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Die Gartenlaube (1888)/Heft 1

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Das Eulenhaus.

Hinterlassener Roman von E. Marlitt.
Vollendet von W. Heimburg.

Die Goldregen- und Syringenbüsche in den Hofwinkeln des Gerold’schen Gutes strotzten heuer von Dolden und Trauben; das Brunnenwasser stürzte, durchfunkelt vom jungen Maisonnenlicht, mit kräftigem Getöse in den Steintrog, und auf den Stall- und Scheunendächern lärmten die Spatzen. Und es schien, als blühe, dufte und lärme es heute stärker als je auf dem Geroldshofe, so recht wie im Gefühl der Heimathsfreude, denn die Büsche, der Brunnen und das alte Sperlingsgeschlecht in seinen liederlichen, verrotteten Nestern: sie blieben ja da, sie wurden nicht vertrieben, wie die aufgeschreckten Spinnen und Motten hinter fortgerückten uralten Schränken und Truhen im Gutshause. Ja, schlimm genug sah es aus da drinnen, fast wie im Kriege: so kahl waren die Wände und ein so wildes Durcheinander lag und stand auf den Dielen des Speisesaales! … Da war nichts von

Augensprache.0 Nach Bildern von Fr. Prölß.

[2] dem, was brave Hausfrauen in den Wäschespinden und Bettkammern und ihre Eheherren an Haus-, Silber- und Jagdgeräth aufgesammelt hatten, das nicht in diesen Saal mußte, um sich vor fremden, kaltprüfenden Augen zu präsentiren und nachher auf weit aus einander laufenden Wegen zerstreut und aus aller Gemeinschaft gerissen in die Welt zu wandern.

Wie sie beleidigend durch die offenen Saalfenster herausklang, die wie mit dickem Möbel- und Bücherstaub belegte Gerichtsschreiberstimme bei ihrem eintönigen „Zum Ersten, zum Zweiten etc.“! Es war fast zum Verwundern, daß nicht einer der alten Gestrengen seinen jahrhundertelangen Schlaf abschüttelte, um bei dieser Stimme mit dem Nachdruck des „von Rechtswegen“ protestirend aus dem unterirdischen Steingewölbe der nahen Hauskapelle herauszufahren. Da drunten zerstäubte ja so manche Männerfaust, die einst kräftig dreingeschlagen, um das, was sie an Hab und Gut erworben, oder vielleicht auch nur usurpirt, mit Mord und Todtschlag zu behaupten. Aber der letzte Besitzer von Geroldshof, dem jetzt Alles, was nicht niet- und nagelfest war, so vor den Augen weggeschleppt wurde, hatte gesänftigtes Blut in den Adern. Er war ein edel schöner Mann mit verschleiert blickenden Augen, mit einer Stirn, die das Sinnen und Grübeln faltete und zugleich verklärte.

Er saß in seiner stillen, just in dem Winkel gelegenen Hinterstube, wo sich das Syringengebüsch hoch bis über das Fenster hinaufreckte. Die weißen und blauen Blüthentrauben klopften bei jedem Windhauch schaukelnd an die Scheiben, die, festgeschlossen, den Auktionsspektakel vom Speisesaal her ziemlich erfolgreich abwehrten und nur ganz vereinzelte, schwache Laute herüberklingen ließen.

Herr von Gerold schrieb an einem Tisch von Fichtenholz, den man ihm großmüthig aus der Konkursmasse überlassen. Für ihn war es offenbar nicht von Belang, daß sein Manuskript jetzt auf der weißgescheuerten Platte eines Gesindetisches lag; sein Geist, der Außenwelt abgewandt, vertiefte sich in Probleme, während die Hand kleine, weichverschwimmende Schriftzüge auf das Papier warf; und nur dann wurde sein Aufblick bewußter und so Etwas wie liebevolle Freude an einem plötzlich auftauchenden Kindergesicht glitt über seine Züge, wenn die Syringenblüthen draußen ihm zunickten.

Es war aber außer ihm noch Jemand im Zimmer, ein kleines, dickes blondhaariges Mädchen, das sich in eine der Fensterecken gedrückt hatte. Dem kleinen Ding lag Etwas genau so am Herzen, wie dem schreibenden Mann dort sein Manuskript – die Spielkameraden. Es hatte in dem Winkel Alles zusammengeschleppt, was ihm allein gehörte, ja, ganz allein! Das schönbemalte Porcellantafelgeschirr für eine Kindergesellschaft hatte die gute Hoheit geschickt, und alle Puppen, die Schleppkleiderdamen wie die Schreikinder, waren zu Geburtstag und Weihnachten in langen Kisten angekommen, und auf die Bretterdeckel hatte Tante Claudine allemal selbst geschrieben: „An die kleine Elisabeth von Gerold“ – der Papa hatte es ja stets dem Kinde vorgelesen.

