewähren Sie mir eine Bitte, wie ich sie nur allein an Sie zu stellen wage, und die Ihnen zugleich beweisen möge, wie weit mein Vertrauen, meine Hochschätzung für Sie geht. Ich glaube nicht, daß Graf Utzlar die Eigenschaften, von denen Sie sprachen, besitzt, eine trübe Ahnung sagt mir das Gegentheil. Wachen Sie über ihm, Herr Tromholt, verhüten Sie, daß er, wenn er dort ist, was ich nicht hindern kann, seinen Vorsatz durchführt und einen Einfluß zu gewinnen strebt, der schädlich sein kann. Beugen Sie Zerwürfnissen vor, lassen Sie sich selbst nicht in Ihren Entschlüssen beirren und denken Sie, was Sie thun, daß Sie es für mich – für meine Kinder thun. – Wollen Sie? – Dank! Dank! – Leben Sie wohl!“

Sie entfernte sich rasch, ohne Weiteres abzuwarten; bestätigte ihr doch sein Händedruck die Erfüllung ihrer Bitte. Richard Tromholt aber stand in tiefster Bewegung da. Es war die schwerste Aufgabe, die ihm je zugemuthet worden. War sie nicht zu schwer, selbst für seine Mannesschultern? – Doch nicht daran dachte er jetzt, als er sich von der ersten Bestürzung einigermaßen erholt hatte. Ein Gefühl schmerzlicher Enttäuschung kam über ihn, daß ihn Susanne verschmäht hatte um eines Mannes willen, dem ihre Mutter jetzt schon mißtraute, und eine dumpfe Ahnung, daß sie ihn verschmäht haben könnte um einen, der ihrer nicht werth war, der das Herrliche, das ihm das Glück in den Schoß warf, nicht einmal zu schätzen wußte! –

Das erzählte Gespräch fand am Tage nach der Beerdigung des Herrn John Ericius statt, bei der Tromholt den Grafen nur flüchtig gesehen und von ihm den Eindruck eines Kavaliers empfangen hatte.

Ein Wiedersehen von tiefster Bedeutung stand ihm am folgenden Tag bevor, dasjenige mit Susanne. Drei Jahre waren vergangen, seit sie sich zuletzt gegenübergestanden hatten, drei Jahre aufreibender Arbeit, eine lange Zeit, und doch nicht lang genug, um zu vergessen.

Mit seiner ganzen Willenskraft hatte sich Tromholt gerüstet, als er den Gang nach der Villa am Schwanenweg, wo er heute mit den übrigen Trauergästen speisen sollte, antrat; mit Gewalt hatte er alle Erinnerungen, die sich ihm aufdrängten, zurückgewiesen, und als er nun in den Salon trat und Susanne, sich von ihrem Bräutigam trennend, lebhaft auf ihn zuschritt und seine Hand ergriff, da wich alles Blut aus seinen Wangen und strömte beklemmend nach dem Herzen. Sie war noch schöner geworden, aber auch ernster, gemessener fand er sie, als sie nun auf ihn zutrat, die Hand ausstreckte und mit einem gleichsam Verzeihung suchenden Blick und fast demüthig die ersten Sätze an ihn richtete.

Starke Befangenheit zitterte durch ihre Begrüßungsworte: „Eine schmerzliche Veranlassung ist es, die uns zusammenführt. Ich weiß, was Sie meinem Vater waren, wie er Sie schätzte und wie Sie sein Vertrauen verdienten. Ich danke Ihnen in unser aller Namen für die treuen Dienste, die Sie ihm geleistet haben und seinen Hinterbliebenen noch leisten wollen. Er war ein Mann der Pflicht wie Sie. Darf ich hoffen, daß Sie in der Erfüllung dieser Pflicht dieselbe Befriedigung gefunden haben wie er? Darf ich hoffen, daß es Ihnen stets wohl ergangen ist, daß Sie – –“

Sie stockte, das Wort „glücklich“ wollte nicht über ihre Lippen. Nein, er war nicht glücklich, sie sah es. Auch Richard schwieg, und die Pause wäre für beide Theile zu peinlich geworden, wenn nicht in diesem Augenblick Susannens Schwester Dina und Graf Utzlar hinzugetreten wären, um auch ihrerseits den Gast zu begrüßen. Mit anmuthigem Eifer wandte sich Susanne an ihren Bräutigam, um ihm Herrn Tromholt vorzustellen, aber der Graf unterbrach sie mit der Bemerkung, daß er die Bekanntschaft des Herrn Direktors – er betonte das Wort – schon gemacht habe. Dann sprach er mit diesem einige Worte in dem höflichen, aber kühlen Ton, in dem große Herren mit ihren Untergebenen zu verkehren pflegen.

Da sich jetzt auch weitere Gäste hinzudrängten und der Diener gleichzeitig meldete, daß das Essen aufgetragen sei, nahm Susanne den Arm ihres Bräutigams, und Tromholt suchte die Herrin des Hauses auf, an deren Seite er Platz zu nehmen hatte. Herrn von Alten fiel Dina zu, er hatte nicht mehr Zeit gefunden, mit Tromholt ein Wort zu wechseln.

Das Mahl verlief mit jenem Ernst, den die Veranlassung bedingte. Richard, obwohl er sich lebhaft mit der Hausfrau unterhielt, beobachtete heimlich das Brautpaar. Der Graf war von zuvorkommendster Liebenswürdigkeit Susannen gegenüber, und sie [487] lauschte mit Hingebung seinen ihr mit einer gewissen leichtfertigen Galanterie zugeflüsterten Worten.

Es war kein Zweifel, sie liebte ihn.

Als am Abend dieses Tages Alten abreiste und Tromholt, den die Geschäfte noch einige Tage in Kiel zurückhielten, ihm das Geleite zur Bahn gab, sagte der erstere: „Nun, wie gefällt Ihnen der Graf, Tromholt?“

„Ich habe nach keinen bestimmten Eindruck von ihm,“ erwiderte Tromholt ausweichend. „Seine Art ist weltmännisch, und er scheint nicht ohne Verstand zu sein.“

„Na, das wäre doch etwas,“ spottete Alten. „Aber wenn das nicht ein Erzlump ist, will ich nicht Alten heißen! Haben Sie den lauernden Zug in seinem Auge nicht bemerkt? Und diese herablassende Art, mit uns zu verkehren? Gefährlich ist der Bursch, verlassen Sie sich auf mich! Der wird uns noch lehren, wer Herr und wer Diener ist! Uebrigens, ist es denn richtig, daß er nach Limforden ziehen und den Marinedienst verlassen will? Eine entsetzliche Aussicht!“

Richard schwankte, ob er Alten schon jetzt nähere Mittheilung über sein Gespräch mit der Witwe und über die testamentarischen Bestimmungen des verstorbenen Ericius machen sollte. Er entschloß sich nach einigem Zögern, auch Biancas wegen, dazu, ihm wenigstens das Nothwendigste zu unterbreiten. Nachdem dies geschehen war, warnte er Alten vor Unvorsichtigkeiten, zu denen ihn sein heftiges Wesen nur allzuleicht hinreißen könnte. „Wir beide,“ sagte Tromholt, indem er dem Scheidenden, der ihm nicht ohne Bewegung zugehört hatte, die Hand drückte, „müssen jetzt fester denn je zusammenhalten, alles hängt davon ab. Zähmen Sie Ihre Spottlust, Alten! Wir werden beide davon Gewinn haben! Wir müssen fortan wie Brüder zusammenhalten!“

„Ich schlage ein,“ rief Alten mit leuchtenden Blicken. „Und damit ich den Titel verdiene, Tromholt, auf daß wir wirklich wie Brüder verbunden seien, was sagen Sie dazu, wenn ich Ihre Schwester heirathe? Vorausgesetzt natürlich, daß sie mich nimmt!“

Tromholt lachte ausweichend. „Sie sind unverbesserlich, lieber Freund. Leben Sie wohl und grüßen Sie mir Bianca! Ich komme bald nach.“

In diesem Augenblicke setzte sich der Zug in Bewegung und Alten konnte einer gewissen Enttäuschung nicht Herr werden, daß Tromholt seine wenn auch halb im Scherz gesprochenen, aber eigentlich anders gemeinten Worte nicht ernsthafter aufgenommen hatte.




5.

Etwa um dieselbe Zeit, während das Vorstehende sich in Kiel am Schwanenweg zutrug, schritt ein Mann, der unverkennbar dem Seemannsstand angehörte, über die Adolfbrücke in Hamburg. Es war der Kapitän Larsen aus Mückern, der mit seinem Schiff nach der Hansastadt gekommen war und eben einen Ladung nach Batavia angenommen hatte.

Als er sich zu den Arkaden wandte, um dort in einem nah dem Wasser liegenden Biertunnel einen Trunk zu sich zu nehmen, wurde sein Blick plötzlich durch eine weibliche Erscheinung gefesselt. Er stutzte, weil er seinen Augen nicht trauen zu dürfen glaubte, und blieb mit dem Ausdruck höchster Spannung stehen. Aus einem in den Arkaden liegenden Laden trat ein junges Mädchen heraus und nahm, ohne sich umzuschauen, ihre Schritte gegen den Jungfernstieg.

Larsen eilte ihr so schnell, wie er vermochte, nach, ging, als er in ihre Nähe gelangt war, scheinbar ohne sie zu beachten, vorüber, forschte aber genau in ihrem Angesicht, wandte sich dann plötzlich um und rief mit erregter Stimme: „Du! Du! Ingeborg Elbe!“

Von Entsetzen ergriffen eilte Ingeborg vorwärts, und nur der eine Gedanke beherrschte sie, auf welche Weise es ihr gelingen könne, sich aus dieser unerwarteten, furchtbaren Gefahr zu befreien.

Aber es lag nicht in Larsens Absicht, freiwillig sich wieder entgehen zu lassen, was ihm der Zufall so unerwartet in die Arme getrieben hatte.

„Ich verlange, daß Du mir Rede stehst!“ zischte er, nachdem er sie wieder eingeholt hatte. Und um sie zu täuschen und kein Aufsehen zu erregen, setzte er mit schmeichelnder Haltung und Miene hinzu: „Komm! Drüben am Jungfernstieg ist eine Bank! Ich will Dich ja nur sprechen, und was auch das Ende sei: ob Du mit mir gehst oder Deinem Worte untreu wirst, das Du mir gegeben hast.“

Aber Ingeborg Elbe antwortete nicht; in raschem Lauf und immer geradeaus blickend, setzte sie ihren Weg fort, und jetzt so stürmisch und mit so ausgesprochener Angst, daß die Blicke der Vorübergehenden sich auf sie richteten.

„Geh langsam, mach kein Aufsehen!“ – flüsterte Larsen, noch immer sich beherrschend. Und „antworte! Einer Antwort bin ich doch wohl werth?“ fügte er, schon erregter, hinzu, als sie noch immer that, als sei er Luft für sie.

„Nochmals! Antworte!“ schrie der Mann endlich außer sich vor Wuth. „Keinen Schritt weiche ich von Dir, bevor Du mir nicht Rede gestanden hast!“

In diesem Augenblick hatten sie den dem neuen Wall gegenüberliegenden Halteplatz der Dampfschiffe erreicht, die nach der Uhlenhorst fahren, und ohne Besinnen, nur dem Trieb ihrer Angst gehorchend, flüchtete Ingeborg auf das eben sich zur Abfahrt rüstende Boot.

Larsen schwankte einen Augenblick, ob er ihr folgen sollte, dann that er’s, und da er einsah, daß er mit Gewalt nichts über sie vermochte, trat er mit verstellter Miene dicht an sie heran und sagte in mildem, unterwürfigem Ton: „Ingeborg! Ich bitte Dich bei unserer einstigen Liebe, antworte nur auf meine einzige Frage: Weshalb bist Du entflohen? Was that ich Dir? – – Verzeih, daß ich so hart auf Dich einsprach! Es war doch nur die Aufregung, der Zorn über Deine Kälte. Du weißt, was Du mir angethan hast! – Nun, Ingeborg?“ –

In dem Gesicht des Mädchens rührte sich keine Muskel. Wie vordem, den Blick geradeaus gerichtet, floh sie aus die andere Seite des Boots, wo schon einige Leute standen. Es fehlten nur wenige Minuten zur Abfahrtzeit.

Wieder zauderte Larsen, da er sah, daß einige junge Männer, denen sein Benehmen aufgefallen war, sich neben Ingeborg stellten.

Allein sein Zorn, sein durch ihren Trotz nur noch gesteigertes Begehren überwog alle Vorsicht, und eben, als das Zeichen zur Abfahrt ertönte, trat er aufs neue auf sie zu.

Sein Gesicht glühte, die Adern auf seiner Stirn waren hoch angeschwollen und das blitzende Auge war blutunterlaufen wie das eines wilden Thieres. Er sah aus wie einer, dem kein Mittel zu schlecht ist, um sein Ziel zu erreichen.

Scheu wichen die jungen Leute zur Seite, und „Komm mit mir!“ befahl er Ingeborg aufs neue.

Aber da, als die Matrosen die Brücke schon weggezogen hatten und das Boot, dessen Maschine sich langsam in Gang setzte, abstießen, faßte sie einen verzweifelten Entschluß. Mit einem Sprung war sie auf der Brüstung und, ehe die Matrosen und der ihr nacheilende Larsen es verhindern konnten, drüben auf dem Landungssteg.

Larsen wollte ihr folgen, aber die Matrosen hielten ihn auf, und, zähneknirschend vor Wuth und Enttäuschung, blickte er der rasch Dahingehenden nach. – –

*               *
*

Als Ingeborg nach einer Stunde auf Umwegen das Haus der Baronin erreichte, war sie noch so erregt, daß ihr die Glieder bebten. Auf dem ganzen Weg glaubte sie sich von Larsen verfolgt, und sie war durch das Vorgefallene so eingeschüchtert, daß sie mehrere Tage lang nicht wagte, die Wohnung zu verlassen. Sie wußte, ihr früherer Verlobter werde alles aufbieten, ihren Aufenthalt in Erfahrung zu bringen.

Ingeborg Elbe und Klaus Larsen kannten sich seit ihrer Kindheit, die sie beide in Mückern, wo ihre Eltern als Nachbarn und gute Freunde lebten, verbracht hatten. Etwa um dieselbe Zeit hatte Ingeborg die Mutter, Klaus seinen Vater verloren, und wie das freundschaftliche Verhältniß zwischen dem alten Peter Elbe und der Witwe Larsen durch diesen beiderseitigen Verlust nur noch mehr gefestigt wurde, so betrachteten sie auch ihre Kinder mehr und mehr als zueinander gehörig trotz der großen, sich früh äußernden Verschiedenheit ihrer Anlagen. Ingeborg war ein ernstes, schüchternes Kind, Klaus ein derber, gewaltthätiger Junge, und wenn jene auch ohne mütterliche Leitung der angeborenen Richtung ihres Charakters treu blieb, so war der Mangel einer strengen väterlichen Zucht für diesen von den schädlichsten Folgen. Früh hatte sich Klaus Larsen daran gewöhnt, [488] den Beschützer der kleinen Ingeborg Elbe zu spielen, er vertrat mit kräftiger Faust ihre Partei, wo immer es unter den Kindern Zank und Streit gab, und Ingeborg ließ sich das gern gefallen, ja, es schmeichelte ihrer Kindeseitelkeit, den starken, muthigen Burschen zum Ritter zu haben. Allein aus dem Recht des Beschützers, das sie ihm einräumte, leitete er schon früh auch ein künftiges Besitzrecht her.

Schon als die Kinder noch zusammen spielten, dachten die Alten, wenn sie des Abends auf der Bank saßen: „Aus den beiden muß einmal ein Paar werden!“ Bald aber dachten sie’s nicht nur, sondern sie sagten sich’s, und mit der Zeit wurde es zu einem bindenden Vertrag zwischen ihnen, an dem sie mit der ganzen Zähigkeit ihres Alters und Standes festhielten, blind gegen alle Hindernisse, die sich ihrem gemeinsamen Wunsch etwa in den Weg stellen mochten.

So standen die Dinge, als Klaus Larsen seine erste Seereise antrat. Um diese Zeit erkrankte eine Verwandte von Ingeborgs Mutter, welche in Kopenhagen lebte, und erbat sich Ingeborgs Besuch zu ihrer Pflege und Gesellschaft, wogegen der alte Elbe nichts einzuwenden hatte. Der erst nur auf kurze Zeit berechnete Besuch verlängerte sich, Ingeborg verbrachte mehrere Jahre im Haus der Tante, wie man jene in der Familie nannte, und erhielt dort eine Erziehung, die weit über ihren Stand hinausging.

Gleichzeitig mit Larsen kehrte sie nach Mückern zurück, blühend und kraftvoll in ihrer äußeren Erscheinung und mit Lebensanschauungen, die von denen in ihrem Vaterhaus wesentlich abwichen, wenn auch die Liebe zu ihrem Vater und ihr kindlicher Gehorsam nicht darunter gelitten hatten. Nur diesen Gefühlen der Pietät verdankte es Larsen, daß sie jetzt, dem Drängen der beiden Alten mehr als Larsens stürmischer Werbung nachgebend, seine Braut wurde.

Indessen er sich zu einer zweiten Reise anschickte, ging sie, gleichsam zur Vorbereitung für ihren künftigen Beruf, nach Limforden zur Aushilfe bei der Wirthschaft und dort sah sie zum ersten Male Richard Tromholt. Sie sah ihn und liebte ihn. Nun erst erkannte sie die Kluft, die sie von Larsen trennte, allein es war ihr Verhängniß, das sie diesem nur um so sicherer in die Arme trieb. An eine Erwiderung jenes Gefühls, dessen überwältigender Stärke sie sich selbst erst nach und nach bewußt wurde, von seiten Tromholts wagte sie nicht zu denken. Mit dem scharfen Blick aller Liebenden hatte sie rasch erkannt, daß sein Herz einer anderen gehöre, aber auch abgesehen davon stand er in ihren Augen viel zu hoch über ihr, als daß sie je hoffen konnte, die Seine zu werden. Die achtungsvolle Güte, mit der er ihr begegnete, vermehrte unter solchen Umständen nur ihre Seelenqual, ihr Stolz gebot ihr, zu fliehen vor dem, zu dem ihr Herz sie hinzog, und als nun, gerade da dieser Kampf widerstrebender Gefühle am heftigsten tobte, ein Brief von Mückern eintraf, der ihr Larsens Rückkehr nach bestandenem Steuermannsexamen meldete und sie schleunigst dorthin rief, da jener nun ein eigenes Schiff erworben hatte und der Hochzeit kein Hinderniß mehr im Weg stand, da hielt sie dies für einen Wink der Vorsehung, dem sie gehorchen mußte, und reiste entschlossen, wenn auch mit angstvollen Empfindungen von Limforden ab. Der innere Kampf hatte ihre Kraft erschöpft, und mit einer Art stumpfsinniger Ergebenheit ließ sie die Ereignisse ihren Lauf nehmen.

Allein sie hatte sich doch zuviel zugetraut. Larsen, dessen brutal sinnliche Natur jetzt, da er dem Ziel seiner Wünsche so nahe stand, erst ganz unverhüllt hervortrat, empörte sie durch seine aufdringliche Zärtlichkeit um so mehr, als immer noch das Bild Tromholts vor ihrer Seele schwebte.

Da geschah es, daß Ingeborg, als sie eines Abends spät vom Besuch einer Freundin heimkehrte und ihr Weg sie durch eine in die Hauptstraße von Mückern einmündende Lindenallee führte, die unfreiwillige Zeugin einer Scene wurde, die sie mit Grausen und Abscheu erfüllte. Aus einer Laube an dem von Gärten begrenzten Weg drang nämlich ein lebhaft geführtes Flüstergespräch an ihr Ohr und veranlaßte sie, da sie deutlich ihres Bräutigams Stimme unterschied, einen Augenblick stillzustehen. Sie vernahm, daß Larsen einer anderen, in der sie an der Stimme eine längst auf leichtsinnige Wege gerathene Schulfreundin erkannte, zärtliche Liebesworte zuflüsterte und sie der Fortsetzung des früher begonnenen Liebeshandels versicherte, auch wenn Ingeborg sein Weib werde.

Sie hörte nichts weiter, ein Schauder erfaßte sie vor der Verdorbenheit des Menschen, dem sie in wenigen Tagen angehören sollte, und sie irrte einen Theil der Nacht planlos am Meeresstrand umher, entschlossen, eher zu sterben, als das über sich ergehen zu lassen. Der Gedanke an ihren Vater allein hielt sie noch von der Ausführung solchen Entschlusses zurück. Als aber die Ereignisse unaufhaltsam ihren Lauf nahmen, der Tag der Hochzeit herankam und mit ihm Tromholt, da, im letzten Augenblick, wo sie sich zu dem Kirchgang schmücken sollte, bäumte sich ihre beleidigte Weiblichkeit auf und bestimmte sie, alle anderen Gefühle zurückdrängend, zur Flucht.

Wohin aber sollte sie sich wenden, um der Verfolgung zu entgehen? In ihrer namenlosen Verwirrung, ihrer völligen Hilflosigkeit sah sie außer dem Tod nur ein Asyl: bei Tromholt! Er würde sie beschützen, das wußte sie, und er würde sie auch verstehen und entschuldigen, wenn sie ihm alles gestand. Alles? Nein, alles durfte sie ihm nicht gestehen, aber doch die Gründe ihrer Losreißung von Larsen. Er allein auf der Welt noch konnte ihr helfen, und so flüchtete sie sich denn, alle anderen Bedenken niederkämpfend, zu ihm. –

Inzwischen hatte Larsen, anstatt, wie es vor seiner Begegnung mit Ingeborg seine Absicht gewesen war, Hamburg am nächsten Tage wieder zu verlassen, nicht geruht, bis es ihm gelungen war, die verlorene Spur des Mädchens wieder ausfindig zu machen.

Am sechsten Tage nach der erwähnten Begegnung brachte die Post einen Brief, der Ingeborg in eine neue furchtbare Aufregung versetzte:

„Ich liege im Hotel zum Englischen Hause in der Admiralitätsstraße hoffnungslos, vom Arzte aufgegeben, darnieder. Aus Mitleid besuche mich, damit ich Dich noch einmal vor meinem Ende sehe!

Klaus Larsen.“

Mehrere Stunden verflossen, ehe sich Ingeborg zu einem Entschluß aufzuraffen vermochte. Endlich siegte das Mitleid und sie entschied sich zum Gehen. –

In Limforden war inzwischen ein Schreiben aus Kiel eingelaufen, in dem Frau Ericius neben anderen nicht unwichtigen Dingen mitgetheilt hatte, daß Graf Utzlar sich endgültig entschlossen habe, künftig in Limforden seinen Wohnsitz zu nehmen, und daß die Hochzeit, sobald dies schicklicherweise mit den traurigen Vorfällen zu vereinbaren sei, stattfinden werde. Da Utzlar schon in wenigen Tagen seinen Austritt aus der Marine bewirkt haben würde, habe sich das Brautpaar entschieden, nach dem Gute zu reisen, um sich seine künftigen Wohnräume anzusehen und eine Uebersicht zu gewinnen, was etwa an Mobiliar und sonstigen Einrichtungsgegenständen anzuschaffen sein werde. Gleich mit dem Frühlingsanfang solle dann die Uebersiedelung stattfinden, und Frau Ericius bitte sämmtliche Betheiligte, ihrer Tochter und Utzlar möglichst in allem Vorschub zu leisten. Im übrigen erwarte sie Richard baldmöglichst in Kiel behufs weiterer Rücksprache.

„Also die ganze Generalität wird ihr Standquartier hier beziehen! Na, das wird ja fortan ein paradiesisches Leben werden!“ – stieß Alten heraus. „Ich sehe schon alles vor mir! Der Graf wünscht dies und wünscht das, der Graf ist schlechter Laune, der Graf findet, glaubt, meint, erwartet, befiehlt – kurz, der Graf wird die Tarantel unseres Daseins werden, und wir werden jeden Tag die Zeitungen studieren, ob etwa ein Nachtwächterposten in Buxtehude oder anderwärts in der bunten Welt frei geworden ist. – Und Sie, Tromholt, werden natürlich ganz ruhig bleiben! Aber passen Sie auf, zuletzt werden auch Sie den Spaten ins Moor stoßen, drüben die Dampfventile pfeifen lassen, welche Melodie sie wollen, und rufen: ‚Ich danke, ich danke, ich danke! Sucht euch das Lastthier eurer Launen anderswo!‘ – Wahrhaftig, wenn mir der alte Besserwisser Ericius nicht gar so zuwider gewesen wäre, jetzt könnte ich beten, daß er wieder auferstehen möge –“

Alten stockte plötzlich und musterte mit einer Mischung von Ernst und Humor die Züge Biancas, die bei den berathschlagenden Männern saß. Dann fuhr er in seiner lebhaften Weise fort: „Ah, meine gnädige Frau, Sie schelten wieder! Ja, Sie schelten! Ich seh’s an Ihren unmutig zuckenden Nasenflügeln, die sich immer im Halbtakt bewegen, wenn ich einen nach Ihrer Ansicht strafwürdigen Einfall habe! Aber ich kann nicht dafür. Kupfer kann ich nicht für Gold erklären. Und fragen Sie nur Seine Hochwohlgeboren Herrn Direktor Richard Tromholt, ob er sich der kommenden Dinge freut!“

Richard und Bianca lachten, aber ehe sie antworten konnten, ward von der alten Marieken eine Depesche für den ersteren gebracht. Dieselbe kam aus Hamburg und lautete in dänischer Sprache:

„Kommen Sie, ich beschwöre Sie, sofort Hotel Englischer

[489]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Am Kamin.
Nach einem Gemälde von Paul Höcker.

[490] Hof. Larsen hier, Hält mich gefangen, will mich mit aufs Schiff schleppen. Ingeborg.“ 

Richard sprang auf. „Auch das noch!“ rief er, und den andern die Depesche übergebend, eilte er hinaus, um mit seinem Diener Ole das Nähere wegen seiner schleunigen Abreise zu besprechen.

Am nächsten Morgen fuhr Richard Tromholt trotz gerade dringlicher Geschäfte ab und empfahl seine Schwester der Fürsorge Altens. –

Zwischen diesen beiden hatte sich ein sehr warmes Verhältniß entwickelt. Ihre Vertraulichkeit wuchs durch das öftere Zusammensein, sie ergänzten sich gegenseitig, und der Wunsch, einander ganz anzugehören, lag für beide nahe, und doch wagte sich keines mit seinen Gedanken heraus.

Bianca erwartete das befreiende Wort von Alten, und da dieser, der sich in seiner Stellung nicht mehr sicher fühlte und vermögenslos war, sich über allgemeine Andeutungen, die er zur Vorsicht noch meist in ein scherzhaftes Gewand kleidete, nicht hinaustraute, so blieb sie, wenn sie auch an seiner Neigung nicht zweifeln konnte, doch unsicher über deren innere Wahrheit.

Als sie am folgenden Tage, nachdem Alten seine Geschäfte erledigt hatte, beim Mittagessen beisammen saßen, sagte Bianea: „Fast hätte ich’s vergessen! Es war schon lange mein Wunsch, einmal das Innere des Herrenhauses drüben in Augenschein zu nehmen. Ist das möglich?“

Alten bejahte bereitwillig. „Wenn’s Ihnen genehm ist, gehen wir nach dem Kaffee hinüber. Ich schicke gleich zum Kastellan, daß er die Fenster öffnet, damit Sie nicht von der dumpfen Luft beschwert werden.“

„Ich danke! Ist etwas Sehenswertes darin?“

„Na, nicht allzuviel! Der Besitz gehörte ursprünglich der Familie Tolk, die ihn an Herrn Ericius mit allem, was drum und dran war, verkaufte.“

„Ah! Dann gelüstet’s mich doppelt, hineinzugucken,“ erklärte Bianca lebhaft. „Für solche alte Familiensitze habe ich eine ungemessene Schwärmerei. Wenn ich Geld hätte, würde ich mir einen solchen Besitz kaufen. – Sagen Sie übrigens, Herr von Alten, giebt’s hier gar keine Nachbarn? Mit wem wollen die Utzlars denn überhaupt verkehren?“

„Gewiß! Allerdings! Im nächsten Umkreise nach Osten und Norden befinden sich sehr schöne Güter. Da wohnen die Grafen Estrupp und Kollund, die Familien von Eyben und von Schelbe und ganz in unserer Nähe auf seinem prachtvollen Schloß der jetzt eben von seinen Reisen zurückgekehrte Graf Esbern-Snarre. Ihn kennenzulernen, würde Sie jedenfalls interessieren. Ein nicht gewöhnlicher Mensch und liebenswürdiger Egoist! Lassen Sie sich von Ihrem Herrn Bruder vom Grafen Esbern-Snarre erzählen! Er kennt ihn sehr genau. Ich sah ihn bis jetzt nur zweimal flüchtig.“

Bianca bewegte halb zustimmend, halb abwehrend den Kopf. „Die Tage meines Hierbleibens sind gezählt,“ erwiderte sie. „Wenn Richard wieder eintrifft, muß ich mich doch endlich zur Heimreise rüsten.“

„Wie, Sie denken wirklich daran?“ rief Alten ehrlich erschrocken. „Nein, nein, das darf nicht geschehen, ich – –“ er stockte, blieb eine Weile stumm und nachdenklich und schloß dann im früheren Ton: „Zunächst also werden Sie das alte Schloß besichtigen. Es fehlt natürlich, wie man das von einem so alten Erbsitz erwarten kann, auch nicht an einem Hausgeist. Passen Sie auf, daß er Sie nicht festhält!“

„Das wird ja immer interessanter,“ lachte Bianca.

Das Limforder Herrenhaus war ein nicht nach einem einheitlichen Plan aufgeführter Bau, sondern stellte sich als eine im Laufe der Jahrhunderte vielfach veränderte und erweiterte und jedes rechten äußeren und inneren Zusammenhanges entbehrende Gruppe von Gebäuden dar. Es war mehr alterthümlich als schön, und in ersterer Beziehung fesselte der ringsum eingeschlossene große Schloßhof, der einen kunstvoll in Sandstein ausgemeißelten Brunnen und eine ganz eigenartig ausgestattete Kapelle besaß, über deren Eingang sich das alte Tolksche Wappen befand.

Als Alten und Bianca im Mittelbau, dem sogenannten corps de logis, die steinerne Doppeltreppe emporstiegen, staunte die letztere über die schönen Verhältnisse des Treppenhauses, die hohen, mit Stuck bedeckten Wände und Deckengewölbe.

„Ah! Das ist ja königlich“ rief sie.

„Ja wohl,“ spottete Alten, „aber wer hat etwas davon? Die schönen Räume stehen öde und verlassen, und ob Graf Utzlar gerade der Mann ist, sie mit neuem Leben zu erfüllen, scheint mir doch sehr zweifelhaft. Die alten Ritter sind todt, es riecht nach Moder überall. Sehen Sie zum Beispiel hier!“ – und er führte sie durch mehrere, mit alterthümlichem Hausrath spärlich ausgestattete Zimmer, in denen vergilbte Familienbilder hingen – „da hängen sie, die edlen Grafen und ihre hochgeborenen Damen!“

Zuletzt traten sie in einen oval gebauten Saal mit hoher gewölbter, und bemalter Decke, von der ein verstäubter, messingner Kronleuchter herniederhing. Das übrige Mobiliar bestand aus zwei Stühlen mit altem geflickten Seidenüberzug, die sich an den beiden entferntesten Punkten der Ellipse gegenüberstanden.

„Hier wohnt der Schloßgeist,“ scherzte Alten. „Bitte, nehmen Sie gefälligst auf jenem Stuhl Platz, ich werde mich auf diesen verfügen, und nun beugen Sie sich tief herab, legen Sie Ihr Ohr an die Wand und horchen Sie, was er Ihnen sagt! Es soll, wie die Sage geht, von tiefer Bedeutung sein, und die Hauptsache ist, daß Sie ihm richtig antworten, wär’s selbst mit seinen eigenen Worten. Sie brauchen Ihre Antwort nur gegen die Wand zu flüstern, das Echo trägt sie weiter, denn es ist der Echosaal, in dem wir uns befinden. Das Echo trügt nie! Glauben Sie ihm unbedingt, es ist die Stimme des Geistes!“

Und nun stellte sich Alten wie ein Beschwörer hin, streckte die Arme zur Decke empor und sprach mit feierlichem Tone: „Erhabener Geist, der Du in diesen Räumen thronst, in die Herzen der Menschen siehst und ihnen durch die Wand Dein Orakel verkündest, erhöre uns, sei uns gnädig!“

Bianca, sehr belustigt durch diese Einleitung, hatte schon ihren Platz eingenommen, und Alten eilte zu dem seinigen.

„Sind Sie bereit, gnädige Frau?“ fragte er.

„Ja,“ erwiderte sie.

„Und auch in der nothwendigen feierlichen Stimmung?“

„Gewiß!“

Es entstand eine Pause.

Eine eigenthümliche Stimmung kam über Bianca von Gunar. Dieser hallenartige, abgeschlossene, mit einer eigenthümlich dumpfwarmen Luft erfüllte Raum, in den eben die Spätsonne ihre letzten Strahlen warf, gab ihr ein Gefühl des Alleinseins und erfüllte sie zugleich mit einer seltsam unbestimmten Sehnsucht.

Gedanken an die Trennung von Limforden, die ihr bevorstand, der für sie stets einsame Aufenthalt in Hamburg, die Zukunft, die Erinnerung an die angenehmen Stunden, die sie mit Alten in diesen Wochen verlebt hatte, beschäftigten ihr Inneres und machten sie weich und liebebedürftig.

„Mit Verlaub, Frau Baronin!“ rief Alten. „Hat er noch nicht gesprochen?“

„Kein Wort.“

„Und hören Sie auch deutlich?“

„Sehr gut!“

„Also jetzt, am besten wär’s, Sie wiederholten gleich die Worte!“

Bianca lauschte, es klang erst wie ein Brausen durch die Wand, und dann vernahm sie deutlich die Worte:

„Bianca von Gunar, ich liebe Sie.“

Ihr Herz pochte, doch zwang sie sich zu einem Scherz. „Der Geist?“ rief sie hinüber. „Wie seltsam! Lieben denn Geister?“

„Nicht der Geist,“ klang es zurück. „Ich liebe Dich! Ich liebe Dich!“

Hierauf blieb alles still.

„Gegen die Wand müssen Sie die Antwort flüstern.“ ermunterte Alten drängend.

Er horchte schier athemlos, aber alles blieb still.

„Haben Sie noch nichts gehört?“ fragte er wieder, und „Sie wollen nicht hören!“ setzte er mit weicher Stimme hinzu.

Eine Fliege summte durch den Saal, Alten hörte das leise Schwirren ihrer Flügel, bis es verklang, und jetzt ging ein Sausen durch die Wand, und endlich ihre Stimme, die das Echo ihm zutrug:

„Kann die Wand von Liebe sprechen?
Hart und fühllos ist ihr Stein;
Aus dem Herzen muß es brechen,
Soll es wahre Liebe sein.“

Altens Züge hellten sich auf, und während ein seliges Erwarten in seine Augen trat, gab er nach kurzem Besinnen zurück:

„Nein, mein Mund sprach diese Worte,
Und die Wand sprach sie nur nach,
Und da er des Herzens Pforte,
War es Wahrheit, was er sprach!“

[491] Eine Weile blieb drüben alles still, dann klang es von neuem an das Ohr des athemlos Horchenden:

„Nicht im flücht’gen Echospiele
Thut sich wahre Liebe kund,
Kühnen Flugs stürmt sie zum Ziele,
Keinen Mittler braucht ihr Mund.“

„Wirklich?“ rief Alten stürmisch, und selige Freude blitzte aus seinen Zügen. Am liebsten wäre er gleich aufgesprungen und zu ihr hinübergestürmt, allein er bezwang sich. Halb Kleinmuth, bald der Wunsch, das anmuthige Spiel noch eine Weile fortzusetzen, trieb ihn, die folgenden Worte wieder an die Wand zu richten:

„Lieb’, die sich mit Kühnheit brüstet,
Kam zu Fall oft dicht am Ziel –“

aber da stockte er, die Reime waren ihm ausgegangen. Schlagfertig antwortete die Stimme drüben:

„Wen’s nach ihrem Glück gelüstet,
Fragt nach der Gefahr nicht viel.“

Jetzt vermochte sich Alten nicht länger zu beherrschen. Aufspringend wandte er sich um.

Da stand Bianca von Gunar am entgegensetzten Ende des Saales, und auch sie hatte ihr schönes, glückstrahlendes, von tiefer Röthe übergossenes Antlitz ihm zugewandt, ihr Athem ging heiß, ihr Körper zitterte vor verhaltener Erregung; und durch den einsamen Saal fluthete das Abendlicht und wob eine Glorie um ihre Gestalt.

Mit wenigen Schritten war er bei ihr, er wollte sich vor ihr niederlassen, aber sie zog ihn zu sich empor. „Ich liebe Dich,“ klang es fast gleichzeitig von seinen und von ihren Lippen, und mit einem Glücksschrei zog er sie in seine Arme.




6.

Reichlich vierzehn Tage nach dem Vorerzählten kehrte Richard Tromholt nach Limforden zurück. Nur ein Brief war währenddessen zwischen ihm und den Zurückgebliebenen gewechselt worden. Bianca hatte Richard ihre Verlobung angezeigt, und der letztere in der Entgegnung seiner unverhohlenen Freude Ausdruck verliehen.

„Was ich alles Unerfreuliches erlebt habe, werde ich Euch mündlich mittheilen,“ hatte er hinzugefügt, „Ihr werdet bei meinem Bericht glauben, daß ich Euch den Inhalt eines Romans erzähle.“

Diese Mittheilungen hatten die Verlobten in die größte Spannung versetzt und machten es begreiflich, daß sie es kaum erwarten konnten, den mündlichen Bericht Richards zu hören, der jetzt seiner Schwester und Alten gegenübersaß.

„Wie ich Euch schon andeutete,“ begann er, „hatten sich kurz vor Ericius’ Tode starke Geschäftsverluste eingestellt, die auch wohl nicht zum wenigsten dazu beigetragen haben, des Kranken Zustand zu verschlimmern. Frau Ericius wußte davon nichts und erfuhr erst die Thatsachen aus meinem Munde bei Gelegenheit meiner ersten Anwesenheit in Kiel.

Aber damit ist nur über einen kleinen Theil des Geschehenen berichtet. Es war mir bei meinen Besprechungen mit Acht, einem anscheinend ruhigen und ehrbaren Manne, schon sehr verdächtig, daß er die von mir verlangte Nachzählung der Barmittel in Geld und Papieren zu verzögern suchte. Einmal hatte er die Schlüssel nicht zur Hand, und am folgenden Tage, als wir den von ihm angefertigten Abschluß nochmals durchgingen und ich hinwarf, ich könnte den Abschluß nur unterzeichnen, wenn ich selbst in die Barbestände Einsicht genommen hätte, suchte er abermals Ausflüchte.

Endlich gab er, sichtlich schwankend, nach und öffnete den Eisenwandschrank. Ich begab mich nun an die Durchsicht, fand auch alles, wie es verzeichnet war, und wollte ihm schon meinen Argwohn abbitten, sein eigenthümliches Wesen auf seinen körperlichen Zustand oder auf eine bedeutungslose Sonderbarkeit schieben, als ich endlich an die überschriebenen Packete kam, in denen sich die Bestände an Werthpapieren befinden sollten.

Acht holte diese Bündel hervor und warf leicht hin, ich wolle wohl nicht jedes einzelne durchzählen. Der Bestand sei genau auf den Umschlägen verzeichnet.

Einen Augenblick besann ich mich, weil ich ihm kein Mißtrauen zeigen wollte, dann aber, mich meiner Verantwortlichkeit erinnernd, bestand ich auf einer genauen Prüfung.

Während ich eins der Packete aufschnürte, entfernte sich Acht mit den Worten: ‚Verzeihen Sie, bitte, einen Augenblick, ich bin gleich zurück!‘

Ich nickte zerstreut und mit einem ‚Bitte, lassen Sie sich durchaus nicht stören!‘ begab ich mich an die Untersuchung.“

Tromholt machte eine Pause und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, und dann hörten die in athemloser Spannung ihm Zuhörenden die folgenden dumpf hervorgestoßenen Sätze:

„Man hat Acht seitdem nicht wiedergesehen. Man meint, daß er sich das Leben genommen hat. In den Packeten aber fand ich nichts weiter als werthloses Papier, und Frau Ericius besitzt heute außer der Herrschaft Limforden – wohl soviel wie nichts!“

„Mensch, Sie scherzen!“ – „Richard, um Gotteswillen!“ drang es zu gleicher Zeit aus dem Munde Altens und Biancas.

„Ja, ja!“ bestätigte Richard Tromholt. „Die Firma muß liquidirt werden, und nur wenn wir besonderes Glück haben, kann jeder zu dem Seinen kommen! Aber für Limforden fehlt das Betriebskapital, und da die begonnenen Unternehmungen eben erst Erträge abzuwerfen beginnen, so ist Frau Ericius jedenfalls in einer bedenklichen Lage und wird möglicherweise nur unter großen Einschränkungen leben können.“

Tromholt hielt inne, und eine längere Pause trat ein, während der jedes seinen Gedanken nachhing.

Alten und Bianca dachten auch an das von ihnen unter so gehobenen Erwartungen eingegangene und nun vielleicht aussichtslos sich gestaltende Bündniß ihrer Herzen. Altens gegenwärtige Lebensstellung war möglicherweise in Frage gestellt, denn es blieb zweifelhaft, ob Limforden nicht verkauft werden mußte.

Endlich nahm Alten das Wort und sagte mit schwerer Stimme: „Was meinen Sie, was nun werden soll, Tromholt?“

„Ja, lieber Freund,“ entgegnete Tromholt, erhob sich und ließ die beim Nachsinnen unwillkürlich emporgezogenen Schultern herabfallen, als ob sie durch einen Druck von oben herabgepreßt würden, „ich weiß es zur Stunde selbst nicht. Sie können sich ja denken, wie viele Gedanken auf mich einstürmen und wie schwer es ist, das Für und Wider abzuwägen. Wir haben es mit vier verwöhnten und erwerbsunfähigen Personen zu thun, der Witwe, den zwei Kindern und dem Grafen Utzlar, der unglücklicherweise schon seinen Abschied genommen hat und den starke Einbildungen bezüglich Limfordens beherrschen. Wenn hier die Werke nicht wären, würde ich vielleicht versuchen, das Kieler Geschäft für die Familie fortzusetzen. Aber ohne Acht, der, bis er zum Spekulanten und Diebe ward, ein ausgezeichneter Kaufmann war, traue ich mich doch nicht, allein eine mir so fern liegende Sache zu übernehmen. Ich müßte auch Geld und Kredit anschaffen, und diese brauchen wir für Limforden dringend.

Geht alles gut, so können die Werke eine neue Silberader für die Ericiussche Familie werden, aber viele, viele Jahre sind nöthig, zumal da eigene Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen. Limforden mit allem, was drum und dran hängt, zu verkaufen, ist ein dritter Plan, aber vielleicht fast der schlechteste im jetzigen Augenblicke. Ich weiß es nicht!

Dabei liegen die Dinge so, daß gegenwärtig nicht einmal das Nothwendigste vorhanden ist. Die Familie hat Ansprüche, das Schloß soll hergerichtet werden, da Utzlar in vier Monaten heirathen will –“

Hier unterbrach Alten Tromholts Rede. „Schloß einrichten? Heirathen? Sind die Leute wahnsinnig?“ rief er, stockte jedoch plötzlich, seines eigenen Liebesglückes gedenkend.

Tromholt aber sagte nichts und ließ sich in einer dunkleren Ecke des Gemaches nieder.

„Mein armer, lieber Bruder!“ stieß Bianca in tiefem Mitgefühl heraus und trat Richard näher. Ihre Hand legte sich auf seine Schulter und blieb darauf ruhen.

Richard wehrte ihr mit sanfter Bewegung und trat wieder an den Tisch zurück. „Ich habe Euch noch nicht von Hamburg berichtet,“ sagte er, sich aufraffend. „Nicht minder traurig ist, was ich dort erlebte. Ich erzwang mir den Eintritt in das Innere des Hotels, in dem der Schurke, der Larsen, Ingeborg Elbe buchstäblich gefangen hielt. Unter dem Vorgeben, er liege im Sterben und wolle sie nur noch einmal sehen, hatte er sie dorthin gelockt, ihr dann aber gleich erklärt, er werde sie mit aufs Schiff nach Batavia nehmen.

[492] Dem Hotelbesitzer und den Angestellten hatte er vorgespiegelt, sie sei seine Schwester und wahnsinnig. Man möge auf ihre Reden nicht hören und, falls sie Lärm während seiner Abwesenheit mache, darauf nicht achten. Seine biedere, Vertrauen erweckende Miene und Sprache hatten den Besitzer getäuscht, und so fand ich denn das arme Geschöpf, das einen der Kellner bestochen hatte, das Telegramm an mich abzusenden, in einem geradezu unbeschreiblichen Zustande.

In derselben Stunde nahm ich sie mit und schrieb auf einen Briefbogen, den ich in einen Umschlag steckte. ,Ich, Richard Tromholt von Limforden, nahm Fräulein Ingeborg Elbe in meinen Schutz und warne Sie, das Mädchen in irgend einer Weise ferner zu belästigen. Sollten Sie meiner Mahnung keine Folge leisten, so werde ich die Gerichte um Hilfe anrufen und behalte mir vor, dieses auch noch zu thun, wenn Sie von Ihrer Reise zurückkehren.’“

„Und ist sie wieder in meiner Wohnung?“ fragte Bianca, die diesem neuen Bericht mit wahrer Angst zugehört hatte. Auch Allen sprach auf Tromholt ein und forschte voll Theilnahme nach den Vorgängen.

„Nein! Ich habe Ingeborg zu Frau Ericius gebracht, dieser alles mitgetheilt und als einen Beweis ihrer Freundschaft gefordert, daß sie das Mädchen wie eine Hausgenossin aufnimmt, bis ich auch über sie einen Entschluß gefaßt haben werde. Natürlich schien Graf Utzlar diese Sache sehr überflüssig zu finden und legte kein großes Wohlgefallen über mein Ersuchen an den Tag.“

„Ja, ja! Dieser Graf Utzlar!“ stieß Alten heraus. „Ich könnte diesem hochmüthigen, pomadisirten Fuchs den Hals umdrehen, so verhaßt ist er mir. Eins nur begreife ich nicht: wie konnte sich ein Mädchen wie Susanne Ericius in einen solchen Menschen verlieben!“

Bianca winkte ihrem Verlobten zu, nicht weiter zu reden; sie wußte, wie ihr Bruder unter der dadurch wieder geweckten Erinnerung litt.

Aber Richard sagte mit einem traurigen, zustimmenden Blick:

„Sie haben recht, Freund! – Ich sah auch schon zweimal Thränen in ihren lieben, schönen Augen, deren Anblick mich unsagbar schmerzte – – –“

(Fortsetzung folgt.)




Zur Jubelfeier der Buchdruckerkunst.

Von Eduard Grosse.

Zum zweiten Male in diesen, Jahrhundert begehen wir eine Feier, welche die Theilnahme aller Gebildeten finden wird, denn sie berührt nicht nur die Angehörigen eines Landes oder Standes, sondern sie berührt die gesammte Menschheit.

Abbildung 1. Holztafeldruck.

Diese Feier gilt der Buchdruckerkunst, deren Erfindungsjahr man etwas willkürlich auf das Jahr 1440 festgesetzt, die hiernach gerechnet also 450 Jahre im Dienste der Menschheit gestanden und segensreich gewirkt hat. Es dürfte überflüssig sein, die Wohlthaten aufzuzählen, welche wir der Erfindung Gutenbergs verdanken. Jedermann weiß, daß dieselbe sofort im Dienste der Wissenschaft, Kultur und Aufklärung stand, daß sie in diesem Dienste groß ward und mächtig auf die geistige Entwicklung der Menschheit einwirkte. Ihr verdanken wir zum großen Theil unsere geistigen und gesellschaftlichen Freiheiten, den hohen Stand unserer Wissenschaften, die Blüthe unseres Industrie- und Gewerbelebens.

Die früheren Jubelfeste, die schon in den Jahren 1740 und 1840 gefeiert wurden, waren leider noch von wenig erbaulichen Streitigkeiten über den zeitlichen Vorrang der Erfindung umschwirrt, was heute und in Zukunft nicht mehr der Fall sein kann.

Abbildung 2. Aus der Heidelberger Liederhandschrift.

Andere Nationen machten der deutschen die Ehre streitig, den Erfinder der Buchdruckerkunst zu den Ihren zählen, ihn das Kind ihres Landes nennen zu dürfen. So wurden nach und neben einander der Holländer Koster, der Italiener Castaldi und Kuttenberg der Böhme von ihren Landsleuten als Erfinder hingestellt. Dem vermeintlichen Erfinder Koster errichteten die Holländer sogar zwei öffentliche Denkmäler und begingen zu dessen Ehre im Jahre 1821 eine Gedenkfeier. Gegen diese Entstellung der geschichtlichen Wahrheit erhoben sich aber deutsche Gelehrte, und der Federkrieg ward mit den schärfsten Waffen geführt. Alle erreichbaren Urkunden wurden hervorgesucht, von leichtfertigen Männern Urkunden gefälscht, von der ehrlichen Partei die Fälschungen mit Aufwand großen Scharfsinns wieder nachgewiesen, und endlich, nach jahrelangem Ringen, ward der guten deutschen Sache ein glänzender Sieg erfochten. Nicht wenig förderte diesen Sieg ein holländischer Geschichtschreiber selbst, Dr. A. v. d. Linde, welcher mit offener Unparteilichkeit prüfte und schließlich das mit Fälschungswust umhüllte Märchen vom Erfinder Koster, Castaldi und auch vom böhmischen Kuttenberg dahin verwies, wohin es gehört, in die Welt der Hirngespinste. Doch nicht nur die Ausländer, sondern auch die Deutschen trugen möglichst zur Verwirrung der geschichtlichen Thatsachen bei. Gutenberg selbst hat sich bekanntlich auf keinem seiner Druckerzeugnisse als Erfinder der Buchdruckerkunst oder als Drucker eines Buches genannt. Dieses fast unbegreifliche Schweigen kam den Fälschern ungemein zu statten, da es aus diese Weise leicht war, dem rechtmäßigen Erfinder seinen Ruhm zu entreißen und den Ehrenkranz einem andern zuzuerkennen. Den ersten dahingehenden Versuch machte bereits ein Enkel des Gutenbergschen Geschäftstheilhabers Fust, welcher im Jahre 1509 behauptete, sein Großvater Johann Fust sei der eigentliche Erfinder der Buchdruckerkunst. Diese Lüge ging nicht nur in andere Schriften über, sondern sie reizte auch den Straßburger Drucker Johann Schott, seinen Großvater Mentel, welcher einer der ältesten Buchdrucker gewesen ist, gleichfalls als Erfinder hinzustellen. Hieraus entwickelte sich die Sage, Mentels Diener Gensfleisch sei nach Mainz entflohen und habe dort die Mentelsche Erfindung im Verein mit Gutenberg ausgebeutet.

Aus Grund dieses Mentelschen Märchens entstand ein Streit über den Vorrang zwischen den Städten Straßburg und Mainz. Den Pseudoerfinder Mentel mußten die Straßburger allerdings aufgeben, dafür suchten sie sich jedoch zu entschädigen, indem sie Ansprüche auf Gutenberg geltend machten. Dieser scheint seine Jugendjahre tatsächlich in Straßburg verlebt zu haben, vielleicht wurde er sogar da geboren, wie einige Forscher nicht abgeneigt sind, anzunehmen. Wahrscheinlich hat er in Straßburg auch schon den Gedanken seiner Erfindung gefaßt, vielleicht schon die ersten Versuche unternommen. Ob jedoch die Erfindung dort zur Reife gediehen, ist zweifelhaft. Eine Thatsache steht aus jeden Fall unerschütterlich fest, nämlich die, daß Gutenberg und kein anderer der Erfinder der

[493] Buchdruckerkunst ist. Dies wird von vielen seiner Zeitgenossen sowohl von Deutschen wie auch Italienern und Franzosen einstimmig bestätigt; ebenso, daß die Buchdruckerkunst in Mainz erfunden würde. Alle Versuche, die Erfinderehre einem andern zuzuerkennen, haben nur zur schärferen Prüfung des Urkundenmaterials und dadurch zur unanfechtbaren Anerkennung Gutenbergs geführt.

Abbildung 3. Anfang der 42zeiligen Bibel

Niemand wird in Zukunft mehr wagen, ihm und seinem Volke die Ehre der Erfindung streitig zu machen. Wenn als Erfindungsjahr 1440, angegeben wird, so geschieht das, wie schon angedeutet, mit einer gewissen Willkür. Die Erfindung Gutenbergs lag nicht in einem Monate, auch nicht in einem Jahre fertig vor, sondern sie erforderte zu ihrem allseitigen Ausbau eine ganze Reihe von Jahren, und man wäre demnach ebenso berechtigt, jedes andere Jahr zwischen 1440 und 1450 als Erfindungsjahr anzugeben. Thatsache ist, daß die Erfindung im Laufe dieser zehn Jahre vollendet wurde. Wie dies geschah, mit welchen Hindernissen, welchen Anstrengungen, welcher peinlichen Geldnoth Gutenberg zu kämpfen hatte, müssen wir aus den Umständen mehr errathen, als daß uns urkundliche Aufklärung würde. Es ist eine eigenthümliche Ironie des Schicksals, daß der Mann, welcher Papier und Pergament mit Hilfe des Bleibuchstabens mittheilsam machte, welcher das tausendzüngige Mittel des Weltverkehrs schuf, von tiefem Schweigen umhüllt in das Grab sank, über seine Erfindung, seine Riesenleistung selbst keinen aufklärenden Buchstaben hinterließ und der Nachwelt als ein verschleiertes Bild erscheint, umhüllt vom Nebel vierhundertjähriger Zeitferne. Doch daß er den Kampf aller Erfinder gegen die Mißgunst der Verhältnisse geführt, daß er ein sorgenschweres Leben durchmessen hat, ist ziemlich zweifellos. Er war der Vater eines großen Gedankens, der ihm zum Schmerzenskinde wurde, ihn unablässig verfolgte und zur That trieb, zur That, die ihm wohl Unsterblichkeit sicherte, ihm während seiner Lebenszeit jedoch auch manche sorgenvolle Stunde bereitete.

Ueber die eigentliche Erfindung Gutenbergs sind noch vielfach irrige Meinungen verbreitet. Er erfand nicht die Kunst des Buchdrucks, der mechanischen Schriftvervielfältigung überhaupt, sondern er erfand nur eine brauchbare, vollkommene Art dieser Vervielfältigung. Bücher und Bilder wurden schon lange vor Gutenberg gedruckt, doch nur von Holzplatten und ohne Anwendung einer geeigneten Presse. Gutenberg vervollkommnete die Technik, indem er erstens bewegliche, zusammensetzbare Lettern erfand und zweitens eine Presse, mit deren Hilfe schneller und schöner gedruckt werden konnte als mit Anwendung des alten Reibverfahrens.

Der Holztafeldruck, von dem Abbildung 1 eine Probe zeigt, bot nur ein sehr beschränktes Hilfsmittel, und umfangreiche Bücher mußten durch Abschreiben vervielfältigt werden. Diese mühsame Art der Vervielfältigung genügte wohl in der frühesten Zeit des Mittelalters, als die Nachfrage nach Büchern weniger stark war, aber sie genügte nicht mehr, als mit Anbruch des humanistischen Zeitalters ein neuer Geist durch das wissenschaftliche Leben fluthete. Das jung Geschlecht verlangte nach Belehrung, nach billigen, guten Büchern. Ein praktisches Vervielfältigungsverfahren war Bedürfniß geworden, die Erfindung desselben wurde vom Zeitgeist gefordert, und es fehlte nur noch der Mann, welcher technischen Scharfsinn mit glücklicher Erfindergabe vereinigte, um die Forderung zu erfüllen.

Dieser Mann erstand in Gutenberg. Der Grundgedanke, den er zur Ausführung brachte, lag ziemlich nahe. Neben dem Holztafeldruck war nämlich auch der Stempeldruck bekannt; man schnitt auch schon einzelne Zeilen in Holz und druckte diese als Ueberschriften; ferner ist nachgewiesen, daß die Schönschreiber einzelne Anfangsbuchstaben in die Handschriften eindruckten und dann ausmalten, ja, daß sogar gewöhnliche Schrift

[494]

Johannes Gutenberg.
Aus „Waldow, Encyklopädie der graphischen Künste.“

mit Buchstabenstempeln gedruckt wurde Der Schritt vom Stempeldruck zum beweglichen Typensatz war kein großer, ein flüchtiger Gedankenblitz konnte dahin führen. Es war nur nöthig, die Buchstabenstempel, welche vorher einzeln gebraucht wurden, zu einem Wort, zu Zeilen, endlich zu ganzen Seiten zusammenzusetzen und dann auf einmal abzudrucken. Damit war jedoch die Buchdruckerkunst noch nicht vollständig erfunden. Im Gegenteil, die technische Ausarbeitung der Erfindung mußte erst beginnen, und diese Aufgabe, vor welcher der Erfinder jetzt stand, war viel schwieriger, als man gewöhnlich annimmt.

Die ersten Versuche mit roh zugesägten Stempeln und Holztypen hatten nur den Zweck, Gutenbergs Glauben an die Durchführbarkeit seines Gedankens zu stärken. Vollendete Druckarbeiten konnte er damit unmöglich ausführen. Wahrscheinlich ist er auch schon nach den ersten Versuchen von den Holztypen abgegangen und hat zu dem beständigeren, zweckmäßigeren Metall gegriffen. Gewiß ist, daß schon die ersten Bücher mit Metalltypen gedruckt sind.