Nun saß diese kleine Elisabeth inmitten ihrer Reichthümer, wie in einem Nest, das jüngste Wickelkind im Arm, und die großen Blauaugen scheu und ängstlich auf die Thür geheftet, wo vorhin die bösen Männer mit den letzten Bildern und der schönen „Ticktackuhr“ hinausgegangen waren.

Sie patschte leise beschwichtigend auf das Wickelkissen; sonst aber verhielt sie sich mäuschenstill; denn der Papa machte ja immer ein so erschrecktes Gesicht, wenn sie ihn im Schreiben störte. Und es kam auch jetzt kein Laut aus ihrem Munde, als plötzlich die gefürchtete Thür lautlos aufging; aber die Wickelpuppe glitt vom Schoße auf die Erde nieder, – die kleine dicke Person erhob sich von ihrem Korbstühlchen, wackelte, so schnell es die Beinchen vermochten, durch das Zimmer und hob mit glückstrahlendem Gesicht die Arme zu der Dame empor, die eingetreten war.

Ach, sie war gekommen, die Tante Claudine, die schöne Tante, die dem Kinde vieltausendmal lieber war als Fräulein Duval, die Gouvernante, die immer zu den anderen Leuten im Hause gesagt hatte: „Fi donc, was für ein pauvres Haus! Nichts für Claire Duval! – Ich gehe!“ Und sie war gegangen und war gar nicht mehr gut und höflich zu dem Papa gewesen, und das Kind hatte sich nachher die Wange rein gerieben von Fräulein Duval’s kaltem, häßlichem Kuß … Ja, das war nun freilich anders, als jetzt zwei weiche Hände es sanft emporhoben und ein süßer Mund es zärtlich küßte … Und dann glitt die junge Dame eben so geräuschlos, wie sie gekommen, über die Dielen – nur das dunkle Seidenkleid knisterte ein wenig – und legte die Hand auf die Schulter des schreibenden Mannes.

„Joachim!“ rief sie ihn mit sanfter Stimme an und bog sich vor, um in sein Gesicht zu sehen.

Er fuhr empor und stand sofort auf seinen Füßen.

„Ah, Claudine!“ rief er in sichtlichem Schrecken. „Schwesterchen, liebes Kind, hierher durftest Du nicht kommen! … Sieh, ich trag’s leicht, ich bin bereits darüber hinweg; aber Du wirst bittere Schmerzen leiden unter der Zerstörung, die Alles, was Du lieb hattest, nach allen Winden hin zerstreut! Armes, armes Kind! Wie mir die verweinten Augen da wehe thun!“

„Nur ein paar Thränchen, Joachim,“ sagte sie mit lächelnden Lippen, aber aus ihrer Stimme klang noch innerer Schmerz. „Daran ist nur der Rappe schuld, unser alter Briefträger, der uns jeden Morgen die Posttasche holte. Denke Dir, es erkannte mich sofort, das treue Thier, als es an mir vorübergeführt wurde –“

„Ja, Peter ist fort, Tante,“ sagte die kleine Elisabeth. „Er kommt nicht wieder, der gute Peter; und der Wagen ist auch fort, und der Papa muß nach Eulenhaus laufen.“

„Er muß nicht laufen, Herzchen; ich habe einen Wagen mitgebracht,“ tröstete Tante Claudine. „Ich will nicht erst ablegen, Joachim –“

„Darum darf ich Dich auch nicht bitten in diesem fremden Hause. Ich kann Dir auch nicht einmal eine Erfrischung anbieten. Die Köchin hat uns heute Mittag die letzte Kartoffelsuppe gekocht und ist dann gegangen, weil sie ihren neuen Dienst antreten mußte … Sieh, das sind lauter Bitternisse, die Du erfährst, und welche Du Dir ersparen konntest. Du wirst lange mit Dir kämpfen müssen, um nach Deiner Rückkehr an den Hof das häßliche Gespenst dieser Erinnerungen loszuwerden.“

Sie schüttelte leise den schönen Kopf.

„Ich gehe nicht an den Hof zurück. Ich bleibe bei Dir,“ erklärte sie bestimmt.

Er prallte zurück.

„Wie – bei mir? Willst Du mein – mein Bettelbrot theilen? Nie, Claudine, nie!“ – Er streckte die Hand abwehrend gegen sie aus. „Unser schöner Schwan, die Augenweide, die Freude so Vieler, sollte in dem Eulennest verkümmern? Hältst Du mich für einen Seelenmörder, daß Du ein solches Ansinnen an mich stellst? … Ich ziehe mich gern, ja, erleichterten Herzens zurück in das alte Haus, in Dein Haus und Erbe, das Du mir großmüthig zur Verfügung gestellt hast – es wird mich traut und heimisch umfangen, denn ich habe mein stilles Schaffen, das mir Alles verklärt, mir das karge Brot versüßt und die alten Wände vergoldet; aber Du, Du?“

„Ich habe diesen Protest vorausgesehen und deßhalb allein gehandelt,“ sagte sie fest und sah ihm mit ihren langbewimperten sanften Augen beweglich in das Gesicht. „Ich weiß wohl, daß Du mich nicht brauchst, Du genügsamer, stiller Einsiedler; was aber soll aus Deiner kleinen Elisabeth werden?“

Er blickte wie erschrocken nach dem Kinde hin, das sich eben abmühte, einen kleinen, runden Kattunmantel, wie ihn die Thüringer Bauernfrauen tragen, zum Abmarsch überzuwerfen. „Fräulein Lindenmeyer ist ja da,“ sagte er zögernd.

„Fräulein Lindenmeyer war Großmamas gute, brave Kammerfrau und ist zeitlebens treu wie Gold gewesen; aber nun ist sie alt und grau; wir können ihr unmöglich zumuthen, das Kind zu behüten. Und wie denkst Du Dir wohl den Unterricht von Seiten der alten guten, schwärmerischen Seele?“ fuhr sie lebhaft fort, während ein trübes Lächeln durch seine Züge schlich. „Nein, lasse mich gut machen, was ich verschuldet habe! Ich durfte nicht zu meiner alten Hoheit gehen; ich mußte die Hofdamenstellung zurückweisen und bei Dir bleiben, um das abwärts rollende Rad nach Kräften mit aufzuhalten. Um den Geroldshof stand es schon damals schlimm –“

„Und Dein Bruder hatte sich thörichter Weise ein verwöhntes Weib aus Spanien mit heimgebracht, das jahrelang an dem deutschen Klima krankte, bis es der Engel der Erlösung von dem [3] Schmerzenspfühl hinwegnahm, nicht wahr, Claudine?“ ergänzte er mit aufquellender Bitterkeit. „Dazu war er ein ganz erbärmlicher Oekonom, ein Unnützer, der die Wiesenblumen und Gräser unter dem Mikroskop studirte, ihre Schönheit besang und dabei vergaß, daß sie in erster Linie gutes Milchfutter sein müssen. Jawohl, wahr ist’s! In schlimmere Hände konnte das schon damals ziemlich abgewirthschaftete Gut nicht kommen, als in die meinen; aber bin ich allein dafür verantwortlich zu machen? Was kann ich dafür, daß kein Tropfen des Bauernblutes in mir lebt, welches sich immer ganz gut mit dem blauen Geblüt in den Adern unserer Vorfahren vertragen hat? Ackerpflug und Viehzucht haben ja zumeist das nun in alle vier Winde verflogene Gerold’sche Vermögen erworben, und ich muß mich vor dem geringsten Taglöhner im Dorfe schämen, der mit Fleiß und Schweiß seinen ererbten Kartoffelacker zu behaupten sucht. Ich nehme Nichts mit, als meine Feder und eine Hand voll Kleingeld, das mir und meinem Kinde Brot geben muß, bis mein Manuskript vollendet und eingeliefert ist. Deßhalb schreibe ich mit jagenden Pulsen –“

Er unterbrach sich. Bitter lächelnd trat er der jungen Dame näher und legte beide Hände auf ihre Schultern. „Ja, siehst Du, Kind, Herzensschwester: wir Zwei, die zwei Letzten, sind Schwimmvögel, die das ehrbare Haushuhn, das alte Geroldsgeschlecht, am Schluß seiner langen Erdenlaufbahn ausgebrütet hat! Wir sind schon als Kinder instinktmäßig in ein besonderes Fahrwasser gelaufen, ich, der ‚Träumer‘, der Grübler und Sterngucker, und Du, die Nachtigall mit der süßen Goldkehle, die Huldgestalt mit dem sinnigen Thun und Wesen … Und nun kommst Du zu dem zerstreuten Menschen und Bücherwurm, der ich bin, und möchtest Dich mit ihm im Eulenhaus verkriechen –“ er schüttelte energisch den Kopf – „nicht bis zur Schwelle des alten Hauses gehst Du mit, Claudine! Fahre Du nur mit dem Wagen wieder heim! Meine Beine sind steif geworden vom stillen Hocken in diesem Winkel, wohin ich mich vor dem Menschentrubel geflüchtet habe; der Marsch nach dem Eulenhaus wird ihnen gut thun, und mein Kind wird der Friedrich, unser alter, treuer Friedrich tragen, wenn die Beinchen müde werden sollten. Und nun ein kurzes Lebewohl, Claudine!“

Er breitete die Arme aus, um die Schwester abschiednehmend zu umfangen, aber sie wich zurück.