Abbildung 4. Das älteste Bild der Buchdruckerei.

Das Holz eignet sich überhaupt nicht zum Typendruck; es ist zu sehr der Veränderung durch Feuchtigkeit und Wärme unterworfen und verzieht sich leicht.

Außerdem hätten Holztypen ungeheure Herstellungskosten verursacht. Beim Satz der 36zeiligen Bibel waren z. B. zu einer Seite ungefähr 1800 Typen erforderlich, zu zwei Seiten 3600 bis 4000, darunter einige hundert kleine a. Wollte Gutenberg nur zwei Seiten auf einmal drucken, so brauchte er also schon einige hundert a, zu weiteren zwei Seiten, welche sich während des Druckens im Satz befanden, ebensoviel.

Nun wird man einen Mann, welcher genügend technischen Scharfsinn besaß, um die Buchdruckerkunst zu erfinden, gewiß nicht für so einsichtslos halten, daß er die vielen hundert a alle einzeln geschnitten habe. Man wird annehmen dürfen, daß er einige a als Modell geschnitten und die anderen hiernach in Formen gegossen habe. Ferner würde es wohl auch kaum möglich sein, Holztypen von der peinlichen Gleichmäßigkeit anzufertigen, welche unbedingt nöthig ist, wenn der Satz ebenmäßig und in geraden Zeilen auslaufen soll.

Diese peinliche Gleichmäßigkeit der Typen war wohl die Hauptschwierigkeit, welche Gutenberg zu überwinden hatte und nach unendlichen Mühen auch überwand. Nur dann, wenn die Typenkegel mit geometrischer Genauigkeit zu einander stehen, ist es möglich, mit ihnen ganze Seiten gleichmäßig zu setzen. Ferner erfand Gutenberg die Druckerpresse, welche allerdings anfänglich ziemlich einfach gebaut war, wie Abbildung 4 und 5 erkennen lassen; sodann die Druckerschwärze und alle Hilfswerkzeuge, welche zur Ausübung des Setzens und Druckens dienen. Dabei arbeitete er seine Erfindung zu einer technischen Vollkommenheit aus, die in Erstaunen setzt.

Die Schrift, nach der Gutenberg seine Bibeltypen schnitt, war die sorgfältige Schönschrift des Mittelalters, welche besonders beim Schreiben von Missalen oder Meßbüchern angewendet wurde. Dabei kam Gutenberg die Form der mittelalterlichen Schrift sehr zu statten, welche sich zur typographischen Nachbildung bedeutend bester eignete als unsere jetzige Schreibschrift, wie der Faksimiledruck Abb. 2 eines Gedichtes Walters von der Vogelweide aus der Pariser, jetzt Heidelberger Liederhandschrift erkennen läßt, deren Buchstaben ziemlich senkrecht stehen. In den sorgsamer geschriebenen Missalen sowie auf Tafeldrucken wurde die Schrift noch schöner und gleichmäßiger ausgeführt, sodaß Gutenberg sie fast so benützen konnte, wie er sie geschrieben vorfand. Unser Faksimile eines Tafeldruckes (Abb. 1) zeigt denselben Schriftcharakter wie die Gutenbergschen Bibeldrucke. Mit der Schrift nahm er auch die farbige Rand- und Initialverzierung aus den Schönschriften mit in den Buchdruck herüber, welche anfangs noch durch Handmalerei, später dagegen durch Mehrfarbendruck hergestellt wurde. --

Abbildung 5. Buchdruckerei des 16. Jahrhunderts.

Metall-Letter.

Man weiß über die Lebensgeschichte des Erfinders so wenig, daß man nicht einmal sein Geburtsjahr angeben kann. Auch über seine Kindheit und seine Jünglingsjahre ist nichts bekannt. Eine willkürliche Annahme verlegt seine Geburt in die Jahre 1396 oder 1398, doch fehlt dafür jeder geschichtliche Beweis. Die erste Nachricht über Johann Gutenberg erhalten wir 1430, in welchem Jahre seine Mutter eine Erbschaft für ihn ordnete, wahrscheinlich auf Grund einer Vollmacht Gutenbergs, der sich außer Landes befand, da er in Parteikämpfe verwickelt gewesen war und Mainz flüchtig verlassen hatte.

Abbildung 6. Aus der 36zeiligen Bibel.

Das Mainzer Patriziergeschlecht der Gensfleisch, dem Gutenberg entstammt, gehörte zu den geldprägenden Münzgenossen der Stadt Mainz. Gutenbergs Großvater war Bürgermeister gewesen, sein Vater wird 1410 in den Einnahme- und Ausgabebüchern als Rechnenmeister genannt, scheint sich jedoch mit der Bürgerpartei verfeindet zu haben und befand sich mit fernen Verwandten 1420 an der Spitze der Patrizier, welche der Bürgerpartei im offenen Kampfe gegenüberstanden. Die Patrizier [495] unterlagen und wurden gezwungen, die Stadt zu verlassen, mit ihnen auch die Familie Gutenberg. Im Jahre 1430 erhielt Johann Gutenberg die Erlaubniß zur Rückkehr, scheint davon aber keinen Gebrauch gemacht zu haben, denn 1434 befand er sich in Straßburg, verwickelt in einen Prozeß gegen seine Vaterstadt. Diese hatte die Verpflichtung, an Gutenberg eine jährliche Rente zu zahlen, kam ihrer Verpflichtung jedoch nicht nach, weshalb jener klagbar wurde.

Bereits um diese Zeit muß sich Gutenberg mit technischen Arbeiten beschäftigt haben und ein angesehener Künstler und Erfinder gewesen sein, dessen Kenntnisse von seinen Mitbürgern geschätzt waren. So viel geht wenigstens aus den Straßburger Prozeßakten hervor, welche 1740 aufgefunden und 1760 veröffentlicht wurden, leider aber 1870 bei der Beschießung Straßburgs zu Grunde gingen. Der Inhalt des am 12. Dezember 1439 entschiedenen Prozesses bezieht sich auf einen Rechtsstreit, welchen die Brüder Klaus und Georg Dritzehn als Erben ihres verstorbenen Bruders Andreas Dritzehn gegen Gutenberg angestrengt hatten.

Angenommen, daß der Johann Gutenberg des Straßburger Prozesses derselbe ist, welcher die Buchdruckerkunst erfand, so läßt sich doch aus den Akten kein sicherer Schluß darauf ziehen, daß die „Kunst und Afentur“ (Künste und Unternehmungen), um welche der Prozeß sich dreht, wirklich mit der Buchdruckerkunst zusammenhängen, da die Beteiligten während der Verhandlungen offenbar bestrebt waren, das geschäftliche Geheimniß nicht zu verraten. Doch kommen in den Zeugenaussagen Worte wie „Blei“, „Drucken“, „Presse“ und „Form“ vor, woraus einzelne Forscher schließen , daß man es mit typographischen Arbeiten zu thun habe, während andere dieser Annahme widersprechen und überhaupt die Echtheit der Gerichtsakten anfechten. Wahrscheinlich wird die ganze Sache nie aufgeklärt werden, besonders da die Akten selbst seit 1870 nicht mehr vorhanden sind, fernere Prüfungen derselben auf ihre Echtheit also nicht stattfinden können.

Von 1439 an verstummen die Nachrichten über Gutenbergs Tätigkeit eine Zeitlang gänzlich. Was über seinen Aufenthalt ferner Auskunft giebt, sind nur noch Aktenstücke, die sich aus Geldangelegenheiten beziehen; so eine Urkunde von 1441, in welcher Gutenberg als Mitbürge für eine verkaufte Rente genannt ist; dann eine Urkunde von 1442, aus welcher hervorgeht, daß Gutenberg gegen ein Darlehn von 80 Pfund Straßburger Pfennigen seine jährliche Rente von 10 Gulden verpfändete.

Im Jahre 1448 tritt Gutenberg wieder in Mainz auf. Am 6. Oktober 1448 erhält er von Reinhard Brömser v. Rüdesheim und Henne v. Rodenstein wieder ein Darlehn von 150 Gulden, für welches ein Verwandter von ihm Bürgschaft leistet. Dieses öftere Aufnehmen von Darlehen könnte wohl beweisen, daß der von Haus aus begüterte Gutenberg inmitten seiner Erfinderthätigkeit stand, die Geldsummen wahrscheinlich für technische Versuche verausgabte und vielleicht schon sein ererbtes Vermögen zu demselben Zweck geopfert hatte. Dies wird auch von alten Schriftstellern bestätigt. So erzählt z. B. der Graf v. Zimmern in der Chronik über die Mainzer Erzbischöfe: „Unter der Regierung dieses Erzbischofs (1435 bis 1459) war die edele Buchdruckerkunst zu Mainz in der Stadt erfunden durch einen habehaften reichen Bürger daselbst, Hannes Gudenberger genannt, der alle seine Güter und sein Vermögen darauf verwenden that, bis er es zu wegen bracht.“

Ohne Zweifel wird um jene Zeit, d.h. um 1448 bis 1450, Gutenbergs Erfindung in den Haupttheilen bereits ausgebildet vorgelegen und greifbare Ergebnisse geliefert haben, denn nur so ist es erklärlich, daß der Erfinder einen Geldmann zu gewinnen vermochte, welcher ihm ein für jene Zeit sehr bedeutendes Kapital zur Verfügung stellte. Dieser Geldmann war der Mainzer Bürger Johann Fust, angeblich ein Goldschmied.

Mit ihm schloß Gutenberg 1450 einen Vertrag, nach welchem sich Fust verpflichtete, gegen 6% Zinsen 800 Gulden zur Herstellung der Typen, der Pressen und des Werkzeuges herzuleihen, sowie ferner jährlich noch 300 Gulden für Lohn, Miethe etc. zu zahlen, wogegen er Miteigentümer aller hergestellten Drucksachen war. Als Deckung für sein Kapital erhielt er die Typen und Werkzeuge zum Pfand. Der Vertrag wurde am 22. August 1450 geschlossen; mit diesem Tage beginnt also die praktische Ausübung der Buchdruckkunst und damit deren eigentliche Geschichte.

Jahre mögen vergangen sein, bevor Gutenberg mit seinen Gehilfen die vielen Bleitypen und all die anderen Hilfsmittel in derjenigen Vollkommenheit hergestellt hatte, welche sie zeigen mußten, um so vollendet schöne Druckwerke damit hervorbringen zu können, wie die Gutenbergbibeln sind, besonders die 42-zeilige. Auch können die 800 Goldgulden nicht entfernt zur Beschaffung der Werkzeuge genügt haben, denn wir wissen von Zeitgenossen, daß schon damals Buchdruckereieinrichtungen sehr kostspielig waren. In der That schoß Fust schon nach zwei Jahren zu der ersten Summe weitere 800 Gulden vor, unterließ es dagegen, jährlich die vertragsmäßig festgesetzte Summe von 300 Gulden zu zahlen.

Nachdem das Werkzeug fertiggestellt war, begann der Druck des ersten Buches. Man nimmt an, daß dies ein Donat, d.h. eine lateinische Grammatik, gewesen sei, was nicht unwahrscheinlich ist, da der Erfinder gewiß einen geringwertigen Druck als Gegenstand des ersten Versuchs auswählte. Ob er diesen Donat jedoch mit Fust zusammen druckte, ob vielleicht schon vor seiner Verbindung mit Fust, ist unbestimmt. Dagegen ist gewiß, daß er mit Fust den Druck einer Bibel begann, des ersten nachweislichen Druckwerkes. „Und im Jahre unseres Herrn, da man schrieb 1450, welches ein goldenes Jahr war, begann man zu drucken, und das erste Buch, welches man druckte, war die lateinische Bibel, und sie ward mit einer groben Schrift gedruckt wie die, mit welcher man jetzt Meßbücher druckt;“ so erzählt die im Jahre 1499 gedruckte Chronik der Stadt Köln, so bestätigen auch andere gleichzeitige Nachrichten.

Nun kennt man jedoch zwei Bibeln, deren Druck man Gutenberg zuschreiben könnte. Das thun auch einige Forscher, während andere annehmen, daß nur die eine, die sogenannte 42zeilige Bibel, von Gutenberg gedruckt sei, dagegen die andere, die 36zeilige, von seinem ehemaligen Gehilfen Pfister, welcher sich in Bamberg als selbständiger Drucker niedergelassen hatte. Keine der beiden Bibeln enthält eine Angabe des Druckers oder des Druckjahres, und man kann daher nur von der Schrifteigenthümlichkeit und anderen Umständen auf ihre Urheber schließen. Die 42zeilige Bibel wird fast einstimmig Gutenberg zugeschrieben. Dagegen ist über den Urheber der 36zeiligen (vgl. Abbildung 6) viel gestritten worden, doch neigen die neuesten Forscher bereits der Ansicht zu, daß dieselbe, als die ältere der beiden Bibeln, gleichfalls aus der Werkstatt Gutenbergs hervorgegangen sei.

Die von Gutenberg und dem Geldmann Fust gedruckte 42zeilige Bibel (Abbildung 3) gilt als Meisterstuck vollendeter Druckkunst und liefert den Beweis, daß die Buchdruckerkunst sofort in mustergültiger Reife und Abrundung vor die Welt trat.[1] Die Bibel sollte auf Pergament gedruckt werden, daneben wurden jedoch auch Papierexemplare mit hergestellt, denn solche finden sich 21 unter den noch vorhandenen 30 Gutenbergbibeln. Nach zeitgenössischen Aussagen druckten Gutenberg und Fust täglich 300 Bogen, wahrscheinlich die Höhe einer Auflage. Da nun um jene Zeit von gutem Papier, auf welches die Bibel gedruckt ist, das Ries 6 Pfund 8 Schillinge kostete, so würde zur Bibel bei 300 Exemplaren Auflage allein für 1200 Gulden Papier nötig gewesen sein. Unmöglich konnten die Druckausgaben von dem Fustschen Gelde mit bestritten werden, und man kann daher nur annehmen, daß Gutenberg die Pergament- und Druckkosten zum großen Theile selbst getragen habe. Auf jeden Fall wuchsen die Ausgaben im Laufe der Zeit zu bedenklicher Höhe an, ohne daß irgendwelche geschäftliche Einnahme erzielt wurde.

Fust als rechnender Geschäftsmann mochte daher wohl mißtrauisch gegen Gutenbergs Erfindung werden und das ganze Unternehmen bedenklich finden. Er hatte sich ohne Zweifel nur daran betheiligt, um Geld zu verdienen, und jetzt hatte er bereits 1000 Gulden in das Geschäft gesteckt, ohne Hoffnung auf baldige Einnahmen zu haben, ohne nur Zinsen für das Kapital zu erhalten. Fünf Jahre lang hatte Gutenberg mit seinen Gehilfen gearbeitet, und noch war kein Exemplar der Bibel fertiggestellt.

Endlich wurde Fust ungeduldig, verlangte sein Kapital mit dazu berechneten Zinsen und Zinseszinsen in Höhe von 2020 Gulden

[496]

Der Augustinerkeller in München.
Nach einem Gemälde von Ferd. Leeke.

[497] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [498] zurück und strengte im November 1455 gegen Gutenberg gerichtliche Klage an. Dieser wendete gegen Fusts Klage ein, daß die Zinszahlung wohl im schriftlichen Vertrage festgesetzt, ihm später aber durch mündliches Besprechen von Fust erlassen worden sei, und daß letzterer überdies den Vertrag selbst schon gebrochen, da er ihm die ausbedungenen 300 Gulden jährlich nicht gezahlt habe. Der Prozeß endete schließlich damit, daß Fust wohl mit seiner Forderung der Zinsen abgewiesen, Gutenberg aber verurtheilt wurde, Rechnung abzulegen und das Kapital zurückzuzahlen.

Was nun weiter geschehen ist, berichtet das „Helmaspergersche Instrument“, welches die Einzelheiten des Prozesses enthält, nicht mehr. Man nimmt an, daß Fust von seinem Pfandrechte Gebrauch gemacht und die verpfändete Buchdruckerei an sich genommen habe. Ob er jedoch auch den theilweise fertigen Bibeldruck mit pfänden konnte, oder ob er sich vielleicht mit Gutenberg hierüber gütlich geeinigt hat, ist mindestens sehr zweifelhaft. So viel steht fest, daß Fust mit dem Gutenbergschen Gehilfen Peter Schöffer, den er als technischen Leiter weiter beibehielt, die Buchdruckerei weiterführte, das angefangene Bibelwerk beendete und das Geschäft im Laufe der Zeit mit großem Glück und Geschick vergrößerte und zum bedeutendsten seiner Zeit erhob. Peter Schöffer erwies sich sowohl als tüchtiger Buchdrucker, wie auch als begabter Zeichner und gewandter Schriftschneider.

Abbildung 7. Aus der Mentelschen Bibel.

Gutenberg hatte die Typen noch in Bleimatrizen gegossen, Schöffer dagegen führte im Jahre 1459, eine Verbesserung ein. Er schnitt oder stach die Buchstaben auf Stahlstempel, schlug diese vertieft in Kupferplatten und goß die Typen in diese Kupfermatrizen ab, wodurch ein schärferes Schriftbild entstand. Fust erkannte bald, welche technische Kraft er an Schöffer besaß, und um ihn ganz an sein Geschäft zu fesseln, nahm er ihn als Theilhaber auf und gab ihm seine Tochter zur Frau.

Aus der Fust-Schöfferschen Druckerei ging im Jahre 1457 das „Psalterium“ hervor, ein Druckwerk von seltener Vollendung und Schönheit, in welchem zuerst der Mehrfarbendruck angewendet wurde. Denn in den Bibeldrucken waren die farbigen Anfangsbuchstaben und Verzierungen noch mit der Hand gemalt. Außerdem ist das Psalterium noch insofern merkwürdig, als es das erste Druckwerk ist, welches die Angabe des Druckers und Druckjahres enthält. Der Schluß desselben lautet in deutscher Uebersetzung:

„Vorliegendes Buch, der Psalmen, durch die Schönheit der Hauptbuchstaben geschmückt und mit unterscheidenden Rubriken hinlänglich versehen, ist durch die kunstreiche Erfindung des Druckens und der Buchstabenerzeugung ohne Feder so ausgeführt und zur Ehre Gottes mit Fleiß zustande gebracht worden durch Johann Fust, Bürger zu Mainz, und Peter Schöffer aus Gernsheim im Jahre des Herrn 1457, am Vorabende des Mariä- Himmelfahrtstages.“ –

Ueber Gutenbergs weitere Schicksale finden sich in den nächsten Jahren keine urkundlichen Nachrichten vor. Es ist möglich, daß er Mainz verließ und sich wieder nach Straßburg wendete, vielleicht daß er auch durch Versprechungen des Straßburger Bürgers Johann Mentel dahin gezogen wurde, um diesem eine Druckerei einzurichten. Mentel that sich später als unternehmender Buchdrucker hervor und machte Fust empfindliche Konkurrenz. Er war auch der erste, welcher eine vollständig ausgebildete Antiquaschrift in den Buchdruck einführte. Mit dieser druckte er seine Bibel von 1463, von welcher Abbildung 7 eine Probe zeigt.

Gutenberg scheint sich bald wieder nach Mainz gewendet zu haben, wo er eine neue Buchdruckerei einrichtete und mehrere Jahre betrieb. Das hierzu nöthige Geld soll ihm ein vermögender Mainzer, Dr. Konrad Humery, gegen Sicherstellung durch die Schriften und Pressen vorgeschossen haben. Aus dieser Druckerei ging neben mehreren kleinen Drucken 1460 ein Riesenwerk hervor, das „Katholicon“, ein damals beliebtes, eigenartiges grammatikalisches Wörterbuch, man könnte sagen ein Konversationslexikon des Mittelalters, verfaßt von Johannes Balbus aus Genua. Dieses Werk umfaßt zwei Bände groß Folio, 373 Blätter, von denen jedes zweispaltig mit kleiner Schrift gedruckt ist. Am Ende ist gleichfalls ein Schlußwort angefügt, ähnlich wie bei Schöffers Psalter, jedoch ohne Nennung des Druckers; es lautet auf deutsch:

„Unter dem Beistand des Allerhöchsten, aus dessen Wink die Zungen der Kinder beredt werden, und der oft den Kleinen offenbart, was er den Weisen verbirgt, ist dieses treffliche Buch Katholicon im Jahre der Menschenwerdung des Herren 1460 in der guten Stadt Mainz, angehörig dem ruhmreichen deutschen Volke, welches die Gnade Gottes mit so hohem Geisteslichte und freiem Gnadengeschenk den andern Völkern vorzuziehen und berühmt zu machen für würdig gehalten hat, nicht vermittelst des Rohrs, Griffels oder der Feder, sondern durch der Formen wundervolles Zusammenpassen, Verhältniß und Ebenmaß der Patronen gedruckt und vollendet worden.“

Einige Jahre nach der Herausgabe des Katholicon kam über Mainz eine böse Zeit der Verwüstung. Zwischen Adolf von Nassau und Erzbischof Diether brach offener Kampf aus, ersterer besiegte letzteren, erstürmte am 28. Oktober 1462 die Stadt Mainz und ließ sie durch seine Scharen plündern. In diesem Kriegstrubel wurde die Fust-Schöffersche Druckerei zerstört und konnte erst nach zwei Jahren wieder in Betrieb gesetzt werden. Die arbeitslosen Gehilfen wanderten zum Theil aus und trugen die neue Kunst in alle Länder. Die Gutenbergsche Druckerei dagegen blieb so ziemlich verschont. Dennoch verließ Gutenberg Mainz und siedelte nach Eltville über, der Residenz des neuen Erzbischofs Adolfs von Nassau. Dieser ernannte Gutenberg 1465 „für die ihm und seinem Stift geleisteten willigen Dienste“ zum Hofdienstmann und schützte ihn durch die karge Besoldung von 20 Maltern Korn, zwei Fudern Wein und jährlich einem neuen Kleid vor den äußersten Nahrungssorgen. Welcher Art die Dienste gewesen sind, die Gutenberg dem Erzbischof geleistet hat, wissen wir nicht, doch scheint sich die Belohnung keineswegs auf die Erfindung der Buchdruckerkunst zu beziehen, sondern auf persönliche Dienstleistungen.

Nun war auch die irdische Pilgerzeit des vielgeprüften, rastlosen Erfinders bald abgelaufen. Ein letztes Schriftstück vom 24. Februar 1468 enthält die Erklärung, daß der Erzbischof den Dr. Konrad Humery im Besitz der Druckerei des verstorbenen Johann Gutenberg gelassen habe. Auf Grund dieser Urkunde nimmt man 1468 als das Todesjahr Gutenbergs an, allerdings wieder mit dem Vorbehalt, daß die fragliche Urkunde echt ist. Die Ueberlieferung erzählt ferner, daß Gutenberg in seinen letzten Lebensjahren infolge der Ueberanstrengung seiner Augen erblindet gewesen sei; doch ist auch diese Nachricht nicht erwiesen.

Im ganzen schwebt das Bild des Mannes, dem die Welt eine der größten Erfindungen verdankt, in nebelhafter Ferne. Hätte er seinen Namen auf einem Druckwerke genannt, so wäre aller Streit und aller Zweifel gehoben. Warum er dies nicht that, ist und bleibt eins der großen Räthsel, die den merkwürdigen Mann in seinem ganzen Thun umgeben. Man hat nach Erklärungen für sein räthselhaftes Schweigen gesucht und glaubt annehmen zu können, daß er sich deshalb nicht als Drucker und Verleger nannte, weil er tief verschuldet war und seinen Gläubigern durch Namensnennung keine Handhabe zu Pfändungen bieten wollte. Ist diese Annahme richtig, so hat Gutenberg allerdings eines der herbsten Erfinderlose gezogen. Nachdem er sein Vermögen dem großen Gedanken geopfert hatte, um ihn zur That zu machen durfte er sich nicht einmal als Vater dieser That, nicht einmal als Schöpfer eines Druckwerkes und als Erfinder der vielgepriesenen Buchdruckerkunst nennen. Seine Nachahmer sonnten sich in den Erfolgen, welche dem Meister gebührten, und er, der verschuldete, von seinen Gläubigern verfolgte Gutenberg, mußte seinen eigenen Namen verleugnen, mußte den Aufdruck desselben auf seine Druckwerke unterlassen, um diese nicht als Pfandgut an die Gläubiger ausliefern zu müssen! Und dabei pries ihn sein Zeitgenosse Wimpheling als den „glücklichen Johannes, durch dessen Erfindung Deutschland in allen Ländern Preis und Lob erntet!“ –

Die Erstürmung von Mainz durch Adolf von Nassau hatte, wie oben schon gesagt, die Zerstreuung der dortigen Druckergehilfen zur Folge. Gewaltsam aus der Stadt vertrieben, [499] fühlten sich diese zugleich ihres Eides der Verschwiegenheit entbunden, und ohne Rücksicht auf ihre früheren Arbeitgeber unternahmen sie in allen Ländern, wohin sie das Schicksal geworfen hatte, die Gründung von Buchdruckereien. So verbreitete sich die junge Kunst im Fluge durch ganz Europa. Bereits 1465 wurde sie in Italien eingeführt, 1648 in der Schweiz, 1470 in Frankreich, 1474 in den Niederlanden, 1475 in Spanien, 1477 in England, 1483 in Skandinavien, 1490 in Dänemark etc. Am Ende des Jahrhunderts gab es nicht weniger als 910 Buchdruckereien.

Die Druckwerke, welche von der Erfindung der Buchdruckerkunst bis zum Jahre 1500 hergestellt wurden, pflegt man „Inkunabeln“ oder „Wiegendrucke“ zu nennen. Die Zahl derselben ist größer, als man vielfach annimmt. Van d. Linde berechnet die noch vorhandenen Bücher und Flugschriften auf mehr als 30 000 selbständige Werke, wozu noch eine große Zahl kommt, die uns nicht erhalten geblieben sind. Rechnet man eine durchschnittliche Auflagehöhe von 500 Exemplaren, so kann man annehmen, daß bis zum Jahre 1500 mindestens insgesammt 15 Millionen Bücher mit Hilfe der neuerfundenen Buchdruckerkunst hergestellt und wohl auch verbreitet waren. Die antiquarisch werthvollsten derselben sind natürlich die von Gutenberg herrührenden, vor allem die 36- und die 42zeilige Bibel. Von ersterer sind bis jetzt 9, von letzterer etwa 30 mehr oder minder vollständige Exemplare bekannt, die in verschiedenen Bibliotheken aufbewahrt werden. So Exemplare der 36zeiligen Bibel in Wolfenbüttel, Jena, Leipzig, Stuttgart, Wien, Paris, Althorp (Lord Spencer), London, Antwerpen. Exemplare der 42zeiligen Bibel liegen in Aschaffenburg, Klein-Bautzen, Berlin. St. Blasien (Schwarzwald), Leipzig, Erfurt, Frankfurt a. M., Fulda, Mannheim, München, Rebdorf an der Altmühl, Trier, Wien, London, Althorp, Paris, Petersburg und Rom.

Die Preise, welche heute für Gutenbergbibeln gezahlt werden, schwanken je nach dem Schmuck der Anfangsbuchstaben und der Sauberkeit der Exemplare zwischen 50 000 bis 80 000 Mark. Das Pergamentexemplar der Klemmschen Sammlung - setzt Buchgewerbemuseumin Leipzig - kostete 66 000 Mark; ein Papierexemplar der heiligen Bibel wurde 1868 in London für 52960 Mark verkauft, ein Pergamentexemplar des Brauers Perkins in London 1873 für 78 000 Mark. Hätte Gutenberg vor 450 Jahren das Kapital zur Verfügung gehabt, welches jetzt die Bücherliebhaber für ein einziges seiner Druckwerke bezahlen, so hätte er seine Erfindung sorgenlos zur höchsten Vollkommenheit ausbauen können und wäre nicht gezwungen gewesen, um die Theilnahme engherziger Geldleute zu betteln und schließlich von den Almosen eines Bischofs zu leben.



Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[2]

Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller.
4. Deutsche Hinterwäldler.
a. Waldschnepfe. (Mit Abbildung Seite 485.)

Die Jagd ist eine gute Schule für die Beobachtung des Lebens der Thiere, und wir verdanken diesen Sport die Entdeckung vieler verborgenen Züge. Bon unseren braven Hühnerhunden war es die leichtfüßige, gewandt schleichende Bella. die uns gar oft vor die Werkkammer der Schnepfe, dieses Waldvogels mit dem versteckten Wesen und Wandel, brachte. Bella überraschte manchmal die Schnepfe so sehr, daß diese sich mit gesträubten Federn, aufgerichtetem Schwanze, hängenden Flügeln und mit aufgesperrtem Schnabel zischend wie eine erboste Ente dem Hunde entgegenstellte. Gewöhnlich aber schlich sich der Hund, von der Schnepfe unbemerkt, an den Lagerplatz. Wir, denen an der Beobachtung des Wandels der geheimnißvollen Waldschwester viel gelegen war, nahten uns, wenn der Hund vorstand, mit der größten Behutsamkeit und forschten bald den Gegenstand unseres Interesses aus.

Da lag nun oft die Entdeckte, im Gefieder täuschend ähnlich dem Waldbodenlaube, wie ein todtes Wesen an der Erde, den Schnabel seitwärts nach dem Boden gedrückt, mit schlaff herabhängendem Kopfe. Das war die Lage der Ruhe. Oder der Vogel war dem Ernährungsgeschäfte, dem sogen. Bohren, so emsig hingegeben, daß er nichts zu hören und zu sehen schien.

Den langen Tastschnabel bei jedem wackeligen Schritte auf den Boden vorstoßend, macht die Schnepfe mit gekrümmtem Rücken und losem Federkleide lebhaft den Eindruck eines am Stabe sich bewegenden alten Weibchens. Dabei stechen die großen dunklen Augen des viereckigen Kopfes, der halb nickend, halb vorstoßend sich bewegt, hervor. Plötzlich biegt sich die obere Kinnlade zangenartig und der Schnabel schickt sich an, Blätter und Geniste des Waldbodens emsig und behende umzuwenden. So thut die Schnepfe, wenn sie Kerfen in jeder Form und Gewürm über dem Boden sucht. Doch nun senkt sich auf einmal das rührige Tastwerk tiefer und tiefer in die Erde, um sodann mit den Sehnen des Oberkiefers ein ruckweises Zittern zu beginnen. Dies scheucht hier und dort einen Regenwurm aus den Gängen empor, der, blitzschnell von den leuchtenden, wachen Augen der Schnepfe entdeckt, mit der lebendigen Greifzange gepackt und verschlungen wird. Doch gleich darauf bereitet das Thier uns noch einen viel merkwürdigeren Anblick seiner Ernährungsart. Tief bis zur äußersten Ecke der Mundspalte ist wieder der Schnabel in den Boden gebohrt, und der Vogel arbeitet mit sichtlicher Anstrengung in der Erde. Mit einem Mal fährt er rückwärts und schnellt den Schnabel mit solcher Heftigkeit heraus, daß das Thier sich förmlich überschlägt und auf den Rücken fällt. In dem Schnabel unter dem Bohrknopfe der oberen überstehenden Kinnlade zappelt ein Regenwurm, die Beute des Erdbohrens, die sogleich verschlungen wird.

Die merkwürdige Einrichtung dieses Tast- und Greifschnabels erweckte zuerst unsere Aufmerksamkeit, als wir an einigen geschossenen Schnepfen wiederholt sahen, daß sich die obere Kinnlade beim Todeskrampfe in einem starken Bogen nach oben krümmte. Der Schnabel besteht aus vielen großen langgestreckten Knochenzellen; von der Mitte an bis zur Spitze kann der Oberkiefer mittels eines starken Muskelpaares nach oben und das knopfartig übergreifende Ende etwas nach unten gebogen werden, so daß der ganze Schnabel in der oben beschriebenen Form einer Greifzange erscheint. Die Kinnladen führen viele feine Nerven, welche sich in der Schnabelhaut verzweigen und hierdurch den Schnabel zum vorzüglichen Tastwerkzeuge gestalten. Mit diesem untersucht, wie beschrieben, das Thier den moderigen Waldboden nach den Gängen und Kammern der Würmer und Kerfe, findet dieselben kraft eines seinen Gefühls und ergreift den gefundenen Gegenstand, so daß er hinter den vergreisenden Bohrknopf der Spitze des Oberschnabels zu liegen kommt. Nachdem die Muskelvorrichtung diesen sodann gewaltsam in dem weichen Boden gehoben und dadurch den Bohrgang erweitert hat, schnellt der Vogel sich mit um so größerer Kraft rückwärts, je tiefer im Erdreich er die Beute gepackt hat.

Aber wenden wir weiter unsere Blicke der eigentümlichen Leibesbildung des Vogels zu! Zuerst fällt die Gestaltung seines Kopfes auf. Das Auge hat eine ungewöhnlich hohe Stellung weit zurück am Hinterkopfe. Dies rührt von der sonderbaren Verschiebung des Kopfknochengerüstes her, infolge deren die Stirn sehr hoch erscheint und auch die Ohren nicht wie bei den übrigen Vögeln hinter den Augen, sondern dicht unter denselben stehen. Auch auf die Stellung des Genicks wirkt diese Verschiebung, indem

[500] der Hinterkopf mit dem Halswirbelgerüste einen spitzen Winkel bildet, wonach die Richtung des Schnabels mehr nach unten als gerade aus geht. Ein so sonderbares, auffallendes Aussehen diese Einrichtung der Schnepfe verleiht, insofern der Schnabel beim Gang und Fluge senkrecht nach unten gerichtet ist, ein so großer Vortheil bei dem Ernährungsgeschäfte ist damit verbunden, denn der Vogel kann den Schnabel mit dem Hebel des Halses vermöge der senkrechten Stellung zum Boden um so leichter und nachhaltiger anwenden.

Einer eingehenden Beschreibung der Färbung bedarf es nicht. Es genügt, wenn wir uns die Zeichnung des Federkleides in seinen dunkelsten Stellen schwarz, in den mittelstarken und feineren Wellenformen mehr oder weniger dunkelbraun, in den helleren Schattirungen braun- und graugelb denken. Der in der Größe einer Haustaube gleichende Vogel erscheint wegen seines kurzen, von den Flügelspitzen fast ganz bedeckten Schwanzes kürzer, als er in Wirklichkeit ist, ein Umstand, der dem Vordertheile mit dem 7 cm langen Schnabel und dem großen, eckigen Kopfe noch mehr Auffallendes verleiht.

Und in Wahrheit, das Aeußere sowohl als das Betragen geben dem Vogel ein eigenthümliches Gepräge, das an Anziehungskraft noch gewinnt durch die Heimlichkeit und Abgeschiedenheit seines Lebens. „Hinterwäldler“ haben wir die Schnepfe benannt, und ein solcher ist sie in der That. In ihrem über fast ganz Europa, den hohen Norden ausgenommen, über Mittelasien und Nordafrika sich erstreckenden Verbreitungsgebiet erweist sie sich als echter Waldvogel. Die tiefen, einsamen Gebirgswaldungen in unserem Vaterlande zieht sie jedem anderen Aufenthalte vor. Hier ist sie das im dämmerigen Verstecke der Dickichte oder des Unterholzes vereinsamt ein geheimnißvolles Wesen treibende Thier, der unbestritten interessanteste Gegenstand der sogenannten niederen Jagd, ja für uns Weidmänner das anregendste Wildgeflügel. Sie eröffnet nach der Einförmigkeit des Winters den Reigen der Frühlingsjagd. Ein unbeschreiblich süßer Zauber überkommt den Jäger beim ersten Ruf der Singdrossel, die sich im Wehen der erwachenden Natur in den heimischen Forst geschwungen, oder bei den jauchzenden Rufen eines Kranichzuges hoch in den Lüften; denn mit den ersten Klängen dieser Frühlingsboten mischt sich die Erinnerung an den romantischen Reiz der Schnepfenjagd, und in der Brust jedes echten deutschen Jägers ertönt es lebhaft. „Oculi – da kommen sie!“

Die Kenntniß des Familienlebens unseres Vogels liegt noch sehr im Dunkel. Verbände der Jäger und der Forstmann mit seinem Jagdeifer gleichzeitig auch stets einen regen Trieb nach Erforschung des Lebens unserer Waldthiere, dann wäre schon das Dunkel mehr gelichtet. Offenbar ist es, daß die Schnepfe im Vergleich mit anderen nahestehenden Vögeln beim „Atzen“ ihrer Brut eigenartig genug verfährt. Sie füttert die zartbeflaumten Kleinen anfangs aus dem Schnabel, erst später wirft sie die Atzung den Jungen, wie der Storch und Reiher, vor. Ebenso eigentümlich weiß das Schnepfenpaar die Brut aus dem Bereiche drohender Gefahr zu entführen. Die unselbständigen Jungen trägt die alte Schnepfe fliegend im Schnabel davon, größere, aber noch nicht flügge Nachkommenschaft wird zwischen die „Ständer“ (Beine) geklemmt und so durch die Luft getragen. Dabei lassen die Alten durchdringende pfeifende Angstrufe hören, die man sonst nicht vernimmt.

Neuerdings begegnet man der Angabe, die Schnepfe verbände sich selbst zerschossene Gliedmaßen, besonders die Füße. Thatsächlich verhält sich die Sache aber, wie wir in unserem Werke „Thiere der Heimath“ näher ausgeführt haben, folgendermaßen: Der verletzte Vogel hebt den kranken Fuß und zieht ihn am Leibe unter die Bauchfedern ein oder legt sich ausruhend nieder, wobei der Fuß unter die Federn kommt. Diese kleben fest, der „Schweiß“ (das Blut) gerinnt und beim Aufstehen oder bei der Trennung des Fußes vom Leibe gehen die anklebenden Federn los und legen sich allmählich rund um die Umgebung der Wunde. Bei den leicht vorkommenden Anstößen schweißt die Wunde nach, und neue Wundfedern gesellen sich zu den alten, und zwar in verschiedener Lage, so daß eine Art Geflecht entsteht. Zur Bildung eines solchen natürlichen Verbandes ist gar keine Schnabelhilfe nöthig, es formt sich alles von selbst. Eine Baumlerche (Alauda arborea) und neuerdings ein Kanarienvogel, der das eine Bein gebrochen hatte, haben uns dies in der Gefangenschaft zur Genüge klar gemacht. Also zu einem geschickten Chirurgen können wir doch unsere Waldschnepfe nicht stempeln.

Die Schnepfe brütet in einer flachen Mulde frei im Bodenlaube des Waldes, ohne immer auf eine leichte Bedeckung durch Gestrüpp und Farnkraut Bedacht zu nehmen, so hingebend und fest, daß man sie fast berühren kann. Schon anfangs Juni sind die jungen Schnepfen flügge. Dann „streichen“ sie bis Ende Juli mit der Alten in der Morgen- und Abenddämmerung auf den Brutplätzen in Gebirgswaldungen umher, bei welchen Ausflügen die alten Männchen laut balzen. Diese Balzlaute – die wie „Pst – Quak“ klingen – kündigen eine zweite Brut an, aus welcher wahrscheinlich die thatsächlich in Menge vorkommenden kleineren und etwas abweichend von den größeren Exemplaren gefärbten, sogenannten „Dorn“- oder „Steinschnepfen“ hervorgehen. Die männlichen Schnepfen allein lassen diese Balzrufe in der Luft hören, während die Weibchen in der Regel still im Holze liegen und den vorbeistreichenden Männchen nur mit pfeifenden Lauten antworten, zuweilen aber auch fliegend, von den hitzigen Männchen verfolgt, zwitschernde Töne vernehmen lassen. Die in der Luft beim Striche vorfallenden Kämpfe – das sogenannte „Stechen“ – sind Raufereien der eifersüchtigen Männchen, die sich mit Schnäbeln und Zehen unter Pfeiflauten oft stark zusetzen, so daß die Federn stieben.

Es liegt ein romantischer Zauber in dem Jagen der Schnepfen im Frühjahr, und leidenschaftlich folgt der deutsche Jäger seinem erwachenden Jagdeifer in das rauschende Waldrevier, das von dem melodischen Rufen der heimgekehrten Drosseln und dem glöckchenhellen Liede des Rothkehlchens erschallt.




Madonna im Rosenhag.

Roman von Reinhold Ortmann.
(Fortsetzung.)


Hudetz kam, je inniger er den so lange entbehrten süßen Klang von Mariens Stimme auf sich wirken ließ, doch endlich zu der Einsicht, daß es sich um etwas anderes handeln müsse, als um das Studium einer Rolle; denn nun antwortete eine tiefe, ruhige Männerstimme, welche ganz gewiß nicht die Stimme eines Schauspielers war:

„Nicht auf mich oder auf meine Angehörigen sollst Du Rücksicht nehmen, Marie, aber auf Dich selbst, auf Deinen Ruf und Deine Zukunft. Ich habe Deinen Namen auf den Anschlagzetteln eines Theaters gelesen und –“

„Und es hat Dich mit tiefem Entsetzen erfüllt, nicht wahr – obwohl Du doch sonst so frei bist von kleinlichen Vorurtheilen?“ fiel sie ihm ins Wort. „Irgendwo ist also auch für Dich die Grenze, über welche man einen adeligen Namen, Deinen Namen wenigstens – nicht tragen soll?“

„Du mißverstehst mich, wie Du mich leider schon mehr als einmal mißverstanden hast. Ich schätze die Schauspielkunst keineswegs gering, und ich würde mir nicht das Recht nehmen, Dich zu warnen, wenn es eine reine, heilige Kunstbegeisterung wäre, die Deinen Entschluß bestimmt hat – wenn Du einem unwiderstehlichen inneren Zwange gehorchtest, wie ihn wohl das Genie empfinden mag – ja, wenn Du auch nur eine Aussicht hättest auf jene rauschenden und berauschenden Erfolge, die wenigstens für flüchtige Stunden über die Bitternisse und Erniedrigungen eines Schauspielerinnendaseins hinwegtäuschen können.“

Hudetz athmete rascher; sein lauschendes Ohr lag fast an der Spalte der schlecht schließenden Thür, denn nun plötzlich war eine leidenschaftliche Theilnahme an dem Inhalt der Unterredung, da drinnen stattfand, über ihn gekommen. Wer war der unsichtbare Sprecher, der es wagen konnte, seiner Madonna solche Dinge zu sagen? Aber wer es auch sein mochte, und woher immer sich seine Rechte schrieben – jedenfalls war es

[501]

Das Treideln auf der Havel.
Zeichnung von W. Stöwer.

[502] gewiß, daß er ihn schon nach diesen Worten haßte, bitterlich, unversöhnlich, tödlich haßte!

Sekundenlang war es drinnen still. Konnten die Beleidigungen des Unverschämten ihr wirklich solchen Eindruck gemacht haben? Fürchtete sie sich vielleicht gar vor ihm, daß sie es nicht wagte, ihm nach Gebühr zu erwidern? O, wenn er ihr nur hätte ein Zeichen geben können, daß sie einen Beschützer in der Nähe habe, einen Freund, der bereit war, das Aeußerste zu thun, wenn es ihr zum Heile dienen konnte!

Da – nun endlich sprach sie, aber sie sprach mit gedämpfter Stimme, unsicher und beinahe zaghaft.

„Von alledem also soll ich Deiner Meinung nach nichts besitzen! Nicht einmal das bescheidene Talent, das wenigstens die Möglichkeit eines Erfolges offen ließe! Nun wohl, vielleicht hast Du recht! Aber wenn es weder die Begeisterung für die Kunst noch der unwiderstehliche Drang des Genius war, was mich zum Theater geführt hat, so muß es wohl eine andere, schwerwiegende Veranlassung gewesen sein – ein Beweggrund, der mächtiger und zwingender war als jene.“

„Und kannst Du zweifeln, daß ich ihn errieth – in demselben Augenblick errieth, als ich Deinen Namen auf dem Komödienzettel las? Nicht um der Kunst willen und nicht um Dir aus eigener Kraft Dein Leben zu gestalten, thatest Du diesen verhängnißvollen Schritt, sondern Du thatest ihn, um eine unerhörte Beleidigung auf unerhörte Weise zurückzuzahlen – Du thatest ihn, weil Du wußtest, daß Du meinen Vater und sein Haus nicht empfindlicher treffen könntest als mit diesem Schlag.“

„Und dürftest Du mit mir rechten, wenn dies die Wahrheit wäre? – Ja, man hat mir im Hause des Generals von Brenckendorf, unter seinen Augen wie unter den Deinigen, eine unerhörte, eine tödliche Beleidigung zugefügt, und da niemand seine Hand erhoben hat, den Schimpf zu rächen, den man einem vertrauenden, wehrlosen Mädchen angethan hat, wer wollte es mir wehren, nun selbst Vergeltung zu üben? Es ist ja nichts Unrechtes, kaum etwas Unweibliches, was ich damit thue. Ich denke nicht daran, Euren Weg zu kreuzen, und ich werde Euch gewiß nicht hindern, mich zu verleugnen, wie Ihr meinen Bruder verleugnet habt.“

„Aber Du weißt sehr wohl, daß von solcher Verleugnung nicht die Rede sein konnte, nachdem Du nicht nur den Besuchern unseres Hauses, sondern fast der ganzen Berliner Gesellschaft als eine nahe Verwandte meines Vaters bekannt geworden bist. Herr Constantin Rainer, der Dir allem Anschein nach so bereitwillig den Weg auf die Bühne seines Theaters geebnet hat, wußte gut, wo dabei der Vortheil für ihn liegen würde. Am Tage Deines ersten Auftretens werden das Parkett und die Logen des Schillertheaters ohne Zweifel überfüllt sein von jenen guten Bekannten, die an dem Ungemach ihrer lieben Freunde einen noch viel fröhlicheren Antheil nehmen als an ihrem Glück. Mit eigenen Augen wird jeder einzelne sich überzeugen wollen, daß die Schauspielerin, welche ihren Namen mit gespreizten Buchstaben in den Zeitungen und an den Straßenecken bekannt machen ließ, dieselbe Baronesse Marie von Brenckendorf ist, der man noch vor wenig Wochen in den vornehmsten Salons von Berlin seine Huldigungen darbrachte. Man wird flüstern und zischeln, und die Geschichte von einem peinlichen Vorgang auf dem großen Wohlthätigkeitsbazar wird in hundert neuen Wendungen und mit hundert neuen Erläuterungen von einem hämischen Munde zum andern gehen. Und mein Vater, mein Bruder, meine Schwester, sie werden während der folgenden Tage und Wochen in tausend unschuldigen Fragen, tausend harmlosen Anspielungen unzählige von jenen schmerzhaften Nadelstichen empfangen, die unerträglicher sind als ein tief gehender Schwertstoß. Was könnte ihnen da alles Verleugnen und Beschönigen frommen? Du wirst Deine Rache haben, grausamer und vollständiger, als irgend ein Mann sie statt Deiner nehmen könnte.“

„Soll ich Mitleid haben mit denen, die ohne Mitleid waren für mich? Ihr Hochmuth hat mich in den Staub getreten – sollte es mich nicht freuen, sie gerade in ihrem Hochmuth getroffen zu sehen?“

„Nein, es sollte Dich nicht freuen, Marie,“ klang es ernst und fest zurück, „und ich weiß, daß es Dich im Grunde Deines Herzens unmöglich freuen kann. Deine Vergeltung träfe ja die Unschuldigen härter als die Schuldigen. Engelbert ist in seinem Leichtsinn fest genug gepanzert, um die kleinen vergifteten Pfeile der Bosheit und der hämischen Schadenfreude leicht von sich abzuschütteln, meine arme Schwester aber wird schwer von ihnen zu leiden haben, um so schwerer, als sie Dich aufrichtig liebt.“

„Du weißt Dich Deiner Aufgabe mit meisterlichem Geschick zu entledigen, Lothar. Dein Vater hätte seine Sache wahrlich keinem besseren Anwalt übertragen können.“

„Ich bin nicht gekommen, um meines Vaters Sache wahrzunehmen, Marie! Er weiß von meinem Hiersein so wenig als meine Geschwister, und sie werden durch mich nie davon erfahren. Was mein Bruder Dir angethan, hat auch mich mit Groll und Verachtung gegen ihn erfüllt, und ich würde keinen Finger rühren, Dich an der Ausübung Deiner Rache zu hindern, wenn nicht derselbe Schlag, welcher jene verwunden soll, Dich selber vernichten könnte. Der Weg, den Du gehen willst, ist ein Weg ins Verderben; denn die Welt der Coulissen wird niemals die Deinige werden können – niemals! Dein Bruder hat es abgelehnt, Dir hindernd entgegenzutreten, wie ich es von ihm verlangte, und ich zweifle nicht, daß er es aus den rechtschaffensten Beweggründen gethan hat. Ich aber hielt es trotzdem für meine Pflicht, Dich zu warnen, weil ich Dir so gern all das herbe Leid ersparen möchte, das Du im Begriff bist, über Dich heraufzubeschwören!“

War es der ungestüme Schlag seines eigenen Herzens, das Sausen des Blutes in seinen Ohren, das Hudetz verhinderte, ihre Erwiderung zu verstehen? Oder hatte sie wirklich so leise gesprochen, daß er ihre Worte nur wie ein undeutliches Gemurmel vernahm? Er war in einer unbeschreiblichen, verzehrenden Aufregung, in einem Zustande, der von völliger Sinnlosigkeit wahrlich sich kaum noch unterschied. Seine durch den Branntweinrausch beschränkte Denkfähigkeit und seine Unkenntniß der vorausgegangenen Ereignisse hatten ihn von dem belauschten Gespräch nur soviel mit Gewißheit begreifen lassen, daß Marie von Brenckendorf eine tödliche Beleidigung angethan worden war und daß ihr Besucher sie hindern wollte, Vergeltung für dieselbe zu üben. Das allein wäre schon mehr als hinreichend gewesen, um dem gährenden Groll in seinem Innern eine bestimmte Richtung zu geben. Aber es war noch etwas anderes da, das seine sonst so scheue, furchtsame Natur aufstachelte bis zur Raserei! Das war der warme, herzliche, ja, fast zärtliche Klang, den die letzten Worte des Unbekannten gehabt hatten, – das war die blitzartig durch sein blutüberfülltes Gehirn zuckende Vermuthung, daß jener nur danach trachte, Marie ihrer Kunst abwendig zu machen, um sie für sich selber zu gewinnen.

Es kam ihm nicht zu klarer Erkenntniß, daß es Eifersucht, leidenschaftliche, wilde, unbezähmbare Eifersucht sei, welche ihn da packte und schüttelte wie einen Fieberkranken das beginnende Delirium; er war ja überhaupt nicht mehr imstande, irgend etwas zu erkennen oder zu erwägen, Selbst die Schärfe seiner Sinne schien eine erhebliche Einbuße erlitten zu haben; denn obwohl er noch immer angestrengt lauschte, vermochte er doch nur noch einzelne, abgerissene Worte zu verstehen. Der Unbekannte war es, der jetzt fast ausschließlich sprach. Er mochte Marie die Gefahren, die Bitternisse, die unausbleiblichen Enttäuschungen schildern, denen sie sich aussetzte, wenn sie auf ihrem Entschluß beharrte – und daß sie ihm so geduldig lauschte, daß sie ihn kaum ein einziges Mal mit leisem Einwurf unterbrach, erfüllte Hudetz mit der wahnsinnigen Angst, der andere könnte ihren Widerstand wirklich besiegen, könnte sie wirklich gefügig machen für seine schändlichen Wünsche.

Aber endlich – nach einer Zeit, deren Dauer der Harrende nicht zu schätzen vermochte, weil sie ihn in seiner athemlosen Spannung eine nimmer endende Ewigkeit dünkte, – hörte er doch Marie sagen:

„Peinige mich nicht länger, Lothar! – Es ist unmöglich, ich kann nicht mehr zurück. Und ich will es auch nicht. Laß mich also unangefochten den Weg gehen, für den ich mich entschieden habe. Führt er mich wirklich in das Verderben, so wird Dein Gewissen doch jetzt beruhigt sein. Du hast mich ja gewarnt, und es war mein eigener Wille.“

„Du bist unwiderruflich entschlossen, am Sonntag aufzutreten?“

„Unwiderruflich!“

[503] „Und Du willst mir nicht einmal die schwache Hoffnung lassen, daß Du inzwischen noch anderen Sinnes werden könntest, willst mir nicht gestatten, morgen oder übermorgen wiederzukommen, um Deine letzte Meinung zu hören?“

„Nein! Es wäre nichts als die nutzlose Wiederholung einer peinlichen Scene, die uns beiden nur schmerzliche Eindrücke hinterlassen kann. Ich habe mit der Vergangenheit gebrochen, und ich möchte durch nichts und durch niemand mehr an diese Vergangenheit erinnert werden.“

„Ah!“ athmete Hudetz auf. „Nun muß er ja gehen!“

Aber der Unbekannte ging noch nicht, wenn er auch offenbar bis hart an die Thür getreten war. Nach einer sekundenlangen Pause sagte er:

„Ich ahnte freilich nicht, Marie, daß mein Anblick Dir so sehr verhaßt sei. Mußt Du diesen ehrlichen Warnungen nur darum einen so unbeugsamen Trotz entgegensetzen, weil sie aus meinem Munde kommen?“

Da klang es heftig wie aus einem schmerzgequälten Herzen, das nicht länger die Kraft der Selbstbeherrschung besitzt, zurück:

„Frage mich nicht, Lothar! Laß Dir genug sein an dem, was Du von mir gehört hast! Ich will nicht gezwungen sein, Dich für meinen Freund zu halten – ich will nicht – ich will nicht! – Glaube immer, daß ich Dich hasse! Wenn wir jetzt als Feinde scheiden, scheiden wir doch wohl für immer!“

„Ja, für immer, Marie! – Aber Freund oder Feind – ich werde handeln, wie meine Pflicht es mir gebietet.“

Die Thür knarrte und Hudetz hatte eben noch Zeit, sich in den dunkeln Winkel neben dem Schrank zu flüchten, denn ein breiter Strom hellen Tageslichtes fiel jetzt auf den Vorplatz heraus. Und inmitten dieses Lichtes, das Hudetz’ nach der langen Finsterniß geblendeten Augen wie überirdischer Glanz erschien, sah er die hohe, schlanke Gestalt seiner Madonna, das blonde Köpfchen tief gesenkt wie in bitterem Weh. Er sah, daß sie eine rasche Bewegung machte, als wollte sie den Davoneilenden halten, und daß sie dann plötzlich mit hörbarem Schluchzen das Gesicht in den Händen verbarg. Sein Athem stockte; etwas Eiskaltes rieselte ihm über den Rücken herab. Er hatte keinen Gedanken mehr, ein wildes Rauschen, Sausen und Klingen war vor seinen Ohren, und mit Anstrengung riß er die Augen auf, weil es sich plötzlich wie ein blutrother Schleier vor ihnen ausbreitete.

Eine dunkle, schattenhafte Gestalt ging mit festen, langsamen Schritten an seinem Versteck vorüber – das war er, ihr Feind, ihr Verfolger, ihr Peiniger – der Mann, den er haßte wie keinen sonst auf der Welt. Die Hände des Studenten ballten sich zu Fäusten, alle seine Muskeln strafften sich, und es überkam ihn ein Gefühl riesenhafter körperlicher Kraft.

„Tödte ihn!“ klang es ihm ins Ohr. „Tödte ihn!“ Und alles, was er jetzt mit Blitzesschnelligkeit that, schien viel weniger eine Bethätigung seines eigenen Willens zu sein, als der blinde Gehorsam gegen eine unbekannte, furchtbare Macht, welche schrankenlose Gewalt über seinen Geist und seinen Körper gewonnen hatte.

Kaum zwei Sekunden, nachdem sich die Thür des Zimmers aufgethan hatte, hielt er das Heft seines geöffneten Taschenmessers mit brennenden Fingern umklammert; – noch einmal schien es, als wollte die Kraft ihm versagen, ehe das Entsetzliche geschah; – dann aber ein Ruck, ein Sprung, ein heiserer, unartikulirter Schrei – und noch ehe Lothar von Brenckendorf seinen Fuß hatte auf die erste Treppenstufe setzen können, fuhr die hochgeschwungene Faust mit der blinkenden Waffe auf seine Schulter nieder.

Aber die grauenhafte Absicht des Unzurechnungsfähigen wurde nicht erreicht. Lothar hatte das verdächtige Geräusch hinter seinem Rücken vernommen. Blitzschnell wandte er sich um, und wenn es auch zu spät war, dem Meuchelmörder in den Arm zu fallen und den Stoß zu verhindern, so konnte er denselben doch mit der schützend erhobenen linken Hand auffangen, fast gleichzeitig mit der kraftvollen Rechten den Hals des Angreifers packend.

Beinahe lautlos hatte sich der verhängnißvolle Zusammenprall vollzogen: nur das Messer war mit schwachem, metallisch klingendem Aufschlagen zu Boden gefallen. Hudetz stierte mit irr blickenden, verglasten Augen in das Gesicht seines Todfeindes; seine Fähigkeit zu denken schien völlig erloschen; er machte so wenig einen Versuch, Widerstand zu leisten, als zu entfliehen.