„Wer sagt Dir denn, daß ich wieder zurück kann?“ fragte sie ernst. „Ich habe um meine Entlassung gebeten, und sie ist mir gewährt worden. Meine theure, alte Hoheit hat mich verstanden und ohne daß auch nur eine Frage von ihrer Seite gefallen wäre, weiß sie genau, wie die Sachen liegen. Und so sei auch Du diskret, Joachim –“ ein tiefes, dunkles Roth überfluthete jäh ihr Gesicht – „und lasse neben meinem Wunsche, bei Dir zu sein, auch noch ein anderes Motiv für meine Heimkehr stillschweigend gelten. Nimm mich hin, wie ich zu Dir komme, mit verschlossenem Mund, aber das Herz voll treuer Schwesterliebe – willst Du?“

Er zog sie schweigend an sich und küßte sie auf die Stirn.

Sie athmete tief auf.

„Schmale Kost werden wir freilich haben,“ sprach sie weiter; „aber Bettelbrot ist’s drum doch nicht!“ sagte sie mit einem sanften heiteren Lächeln. „Die Hoheit läßt es sich nicht nehmen, mir mein Gehalt nach wie vor auszuzahlen, und das Legat von der Großmama wirft jährlich auch eine hübsche kleine Summe ab. Verhungern werden wir mithin nicht, und mit ‚jagenden Pulsen‘ darfst Du in Zukunft auch nicht schreiben – das leide ich nicht! In ungestörter Ruhe, zu Deinem eigenen Genusse sollst Du Dein schönes Werk vollenden … Und nun wollen wir uns fertig machen!“

Ihre Augen glitten durch das kahle Zimmer und blieben an einem kleinen Koffer hängen.

„Ja, das ist Alles, was ich von Rechtswegen mitnehmen darf,“ sagte Herr von Gerold, ihren Blick verfolgend. „Just nicht viel mehr, als der letzte Stammhalter der Gerolds bei seinem Eintritt ins Leben unwissentlich beansprucht hat – die allernöthigste Bekleidung seines Leibes. Doch nein – was für ein schwarzer Undank!“ Er schlug sich vor die Stirn, und seine Augen leuchteten glücklich auf. „Höre, Claudine, wie ist das doch seltsam! Besinne Dich! Kennst Du vielleicht einen Freund unseres Hauses, so einen der unbedenklich zweitausend Thaler mit der Rechten aus der Tasche nimmt und hingiebt, ohne daß die Linke es merkt? Ich kenne keinen, wie ich auch sinne und mein Gedächtniß zermartere, keinen auf der Gotteswelt! … Und da werden mir nun gestern einige Kisten hier nebenan in das Zimmer gestellt, so wie mit Fug und Recht; denn ich sollte sie ja in der Auktion durch einen Bevollmächtigten zurückerstanden haben – ich, der arme Hiob! Ich glaube, ich habe den Trägern ins Gesicht gelacht. Aber sie sind gegangen und haben sie mir absolut nicht wieder abgenommen, meine Bücher, meine kleine, kostbare Bibliothek, um die mir die Augen doch feucht geworden sind, als profane Hände sie, Band um Band, in Waschkörbe warfen, um sie zur Versteigerung hinüberzuschaffen … meine lieben Bücher und treuen Einsamkeitsgenossen! Wer sie mir aus dem Schiffbruch gerettet hat, er mußte es wissen, daß er mir geistigen Lebensodem und einen festen Stab zur Wanderung in die Wüste mit ihnen zurückgegeben hat, und dafür sei er dreifach gesegnet, der edle Unbekannte mit dem goldenen Herzen! … Ja, nicht wahr, auch Du sinnst vergebens, Claudine? Gieb’ es auf, das Räthsel lösen wir Beide nicht!“

Er schob sein Manuskript in die bereitliegende Mappe, und Claudine packte die Habseligkeiten der kleinen Elisabeth in eine Korbwanne, wobei die dicken Händchen des Kindes nach Kräften behilflich waren.

Zehn Minuten später stand auch dieser letzte Zufluchtsort des Heimathlosen verlassen und er durchschritt, das Händchen seines Kindes in der seinen, und die Schwester am Arme führend, den nächsten Korridor.

Ein schöneres Geschwisterpaar ließ sich kaum denken, als diese zwei Menschen, die umflorten Blickes zum letzten Male das Vaterhaus durcheilten, das heimische Nest, an dem die Gerold’s Jahrhunderte hindurch gebaut und verschönert hatten, und in welches nun fremde Vögel einflogen, Vögel mit goldenen Federn; denn das Gut war um sehr hohen Preis von unbekannter Seite erstanden worden.




Im Treppenhause stießen sie auf eine Dame, die aus dem Seitenflügel kam, in welchem die Versteigerung stattfand. Sie nahm eben, besorgt und sichtlich unwillig vor sich hinmurmelnd, den Saum ihres braunen Kleides auf; denn auf den Stufen lag dicker Staub, den in all den Tagen des lebhaften Menschenverkehrs kein Besen weggefegt haben mochte. Die Röthe eines jähen Erschreckens färbte ihr Gesicht, als sie aufblickend die Beiden vor sich sah.

„Ah, Pardon!“ sagte sie mit einer tiefen, unbiegsamen Stimme, indem sie zurücktrat. „Ich versperre Ihnen den Weg!“

Herr von Gerold sah einen Moment aus, als schwebe es ihm auf den Lippen, zu sagen: „Muß ich auch noch diesen Kelch leeren?“ Aber er bezwang sich und entgegnete mit einer höflichen Verbeugung:

„Der Weg aus diesem Hause steht uns allzu weit offen; ein Augenblick der Verzögerung kann uns nur lieb sein.“

„Es ist ja ein ganz schauderhafter Schmutz auf dieser Treppe – nein, wirklich empörend!“ polterte die Dame, als habe sie seine Antwort gar nicht gehört, und schüttelte abermals an ihren Röcken. „Ich gehe deßhalb nie zu einer Auktion, principiell nicht – was muß man da für alten Staub schlucken! Aber Lothar ließ mir ja keine Ruhe; er schrieb mir zweimal dringend, und da mußte ich wohl oder übel herüberfahren, um das Silbergeschirr zu erstehen … Er wird sich wundern – bis zu einer horriblen Summe bin ich gesteigert worden.“ Das Alles wurde unter abwechselndem Roth- und Blaßwerden hervorgestoßen, ohne daß sich auch nur einmal die Augen von dem verunglimpften Rocksaum hoben.

„Um meiner Großmama willen bin ich Deinem Bruder dankbar für den Ankauf, Beate – ihr ganzes Herz hing an den alten Erbstücken,“ sagte Claudine.

„Nun ja, wie konnte er anders? Wir haben ja die andere Hälfte dieser Erbstücke und dürfen doch nicht leiden, daß unser Wappen auf den ersten besten Protzentisch kommt,“ entgegnete die Dame achselzuckend. „Aber wäre es nicht zuerst an Dir gewesen, Claudine, das Silberzeug eben um Deiner Großmama willen zu retten? Wenn ich nicht irre, hat sie Dir ja speciell einige tausend Thaler vermacht.“

[4]

Die Lehrerin kommt!
Nach dem Oelgemälde von Emanuel Spitzer.

[5] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [6] „Ja, einen Nothpfennig, wie es im Testament steht. Meine praktische Großmama wäre die Erste, die mir zürnte, wenn ich das Vermächtniß geopfert und Silber, aber kein Brot im Schranke hätte!“

„‚Kein Brot‘? Du, Claudine, Du – die stolze, verwöhnte Hofdame?“

„War ich je stolz?“ Sie schüttelte hold lächelnd den Kopf. „Und verwöhnt? Nun ja, das will ich glauben! Am Hofe lernt man nicht arbeiten.“

„Das hast Du schon vorher nicht gekonnt, Claudine,“ fuhr die Dame heraus. „Das heißt“ – suchte sie sich hastig zu verbessern, aber es kam kein Nachsatz.

„Sprich nur weiter, Du hast ja Recht,“ sagte Claudine gelassen. „Die Art Arbeit, die Du meinst, lernt man auch im Institut nicht. Aber ich will es nunmehr versuchen, ich will Hausfrau werden in meinem alten Eulenhaus –“

„Du willst doch nicht sagen –“

„Daß ich bei Joachim bleiben werde? Allerdings. Braucht er nicht jetzt doppelt Liebe und schwesterliche Hingebung?“ Sie schmiegte sich fester an den Bruder und sah zärtlich zu ihm auf.

In das bläßliche Gesicht der Dame schoß abermals eine dunkle Blutwelle. Sie bückte sich rasch zu der kleinen Elisabeth hinab und wollte ihr die Wange streicheln, aber das Kind sah sie finster und mißtrauisch von der Seite an. „Geh’ fort, Du“ – wehrte es unfreundlich die Liebkosung ab.