Da trat Marie auf die Schwelle ihres Zimmers, bleich, mit thränennassen Augen und einer jungfräulichen Madonna jetzt vielleicht wirklich ähnlicher als je. Sie hatte nichts von Hudetz’ unseliger Wahnsinnsthat gesehen, sie sah nur, daß Lothar die hinfällige, gebrechliche Gestalt mit eisernem Griff gefaßt hielt, und mit einem Ausdruck unwilligen Erstaunens rief sie ihm zu:

„Was soll das bedeuten? – Willst Du etwa meinen Besuchern auf solche Weise den Zutritt zu mir verwehren?“

„Deinen Besuchern?“ fragte er zurück, und die Erregung, in welche der Vorfall ihn versetzt haben mußte, verrieth sich nicht in seiner Stimme. „So kennst Du diesen Menschen? – Und Du hattest ihn erwartet?“

„Wäre ich irgend jemand Rechenschaft darüber schuldig? Aber ich bitte Dich allen Ernstes, diesem abscheulichen Auftritt ein Ende zu machen. Die Zahl meiner Freunde ist nicht so groß, daß ich ruhig zusehen könnte, wie man den aufrichtigsten und uneigennützigsten von ihnen auf der Schwelle meiner Wohnung mißhandelt und beschimpft.“

In demselben Augenblick, da sie den Meuchelmörder ihren Freund genannt, hatte Lothar ihn freigegeben.

„Gehen Sie!“ sagte er kurz und hart. „Dort hinab! – Mag Ihnen denn ein anderer das Handwerk legen!“

Und Hudetz gehorchte, wie er wahrscheinlich auch jedem anderen Befehl gehorcht haben würde. Stumm, gebeugt, mit kraftlos herabhängenden Armen, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach Marie umzusehen, schlich er die Treppe hinunter.

„Bleiben Sie, Herr Hudetz!“ rief Marie halblaut, indem sie eine Bewegung machte, als ob sie ihm nacheilen und ihn zurückhalten wollte. Aber mit ausgestrecktem Arm hinderte Lothar sie daran, weiter zu gehen.

„Mag der Elende Dein Freund gewesen sein bis zu diesem Augenblick – jetzt ist er es nicht mehr! Denn, wie Du mich auch hassen magst, Marie, Du wirst darum nicht Gemeinschaft haben wollen mit Banditen und Meuchelmördern.“

Sie sah mit starrem Blick in sein auffällig erbleichendes Gesicht.

„Was sagst Du da, Lothar? Aber es ist ja nicht möglich!“

Stumm deutete er mit der Rechten auf das am Boden liegende Messer. Ein Ausruf des Entsetzens rang sich von Mariens Lippen. Sie beugte sich nieder, um die Waffe aufzuheben; aber schon im nächsten Augenblick schleuderte sie sie wieder von sich, wie wenn sie ein ekelhaftes Gewürm in den Fingern gehalten hätte. Mit allen Anzeichen des furchtbarsten Schreckens stürzte sie auf Lothar von Brenckendorf zu.

„Blut! – Blut! – Um Gotteswillen, Lothar! Du bist doch nicht verwundet?“

„Nicht so sehr, als es in Deines ehemaligen Freundes Absicht gelegen haben mag,“ gab er ruhig zurück. „Ich fing das Messer auf, und der Stoß, der für meine Brust bestimmt war, streifte mir nur die Hand.“

Er hatte vorhin bei Mariens Erscheinen die Linke in die Tasche seines Ueberrocks gesteckt. Jetzt, da er das ungläubige Entsetzen auf ihrem marmorblassen Antlitz sah, zog er sie heraus, um sie von der Wahrheit seiner beruhigenden Versicherung zu überzeugen. Das verletzte Glied war mit Blut überströmt, und aus der tiefen, klaffenden Schnittwunde quoll noch immer ungehemmt der purpurne Lebenssaft.

Marie schrie nicht auf und sie wurde nicht ohnmächtig, aber sie erfaßte mit beiden Händen den gesunden Arm Lothars.

„Du darfst nicht gehen! – Ich lasse Dich so nicht fort! – Deine Hand muß verbunden werden – wir müssen einen Arzt holen, – o, ich beschwöre Dich, bringe mich nicht zur Verzweiflung, indem Du gehst!“

Es war nichts mehr von Haß und Feindschaft in ihrer Stimme, in ihren Augen, die mit so heißem leidenschaftlichen Flehen die Sprache der Lippen unterstützten. Doch Lothar machte sich mit sanfter Gewalt aus ihren Händen frei, und indem er die blutende Hand wieder in der Tasche verbarg, sagte er mit ernster Bestimmtheit:

„Die Wohnung einer jungen Dame ist nicht der rechte Ort für solche Hilfeleistung. Ich danke Dir für Dein Anerbieten, aber die kleine Schramme hat nichts zu bedeuten und sie wird mir auf der nächsten Sanitätswache noch früh genug verbunden [504] werden. – Lebe wohl, Marie, – da es nun einmal zwischen uns nicht mehr heißen kann: Auf Wiedersehen!“

Sie streckte die Arme aus, um ihn zu halten.

„Lothar!“ rief sie mit bebender Stimme, als er den ersten Treppenabsatz hinabgestiegen war. Aber der Assessor hatte sie nicht mehr gehört, oder er wollte sie nicht mehr hören. Sein Schritt verhallte unten auf dem Hausflur. Marie aber lehnte das blonde Haupt an den Thürpfosten und starrte dumpf und thränenlos auf ihre gefalteten Hände nieder, unbekümmert darum, daß irgend ein neugieriger Hausbewohner nur den Kopf herauszustecken brauchte, um sie so zu erblicken.


In dem getäfelten Speisezimmer der Villa des Generals von Brenckendorf standen sich am Vormittag des folgenden Tages die beiden Brüder gegenüber. Vor zehn Minuten erst war Lothar gekommen und er hatte eine geraume Weile warten müssen, bis Engelbert sich ihm zu der gewünschten Unterredung unter vier Augen zur Verfügung stellen konnte. Doch obwohl sie nur wenig Worte gewechselt hatten, schien sich bereits eine recht unbehagliche Stimmung über ihr Gespräch gelegt zu haben. Engelbert, der schon in vollständigem Dienstanzuge war, lehnte ziemlich nachlässig an dem großen Speisetisch, die Hände über dem Gefäß seines Säbels zusammengelegt und mit gerunzelter Stirn auf die Fußspitzen seiner Reiterstiefel herabblickend. Lothar stand ruhig und aufrecht vor ihm; er trug die verbundene linke Hand in einer schwarzseidenen Schlinge und unter seinen Augen lagen Schatten wie bei jemand, der einen empfindlichen Fieberanfall noch nicht ganz überstanden hat.

„Du mußt mir schon gestatten, die ganze Angelegenheit etwas sonderbar, um nicht zu sagen: lächerlich, zu finden,“ meinte Engelbert, der ein wenig mit der Erwiderung auf die letzten Worte Lothars gezögert hatte. „Von wem, wenn man fragen darf, hast Du denn den Auftrag erhalten, mich so in aller Form zur Rede zu stellen?“

„Ich nehme mir das Recht dazu als Dein älterer Bruder und als Zeuge der Beleidigung, welche Du einer Dame angethan hast.“

„Nun gut, ich will diese Berechtigung nicht weiter prüfen, denn es liegt mir gar nichts daran, eine dramatische Scene herbeizuführen. Aber Du verwechselst die Thatsachen, mein Lieber! Wenn von einer Beleidigung die Rede sein kann, so war nur ich es, der sie erfuhr. Dein Schützling hat mich auf dem Wohlthätigkeitsbazar in Gegenwart zahlreicher Personen auf eine unter wohlerzogenen Leuten geradezu unerhörte Weise beschimpft.“

„So war ihre Kritik Deiner Handlungsweise eine unberechtigte? So hatte sie keinen Grund, Deine Verlobung mit der Gräfin Hainried als eine von Dir begangene Ehrlosigkeit zu behandeln?“

„Nein, wahrhaftig, dazu hatte sie keinen Grund!“ fuhr der Offizier auf, einen keineswegs freundlichen Blick auf den unbequemen Frager werfend, „und ich möchte niemand rathen, es ihr nachzuthun. Bin ich denn dafür verantwortlich zu machen, daß sie sich in romanhafter Ueberspanntheit irgend welche unmöglichen Dinge in den Kopf gesetzt hat? Mußte ich sie etwa nothwendig heirathen, weil ich mir einige kleine verwandtschaftliche Vertraulichkeiten gegen sie herausgenommen hatte?“

„Ich weiß nicht, was Du darunter verstehst, Engelbert, aber ich fürchte, Du ziehst zu Deiner Bequemlichkeit die Grenzen weiter, als es einem Manne von Ehre gestattet ist. Marie hatte sich unter den Schutz dieses Hauses gestellt und sie durfte darum von den Mitgliedern desselben die allerzarteste Rücksichtnahme fordern.“

„Ach, bleibe mir doch gefälligst mit solchen moralischen Gemeinplätzen vom Leibe! Es ist wirklich komisch, wenn ein Stubenhocker, der die Frauen kaum aus der Entfernung kennt, sich anmaßt, Anweisungen über den Verkehr mit dem schönen Geschlecht zu ertheilen. Als wenn unseren jungen Damen an der zarten Rücksichtnahme etwas gelegen wäre! Sei versichert, daß ihnen ein flotter Bursche, der sich gelegentlich im Vorbeigehen einen Kuß stiehlt, ohne dabei gleich an Altar und Standesamt zu denken, tausendmal lieber ist als ein langweiliger Geselle, der vor lauter Rücksicht und Verehrung gar nicht bemerkt, daß sie junge Mädchen sind. Ich bin kein Fähnrich mehr, daß ich darüber von Dir Belehrungen annehmen möchte.“

„Das sind Anschauungen, die Du ohne Zweifel in Deinem Verkehr mit Damen vom Theater und vom Cirkus gewonnen hast und die dort auch ihre Berechtigung haben mögen. Dachtest Du, Marie von Brenckendorf mit demselben Maße zu messen?“

„Bah! Im Grunde ist eine wie die andere, und Du hast ja jetzt den Beweis dafür, daß der Unterschied wirklich kein so bedeutender war. Die Diskretion verbietet mir natürlich, Einzelheiten zu erzählen; aber Du darfst mir glauben, daß ich bei meinen kleinen Freundinnen aus der Manege nicht bereitwilligeres Entgegenkommen gefunden habe als hier.“

Lothar that einen Schritt auf ihn zu; in seinem Gesicht zuckte es, und seine Stimme hatte eine tiefere Färbung angenommen, als er sagte:

„Das lügst Du! Und Dein Verhalten verdient in Wahrheit keine andere Bezeichnnng, als Marie sie ihm gegeben hat.“

Engelbert fuhr aus seiner nachlässigen Stellung auf; sein Gesicht hatte sich bis über die Stirn hinauf geröthet, und er stieß mit seinem Säbel auf den Boden, daß die Gläser im Schrank erklirrten.

„Kein Wort mehr!“ rief er mit dröhnender Stimme. „Ich kann mir Deine Verrücktheiten lange gefallen lassen, weil Du nun einmal mein Bruder bist. Aber jedes Ding hat seine Grenze, und ich rathe Dir, meine Geduld und meine gute Laune nicht gar zu sehr in Anspruch zu nehmen!“

„Was geht hier vor? – Ein Streit? – Und obendrein in solchem Ton? Wollt Ihr die Dienerschaft zu Zeugen Eurer Zwistigkeiten machen?“

Mit diesen Worten hatte der General die Thür des Nebenzimmers geöffnet. Aber obwohl ihm nur Engelberts Heftigkeit den unmittelbaren Anlaß zum Einschreiten gegeben haben konnte, schienen sich doch seine vorwurfsvollen Fragen viel weniger an diesen als an Lothar zu richten. Und Lothar war es denn auch, der ihm Antwort gab.

„Ich fürchte, Vater, daß der Dienerschaft hier im Hause bereits Gelegenheit zu viel unerfreulicheren Beobachtungen gegeben worden ist.“

„Was heißt das? Willst Du nicht die Güte haben, Dich etwas deutlicher auszudrücken? Hast Du uns etwa nur darum das lang entbehrte Vergnügen Deines Besuches gemacht, um mit Deinem Bruder Händel zu suchen?“

„Es hat wirklich sehr stark den Anschein, Papa,“ mischte sich jetzt Engelbert ein. „Ich möchte um alles in der Welt wissen, wie Lothar dazu kommt, sich zum Ritter einer Dame aufzuwerfen, die früher blutwenig Vorliebe für ihn an den Tag gelegt hat, und die außerdem in dem Zahnreißer einen viel berufeneren Beschützer hätte als in ihm.“

„Das ist allerdings auch mir einigermaßen räthselhaft; aber ich wünsche nicht, in Erörterungen solcher Art hineingezogen zu werden. Die Person, von welcher da die Rede zu sein scheint, ist für mich nicht mehr vorhanden, und ich bitte mir aus, daß in meiner Gegenwart nicht weiter von ihr gesprochen wird.“

„Danach bliebe mir nur übrig, mich ohne weiteres zu entfernen. Lediglich um von ihr zu sprechen, kam ich hierher, und die kindliche Ehrfurcht macht es mir unmöglich, Vater, Dir auf Dein letztes Verbot so zu antworten, wie ich es unter anderen Umständen für meine Pflicht halten müßte.“

„Ich erhebe keinen Anspruch auf eine Ehrfurcht, die sich so sonderbar verklausulirt. Was hast Du an meinem Verhalten auszusetzen? – Nun?“

Der General war in größerer Erregung, als er sie sonst zu zeigen pflegte, selbst wenn er heftig gereizt worden war. Lothar aber sagte mit Nachdruck, indem er ihm fest und gerade in die Augen sah:

„Es erscheint mir als eine recht bequeme, aber sehr wenig ritterliche Art, Dich der Verantwortlichkeit für gewisse Dinge zu entziehen! Du mußt mir die Offenheit dieser Erklärung verzeihen; nur auf Deinen ausdrücklichen Wunsch habe ich sie abgegeben.“

„Unerhört!“ stieß Engelbert zwischen den Zähnen hervor, indem er von neuem rasselnd mit seinem Säbel aufstampfte. [505] Der General warf ihm einen mahnenden Blick zu und wandte sich dann in dem veränderten Ton einer spöttischen Höflichkeit gegen Lothar:

„Du hast mich nachgerade daran gewöhnt, in Deinen liebenswürdigen Aufrichtigkeiten nichts Ueberraschendes mehr zu finden; aber daß ich von Dir eine Belehrung über Ritterlichkeit empfangen soll, ist mir doch neu. Wie große Hochachtung ich auch vor Deiner juristischen Gelehrsamkeit habe, auf diesem Gebiet halte ich Dich keineswegs für sachverständig.“

„Mit solchen Spöttereien, lieber Vater, ist der Sache, die zu vertreten ich entschlossen bin, so wenig gedient als mit Engelberts übel angebrachter Heftigkeit. Es handelt sich weder um meine juristische Gelehrsamkeit, noch um mein Verständniß für Fragen der sogenannten Standesehre. Es handelt sich einfach um die Erfüllung einer Pflicht, zu deren Anerkennung es wahrlich nicht erst meines Eintretens hätte bedürfen sollen.“

„Das ist rund und bestimmt, aber leider nicht ganz deutlich; denn ich habe, offen gestanden, noch immer keine Ahnung von dem eigentlichen Zweck Deines feierlichen Gebahrens.“

Das ist die Zeit der Rosenpracht.
Nach einem Gemälde von Fr. Armin.


„Desto weniger wird, wie ich hoffe, Engelbert über diesen Zweck im unklaren sein. Er ist durch Worte und Handlungen bemüht gewesen, Marie an seine Liebe glauben zu machen; er hat das Geständniß ihrer Gegenliebe empfangen, und er war somit nicht nur nach den Ehrbegriffen unseres Standes, sondern nach denjenigen aller anständigen Leute verpflichtet, sie zu heirathen. Wenn er trotzdem ein Verlöbniß mit einer anderen Dame eingehen konnte, ohne daß Marie ihm seine Freiheit wiedergegeben hatte, so ist dies Verlöbniß eben als ungültig zu betrachten. Es muß rückgängig gemacht werden, und in Mariens Händen wird dann die Entscheidung liegen, ob sie auch jetzt noch einem Manne angehören will, der ihr Vertrauen auf eine so unrühmliche Weise zu täuschen vermochte.“

Engelbert hatte während dieser klaren, in einem fast geschäftsmäßig kühlen Tone gegebenen Darlegung sein Unbehagen hinter allerlei stummen Gebärden eines mitleidigen Erstaunens zu verbergen gesucht. Als Lothar geendet hatte, zog er die Schultern in die Höhe und ging, seinem Bruder den Rücken wendend, zum Fenster, als wollte er damit andeuten, daß es unmöglich sei, auf solche Zumuthungen überhaupt zu antworten. Statt seiner erwiderte der General:

Ich weiß nicht, wie Du dazu kommst, mich für die alberne Liebelei Engelberts, von der ich natürlich keine Ahnung hatte, mitverantwortlich zu machen. Ich billige sein Benehmen in dieser Sache durchaus nicht, und er wird mir bezeugen, daß ich ihm nach jenem abscheulichen Auftritte bei dem Bazar mein Mißfallen ganz unzweideutig zu erkennen gegeben habe. Damit aber ist die Sache für mich erledigt, und ich denke, sie könnte es auch für uns alle sein. Hätte Marie nach Engelberts Verlobung ihre vermeintlichen Rechte und Ansprüche in irgend einer angemessenen Form zur Geltung zu bringen versucht, so hätte man ja allenfalls daran denken können, einen Ausgleich herbeizuführen – innerhalb gewisser Grenzen natürlich! – Sie hat es jedoch vorgezogen, sich und uns durch einen öffentlichen Skandal bloßzustellen, und hat mich damit gezwungen, aufs entschiedenste jede

[506] weitere Berührung mit ihr oder mit ihrem Bruder abzulehnen. Ich wiederhole, daß eine Ehrvergessene, die meinen Familiennamen über die Bretter einer Komödienbühne schleift, für mich nicht mehr vorhanden ist, und daß ich, soweit meine Macht reicht, jedem meiner Angehörigen verbieten muß, zu ihr direkt oder durch Mittelspersonen in irgend welche Beziehung zu treten. Wie ich danach über Deine höchst – nun, sagen wir höchst idealen – Forderungen denke, brauche ich Dir wohl nicht weiter auseinanderzusetzen.“

„Und Du, Engelbert? Hast auch Du mir nichts weiter in dieser Sache mitzutheilen?“

„Nein, nicht das Mindeste! Es sei denn, daß ich Dir den guten Rath geben möchte, Dich bei Deinem Schützling um den Platz zu bewerben, auf den ich selber zu meinem Bedauern verzichten muß.“

Er hatte den Kopf halb nach ihm umgedreht und in einem leichten, spöttischen Tone gesprochen, aber als er jetzt dem Blick Lothars begegnete, ließ ihn der unverkennbare Ausdruck tiefer Verachtung, der auf dem Gesicht und in den Augen seines Bruders lag, unwillkürlich verstummen. Auch der General schien mit der herzlosen, verletzenden Art seines jüngsten Sohnes nicht ganz einverstanden zu sein, denn er zog die Brauen zusammen und räusperte sich vernehmlich. Es gab ein kleines, unbehagliches Schweigen zwischen den Dreien; dann sagte Lothar, ohne die höhnische Aufforderung Engelberts einer Erwiderung zu würdigen:

„Ich muß den Zweck meines Besuches damit wohl als erledigt betrachten. Du wirst es verzeihlich finden, Vater, wenn ich nach diesem traurigen Verlauf unserer Unterredung entschlossen bin, meinen Fuß nicht mehr über die Schwelle Deines Hauses zu setzen.“

„Wie? Du kündigst mir die Freundschaft? Um dieser koketten Person, um dieser hergelaufenen Komödiantin willen?“

Es war der plötzlichen Erregung des Generals anzumerken, wie unerwartet ihm die Erklärung Lothars gekommen war und wie empfindlich sie ihn getroffen hatte. Doch in den Mienen des Assessors prägte sich die eiserne Ruhe eines unerschütterlichen Entschlusses aus.

„Marie ist weder das eine noch das andere, Vater,“ entgegnete er, „aber ihre Tugenden und Fehler haben mit meinem Verhalten nichts zu schaffen. Ich fühle mich nur außer stande, vor den Augen der Welt die Formen brüderlichen Verkehrs zu beobachten einem Manne gegenüber, der jeden Anspruch auf die Achtung anständiger Leute verwirkt hat, und –“

„Unverschämter!“ brauste der Dragoneroffizier auf, indem er Miene machte, auf ihn loszustürzen; doch der General rief mit starker Stimme dazwischen:

„Ruhe! Nicht gerührt! – Seid Ihr denn alle beide des Teufels, daß Ihr es wagt, Euch in meiner Gegenwart in solcher Weise aufzuführen? Wenn Ihr nun einmal nicht Frieden halten könnt, so geht Euch meinetwegen aus dem Wege! Aber ich bitte mir’s ernstlich aus, daß jeder neue Skandal vermieden werde. Und ein beispielloser Skandal wäre es, wenn Du wirklich daran dächtest, Lothar, wegen dieser verwünschten Geschichte die Beziehungen zu Deinen Angehörigen in auffälliger Weise abzubrechen. Du weißt, daß wir der Familie Hainried nur mit Mühe eine halbwegs zufriedenstellende Erklärung für den Vorfall auf dem Bazar und für seine Folgen zu geben vermochten. Ein Zerwürfniß zwischen uns, dessen eigentliche Ursache man bald errathen haben würde, wäre ganz danach angethan, alle meine Bemühungen zu vereiteln.“

„Trotzdem muß ich thun, Vater, was mein Gewissen mir vorschreibt. Ich kann den Treubruch und die Ungerechtigkeit, deren man sich hier gegen ein argloses Mädchen schuldig gemacht hat, nicht dadurch stillschweigend gutheißen, daß ich in der alten Weise mit Euch verkehre. Glaubt Ihr Euch berechtigt, Marie künftighin als nicht mehr zur Familie gehörig zu betrachten, so laßt mich immerhin dieses Schicksal theilen. Ich stehe mit meiner ganzen Ueberzeugung auf ihrer Seite, nicht auf der Euren!“

Das ohnedies stets so rosige Antlitz des Generals hatte sich tief dunkel gefärbt. Eine rasche Entgegnung, vielleicht ein begütigendes oder gar bittendes Wort schien ihm auf den Lippen zu schweben; aber die Gegenwart Engelberts, der durch ein recht deutliches Gebärdenspiel seine Verwunderung über die Langmuth des Vaters zu erkennen gab, mochte ihn daran hindern, es auszusprechen. Er legte sein Gesicht vielmehr plötzlich in jene hochmüthig stolzen Falten, welche die Offiziere der ihm unterstellten Regimenter als unheilverkündend besonders fürchteten, und sagte in einem gänzlich veränderten Ton:

„Danach ist es allerdings überflüssig, daß wir noch weiter miteinander verhandeln. Du bist großjährig und meiner Unterstützung nicht bedürftig. Wenn es Dir also angemessen erscheint, Dich von uns loszusagen, so habe ich weder die Macht, noch auch länger den Wunsch, Dich daran zu hindern. – Guten Morgen!“

Er drehte sich kurz um und ging zur Thür des Nebenzimmers. Als er dieselbe bereits geöffnet hatte, rief er noch einmal scharf und befehlend zurück:

„Engelbert! – Ich wünsche auf der Stelle mit Dir zu sprechen!“

Es klang wie ein militärisches Kommando, und der Dragoneroffizier gehorchte ohne Widerstreben, obwohl der feindselige Blick, welchen er im Gehen auf seinen Bruder warf, etwas wie ein drohendes „Auf später!“ zu enthalten schien.

Lothar war allein, und wie ein Schatten tiefer Traurigkeit legte es sich über sein Antlitz, als er zum letzten Mal die Umgebung betrachtete, an welche sich so viele traute Erinnerungen seiner Jünglingsjahre knüpften. Dieser Abschied vom Elternhause mochte ihm doch ungleich schwerer und schmerzlicher sein, als es noch soeben seiner ganzen Haltung nach den Anschein gehabt hatte. Aber in der zaudernden Langsamkeit, mit welcher er nun dem Ausgange zuschritt, war doch nichts von Reue über das, was er gethan hatte.

Schon hatte er sich draußen von dem Diener den weiten Mantel, dessen er sich wegen des gebrauchsunfähigen Armes bedienen mußte, um die Schultern hängen lassen, als Cilly ihm nacheilte und sich ganz gegen ihre sonstige Art zärtlich an seine Seite schmiegte.

„Ich habe alles gehört, Lothar,“ flüsterte sie, während der Diener sich sofort zurückzog, „alles, und ich leiste Dir von ganzem Herzen Abbitte für jedes Unrecht, das ich Dir jemals in meinen Gedanken zugefügt habe. Wie muthig bist Du ihnen entgegen getreten, wie mannhaft und edel!“

Er lächelte ein wenig, und es war überraschend, wie sehr dies kleine, rasch verschwindende Lächeln sein Gesicht zu verschönen vermochte.

„Es freut mich, daß ich Deine Zustimmung habe, liebe Cilly, wenn ich auch Deine Bewunderung ablehnen muß. Und es ist mir lieb, daß ich noch Gelegenheit finde, Dir Lebewohl zu sagen.“

„Also Du gehst wirklich fort? Und Du willst nie, nie wieder zu uns kommen?“

„Ich darf nicht wiederkommen, Cilly, so lange die Umstände fortbestehen, die mich jetzt nöthigten, so unfreundlichen Abschied zu nehmen.“

„Ich kann Dir keinen Vorwurf daraus machen, denn es ist schändlich, wie sich Engelbert gegen die arme Marie benommen hat. O, ich vermag Dir nicht zu sagen, wie ich diese Gräfin Hainried jetzt verabscheue, denn sie ist mit ihren Koketterien an allem schuld, und ich bin überzeugt, daß sie sich gar keine Mühe gegeben hätte, ihn mit ihren Hexenkünsten einzufangen, wenn sie nicht bemerkt hätte, daß Marie ihn liebte. Aber ich zeige ihr auch kein freundliches Gesicht mehr; sie soll schon merken, daß ich alles durchschaut habe.“

Die hellen Thränen funkelten in den sonst so lustigen Augen, und es war nicht daran zu zweifeln, daß es ihr wirklich so ums Herz war, wie sie sprach. Liebkosend streichelte Lothar mit der gesunden Rechten über ihr lockiges dunkles Haar.

„Ich habe auch noch eine Bitte an Dich,“ fuhr Cilly zaghaft fort, „eine große Bitte, die Du mir nicht abschlagen darfst, wenn Du mich nur ein klein wenig lieb hast. Ich leide schrecklich unter der Vorstellung, daß Marie mich im Einverständniß mit Engelbert glaubt, und daß sie mich nun ebenso haßt und verachtet wie ihn. Natürlich habe ich ihr gleich, sobald ich ihren Aufenthalt erfuhr, einen langen Brief geschrieben und sie um eine Zusammenkunft gebeten. Aber der Brief ist uneröffnet zurückgekommen mit ein paar Zeilen, die so kühl und so fremd waren, [507] als wenn sie gar nicht von ihr herrührten. Woher soll ich nun den Muth nehmen, zu ihr zu gehen? Und doch muß ich sie sprechen, es koste, was es wolle. Sie darf mich nicht für schlecht und herzlos halten, und sie darf auch nicht zum Theater gehen, wo sie gewiß nur neuen Kummer erfahren würde. Nun sollst Du ein gutes Wort für mich einlegen, Lothar! Du bist jetzt ihr Beschützer, und wenn Du ihr nur recht eindringlich vorstellst, wie unschuldig ich an der ganzen Geschichte bin und wie lieb ich sie noch immer habe, so wird sie sich gewiß nicht mehr weigern, mich zu empfangen.“

Um die Lippen des Assessors zuckte es, als er erwiderte:

„Du bist leider in einem gewaltigen Irrthum, meine liebe Cilly! Ich befinde mich Marie gegenüber in derselben Lage wie Du, und keiner wäre weniger geeignet, bei ihr den Fürsprecher zu machen, als ich. Die Thür ihrer Wohnung ist mir für immer verschlossen, und ich habe nicht den mindesten Anspruch darauf, für ihren Beschützer zu gelten.“

„Steht es so zwischen Euch?“ fragte Cilly verwundert. „Das hätte ich nach Deinem vorigen Auftreten wahrlich nicht erwartet. Nun gut, dann bleibt mir nur noch ein einziger Weg, zu ihr zu gelangen, und ich werde ihn einschlagen, wie sauer es mich auch ankommen mag.“

„Und darf ich nicht erfahren –“

„Nein, nein, Lothar! Es ist besser, wenn ich das auf meine eigene Hand und meine eigene Gefahr unternehme. Du brauchst übrigens keine Sorge zu haben; denn die Gefahr dabei ist wohl nicht allzu groß. – Und nun, auf Wiedersehen! Denn das klingt doch wohl besser als das traurige Lebewohl!“

Sie drückte ihm hastig die Hand, weil sie einen sporenklirrenden Schritt in der Nähe gehört hatte, und drängte ihn mit sanfter Gewalt zum Gehen. Dann huschte sie behend auf ihr Zimmer, da sie nicht die geringste Neigung fühlte, nach diesem Gespräch mit Lothar ihrem Bruder Engelbert zu begegnen.

Sie war fertig zum Ausgehen gekleidet, als sie eine halbe Stunde später in das Zimmer der Generalin trat.

„Ich möchte ein wenig frische Luft schöpfen, liebste Mama! Du hattest doch hoffentlich nicht die Absicht, gerade heute mittag Besuche mit mir zu machen?“

Ihre Excellenz befand sich eben inmitten einer überaus wichtigen Berathung mit der rothwangigen Beherrscherin der Küche, und bei Verhandlungen so bedeutsamer Art ließ sie sich nicht gerne stören. So gab sie ihrem Töchterchen nur durch einen stummen Wink zu erkennen, daß sie nichts gegen den beabsichtigten Spaziergang einzuwenden habe, und Cilly schlüpfte eilig hinaus, froh, dem Zwang einer Nothlüge entronnen zu sein.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Heim für Auswandrerinnen in Boston.

Die lange beschwerliche Seereise ist überstanden, das Schiff ankert im Hafen der großen Stadt, und verwirrt blickt der Fremde um sich. Wohl ihm, wennn Freunde ihn erwarten, wohl ihm, wenn er weiß, wohin er seine Schritte lenken soll, wenn nicht sogleich Noth und Elend sich an seine Fersen heften! Wie aus langer Kerkerhaft befreit, betreten die Auswanderer aus dem Zwischendeck den amerikanischen Boden; manche hatten kaum eine Vorstellung von dem, was ihrer „drüben“ wartete, von den Enttäuschungen, von der mühsamen Arbeit, durch welche eine neue Lebensstellung errungen werden muß. Es ist unglaublich, in welcher Unwissenheit, mit welchem Leichtsinn oft die Auswanderung unternommen wird, und die amerikanische Regierung, welche in den letzten Jahren die Gesetze für die Aufnahme der Einwanderer verschärfte, erweist damit nicht nur dem eigenen Lande, sondern auch den fremden Ankömmlingen im großen und ganzen einen Dienst, so hart das Verfahren in einzelnen Fällen erscheinen mag.

Es ist noch nicht lange her, da geschah es, daß ein Landmädchen von kaum achtzehn Jahren in Boston landete. Eine Freundin, die „drüben“ einen guten Dienst gefunden, hatte ihr geschrieben, daß sie schon viel Geld nach der Sparkasse getragen habe. Der armen Marie, deren Eltern todt waren und die auf dem Gutshofe in der Heimath nur 90 Mark jährlich verdiente, klang die Erzählung der Freundin wie ein wunderbares Märchen. Sie war gesund, sie konnte arbeiten, warum sollte sie nicht auch ihr Glück versuchen? Ihr kleines Erbtheil reichte zur Ueberfahrt – nun war sie wirklich in Boston angekommen! Um sie herrschte verwirrendes Gedränge; sie hoffte, die Freundin würde sie erwarten, aber ach! die hatte den schlecht adressirten Brief gar nicht bekommen, den Wohnort derselben wußte Marie nicht mehr anzugeben. Rathlos, verlassen stand sie in dem fremden Lande, dessen Sprache sie nicht verstand, hilflos einem ungewissen Schicksale preisgegeben. Da redet sie eine ältere Dame mit herzlichen Worten an. Wohl versteht sie den Sinn derselben nicht, aber sie faßt Muth, wie sie in die freundlichen Augen blickt, und bald ist eine Dolmetscherin zur Stelle, die ihr sagt, daß gute Menschen für sie sorgen, sie in ihr Haus nehmen, sie unterrichten und ihr eine Stelle verschaffen wollen. Marie ist vor undenkbarem Elend gerettet, ihre Zukunft sichergestellt!

Was ich hier mitgetheilt habe, ist keine bloße Erzählung; solche Hilfe in großer Noth ist nicht nur ein glücklicher Zufall, der unter Tausenden eine treffen mag. Alles, was an der armen Marie geschehen ist, wird auch andern Mädchen geboten.

Seit 24 Jahren besteht in Boston der Verein der „Young Women’s Christian Association“, der „Christliche Frauenverein“, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, solchen alleinstehenden Mädchen unter dem Auswandrerschwarm eine Heimstätte zu bieten und ihre Unterbringung in geeigneten Stellen zu vermitteln. Er besitzt ein Haus, das mit seinen verschiedenen Abtheilungen ein ganzes Geviert einnimmt und doch jetzt größerer Ausdehnung bedarf. Dieses Haus enthält eine Schule zur Ausbildung weiblicher Dienstboten, die vom vollendeten sechzehnten Jahre an Aufnahme finden und sechs Monate hindurch im Kochen, Anrichten, Waschen, Plätten, Servieren, Nähen, Flicken, kurz in allen häuslichen Arbeiten unterrichtet werden. Die ersten vier Wochen bilden eine Probezeit, welche über Befähigung und guten Willen der Zöglinge entscheidet, die dann entweder weiter unterrichtet oder entlassen werden. Wohnung, Kost, Unterweisung sind völlig frei; die besseren Schülerinnen können sich sogar durch ihre Dienste 2 bis 10 Dollar monatlich erwerben. Mit der Anstalt ist eine Agentur verbunden, die auch für nicht im Hause ausgebildete Mädchen Stellen vermittelt und sich längst einen so guten Namen erworben hat, daß während der Bureaustunden ihre Räume immer von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gefüllt sind.

In Abendklassen ertheilen tüchtige Lehrerinnen solchen Mädchen und Frauen, welche Verlangen nach größerer geistiger Ausbildung haben und den Tag über anderwärts beschäftigt sind, Unterricht im Englischen, Französischen, Deutschen, Buchführen, Singen, in Stenographie, im Gebrauch der Schreibmaschine, Schneidern, alles für einen kaum nennenswerthen Betrag. Eine große Turnhalle unter der Leitung einer erfahrenen Lehrerin bietet in körperlichen Uebungen Förderung der Gesundheit – ein großer Segen für manche junge Arbeiterin, welche den ganzen Tag sitzende Beschäftigung hat. Viele, die sonst in keiner Beziehung zur Anstalt stehen, genießen den Vortheil dieser Turnstunden und manche andere den der guten, billigen Mahlzeiten im geräumigen Eßsaal.

In einem solchen Hause kann die unerfahrene Ausländerin Aufnahme finden. Die Adresse desselben findet sich in den Schiffen und den Eisenbahnwagen angeschlagen; an den Landeplätzen sind gütige Frauen bereit, hilflose Ankömmlinge in Empfang zu nehmen. Die Stewardeß (Wirthschafterin) des Dampfers weiß von ihnen. Die Fremde braucht nur nach der Dame zu fragen, deren Zeichen ein blaues Band ist mit den aufgedruckten Buchstaben und Worten „Y. W. C. A. – Travellers’ Aid“, und sie wird sofort die nöthige Auskunft erhalten.

Die meisten deutschen Mädchen freilich werden in New-York landen; aber wenn sie vorher an „Young Women’s Christian Association, Traveller’s Aid Department. Berkeley St. Corner Appleton, Boston, Mass.“ schreiben, den Namen des Schiffes, auf dem sie fahren, angeben und gleich nach ihrer Ankunft in New-York mit der Bahn nach Boston weiter reisen, so empfängt die freundliche Dame mit dem blauen Bande sie dort am Bahnhofe. In dem Falle jedoch, daß sie sich aus irgend einem Grunde dort verfehlen sollten, braucht die junge Deutsche nur die aufgeschriebene Adresse einem Droschkenkutscher zu zeigen. Die meisten sind gute Freunde und Gehilfen des Vereins und liefern die Fremde, selbst wenn sie keine Geldmittel mehr hat, an die Vorsteherin des Hauses ab.

Und welch ein behagliches Heim sie dort findet! Helle, freundliche Zimmer mit hübschen Möbeln und weiße Gardinen an den Fenstern; Blumen und Bilder bringen die Bewohnerinnen selbst zum Schmuck hinein. Man könnte meinen, ein solches Zimmer müsse fast zur Verwöhnung führen, da die meisten Mädchen später im dienenden Verhältniß kaum ein gleich gutes bekommen werden; aber die hübsche Umgebung soll gerade den Sinn für Ordnung und Sauberkeit fördern. Auch Badestuben sind vorhanden; eine gute Bibliothek mit Lesezimmer steht der Benutzung offen, ein großer Saal vereinigt alle Mitglieder zu freien Konzerten, Vorlesungen und geselliger Unterhaltung. Der wesentlichste Dienst aber wird der deutschen Auswandrerin dadurch erwiesen, daß sie drei Monate hindurch unentgeltlichen Unterricht in der englischen Sprache erhält.

Der Verein öffnet seine Pforten allen protestantischen Mädchen, die Aufnahme suchen, ohne einen Unterschied zwischen den hier so vielfach sich abzweigenden Sekten zu machen; er breitet eine schützende Hand über sie, lehrt sie Tüchtiges leisten, weist sie auf den Weg der Arbeit und durch denselben auf den des Glückes und der Zufriedenheit.

Agnes Burchard, Washington.     
[508]

Vom X. deutschen Bundesschießen in Berlin.

Tausende fleißiger Hände regten sich in Berlin während der ersten Juliwoche, um die Stadt in ein Festgewand zu kleiden, Fahnen und Banner in allen möglichen Farben und Zusammensetzungen wehten lustig flatternd von Dächern und Giebeln, von Fenstern und Balkonen herab, vielfach waren die Vorderseiten der Häuser mit Guirlanden aus frischem Grün und Tannenreisig geschmückt, und von Wappenschildern und Transparenten grüßte manch wohlmeinend und kernig Sprüchlein die fremden Schützen, die zum X. deutschen Bundesschießen in Berlin eingetroffen waren. Zum ersten Male war es, daß des neugeeinten Deutschen Reiches Hauptstadt ein derartiges Fest in seinem Weichbilde feiern sah, andere Städte, zuletzt noch Frankfurt a. M., waren bisher bevorzugt worden, an anderen Orten hatten in friedlichem Wettkampfe fröhlich die Büchsen geknallt und hatte die prunkvolle deutsche Bundesfahne nicht nur die Schützen aus allen Gauen des deutschen Vaterlandes, sondern auch viele fremde Gäste um sich vereint; diesmal nun war der lockende Ruf von Berlin ergangen, und wohl an zehntausend Schützen, die Mehrzahl mit ihren Angehörigen, waren ihm gefolgt und hatten den gastlichen Boden der Kaiserstadt an der Spree betreten.

Und herzlich war das Willkommen, welches ihnen allerseits entgegenscholl, aus den Bahnhöfen wie aus den Straßen, an öffentlichen Stätten und bei privaten Vereinigungen: aus ehrlichem Herzen drang der Jubel, der die fernen Gäste, besonders die aus Amerika, bei ihrem feierlichen Einzuge durch Berlins Sieges- und Ruhmesthor begrüßte, der sich fortpflanzte die via triumphalis entlang bis hin zum massigen Bau des Rathhauses, wo des Festes Ehrenpräsident und der Stadtvertreter mit klangreichen Worten die Freude ausdrückte, daß Berlin so viele liebe und werthe Söhne der engeren und weiteren Heimath sowie uns befreundeter Staaten in seinen Mauern beherbergen dürfe. Und diese Freude, sie zeigte sich fortreißend und ergreifend gelegentlich des Festzuges, der am Sonntag, dem 6. Juli, das Fest eröffnete und der durch ein Spalier von Hunderttausenden dahinzog, auftauchend um Mittag aus den grünen Schatten des Thiergartens zu Füßen der goldstrahlenden Siegesgöttin und fast die ganze Stadt durchmessend bis hin zum ferngelegenen Festplatze bei Pankow.

Empfang der Schützen auf dem Bahnhof Friedrichstraße.

Endlos lang dehnte sich dieser Festzug aus, welcher in drei Abtheilungen zerfiel, in die der nichtdeutschen Schützen, in den historischen Zug und in die Abtheilung der zahlreichen deutschen Schützenvereine. Eröffnet wurde er durch einen Reichsherold, auf dem gelbseidenen Ueberwurf der schwarze Reichsadler, das von hellem Stoff umwallte Roß geführt von zwei Pagen mit dem Berliner Wappen auf der Brust, andeutend, daß Berlin die Schützen zu gastlicher Einkehr geladen. Hoch zu Pferde folgten mehrere Berliner Schützen, deren einer das alte sturm- und kampfzerfetzte Schützenbanner der Berliner Gilde trug und diesem Wahr- und Feldzeichen schlossen sich zu Fuß die Mitglieder der Gilde an, stramm nach den Klängen der Musik marschirend, als wär’s auf dem Paradefelde.

Die Festhalle.

Jetzt ertönte hell und schmetternd der „Yankee Dudle“ und im Winde flatterten die Sternenbanner der großen Republik jenseit des Oceans, in vielen umkränzten Wagen sitzend nahten zuerst die Independentschützen aus New-York, ihnen folgten die übrigen deutsch-amerikanischen Schützen, darauf die anderen Fernhergekommenen, die Italiener und Belgier, die Schweizer und Norweger, die Ungarn und Schweden, die Holländer und Russen. – Nun erschien die Spitze des vom Architekten Karl Hoffacker entworfenen und vom Bildhauer J. Kasssack künstlerisch kräftig geförderten Festzuges, der die Entwicklung des Schützenwesens vom 15. bis 19. Jahrhundert darstellte und der durch die Fülle seiner historisch treuen Gestalten, durch die heitere Farbenpracht der Kostüme und die Abwechslung in der Verwendung der Vorwürfe immer von neuem überraschte und zur Bewunderung hinriß. Zwanzig in altdeutsche Tracht gekleidete Trompeter hoch zu Roß ließen schmetternde Fanfaren erklingen, dann zogen Armbrust- und Bogenschützen einher, in ledernem Wamms und mit kleiner federgeschmückter Kappe, von Stadtknechten mit gewaltigen hölzernen Schilden und schweren Lanzen begleitet, im Troß Zeiger und Scheibenträger, Knaben mit Preisfahnen und Narren mit Pritsche und Schellenkappe, schließlich ein von Marodeuren umzingelter Planwagen. In das Zeitalter der Landsknechte versetzte uns die nächste Gruppe, unter Trommel- und Pfeifenklang erschienen sie, die Freund wie Feind oft gleich gefährlichen trutzigen Kämpen, und im Gegensatz zu ihrem verwegenen Aussehen standen die ehrsamen Rathsherren und mit Rosenkränzen geschmückten zarten Knaben, in ihrer Mitte die Hauptpreisfahne und hinter ihnen marschirend die Armbrustschützen, in die sich schon eine Anzahl Büchsenschützen mischte.

[509]

Vom X. deutschen Bundesschießen in Berlin:
Festwagen mit der Berolina vor dem Rathhaus.
Zeichnung von O. Gerlach.

[510]

 Der Gabentempel.

Die Ehrengabe des Kaisers.

Die schnelle Ausdehnung der Berthold Schwarzschen Erfindung im siebzehnten Jahrhundert verkörperte die dritte Gruppe: um ein vierspänniges Geschütz, auf dessen Lafette ein Tatar mit Bogen, Spieß und Köcher Platz genommen hatte, reihten sich Bedienungsmannschaften mit Artilleriefahne, Trommler und Pfeifer, Piqueure und Schußanweiser, Jagdknechte mit bellenden Rüden und Pokalträger, und daß auch stets die Rathsherren an fröhlichen Schützenfesten theilgenommen, zeigte der von Fuhrknechten umringte Wagen mit den Rathsmannen in dunkler spanischer Tracht. Die Gruppe des militärischen, des achtzehnten Jahrhunderts eröffneten Jagdhornbläser zu Pferde, in strammem Schritt paradirten Grenadiere in blauen Tuchuniformen, auf dem Kopf die hohe Blechmütze, eine vierspännige Haubitze deutete auf die Entwicklung des Artillerie-, ein Zug Pioniere auf die des Ingenieurwesens hin; daß aber auch trotz der Friedericianischen Siege die Schützenvereinigungen blühten, bewiesen mehrere Schützenzüge mit Schützendirektor und Schützenmeister, auf den gepuderten Häuptern die breitkrempigen Dreimaster. Den Anfang unseres Jahrhunderts, die vielverspottete Biedermeierzeit, stellte der nächste und zugleich letzte Zug mit einer Fülle komischer Figuren dar, den goldbetreßten Schützenhauptleuten und ihren Adjutanten, den Offizieren und Fähndrichen sowie den dickbäuchigen Schützenbrüdern mit schweren Epauletten und unförmigen Federhüten.

Hatten diese Gruppen die allseitigste Aufmerksamkeit erregt, so wurden sie doch noch durch die nun nahenden Festwagen übertrumpft; dieselben stellten eine Versinnbildlichung derjenigen deutschen Städte dar, in denen bisher ein Bundesschießen stattgefunden hatte, und zwar sollte jeder Wagen jene Zeit zum Ausdruck bringen, in welcher die in Betracht kommenden Städte ihren geschichtlichen Höhepunkt erreicht hatten. Den Anfang machte der von den sieben Kurfürsten umringte und von vier Zeltern gezogene Wagen der Stadt Frankfurt a. M., unter golddurchwirktem Baldachin die Frankfurta thronend, ihr zu Füßen Frankfurts edelster Sohn, Wolfgang Goethe, in strahlender Jugendschönheit, vorn auf dem Wagen ein Herold mit dem alten Stadtbanner, hinten Raths- und Kaufherren, den ausgebreiteten Handel Frankfurts andeutend. Bremen galt der zweite Wagen; in Gestalt eines Hansaschiffes aus dem dreizehnten Jahrhundert war er errichtet, am Steuer saß die Bremensia, schützend standen am Vorderkastell trutzige Reisige mit klirrenden Kettenpanzern, andere Bewaffnete umritten den Wagen, an dessen hochragenden Mastbaum sich drei weibliche Figuren lehnten, Europa, Asien und Afrika darstellend. Von fern schon kündigte den muschelförmig gebauten Wagen der Stadt Wien die vielzackige Spitze des Stephansthurmes an, am Bugspriet ruhte das Donauweibchen, unter einem herrlichen Thronhimmel saß die Vindobona im Maria Theresia-Kostüm, ihr zu Füßen stand Prinz Eugen, vor dem gefesselt mehrere gefangene Türken lagen. Hannover galt der nächste Wagen in Form eines gothischen Burgthores, mit der Hannovera im Vordergrunde und Heinrich dem Löwen vor dem Burgeingange. In freundlichem Grün prangte der Wagen Stuttgarts, auf einem Weinfaß sitzend schwenkte ein Knabe eine Winzerkrone, unter einer Laube ruhten Mädchen und Buben von der Arbeit aus, den Abschluß bildete die Stuttgardia, ihr zur Seite standen Herzog Eberhard und Götz von Berlichingen; begleitet ward der Wagen von den sieben, den Speer umklammernden Schwaben, die auf den sie verspottenden Hasen Jagd machten. Düsseldorf ward durch ein Rheinschiff verkörpert, vorn der Vater Rhein mit gewaltigem Pokal in der Rechten. das Steuerruder gelenkt von der als Nixe gekleideten Düsseldorfia, während in der Mitte des Schiffes junge Kunstschüler in der Tracht des vorigen Jahrhunderts wacker zechten. Im Vordergrunde des Münchener Wagens stand das Münchener Kindl, den Biersegen ertheilend, hinter ihm sah man Albrecht Dürer und Peter Vischer, unter einer Hopfenlaube saß die Monachia, den Rücksitz des Wagens hatten jodelnde Oberbayern eingenommen. Der Wagen der Stadt Leipzig rief die Erinnerung an die Freiheitskriege wach; an der Spitze thronte im Empire-Kostüm die Lipsia, um einen Obelisken, der, um auf die Bedeutung Leipzigs für die Wissenschaft und den Buchhandel hinzuweisen, mit einem fackelschwingenden Genius, einer Eule und dem Buchhändlergreif geschmückt war, standen als Repräsentanten der Universität vier Dekane in Amtstracht; begleitet wurde der reichumkränzte Wagen von Burschenschaftern aus dem Jahre 1815 und Lützower Jägern. Dem von sechs Schimmeln gezogenen Germania-Wagen ritt ein Musikcorps in der kleidsamen Tracht der Dragoner von Ansbach-Bayreuth voran; auf künstlichem Felsen stand in stolzer Haltung Germania und reichte dem unten am Felsen weilenden Hermann, dem Cheruskerfürsten, die Kaiserkrone dar. Während vorn das Banner des Schützenbundes wehte, ragte hinten eine Eiche empor, die in ihren Zweigen die Wappen aller Bundesstaaten trug. Den Schluß bildete der Wagen der Stadt Berlin mit der Berolina, vor ihr der Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große, zu deren Füßen Soldaten ruhten, über welche eine Friedensgöttin die Friedenspalme breitete; Derfflinger und Ziethen, Seydlitz und Blücher sprengten neben dem von Pagen und Kriegern geleiteten Gefährt einher.

„Tripelallianz“ auf dem Schützenfestplatz.

Hinter den einzelnen Wagen schritten in kürzeren und längeren Zügen mit ihren Musikcorps und Fahnen die zum Fest erschienenen Schützenvereine, immer aufs neue von den Menschenmassen, die wie festgefügte ledende Mauern den Weg einsäumten, jubelnd begrüßt und mit Blumen beworfen, sowie mit Erfrischungen bedacht. Vor dem Rathhause, vor welchem Tribünen für die Vertreter der Stadt, für die Ehrenjungfrauen und Ehrengäste aufgeschlagen waren, staute sich der Zug, und die Bundesfahne wurde unter feierlicher Ansprache dem Oberbürgermeister Berlins, Herrn v. Forckenbeck, zur Hütung bis zum nächsten Bundesschießen übergeben. Mit herzlichen Worten übernahm der Oberbürgermeister die Fahne und hieß alle Schützen freudig willkommen, die donnernd in sein den Schluß der Ansprache bildendes Hoch auf Kaiser und Reich einstimmten. Hierauf setzte sich der Zug von neuem in Bewegung und langte gegen vier Uhr nachmittags auf dem Festplatze an.

Stadtverordneter Karl Diersch
Festpräsident des X. deutschen Bundesschießens.

Ein gutes Stück vom Centrum, ja selbst noch von den Vorstädten entfernt, dehnte sich derselbe in einer Größe von 120 Morgen aus, dem Villenorte Pankow dicht benachbart.

Schon von weitem kündete er sich durch tosenden Lärm, durch Musik und den scharfen Knall der Büchsen an, und sobald ihn der Blick erreichte, erfreute man sich an dem hübschen, fröhlich farbigen Bilde, den luftigen Bauten, den bunten Wimpeln, den hohen, mit Tannenreisig umwundenen Masten, den schmucken Ehrenpforten und den eigenartigen Zelten und Buden, die eine kleine Stadt für sich bildeten und besondere Zugänge [511] besaßen, in welche zumeist der Hauptstrom der Schaulustigen sich ergoß. Zum eigentlichen Fest- oder sagen wir besser Schützenplatze gelangte man einige hundert Schritt weiter durch eine massige Hauptpforte, im Stile eines trutzigen mittelalterlichen Burgthores mit Thürmen und Zinnen, mit Fallgatter und Gitterfenstern gehalten, und im Einklange hierzu, wenigstens was den Unterbau anbelangt, stand im Mittelpunkte des Platzes der von demselben Erbauer, dem genialen, durch eigenartige Entwürfe rasch bekannt gewordenen Baumeister B. Sehring errichtete Gabentempel, der sich auf wuchtigem, als Wachtraum gedachtem, festungsartigem Mauerwerk erhob, von Hermen und Atlanten getragen, von langgedehnter Kuppel bedeckt, auf welcher eine schwebende anmuthige Fortuna thronte. Die Wände dieses von vier Musikpavillons umgebenen zierlichen Tempels waren von Glas, und hinter ihnen gleißte und glitzerte, flimmerte und funkelte es von den kostbarsten, aus edelsten Metallen und in schönsten Formen gefertigten Ehrenpreisen, Bowlen und Humpen, Römern und Bechern, Krügen und Pokalen, Vasen und Schalen; in ihrer Mitte stand der Ehrenpreis des Kaisers, eine herrliche silbergetriebene Kanne mit Diana und Hirschgeweih, auf einem Untersatze von rothem deutsch-afrikanischen Marmor.

Links von diesem Gabentempel, in welchem zweimal am Tage die Vertheilung der Preise erfolgte, dehnte sich die mächtige Festhalle aus, von der unsere Zeichnung ein anschauliches Bild giebt. Sie ist von Cremer und Wolffenstein in einer Längsfront von 150 und einer Tiefe von 50 Metern erbaut und bietet für sechstausend Personen Raum.

Am äußersten Ende des Platzes lag, an 250 Meter lang, die Schießhalle, welche 120 Stände enthielt, von denen jeder 12 Schützen Raum gewährte. Den Bestimmungen der deutschen Bundesschießen gemäß wurde nur freistehend aus freier Hand geschossen; umsichtige und strenge Vorschriften regelten den Verkehr in den Schießständen, um Unglücksfälle und „Mogeleien“, wie sie früher sich zuweilen ereignet hatten, zu verhüten. Dicht bei der Schießhalle erhob sich das Schießbureau, in welchem der Finanz-, Fest- und Schießausschuß ihr Heim besaßen.

Nach der Vogelwiese zu hatten die auf den Festplatz zugelassenen Brauereien, fünf an der Zahl, ihre Schankstätten aufgeschlagen; auf der Vogelwiese selbst mit ihren Jahrmarktsbelustigungen aller Art entfaltete sich während der Festwoche Tag für Tag das lustigste und ausgelassenste Leben. Bei schäumendem Maßkrug und perlendem Wein saßen die Vertreter der deutschen Stämme mit den fremden Gästen beisammen, alte Freundschaften wurden erneuert und neue geschlossen, neben dem Oberbayer in der Lodenjacke sah man den elegant gekleideten Deutsch-Amerikaner, neben dem Meraner Schützen den Italiener mit seinem Bersaglierihut, neben dem gemüthlich plauschenden Wiener den das Deutsche radebrechenden Holländer. Ein bewegender Zug der Brüderlichkeit und Zusammengehörigkeit ging durch all’ diese Scharen, aus deren Munde man immer wieder das Lob Berlins wie seiner Einwohnerschaft vernehmen konnte und wie wohl sich die Schützen in den Mauern der Reichshauptstadt fühlten. So darf man denn hoffen, daß sich das X. deutsche Bundesschießen würdig seinen Vorgängern angeschlossen hat und daß Berlins Gäste sich gern der Tage erinnern, die sie an der Spree erlebt haben, und auch gern wieder hierher ihre Schritte lenken werden. Sie sollen dasselbe herzliche Willkommen finden! Paul Lindenberg.     


Karawanen und Wüstenreisen.

Von Dr. A. E. Brehm.

      (Fortsetzung und Schluß.)


Vollkraft, Empfänglichkeit und Gefühl verlangt die Wüste von jedem Menschen, welcher sie erkennen, bis zu einem gewissen Grade in ihr heimisch werden will. Wer Reisebeschwerden, wie sie solche bereitet, nicht zu ertragen vermag, wer ihre Sonne fürchtet, vor ihrem Sande sich scheut, möge sie meiden. Der Tag in der Wüste ist auch bei reinem Himmel, bei ruhig heiterer Luft, ja selbst bei kühlendem Hauche aus Norden, eine schwere Zeit. Fast plötzlich, beinah ohne Dämmerung, tritt er seine Herrschaft an. Nur in der Nähe des Meeres oder großer, die Wüste durchströmender Flüsse säumt die Morgenröthe ihm zum Gruße den östlichen Himmelsrand mit Purpur ein; inmitten weiter Sandebenen tritt mit dem ersten Roth im Osten auch die Sonne hervor, Sie erhebt sich über der Sandebene wie eine Feuerkugel, welche nach allen Seiten hin ihre Hülle sprengen zu wollen scheint. Mit ihrem Erscheinen ist die Morgenfrische dahin. Unmittelbar nach ihrem Aufgange flimmern Himmel und Erde in Lichtüberfülle; eine unbeschreibliche Gluth strömt von der Sonne aus und prallt vom Sande zurück. Jede Stunde mehr steigert Licht und Gluth, und gegen beide giebt es kein Ausweichen, kein Entrinnen.