Herr von Gerold fuhr unwillig empor.

„Ach, lassen Sie doch das kleine Ding! Ich bin es gewöhnt, daß die Kinder mich nicht mögen,“ sagte die Dame mit einem harten, verlegenen Auflachen und streckte die Hand schützend über das blonde Köpfchen hin. „Aber was ich sagen wollte“ – wandte sie sich wieder zu Claudine. „Du wirst anfangs schweres Lehrgeld geben müssen; man braucht nur Deine Hände anzusehen, und dazu dieser Hofdamenchic! Das wird elegante Toiletten genug kosten, ehe Du es lernst, in der hausleinenen Schürze an den Herd zu treten und ein richtiges Essen herzustellen, das heißt“ – suchte sie sich abermals zu verbessern, während ihr Blick scheu die niedergeschlagenen Augen der schönen Hofdame streifte – „Pardon, Kind! Ich mein’ es ja nicht böse; ich wollte Dir nur für die erste Zeit eines meiner Mädchen anbieten. Meine Leute sind gut geschult –“

„Das ist männiglich bekannt. Ihr Ruhm als Hausfrau ist längst über das Weichbild der Geroldshöfe hinausgedrungen,“ fiel Herr von Gerold nicht ohne Sarkasmus ein. „Aber wir müssen danken. Sie werden sich selbst sagen, daß wir keine Domestiken mehr halten können. Wie auch meine Schwester die schwierige Aufgabe anfassen wird, ich bin zufrieden und unaussprechlich dankbar. Sie ist und bleibt mein guter Engel, auch wenn ihr anfangs das ‚richtige Essen‘ mißglücken sollte.“

Er lüftete mit einer vornehmen Verbeugung den Hut und stieg mit den Seinen die Treppe hinab; die Dame folgte stillschweigend, denn auch ihr Wagen stand ja drunten vor dem Thor des Gutshauses.

Mittlerweile hatte Friedrich, der alte ehemalige Kutscher, den Koffer hinuntergetragen, und jetzt kam er, die Korbwanne mit dem Spielzeug auf den Armen, an den Hinabsteigenden vorüber. Das kleine Mädchen horchte besorgt auf das Porcellangeklirr und sonstige Geräusch im Korbe und reckte sich auf, um einen Einblick in ihre Besitzthümer zu gewinnen, und da war in der That ein vorwitziger Puppenliebling eben im Begriff über den Korbrand zu spazieren. Fräulein Beate griff über den Kopf der Kleinen hinweg schleunigst nach der Ausreißerin.

„Thu’ meinem Lenchen nichts mit Deinen großen Händen!“ schrie das Kind in demselben Augenblicke auf und zerrte die Dame am Rocke.

„Ach, das arme Würmchen – hast Du es auch schon in der höfischen Zucht?“ lachte Fräulein Beate kurz auf, als Claudine die Hand erschrocken auf den Mund des Kindes legte. „Warum soll es denn die Wahrheit nicht sagen? Meine Hände sind ja groß und Komplimente werden sie nicht kleiner machen. Und ihr Ungeschick in allen subtilen Dingen mag man ihnen auch auf den ersten Blick ansehen. Das kleine Ding protestirt dagegen, wie alle unsere Pensionsschwestern – Du mußt’s ja noch wissen, Claudine! Ich bin nun einmal keine Vertrauensperson für die Menschheit.“

Mit einer linkischen Verbeugung schritt sie die letzten Treppenstufen hinab nach dem Portal und winkte ihren Wagen herbei.

Die Gestalt, wie sie so unter dem Thorbogen stand, war schön und kraftvoll gebaut, aber sie hatte häßliche, eckige Bewegungen, und das luftgebräunte Gesicht unter den glatt und streng aus der Stirn gestrichenen Haaren milderte den unliebenswürdigen Eindruck der Erscheinung durchaus nicht.

Herr von Gerold fuhr scheu zurück, als er aus dem Thor trat. Er wäre wohl am liebsten in den dunkelsten Winkel des Hausflurs hineingeflüchtet; Menschentrubel war ihm verhaßt, und hier auf dem freien Platze vor dem Hause war ein Durcheinander, wie auf dem Jahrmarkt. Da wurden die Plüschmöbel seines ehemaligen Salons auf einen Leiterwagen verladen; dort schleppten Frauen ganze Lasten Federbetten herbei; Küchengeräth polterte und klirrte beim Verpacken, und dabei gingen noch einmal die gezahlten Preise von Mund zu Mund, unter Lachen und Fluchen, je nachdem man gekauft hatte.