Die Karawane ist mit dem ersten Sonnenstrahl aufgebrochen und zieht lautlos dahin. Weitaus schreiten die Lastkamele, federnden Ganges deren Treiber neben, hinter ihnen her; im vollen Trabe eilen die Reitkamele, ihren Kräften entsprechend angetrieben, an jenen vorüber und dem Reisezuge voraus. Vorwärts geht es mit ungeminderter Eile. Alle Knochen scheinen zu knacken unter den Stößen, welche die hastenden Reitthiere verursachen. Sengend brennt die Sonne hernieder, stechend dringt sie durch alle Kleider, so viele deren zum Schutze gegen sie auch übereinandergehäuft werden mögen. Unter der dichten Hülle rieselt der Schweiß über den ganzen Körper, unter der leichteren der Arme und Beine verdunstet er, sowie er auf die Haut tritt. Die Zunge klebt am Gaumen. „Wasser, Wasser, Wasser!“ ist der einzige Gedanke dessen, welcher solche Beschwerden noch nicht zu ertragen gelernt hat. Aber das Wasser ist anstatt in eisernen Behältern und Flaschen in den landesüblichen Schläuchen verfrachtet, Tage nach einander in der vollen Gluth und auf dem Rücken der Kamele befördert worden und daher mehr als lauwarm, übelriechend, dick, braun von Farbe und, weil durchdrungen von dem Leder- und Koloquinthentheergeschmack, auch übelschmeckend, ekelerregend. Solches Wasser gewährt keine Labung, sondern verursacht nur neue Beschwerden, selbst peinliche Leibschmerzen, macht daher die Begierde nach irgend einem Getränke nur noch brennender. Aber es läßt sich ebensowenig verbessern als ersetzen. Sein durchdringender Geschmack und Geruch spotten aller Versuche, es in Gestalt von Kaffee oder Thee, oder mit Wein oder Branntwein vermischt, zu genießen, unvermischter Wein oder Branntwein aber vermehren nur den brennenden Durst und die erdrückende Hitze. Der Zustand des Reisenden wird qualvoll, noch bevor die Sonne in Mittagshöhe steht, und die Qual nimmt in demselben Maße zu, in welchem das Wasser sich verschlechtert. Aber sie muß ertragen werden und wird ertragen. Wenn auch der Abendländer an Schlauchwasser sich nie gewöhnt: an die anfänglich unerträgliche Hitze gewöhnt er sich bald, an die Beschwerden des Rittes um so eher, je mehr er mit seinem Reitthiere zusammenwächst.

Gegen Mittag wird gerastet. Ist eine Niederung in der Nähe, so findet sich in ihr wohl eine schirmförmige Mimose, deren dünnes Blätterdach spärlichen Schatten bietet; erstreckt sich unabsehbar die sandige Fläche vor den Reitern, so bilden vier in den Sand gestoßene Lanzen und die zwischen ihnen ausgespannte Wolldecke ein dürftiges Schattendach. Aber glühend ist der Sand, welcher zum Lager werden muß, heiß und drückend die Luft, welche man athmet; Mattigkeit und Schlaffheit bemächtigen sich selbst der Eingeborenen, um wie viel mehr des Nordländers. Man ersehnt Ruhe, ohne sie zu finden, Erquickung, ohne sie zu genießen. Von dem überquellenden Lichte und der flimmernden Luft geblendet, schließt man die Augen; von der sengenden Hitze gequält, von dem brennenden Durste gepeinigt, wälzt man sich schlaflos auf seinem Lager. Bleiern schleichen die Stunden.

Der Lastzug schwankt langsam vorüber und entschwindet dem Auge in einem dunstigen Luftsee, auf dessen wogenden Wellenschichten die Kamele zu schweben scheinen. Noch immer verweilt man in derselben Lage, leidet man unter denselben Beschwerden. Die Sonne hat die Mittagshöhe längst überschritten; aber nach wie vor sendet sie ihre glühenden Strahlen mit gleicher Stärke hernieder. Endlich, in den Spätnachmittagsstunden, bricht man von neuem auf. Und wiederum ein Ritt, daß die rasche Bewegung einen beinah kühlenden Luftzug entgegenführt, bis die Lastkarawane wieder in Sicht kommt und bald darauf erreicht wird. Singend schreiten die Kamelführer hinter ihren Thieren einher. Einer von ihnen trägt das Lied vor; die übrigen schließen jeden einzelnen Vers mit regelmäßig wiederkehrendem Endreime.

Wenn man die Mühsal erwägt, welche ein Kameltreiber auf Wüstenreisen zu erleiden hat, wundert man sich freilich, daß man ihn singen hört. Vor Tagesanbruch belud er sein Lastthier, nachdem er mit ihm einige Handvoll gekochter Durrakörner, beider einzige Nahrung, getheilt hatte; während des ganzen langen Tages schritt er, ohne einen Bissen mehr zu genießen, höchstens an stinkendem Schlauchwasser zeitweilig sich erlabend, hinter seinem Thiere einher; die Sonne sengte seinen Scheitel, der glühende Sand verbrannte seine Sohlen, die heiße Luft trocknete seinen schweißtriefenden Leib; ihm blieb keine Zeit, zu ruhen, zu rasten; er mußte vielleicht noch einige seiner Thiere umladen, eines oder das andere, welches ihm durchgegangen war, wieder einfangen – und dennoch singt er jetzt seine Lieder. Das wirkt die Nacht der Wüste.

Wenn die Sonne zur Rüste geht, scheinen sich die Glieder dieser ausgedörrten Wüstenkinder neu zu frischen; denn auch sie [512] gleichen in allem und jedem ihrer erhabenen Mutter, der Wüste. Mit ihr erglühen sie um die Mittagszeit, mit ihr erblühen sie zur Zeit der Nacht. Sobald die Sonne sich neigt, spinnt ihre Dichtergabe goldene Träume noch im Wachen aus. Der Sänger preist wasserreiche Brunnen, Palmengruppen um sie her und dunkle Zelte unter ihnen; er grüßt ein braunes Mädchen in einem der Zelte, welches ihm den Gruß des Heiles spendet, rühmt ihre Schönheit, vergleicht ihre Augen mit denen der Gazelle, ihren Mund mit einer Rose, deren Blüthendüfte als Worte in der Muschel seines Ohres zu Perlen sich reihen, und verschmäht ihrethalben des Sultans erstgeborene Tochter. Seine Genossen aber mahnen ihn, noch höhere Sehnsucht zu empfinden, und richten deshalb fort und fort seine Gedanken auf den Propheten, „welcher unsere Sehnsucht, unser Verlangen stillt.“

Wer sie zu schildern vermöchte, die Nacht in der Wüste, ein Dichter müßte er sein von Gottes Gnaden! Wer wäre imstande, auch wenn er sie selbst erlebt, durchwacht, durchschwelgt, durchträumt hat, ihre Schönheit zu beschreiben! Nach des Tages Gluth ist sie die milde, vergeltende, versöhnende Spenderin unsagbaren Wohl- und Hochgefühls, die frieden- und freudenbringende Zeit. „Lëila“, die sternhelle Nacht der Wüste, Lëila ist dem Araber mit Recht der Inbegriff alles Hohen und Herrlichen. Lëila nennt er seine Tochter; mit den Worten „meine sternenhelle Nacht“ schmeichelt er kosend seiner Geliebten; „Lëila, o Lëila“ fügt er seinen Gedichten als klingenden Endreim bei. In nie geahnter Reinheit und Helle leuchten die Gestirne am dunklen Himmelsdome, das Licht der nächsten ist fähig, schwache Schatten auf hellen Grund zu werfen. Mit vollen Zügen athmet der Mensch die reine, frische, kühlende, erquickende Luft; mit Entzücken läßt er sein Auge von einer Sonne zur anderen schweifen. Mehr und mehr scheint das Licht der Sterne zu ihm sich herabzusenken; der Geist bricht die ihn an den Staub kettenden Fesseln und hält Zwiesprache mit anderen Welten. Kein Laut, kein Geräusch, nicht einmal das Zirpen einer Heuschrecke, unterbricht fernerhin sein Sinnen und Denken. Die Großartigkeit und Erhabenheit der Wüste wird ihm erst jetzt erkennbar, ihr unsäglicher Frieden zieht ein in sein Herz.

Nach leiblicher und geistiger Erquickung, wie die Nacht der Wüste sie bietet, trägt sich die Beschwerde des folgenden Tages leichter, so viele Ueberwindung es auch kosten mag, das stündlich mehr und mehr sich verschlechternde Wasser zu trinken. Wirkliche Ruhe, ungetrübtes Behagen bringt aber doch erst der Aufenthalt am Wüstenbrunnen. In der Oase, am Brunnen wird der Tag zum Feste, der Abend zur harmlos heiteren Feier, die Nacht zur wirklich erlabenden Ruhezeit. –

Zur Entstehung der Oase ist eine decken- oder thalartige Eintiefung der Gegend nothwendige Bedingung, weil ohne sprudelnden Quell, mindestens ohne künstliche Brunnen ein reicheres Pflanzenleben undenkbar ist und Wasser in der Wüste einzig und allein im Hochgebirge oder in den tiefsten Niederungen gefunden wird. Wie in so mancher anderen Hinsicht das Meer des Sandes dem wogenden Weltmeere gegenübersteht, so sind auch seine Inseln Gegenstücke der Eilande der Wasserwüste. Das Wasser tritt entweder als Quelle zu Tage oder findet sich doch in geringer Tiefe unter der Oberfläche. Sein Reichthum wie seine Beschaffenheit bedingen das Gepräge der Oase. In den wenigsten Niederungen quillt reines, kühles Wasser hervor. Die meisten Quellen sind salzig, eisen- oder schwefelhaltig, sehr häufig auch warm und deshalb vielleicht großentheils heilkräftig, keineswegs aber immer trinkbar oder der Fruchtbarkeit förderlich. Frisches Rasengrün ruft wohl keine einzige hervor. Aber nur unter besonders günstigen Umständen tritt das Wasser überhaupt zu Tage; in den meisten Fällen sickert es in Felsenspalten oder in gegrabenen Schachten tropfenweise zusammen und muß mindestens zeitweilig künstlich gehoben werden. Und auch da, wo es quillt, verrinnt es, wenn der Mensch nicht nachhilft, es sammelt und berechnend vertheilt, in der Regel wieder nach kurzem Laufe im Sande. Gleichwohl ruft es unter allen Umständen erfrischendes, in solcher Einöde doppelt willkommenes Leben wach.

Um den fließenden Quell hatte, lange bevor der Mensch erschien, um Besitz zu nehmen, eine grüne Pflanzenschar sich angesiedelt. Wer vermag es zu sagen, wie sie entstand? Vielleicht war es der Sandsturm, welcher Samen streute, die hart am Quell keimten, grünten, wuchsen, blühten und wiederum Samen trugen, und so über das ganze Thal sich verbreiteten. Von dem Menschen wurde es sicherlich nicht bepflanzt; denn die Mimosen, welche den Hauptbestandtheil der grünen Decke bilden, sieht man auch in bisher noch brunnenlosen Niederungen einzeln, zu zehn, zwanzig, zu einem kleinen Haine vereinigt. Sie allein schon sind hinreichend, um Leben wachzurufen in der Wüste: sie grünen, blühen und duften – und wie frisch, wie golden, wie balsamisch! In ihrem freundlichen Schatten ruht die Gazelle; aus ihren Wipfeln erklingen die Lieder der wenigen gefiederten Sänger der Wüste. Ihre saftigen Blätter inmitten der starren Kalkmassen, der schwarzen Granitkegel und des blendenden Sandes thun dem Auge wohl wie Maiengrün; ihre Müthen wie ihr Schatten erlaben die Seele. In größeren, wasserreichen Oasen hat der Mensch ihnen die Palme gesellt und damit der Wüstensiedelung neuen Zauber verliehen. Die Palme ist hier alles in allem: die Königin der Bäume, die den Menschen an den kleinen Fleck Erde fesselnde, die erhaltende Fruchtspenderin, die von der Sage umrankte, vom Liede umklungene Nährpflanze, der Baum des Lebens. Was wäre die Oase ohne Palme? Ein Zelt ohne Dach, ein Brunnen ohne Wasser, ein Gedicht ohne Worte! Ihre Früchte nähren den Wanderhirten oder seßhaften Siedler, befriedigen selbst den steuerheischenden Abgesandten seines Herrn und Gebieters; ihre Stämme, ihre Wedel, ihre schmalen Blätter liefern ihm Gebäude, Geräthe, Matten, Körbe, Säcke, Seile und Stricke. Im Sande der Wüste erst würdigt man ihren vollen Werth, ihre ganze Bedeutung; im Sande der Wüste wird sie zum verständlichen Sinnbilde der arabischen Dichtung, welche wie sie oft unfruchtbarem Boden entstammt, wie sie kräftig, immer sich gleichbleibend, emporwächst, der Höhe zustrebt und in ihr erst ihre süßen Früchte bringt.

Mimosen und Palmen sind die Charakterbäume aller Oasen, fehlen also auch denen nicht, welche so viele Quellen oder Brunnen besitzen, daß man Gärten und Felder anlegen konnte. Hier beschränken sie sich, gleichsam auf Vorposten gegen den andringenden Wüstensand gestellt, auf die äußere Umrandung der Wüsteninseln, wogegen das Innere der letzteren anspruchsvolleren, wasserbedürftigeren Pflanzen eingeräumt wurde. In der Nähe der Quellen oder am Brunnen breiten sich oft reizende Gärtchen aus, in denen man fast alle Fruchtarten Nordafrikas anbaut. Hier klettert die Rebe, glüht die Orange im dunklen Laube, öffnet die Granate ihren rosigen Mund, breitet die Banane ihre Wedelblätter, rankt die Melone durch die Gemüsebeete, vollenden Feigenkaktus und Oelbaum, vielleicht sogar Feigen-, Aprikosen- und Mandelbäume das Bild der Fruchtbarkeit. Weiter entfernt dehnen sich Felder aus, auf denen mindestens Kafferhirse, günstigen Falles Weizen, ja selbst Reis gebaut wird.

In so reichen Oasen hat der Mensch feste Wohnsitze gegründet, wogegen er in den ärmeren Niederungen nur zeitweiliger, mehr oder weniger regelmäßig erscheinender Gast sein darf. Das Dorf oder Städtchen der Oase ähnelt im wesentlichen dem des benachbarten Fruchtlandes, denn es hat wie dieses seine Moschee, seine Kaufhallen und Kaffeehäuser; die Menschen aber sind Kinder eines anderen Geistes als die Bauern oder Städtebewohner des Nil- oder Küstenlandes. Obwohl meist verschiedenen Stammes, haben sie doch einerlei Sitte und Gewohnheit angenommen. Die Wüste hat sie aus- und umgeprägt. Ihre hagere Gestalt, die scharfgeschnittenen Züge, die unter buschigen Brauen liegenden blitzenden Augen lassen auch sie sofort als Söhne der Wüste erkennen; ihre Sitten und Gewohnheiten bezeichnen sie noch schärfer als solche. Sie sind anspruchslos, strebsam und genügsam, gastfrei, offen, ehrlich und treu, aber auch selbstbewußt, reizbar und jähzornig, zu Raub und anderer Gewaltthat geneigt, ähnlich den Beduinen, obwohl sie diesen weder im Guten noch im Bösen gleichkommen. Eine in ihrem Wohnorte einziehende Karawane ist ihnen eine willkommene Erscheinung, der Reisende ihrer Ansicht nach aber zu Zoll und Abgabe verpflichtet.

Von solchen Oasen weit verschiedene Rastorte sind die Niederungen, in denen sich nur hier und da ein stets ersehnter Brunnen befindet. Die arabischen Wanderhirten, welche aus ihm schöpfen, sind zufrieden, wenn er ihnen und ihren Herden für einige Monate, oder auch nur Wochen, nothdürftig Trinkwasser gewährt; die hier rastende Karawane darf froh sein, wenn sie ihren Bedarf im Laufe einiger Tage deckt. Gewöhnlich ist der Brunnen ein tiefer Schacht, dessen Wände eher Wasser ausschwitzen als in rieselnden Adern zur Tiefe senden.

[513] Unsagbar arme Menschen sind die Wanderhirten, welche hier ihre Zelte aufschlagen, so lange ihre schwachen Ziegenherden Nahrung finden; ihr „Kampf ums Dasein“ ist nichts anderes als eine einzige Kette von Mühsal, Entbehrung und Noth. Ein langes, dunkles Tuch aus Ziegenwolle, in seiner Mitte über ein einfaches Gerüst gelegt, mit seinen beiden Enden an den Boden gepflockt, hinten durch ein Stück aus demselben Zeuge, vorn durch eine Matte aus Palmenblättern geschlossen, bildet ihr Zelt, die Brautgabe der Frau, an welcher sie vom achten bis zum sechzehnten Jahre sammelte, spann und wob; aus einigen Matten, welche als Lagerstätten dienen, einer Granitplatte und dazu gehörigen Reibsteinen zum Zerkleinern des eingetauschten Getreides, einer flachen Thonplatte zum Rösten der Fladen, zwei bauchigen Töpfen, einigen Ledersäcken und -schläuchen, einer Axt und mehreren Lanzen besteht der ganze Hausrath; eine Herde von zwanzig Ziegen gilt als reicher Besitz der Familie. Aber diese Leute sind ebenso brav als arm, ebenso liebenswürdig als wohlgestaltet, ebenso gutmüthig als schön, ebenso freigebig als anspruchslos, ebenso gastfrei als ehrlich, ebenso sittenrein als gläubig.

Beim Eintreffen einer Karawane versammelt sich die ganze Bewohnerschaft solcher zeitweiligen Siedelung. Der Aelteste tritt hervor aus ihrer Mitte und spendet den Gruß des Friedens; alle übrigen heißen die Fremdlinge willkommen. Dann bietet man das köstlichste, welches diese begehren: frisches Wasser, bietet alles, was man besitzt, und bietet es mit würdevoller Freundlichkeit, die Gabe weder aufdrängend noch unwillig gewährend. Gierig schlürfen die Reisenden in langen Zügen das erquickende Naß: ungestüm drängen sich auch die Kamele zu der Tränkstelle, obwohl sie aus Erfahrung wissen könnten, daß sie erst entlastet, gefesselt und auf die Weide gesandt zu werden pflegen, bevor man ihnen gestattet, nach vier- bis sechstägiger Entsagung wiederum einmal ihren Durst zu löschen. Man spendet auch am Brunnen keinen überflüssigen Tropfen, giebt ihnen daher zunächst das etwa noch vorhandene Schlauchwasser zum besten und tränkt sie erst, nachdem man alle Schläuche wieder gefüllt hat, mit mehr Rücksicht auf den vorhandenen Wasservorrath als ihr Bedürfniß. Nur an reichlich wasserhaltigen Brunnen füllt man ihr maßlos scheinendes Verlangen und sieht dann, nicht ohne Heiterkeit, wie sie schlürfen, ohne einmal dabei aufzusehen, und dann mit absonderlichen, unschönen, durch ihre Fesseln bedingten Sätzen der nicht minder ersehnten Weide zueilen, um ihrem augenblicklich wie eine halbvolle Tonne polternden Magen auch Speise zuzuführen.

Für Reisende und Lagerbewohner aber bricht ein wahrer Festtag an. Erstere finden frisches Wasser, vielleicht sogar Milch und Fleisch zur Würzung der ersehnten Rast und Ruhe; letztere heißen jede Unterbrechung ihres in guten Tagen gleichmäßig sich abspinnenden Lebens willkommen. Einer der Kamelführer hat im nächsten Zelte das beliebteste Tonwerkzeug der Wüstenbewohner, die Tambura oder fünfsaitige Zither, aufgefunden und versteht es meisterhaft, seinen einfachen Gesang zu begleiten. Der Klang lockt die Töchter des Lagers herbei, und schlanke, schöne Frauen und Mädchen drängen sich fragend um die fremden Männer, heften ihre dunklen Augen auf sie und ihre Habseligkeiten, erkundigen sich ungeziert nach diesem und jenem. Wappne Dein Herz, Fremder: diese Augen möchten es sonst in Brand setzen! Sie sind schöner noch als die der Gazelle; aber auch die Lippen unter ihnen beschämen die Korallen, die blendenden Zähne dazwischen die Perlen, welche Du diesen braunen Töchtern der Wüste etwa reichen könntest! Und nunmehr will alles zu Klang und Dichtung werden. Um den Zitherspieler ordnen sich Gruppen zum Tanze, weiche Hände begleiten taktschlagend Zithertöne, Liedesworte und den ebenmäßig wogenden Tanz.

Das Weber-Denkmal in Eutin. Von Paul Peterich.
Nach einer Photographie von Alb. Giesler in Eutin.

Solche Rast labt Leib und Seele. Gestärkt, und ermuntert setzt die Karawane ihre Reise fort; und wenn die Tage nichts Schlimmeres bringen als Sonnenbrand und Gluth, Durst und Ermattung, erreicht sie ungeschwächt auch den zweiten, dritten Brunnen und endlich das Ziel der Reise, die erste Ortschaft jenseit der Wüste. – Doch leicht veränderlich, gleichwie die erdumgürtende Fluth, ist auch das Meer des Sandes. Auch in ihm toben Stürme, welche seine Schiffe brechen und verderbenbringende Wellen dahinrollen. In der Zeit, in welcher der monatelang wehende Nordwind mit südlichen Luftströmungen im Kampfe liegt oder diesen die Herrschaft gänzlich abgetreten hat, sieht der Reisende urplötzlich den Sand lebendig werden, zu mächtigen, ebenso hohen als dicken Säulen sich aufthürmen und diese nun bald langsamer, bald schneller über die Ebene wirbeln. Die Sonnenstrahlen verleihen ihnen zeitweilig den blutigen Schimmer von Feuerflammen, wogegen sie bald wieder farblos, bald schauerlich dunkel erscheinen; der bewegende Sturmwind schwächt und verstärkt sie, trennt sie und vereinigt zwei oder mehrere von ihnen zu einer einzigen, bis zu den Wolken ragenden Sandhose. Wohl möchte der Abendländer Bewunderung des großartigen Schauspiels laut werden lassen; die ängstlichen Blicke und Worte seiner Begleiter aber lähmen ihm die Zunge. Wehe der Karawane, welche von solchem rasenden Wirbelsturme erreicht wird! Sie darf froh sein, wenn das Leben der Menschen und Thiere erhalten bleibt! Und wenn die Sandmassen, ohne Schaden zu bringen, an dem Reisezuge vorüberrasen: ungefährdet ist letzterer doch nicht, denn jenen Sandhosen folgt in der Regel der „Samum“ oder „Giftsturm“ nach.

Keineswegs steigert sich dieser in der Wüste unter allen Umständen gefürchtete Wind immer zum Sturme; nicht selten vielmehr weht er kaum bemerklich, und dennoch macht er manches Mannesherz erzittern. Wohl hat man fast schrankenlos über ihn gefabelt, so viel aber entspricht der Wahrheit, daß dieser Wind unter Umständen jeder Karawane in hohem Grade gefährlich werden kann.

Zuweilen beginnt der Wind, den der Eingeborene mindestens einen, oft mehrere Tage vorher ahnt und weissagt, um Mitternacht seine Schwingen zu regen, gewöhnlicher um die Mittagszeit. Ohne Uhr vermag niemand diese Zeit zu bestimmen; denn der Nebel ist inzwischen so dicht geworden, daß er die Sonne vollständig verschleiert und trübe Dämmerung über die Wüste bringt, in welcher alle Gegenstände bereits in kurzer Entfernung verschwimmen. Leise, kaum fühlbar regt sich endlich die Luft. Es ist kein Wehen, nur ein Hauchen, welches man wahrnimmt. Aber dieser Lufthauch ist glühend heiß, dringt durch Mark und Bein, verursacht dumpfen Kopfschmerz, erschlafft und beängstigt. Dem

[514] ersten Hauch folgt wahrnehmbareres Wehen, gleich glühend, gleich ertödtend wie früher. Einzelne kurze Stöße brausen heulend dahin.

Jetzt ist es höchste Zeit, zu lagern. Dies zeigen auch die Kamele an. Keine Peitsche bringt sie vorwärts. Angsterfüllt legen sie sich nieder, strecken den Hals lang vor sich, drücken ihn auf den Sand und schließen die Augen. Ihre Treiber entlasten sie eiligst, erbauen rasch aus den Gepäckstücken einen Wall, häufen alle Schläuche übereinander, um die dem Winde preisgegebene Fläche zu verringern, decken auch noch etwa vorhandene Matten über sie, hüllen sich so dicht als möglich in ihre Kleider ein, feuchten den um das Haupt gewundenen Theil derselben an und suchen hinter dem Gepäck Zuflucht und Schutz. Dies alles geschieht mit Hast und Eile; denn der Sandsturm läßt nun nicht lange mehr auf sich warten.

Den einzelnen Stößen folgen anhaltendere; diese verschmelzen miteinander, und wenige Minuten später rast der Sturm einher. Es braust und tönt, pfeift und heult in den Lüften, rauscht und tobt in dem Sande des Bodens, knistert, knallt und kracht in dem Lager, wo die Bretter der Kisten zerplatzen. Die herrschende Schwüle nimmt fortwährend zu und steigert sich bis zur Unerträglichkeit, entzieht dem in Schweiß gebadeten Leibe die Feuchtigkeit, verursacht auch auf allen Schleimhäuten Risse, welche zu bluten beginnen, legt die nach Wasser lechzende Zunge wie ein Stück Blei in den Mund, beschleunigt den Pulsschlag und krampft das Herz zusammen, zerreißt endlich auch die Haut, in deren Ritzen der rasende Sturm sofort feinen Sand wirft, und schafft dadurch neue Qualen. Die Söhne der Wüste beten und ächzen, der Abendländer stöhnt und klagt.

In der Regel währt das ärgste Toben des Sandsturmes nicht lange: eine, zwei, drei Stunden nur, so wie bei uns zu Lande das Gewitter, dem er entspricht. Mit seinem Ermatten legt sich der Staub und klärt sich die Luft, tritt auch wohl eine Gegenströmung aus Norden auf; die Karawane ordnet sich wieder und zieht weiter. Währt der Samum aber einen halben oder ganzen Tag, so bringt er oft Tod und Verderben.

Von solchen Stürmen rühren die mumienhaften Leichen her, welche man an den Karawanenstraßen findet. Der Sturm, welcher die Unglücklichen getödtet hat, begräbt sie auch, indem er sie mit Sand überschüttet; letzterer entzieht dem Leichname so rasch alle Feuchtigkeit, daß er, anstatt zu verwesen, eindorrt und zur Mumie wird. Ueber sie wirft der eine Wind neuen Sand, von ihr entfernt ein anderer die bergende Decke. Dann streckt der Leichnam eine Hand, einen Fuß, sein Gesicht dem Reisenden entgegen, und einer der Kameltreiber folgt der Mahnung des Todten, tritt zu ihm heran, wirft wiederum Sand über ihn und zieht weiter mit den Worten: „Schlafe, Knecht Gottes, schlafe im Frieden!“

Solche Stürme sind es auch, welche in der Seele der Ueberlebenden Traumbilder der Fata Morgana wecken. So lange der Mensch mit voller, ungeschwächter Kraft und mit gesunden Sinnen seines Weges zieht, stellt sich ihm die Luftspiegelung wohl als eines der beachtenswerthesten Naturschauspiele, nimmermehr aber als Fata Morgana dar. Während der heißen Jahreszeit entsteht in der Wüste um die Mittagszeit, von neun Uhr vormittags bis drei Uhr nachmittags, tagtäglich das „Meer des Teufels“. Eine graue, seeartige, richtiger noch einer überschwemmten Gegend ähnelnde Fläche gestaltet sich auf jeder pflanzenlosen Ebene in einer gewissen Entfernung vor dem oder um den Reisenden, wogt und wallt, flimmert und schimmert, läßt alle thatsächlich vorhandenen Gegenstände sichtbar bleiben, erhebt sie aber scheinbar bis zur Höhe ihrer oberen Schicht und spiegelt sie nach unten wieder. In der Ferne dahinziehende Kamele oder Pferde erscheinen wie gemalte Engelein auf Wolken schwebend, und wenn man ihre Bewegungen unterscheiden kann, sieht es aus, als ob sie jedes ihrer Beine auf ein Dunstpolster setzten. Das ganze Wunder beruht auf dem Gesetze, daß ein Lichtstrahl, welcher durch ein ungleiches Mittel fällt, gebrochen wird, es muß daher geschehen, wenn die untersten Luftschichten durch Rückstrahlung des erhitzten Sandes ungleich ausgedehnt werden. Kein Araber verhüllt sich beim Anblick der Luftspiegelung sein Gesicht, wie einbildungsvolle Reisende ihren gläubigen Lesern vorgetäuscht haben; keiner legt selbst der von ihm gern gebrauchten Bezeichnung „Meer des Teufels“ einen tieferen Sinn unter. Wenn aber als Folgen eines Sandsturmes Angst, Entbehrung, Ermattung und Noth den Reisenden heimsuchen und schwächen und nunmehr die Luftspiegelung sich zeigt, dann kann sie Fata Morgana werden, indem die krankhaft gereizte Einbildungskraft solche Bilder sich gestaltet, welche mit dem heißesten Wunsche des Augenblicks, der Sehnsucht nach Wasser und Ruhe, im innigsten Einklange stehen. Auch mir, der ich die Luftspiegelung hundertmal beobachtet habe, ist sie einmal zur Fata Morgana geworden. Das geschah, als ich nach vierundzwanzigstündigem qualvollen Durste das „Meer des Teufels“ vor mir flimmern und glitzern sah. Da glaubte ich freilich auch, den heiligen Nilstrom und Boote mit geblähten Segeln, Palmenwälder und Haine, Gärten und Landhäuser vor mir zu sehen. Aber da, wo vor meinen krankhaften Sinnen ein Palmenwald grünte, sah mein gleich mir verschmachtender Gefährte Segelboote, und da, wo ich Gärten zu erkennen vermeinte, spiegelten sich seiner Seele traumhafte Wälder vor. Und alle Trugbilder verschwanden, sowie wir uns mit zufällig uns beschertem Wasser erquickt hatten, und nur der graue Nebelsee blieb immer noch sichtbar.

Das „Meer des Teufels“ breitet sich wohl vor jedem Reisenden aus, welcher eine Wüstenstrecke der Nilländer durchzieht; nicht jeder aber erschaut eines der lebendigsten Bilder, welches die Wüste gestaltet. Am äußersten Rande des Gesichtskreises, vielleicht von der Luftspiegelung gehoben und duftig verschleiert, tauchen Reiter auf, welche windesschnelle Rosse zügeln, nähern sich rasch und brausen endlich, ihre bis dahin geschonten Reitthiere zu vollem Laufe antreibend, gegen die Karawane heran. Ich bin ihnen stets gern begegnet, den hageren, stilvoll gekleideten Männern; denn ich habe auch in ihnen und ihren Rossen die Einhelligkeit der Wüste und ihrer Kinder zu erkennen geglaubt. Als getreuer Sohn der Wüste ist er mir erschienen, der Beduine, als ihr und sein Spiegelbild das Roß, welches er reitet. Denn auch er ist ernst und furchtbar wie der Tag, freundlich und milde wie die Nacht der Wüste. Treu seinem gegebenen Worte, unverbrüchlich gehorsam dem Gesetze und der Sitte seines Stammes, würdevoll in seinem Auftreten, erhaben in seiner Ausdrucksweise, unübertroffen im Entsagen, Entbehren, empfänglich wie kaum ein anderer Mensch für Mannesthaten, Ruhm und Ehre, nicht minder für das goldene Märchennetz, in welches seine gestaltungsreiche Dichtergabe so wunderbar prächtige Bilder einzuweben, so lieblich duftige Blüthen einzuranken weiß, ist er doch auch wieder listig und verschlagen dem Feinde gegenüber, willenloser Sklave seiner Gewohnheiten, würdelos in seinem Verlangen, niedrig und gemein in seinem Fordern, gierig im Genießen, maßlos in seiner Grausamkeit, furchtbar in seiner Rache. Heute als adeliger Gastfreund, morgen als drohend heischender Bettler, jetzt als stolzer Räuber, und ein anderes Mal als erbärmlicher Dieb: kurz, wechselvoll und veränderlich wie die Wüste selber tritt er dem Fremden entgegen.

In allen Wüsten, welche, mindestens dem Namen nach, unter der Herrschaft des Khedive von Aegypten stehen, spielen die Beduinen heutzutage bei weitem nicht mehr die Rolle, welche sie dort in früheren Zeiten gespielt haben oder gegenwärtig noch in Arabien und in den Ländern Nordwestafrikas spielen. Zwischen ihnen und der ägyptischen Regierung sind bindende Verträge abgeschlossen worden, welche jene verpflichten, Karawanen unangefochten durch ihr Gebiet ziehen zu lassen. Raubanfälle inmitten der Wüste zählen daher zu den seltensten Ereignissen, und ein Zusammentreffen mit Beduinen erregt auch aus dem Grunde wenig Besorgnisse, als die Söhne der Wüste in der Regel die Besitzer der gemietheten Kamele sind; gleichwohl lieben es die an den alten Gewohnheiten hängenden wirklichen Herren der Wüste, wenigstens den Schein einer gewissen Oberherrlichkeit zu wahren, und es ist wohlgethan, vor Antritt der Wüstenreise freies Geleit von irgend einem angesehenen Häuptlinge zu fordern.

Je mehr man mit der Wüste vertraut wird, um so weniger empfindet man ihre Mühsalen und Beschwerden. Demungeachtet bringen doch erst die letzten Stunden der Wüstenreise die höchsten Wonnen. Wenn das erste Palmendorf des bebauten Landes, wenn das Silberband des heiligen Stromes wiederum vor dem Auge liegt, sind diese Stunden gekommen. Mit letzter Kraft streben die Kamele vorwärts, ihren ungeduldigen Reitern noch viel zu langsam. Da klingen diesen freundliche Grüße entgegen. Das Dorf am Nil ist erreicht. Aus allen Hütten hervor drängen sich, die Wanderer zu bewillkommnen, Männer und Frauen, Greise und Kinder. Jeder beeifert sich, hilfreiche Hand, labende Erquickung zu bieten. Zuerst spendet man Wasser, frisch im Strome geschöpftes, köstliches Wasser; dann bringt man herbei, was man gerade besitzt, [515] um Leib und Seele zu laben. Um das errichtete Lager bewegen sich neugierige Menschen, frageneifrige Männer und Frauen, tanzlustige Mädchen und Jünglinge. Tambura und Tarabuka, Zither und Trommel des Landes, laden zum Reigen; tanzende Mädchen erfreuen Fremde und Einheimische. Selbst das Kreischen der Schöpfräder vom Strome, vormals tausendmal verwünscht, wird heute zur klangvollen Weise. Der Abend bringt neue Genüsse. Auf federndem kühlen Ruhebette behaglich gelagert, trinkt der Abendländer mit dem Eingeborenen um die Wette Palmwein, den Nektar des Landes, und Zither- und Trommelschall, taktmäßiges Stampfen und Händeklatschen der tanzenden Jünglinge und Mädchen begleiten das köstliche Trinkgelage. Endlich fordert die weiterschreitende Nacht ihre Rechte. Tambura und Tarabuka verstummen, der Reigen endet. Einer der erquickten, ge- und übersättigten Reisenden nach dem andern sucht die Ruhe, und nur die Wellen des Stromes murmeln noch und flüstern.



Blätter und Blüthen.


Das Denkmal Karl Maria von Webers in Eutin. (Mit Abbildung S. 513.) Ist es zu viel, wenn man sagt, Weber sei heute noch der volksthümlichste aller deutschen Komponisten, volksthümlicher fast als Mozart, jedenfalls als Beethoven und Wagner? Wo ist heute eine Opernbühne, die nicht „Freischütz“ und „Preciosa“ unter ihrem stehenden Vorrath von Stücken zählte, wo ist die Festhalle, die nicht von den Klängen der „Jubelouverture“ widergehallt, wo ist das ballfähige Töchterchen, dem nicht schon die „Aufforderung zum Tanz“ in den Füßchen geprickelt hätte? Wer hätte nicht kräftig mitgesungen „Das ist Lützows wilde verwegene Jagd, Hurrah!“ und den fröhlichen Hochzeitsreigen „Wir winden Dir den Jungfernkranz“?

Gewiß, jeder Deutsche, selbst wenn er gar nicht musikalisch wäre, kennt den klang- und anmuthreichen Meister. Und wem dieses Verwachsensein mit dem Leben des Volkes noch nicht Dank genug ist an den Spender all dieser köstlichen Melodienschätze, der gehe nach Dresden auf den Theaterplatz; dort steht sein Denkmal seit 28 Jahren, von Rietschels Meisterhand entworfen (vergl. „Gartenlaube“ 1862, S. 93), und der gehe nach dem kleinen Städtchen Eutin in dem oldenburgischen Fürstenthum Lübeck, wo seit dem 1. Juli d. J. in einem Eichenhain ein zweites Denkmal des Helden der Töne steht, ihm gewidmet von seinen treuanhänglichen Landsleuten. Denn hier in Eutin ist Karl Maria von Weber am 18. Dezember 1786 geboren.

Unser Bild zeige dem Leser dieses neu enthüllte Kunstwerk. Auf einem fünf Meter hohen Granitblock steht die Büste des Meisters in Bronze und am Sockel ruht vorne die Muse in Gestalt eines schlanken Mädchens, das eine Lyra in den Armen hält und den Blick gen Himmel richtet. Lustig in die Welt blickende musicirende Kindergestalten befinden sich auf der Rückseite des Sockels. Auf beiden Seiten des Denkmals aber weisen die Masken der Tragödie und der Komödie auf den ernsten und heiteren Charakter von Webers dramatischen Schöpfungen hin.

Ein jugendlicher Künstler ist der Verfertiger des Denkmals, Paul Peterich, im weiteren Sinn ein Landsmann des Komponisten, geboren in Schwartau bei Lübeck, ein Schüler Schapers und erst 26 Jahr alt. Eine hohe Begabung muß diesem jungen Meister innewohnen, denn noch vor 5 Jahren war seine Arbeitsstätte nicht das Atelier des Bildhauers, sondern die Drechslerwerkstatt. Es war eine rührende Scene bei der Enthüllung, als die feierlich zum Feste geladenen Eltern des Bildhauers ihrem Sohn, der so Schönes hatte schaffen dürfen, um den Hals fielen – dem Künstler ein Lohn, mehr werth noch als die Bewunderung der Menge! =     

Die Kriegergräber bei Metz. Die deutschen Vereine von Metz und Umgegend, 30 an der Zahl mit rund 4000 Mitgliedern, haben eine Vereinigung gebildet, welche es sich zur Aufgabe macht, jährlich am 15. August alle im Bereiche des Metzer Kreises gelegenen Kriegergräber und Denkmäler mit frischem Schmuck zu versehen und daran anschließend auf dem Schlachtfelde eine Gedenkfeier mit Rede und Gesang zu begehen. Außerdem sollen Gelder gesammelt werden, um die dauernde Erhaltung der Gräber und Denkmäler auch dann zu sichern, wenn der Staat ausreichende Mittel hierfür einst nicht mehr bewilligen sollte. Mitglied der Vereinigung kann jedermann durch Zahlung eines Jahresbeitrags von mindestens 1 Mark werden. Auswärtige erwerben sich hierdurch das Recht, zu beanspruchen, daß ein von ihnen bestimmtes Grab jährlich einmal von seiten der Vereinigung nachgesehen und über dessen Zustand Auskunft ertheilt werde. Die Vereinigung will übrigens auch ohne Gegenleistung allen Aufträgen von Angehörigen und Freunden hier ruhender Krieger nachkommen, insbesondere am jährlichen Gedächtnißtage aus der Heimath eingegangene Kränze auf den Gräbern der Betrauerten niederlegen.

Die der Vereinigung mitgetheilten Adressen Angehöriger etc. werden in das Gräberverzeichniß eingetragen, auch zur Kenntniß der mit der Unterhaltung der Kriegergräber derzeit beauftragten Behörde gebracht werden, insoweit hieraus ein Vortheil für die Betheiligten vorauszusehen ist. Des weiteren sammelt die Vereinigung Erinnerungen noch lebender Mitstreiter und Augenzeugen aus den Kämpfen um Metz, welche zur Bereicherung der Kriegsgeschichte dienen können, sowie die hierüber erschienenen Werke und Abhandlungen, endlich Fundsachen vom Schlachtfelde; die Bücher werden der Bibliothek, die Fundstücke dem Museum in Metz einverleibt.

Schriftsachen sind an den Vorstand der „Vereinigung zur Schmückung und fortdauernden Erhaltung der Kriegergräber und Denkmäler bei Metz“ und Gelder an deren Kassirer, Rendant Jonas in Metz, zu richten.

Altes und Neues für die Reisezeit. Die lang hingestreckten Ländergebiete zwischen dem Kanal und dem Schwarzen Meer, zwischen den Alpen und dem Kjölengebirge, oder Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Rumänien, die Schweiz, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Dänemark und Skandinavien zusammengenommen – das ist das gewaltige Reisegebiet des „Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen“ und der mit ihm verbundenen Bahnen, welches uns in dem vom Verein herausgegebenen Verzeichniß zusammenstellbarer Fahrscheinhefte und der beigegebenen Uebersichtskarte vor Augen geführt wird. Der Reiselustige findet die Hauptbahnen dieser Länder in etwa 2200 Hauptabschnitte und 850 Nebenabschnitte zerlegt, die er, Kilometer an Kilometer reihend, nach Gefallen zu einer kleineren oder größeren Fahrt in die blaue Ferne zusammenstellen kann.

Von der bisherigen Begrenzung der Fahrten auf Rundreisen im engeren Sinn ist, nachdem dies bereits früher für das Deutsche Reich geschehen war, allgemein Abstand genommen; aber wie seither muß die ganze Reisestrecke mindestens 600 Kilometer betragen. Die Zusammenstellung der Abschnitte zu einem Heft kann jetzt nach Wunsch des Reisenden auf dreierlei Weise erfolgen: entweder als Hin- und Rückfahrt für die gleiche Strecke, die also mindestens 300 Kilometer lang sein muß, oder wie früher als Rundfahrt, oder auch theils als Hin- und Rückfahrt, theils als Rundfahrt, mit der einzigen Einschränkung, daß ein und dieselbe Strecke nie mehr als zweimal befahren werden darf. – Wie früher, kann der Reisende beliebige Abschnitte erster und zweiter Klasse oder auch zweiter und dritter Klasse in einem Hefte vereinigen lassen; nie aber Fahrscheine erster und dritter, oder erster, zweiter und dritter Klasse.

Viele, theilweise neue Reiseverbindungen sind mit besonderer Rücksicht auf den Touristen- und Badeverkehr aufgenommen. An besonders schönen Punkten, oder wo sich sonst Gelegenheit oder auch die Nothwendigkeit ergiebt, sind Dampfschiffsgelegenheiten, und wo es nicht anders geht, Omnibus- und Straßenbahnfahrten mit aufgenommen. – Eine dankenswerthe Neuerung haben die preußischen Staatsbahnen eingeführt: die sogenannten Abstecherscheine, mittels deren man unterwegs, oder vom Endpunkt der Reise aus Abstecher nach solchen Orten machen kann, die nicht in das Netz der zusammenstellbaren Hefte aufgenommen oder lediglich Zwischenstationen eines Abschnittes sind. Will z. B. jemand Celle besuchen, so wird er sich von Lehrte aus einen „Ergänzungsschein“ nach Celle und zurück geben lassen; er braucht dann nicht wie bisher eine besondere Fahrkarte zu lösen. Der Ergänzungsschein ist natürlich gleich bei der Bestellung des Reiseheftes mit aufzunehmen.

Wer mit seiner Zeit und mit seinem Gelde haushalten muß, wird gut thun, sich bei Reisen von 300 km einmal gemessener Entfernung vorher über den Preis und die Gültigkeitsdauer einer Rückfahrkarte zu erkundigen. Derartige Karten werden meist nach allen größeren Plätzen ausgegeben und haben den zweifachen Vortheil, daß man, allerdings bei beschränkter Gültigkeit und nur einmaliger Fahrtunterbrechung hin und zurück, 25 Kilo Gepäck frei hat und in der Regel doch noch weniger für die Fahrkarte selbst bezahlen muß. Eine Reise dritter Klasse von Münster i. W. nach Eisenach über Kassel und zurück, direkte Entfernung 322 km, kostet mit Fahrscheinheft, gültig 45 Tage, aber ohne Freigepäck, 22 Mark 20 Pfennig; eine Rückfahrkarte, 5 Tage gültig, mit Gepäckfreiheit, nur 19 Mark 40 Pfennig. Wer sich also mit 5 Tagen begnügen kann, dem wird die Wahl nicht schwer fallen!

Krankenbeförderung auf den Eisenbahnen. Das Reisen ist – der Regel nach – nur für Gesunde. Daher können auf den deutschen Eisenbahnen solche Personen, welche wegen einer sichtbaren Krankheit den Mitreisenden lästig fallen, von der Fahrt ausgeschlossen werden – es sei denn, daß sie ein ganzes Coupé – ein „Abtheil“ – bezahlen. Noch schlimmer sind jene Unglücklichen dran, welche wegen dauernden Siechthums an das Bett gefesselt sind. Reisen in die Bäder, in Krankenheilanstalten, überhaupt von einem Ort zum andern können sie nur in besonders hierzu eingerichteten Wagen machen, und mit Dank sind daher Einrichtungen zu begrüßen, welche eigens zur Beförderung von solchen Kranken getroffen sind. Auf den preußischen Staatsbahnen sind Krankenwagen nach Art der Salonwagen vorhanden, die mit Betten und allem zur Krankenbeförderung Nöthigen versehen sind. Derartige Wagen sind auf den Stationen Altona, Köln, Erfurt, Wiesbaden, Hannover und Berlin, Stettiner Bahnhof, aufgestellt; sie werden auf Wunsch aber auch auf jeder andern preußischen Staatsbahnstation zur Verfügung gehalten. Für die Benutzung sind wenigstens 12 Fahrkarten I. Klasse zu lösen.

Wer sich diese Ausgabe nicht gestatten kann, dem wird für die Hälfte des Preises auch ein geeigneter Gepäck- oder Güterwagen oder auch ein Personenwagen III. oder IV. Klasse ohne Sitzbretter eingeräumt; in diesem Falle hat jedoch der Kranke für das erforderliche Bett, sowie für Stühle, Sessel und alle Gebrauchsgegenstände selbst zu sorgen. Zwei Begleiter sind frei.

Solche Einrichtungen verdienen umsomehr Anerkennung, als, wie die „Gartenlaube“ in ihrem Artikel „Gesundheitspflege und Eisenbahnverkehr“ (Jahrgang 1889, S. 494) nachgewiesen hat, im Eisenbahnverkehr noch mancherlei andere Forderungen der Hygieine nicht erfüllt sind.

Im Augustinerkeller zu München. (Zu dem Bilde S. 496 u. 497.) Ein schwüler Juliabend lagert über der bayerischen Hauptstadt. Da geht es in langen Wallfahrtszügen hinaus nach den schattigen Gärten, wo die reine Luft so wohlig unter den Bäumen hersäuselt und ein Trunk vom Faß weg, wie ihn der Kaiser nicht besser haben könnte, Gaumen und Herz aufs herrlichste erquickt.

An kunstlosen hölzernen Tischen sitzt die Bevölkerung bunt durcheinander. Die Gewohnheit des Kellergehens vereinigt seit der Väter [516] Zeiten alle Stände, und voll vergnügter Gemüthsruhe sitzen der hohe Beamte, der Offizier, der berühmte Künstler mit ihren Damen zwischen den einfachen Arbeiter- und Handwerkerfamilien. Kein roher Ausruf, kein häßliches Wort stört den Frieden der allgemeinen Erholung; das Münchener Volk besitzt ein sicheres Schicklichkeitsgefühl und dank demselben verkehrt hier alles in vollkommenstem Behagen. Die beiden Damen im Mittelgrund, Mutter und Tochter, könnten auch ohne den Schutz des jungen Doktors hier sitzen, dessen Gegenwart freilich den Reiz des Kellers für die hübsche Kleine wesentlich zu erhöhen scheint. Und es ist immer gut, einen Herrn zu haben, denn die Kellnerin, das „Fräulein“ mit der blonden Haarfrisur, ist sehr harthörig für alleinsitzende Damen, nicht minder für grämliche alte Junggesellen, deren einer hinter ihrem Rücken erbost mit dem Deckel klappert, während sie huldvoll lächelnd mit dem jungen Künstler sch[ä]kert. Wer klug ist, holt sich seine Maß selbst, das thun die Studenten im Hintergrund nicht minder als die Professoren oder der eben im Schweiß seines Angesichts mit der dicken Gattin anrückende Bürger, dessen Seele nach einem frischen Trunk lechzt.

Daß ihn hier jeder zu demselben Preise haben kann wie in seiner eigenen Behausung, daß es ihm außerdem freisteht, sein Abendessen – kaltes Fleisch, oder auch nur ein Stück Brot – mitzubringen, das erklärt einerseits den völligen Mangel an Bequemlichkeit, welcher von dem richtigen Münchener als „Gemüthlichkeit“ empfunden wird; andererseits ist es aber ein Umstand von hoher wirthschaftlicher Bedeutung, denn wenn die ganze Bevölkerung einer Großstadt abends ohne Mehraufwand Luft und Behagen im Freien genießen kann, so sind die Folgen davon für Gesundheit und gute Laune gewiß hoch anzuschlagen. Und deshalb hat München alle Ursache, sich seiner „Keller“ zu freuen – sie gehören zu den besten Eigenthümlichkeiten der alten Isarstadt! Br. 

Das Treideln auf der Havel. (Zu dem Bilde S. 501.) Nicht überreich an Reizen ist der Strom, den unser Bild dem Leser vorführt. Aber in der Nähe der größeren Städte Potsdam, Spandau, da belebt sich der Spiegel der breithinströmenden Havel mit allerlei Fahrzeug, und malerische Bilder erscheinen dem Blick.

Dem linken Stromufer entlang führt der sogenannte „Treidelsteg“, eine Einrichtung, die in andern Gegenden unseres deutschen Vaterlandes unter dem Namen „Leinpfad“ bekannt ist. Da sieht man fast täglich gebückte Männergestalten langsam dahinschreiten: an einer Leine, die an einem um die Brust geschlungenen Gurt befestigt ist, ziehen sie lange Holzflöße hinter sich her, mit einem derben Knüppel sich stützend und nachhelfend, die Treidler.

Es ist ein genügsames, hartgewöhntes Volk; einfache Strohhütten auf den mächtigen Flößen sind ihre Wohnung und schwer ist ihre tägliche Arbeit – wird sie ja doch in vielen Gegenden längst nicht mehr von Menschen, sondern von Pferden besorgt. Aber des Treidlers Leben ist darum nicht ohne Lichtblicke. Vor seinem Strohzelte kocht er sich sein einfaches Mahl, und wenn der Abend gekommen ist, da werfen die Flammen seines „Herdfeuers“ breite Feuersäulen über den glatten Spiegel des Stroms und lustige Klänge tönen herüber an das schweigende Ufer, Musik, Gesang und fröhliches Schwatzen.

Sie kommen von weit her, die Oder herab, durch den Finowkanal in die Havel, und versorgen die Bauhöfe mit dem Holz ihrer Flöße. Wenn aber der nahende Winter das Treideln verbietet, dann suchen sie sich zu Hause andere Beschäftigung, bis mit dem neuen Frühjahr auch die mühselige Fahrt nach dem städtereichen Havellande wieder beginnt.

Die Stecknadel gehört zu den kleinen Behelfen des menschlichen Lebens, mit denen man wenig Federlesens macht und die einzeln zu den werthlosen Dingen gerechnet werden. Und doch ist die Stecknadelindustrie eine der großartigsten. In Birmingham werden täglich 37 Millionen Stecknadeln hergestellt; die übrigen Fabriken in England liefern täglich ungefähr 19 Millionen; in Frankreich werden ungefähr 20, in Deutschland und andern Ländern 10 Millionen täglich verfertigt. So kann das Kleinste wie in der Natur so auch in der Industrie durch seine Masse eine große Rolle spielen. Die kleine Stecknadel ist für Arbeiter, Fabrikanten und Kaufleute so wichtig wie die riesigen Lokomotiven und Kanonen. †     



Kleiner Briefkasten.
(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

A. W. und R. Sch. Steubenville, Ohio. Die Dienstzeit eines vor Beginn der Militärpflicht freiwillig eintretenden Infanteristen beträgt wie bei den Ausgehobenen drei Jahre. Nur den Truppentheil, bei welchem er dienen will, kann der Freiwillige sich wählen.

P. F. in St. Sie wünschen zu wissen, wo die frühere so beliebte „Naive“ Ihres heimischen Stadttheaters jetzt ein Engagement gefunden hat. Auf solche Fragen ertheilt der „Neue Theateralmanach für das Jahr 1890“, herausgegeben von der „Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger“ (Berlin, F. A. Günther und Sohn), der jetzt an die Stelle des Gettkeschen getreten ist, zuverlässige Auskunft. Er ist ein vollständiges Adreßbuch des deutschen Theaters, giebt über alle denkwürdigen Ereignisse im Theaterleben des letzten Jahres, über die Adressen der dramatischen Schriftsteller, über die theatralischen Vereine, Agenturen und alles Wissenswürdige auf diesem Gebiete eingehenden Aufschluß.

H. R. in Bremen. Ihre Anfrage eignet sich zur Beantwortung durch den Briefkasten nicht. Lassen Sie sich gefl. durch einen Buchhändler Werke der gewünschten Art vorlegen und wählen Sie dann selbst!

„Who is right?“ Universitätsprofessoren bedürfen während der gesetzlichen Ferienzeit keines Urlaubs, doch müssen die ordentlichen Professoren dem Dekan der betr. Fakultät Anzeige machen; Privatdozenten bedürfen keines Urlaubs, doch haben sie dem Rektor eine bezgl. Anzeige zu erstatten. – Bureau- und Unterbeamte der Universitäten haben wie jeder andere Staatsbeamte in und außerhalb den Ferienzeit zu Reisen oder sonstigen zeitweiligen Unterbrechungen ihres Dienstes einen Urlaub nachzusuchen. Wie oft und unter welchen Umständen derselbe ertheilt wird, hängt von den jedesmaligen dienstlichen Verhältnissen ab.

H. B. im Ruhrthal. Es ist bis jetzt nicht nur nicht gelungen, einen Winkel, welcher kein rechter ist, mittels geometrischer Konstruktion in drei gleiche Theile zu theilen, sondern die Unmöglichkeit der Lösung ist schon lange bestimmt bewiesen. Daraus folgt, daß auch keine Hochschule einen Preis auf die Lösung des Problems der Dreitheilung eines Winkels setzen kann.

Französische Abonnentin in Tours. Der Ausdruck „Böhmische Dörfer“ findet sich nach dem neuen „Deutschen Wörterbuch“ von Moriz Heyne schon im Simplicius Simplicissimus. Er bedeutet nichts anderes als unbekannte, fremdartige Dinge, denn den Deutschen klangen die böhmischen Dorfnamen fremd und unverständlich. Uebrigens hat sich bald der Ausdruck „spanische Dörfer“ neben den von den „böhmischen“ gesetzt, selbstverständlich in durchaus gleicher Bedeutung.

M. Sch. in Altenburg. Die englischen Unterrichtsbriefe von Toussaint-Langenscheidt, die Sie durch jede gute Buchhandlung beziehen können, dürften Ihren Wünschen wohl entsprechen. Sie können daraus etwas Tüchtiges lernen, wenn Sie Fleiß und Ausdauer besitzen.

A. R. in New-York. Nicht verwendbar.

H. K. in Duisburg. Ihre Anfrage ist so allgemein gefaßt, daß wir eine bestimmte Beantwortung derselben Ihnen nicht zu geben vermögen.

M. T. in L. Ein beachtenswerther Vortrag über Frauenasyle für gebildete Stände, der viele derartige Stifte namhaft macht und deren Einrichtungen bespricht, wurde auf dem Frauentage zu Erfurt am 30. September 1889 von Emilie Busse gehalten und ist im Druck (Verlag der Körnerschen Buchhandlung [O. Biedermann] in Erfurt) erschienen.

P. N. u. E. L. in Berlin u. M. S. in Chemnitz. Wir bitten um Angabe Ihrer genauen Adresse, damit wir Ihnen brieflich antworten können.


Allerlei Kurzweil.


Hieroglyphen.

Die Bilder stellen den Anfangsbuchstaben ihres Namens dar. Die Vocale sind dem Sinne nach hinzuzufügen.

Kreuzräthsel.

Die Buchstaben dieser Figur
sind so zu ordnen,
daß die vier langen senkrechten
und die ihnen entsprechenden
wagerechten Reihen bezeichnen:

1) einen der größten Ströme Mittel-Europas,
2) eine Giftpflanze,
3) einen griechischen Mathematiker und Philosophen,
4) eine bekannte Meeresstraße.
Arithmetische Aufgabe.
Anagramm.

Nach der Regel des Dominospiels, daß nur
Felderflächen von gleicher Augenzahl an einander
kommen, bilde aus vier Dominosteinen nebenstehende
Figur. Das Eckfeld links oben hat doppelt
soviel Augen als das rechts unten; ebenso
hat das Eckfeld rechts oben doppelt soviel Augen
als das links unten. Alle vier Steine haben
zusammen 24 Augen. Welche Steine werden
benutzt?
Horst, Leid, Drache, Narbe, Lena, Nadel, Agnes, Esse, Balsam,
Osborne.

Nach dem Hinzufügen je eines Buchstabens ist aus jedem der obigen
Wörter ein neues Wort zu bilden und zwar sollen die hinzugefügten
Buchstaben einen eßbaren Pilz nennen. Die Wörter bedeuten:
1. einen Vogel, 2. eine Stadt in Ostindien, 3. eine Räthselart,
4. eine Stadt in der Rheinprovinz, 5. ein Gebirge, 6. einen Propheten,
7. einen Fluß in Asien, 8. ein Ackergeräth, 9. einen biblischen Namen,
10. eine bekannte höhere Lehranstalt in Paris. A. St.     






Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. * Um aus unserer Abbildung 3 ein richtiges Bild von dem wirklichen Aussehen des dargestellten Abschnittes zu gewinnen, muß man sich die farbige Ausmalung hinzudenken. Die Umrandung ist in den Farben Grün, Blau, Roth und Gold ausgeführt, das Anfangs F zeigt außerdem noch eine Lilafüllung. Die drei über dem letzteren stehenden Zeilen sind roth
  2. Vergl. „Gartenlaube“ 1890, Halbheft 8.