Zum Glück hielt der Miethwagen, in welchem Claudine gekommen, in der Nähe des Hausthores. Man stieg rasch ein; Friedrich stellte die Korbwanne mit dem Spielzeug auf den Vordersitz; er drückte mit einem betrübten Abschiedsblick den Schlag zu, und fort brauste der Wagen, vorüber an all dem trauten Hab und Gut des Hauses, auf welches jetzt der freie blaue Frühlingshimmel niederschien, vorbei an den leergewordenen Remisen und Ställen, an aufblühenden Teppichbeeten und springenden Fontainen und den weiten Rasenflächen des Obstgartens, auf welchen noch der weiße Reif abgeschüttelter Blüthenpracht lag. Dann streckte sich die helle Chausseelinie vor ihnen hin, rechts und links noch besäumt von den Gutsfeldern und Wiesen, bis der Wald seinen Schatten über sie warf; vorher aber zweigte sich nach links ein breiter Fahrweg ab, und dort fuhr die in der Sonne blitzende und das Auge blendende, elegante Equipage hin, in welcher Fräulein Beate von Gerold heimwärts fuhr.

„Mußte auch die noch Deinen Leidensweg kreuzen!“ sagte Herr von Gerold zu seiner Schwester mit einem unmuthigen Blick nach dem dahinbrausenden Wagen.

„Sie hat mir nicht wehe gethan, Joachim. Ich kenne sie besser und habe nicht das Vorurtheil gegen sie, wie die meisten anderen Menschen,“ entgegnete Claudine. Sie hatte die kleine Elisabeth auf den Schoß genommen und ihr Gesicht in das dicke, wallende Blondhaar des Kindes gedrückt; so war ihr der letzte, schmerzensreiche Anblick des Zurückbleibenden erspart geblieben. „Beate ist verletzend derb und scheinbar schonungslos Anderen gegenüber nur aus – Verlegenheit –“

„Mohrenwäsche, Kind! Die hilft Dir nichts! Sie ist nicht gut, diese Beate, sie hat weder Herz, noch den Geist, den ich in der Frau anbete, den idealen Aufschwung im Denken, den Seelenliebreiz, der unbewußt von meiner armen Dolores ausströmte und mit welchem Du mich Schuldigen, mich, den verarmten Hiob, auch heute wieder umstrickst; nicht ein Atom davon lebt in diesem – barbarischen Frauenzimmer.“

Der helle Sonnenschirm des „barbarischen Frauenzimmers“ tauchte eben noch einmal auf zwischen den Vogelbeerbäumen des Weges; dann verschwand er hinter den Buchen, den Vortruppen des schmalen Gehölzstreifens, mit welchem das Areal des Geroldshofes abschloß.

Jenseit dieses Laubwaldes, weit drüben am Berge, lag auch ein Herrenhaus, ein schmuckloser Bau neueren Stiles, mit hellgetünchten Mauern und weißen Rollläden. Da sprangen keine Fontainen, und von Blumenluxus war auch nicht viel zu sehen; dafür aber hatte das Besitzthum einen Baumschmuck, der seines Gleichen suchte. Wahre Riesenexemplare alter Linden spannen um Mauern und Höfe ein heimlich grünes Dämmern; nur die Vorderfronte des Wohnhauses blieb unbeschattet, und um das schöne Taubenhaus inmitten des breit hingelagerten Rasengrundes vor dem Hause spielten ungehindert Maienlüfte und die Goldlichter der Sonne.

Diese Besitzung war auch ein Geroldshof, das Rittergut der Herren von Gerold-Neuhaus.


(Fortsetzung folgt.)      
[7]

Turnübungen gegen die hockige Haltung.

Ein Mahnwort an Eltern und Lehrer.

Die meisten Schulkinder in den Städten haben hockige Haltung. Daß dieses Uebel vorzugsweise in den Städten seinen Sitz hat, liegt meines Erachtens daran, daß die Kinder dort mehr in den Stuben sitzen und weniger sich im Freien tummeln. Mag auch ungenügendes Athmen nach der Geburt und später Rhachitis („englische Krankheit“) häufig als Mitursache auzusehen sein: die meisten Fälle, die mir vorgekommen sind, lassen davon Nichts erkennen und sind daher wohl auf Gewohnheitsfehler in der Haltung zurückzuführen.

Hände hinten geschlossen.

Bei gesunden Menschen ist die Brust breiter gebaut als der Rücken, das heißt die Entfernung der vordern Enden der Achselhöhlen von einander ist größer als die der hintern Enden. In Wirklichkeit aber findet man sehr häufig die Brust flach und schmal, die Schultern nach vorn gedrängt, die Schulterblätter weit von einander entfernt, den Rücken gewölbt, den Kopf vorgeschoben und, wenn man das Bandmaß anlegt, die Breite des Rückens um 5 bis 11 Centimeter größer als die der Brust.

Auseinanderschlagen der Arme.

Bei Kindern, die mit solchen Fehlern belastet sind, ist die Athmung oberflächlich und zu wenig ausgiebig und in Folge dessen die Blutbildung unvollkommen. Im spätern Leben sind solche Individuen natürlich viel mehr zur Schwindsucht geneigt als wohlgebildete, kräftige Menschen.

Armstoßen nach außen.

Dagegen könnte das Turnen helfen, welches jetzt vielfach in den Schulen eingeführt ist. Dasselbe hat aber noch zu wenig Raum im Unterrichtsplan gefunden. In wöchentlich 2 Stunden – das ist das gewöhnliche Maß – ist es nicht möglich, den Körper so auszubilden und zu kräftigen, wie es geschehen könnte und sollte. Viel weiter würde man kommen, wenn man täglich in einer verlängerten Zwischenstunde die Kinder ungefähr 20 Minuten lang Freiübungen und außerdem wöchentlich zweimal vielleicht je eine halbe Stunde lang anstrengendere Geräthübungen machen ließe. Bei den Freiübungen müßte man jedoch auf alle Fälle auf tiefes Athmen halten.

Eine solche Einrichtung wird aber wohl noch lange Zeit nicht ins Leben treten. Deßhalb müssen sorgsame Eltern zu Hause das zu ersetzen suchen, was die Schule nicht bietet.

Es kann nun allerdings nicht meine Aufgabe sein, hier die ganze Reihe der ausführbaren Freiübungen durchzumachen und zu beschreiben; nur einige wenige will ich heute angeben, welche vorzugsweise geeignet sind, die hockige Haltung fernzuhalten oder zu beseitigen und die Athmungsorgane gut zu entwickeln.

Vor Allem empfehle ich zu diesem Zwecke die Uebung: „Arme zurückdrücken“ oder „Hände hinten geschlossen“, wie sie von Andern genannt wird. Das stehende Kind faltet hinten die Hände zusammen, streckt die Arme und dreht sie einwärts, so daß die Ellbogen gegen einander gekehrt sind. In dieser Haltung bleibt es einige Sekunden; dann läßt es die Schultern locker, hebt die Hände ruhig einige Zoll in die Höhe, holt dabei tief Athem und wiederholt dann die Uebung, indem es ausathmet. So zehn- bis zwanzigmal nach einander. Von einigen dabei häufig vorkommenden Fehlern erwähne ich zuerst den gewöhnlichsten, daß der Uebende dabei den Oberkörper zurückneigt und den Kopf vorschiebt. Es soll aber vielmehr die Brust vorgeschoben, der Bauch eingezogen und der Kopf zurückgeschoben sein. Ich sage mit Absicht: zurückgeschoben, denn viele Anfänger glauben die Aufgabe dadurch zu erfüllen, daß sie das Kinn heben und somit den Kopf zurückneigen, wobei der Hals noch immer seine Richtung nach vorn behalten kann. Die vordere und hintere Kontour des Halses sollen senkrecht verlaufen und der Kopf seine natürliche Stellung behalten.

Viele Menschen können die Uebung anfangs nicht ausführen, besonders solche mit hockiger Haltung. Sie drehen die Arme nicht einwärts und die Schulterblätter bleiben an ihrer Stelle. Solchen Kindern muß man helfen, indem man, hinter ihnen stehend, die Finger auf die Schultern legt, die Daumen in den Rücken einstemmt und die Schultern kräftig zurückzieht. Eigentlich sollen bei gut ausgeführter Uebung zwei Hautfalten zwischen den Schultern sich bilden, welche in der Mitte sich zu einer tiefen Rinne an einander schließen. So weit bringt es bei Ungeübten auch eine fremde Hand nicht immer; man versuche es aber immer von Neuem und wird bald Fortschritte bemerken. Solche Anfänger stehen am besten mit bloßem Oberkörper vor der helfenden Person, der sie den Rücken zudrehen.

Allmählich werden, wenn der Unterstützende nicht ermüdet, die Kinder diese Uebung allein richtig ausführen lernen. Dann können sie dieselbe auch in lockeren Kleidern machen und sollen bloß von Zeit zu Zeit sich mit bloßem Oberkörper vor ihren Mentor hinstellen, damit dieser sich überzeuge, daß sich nicht wieder Fehler eingeschlichen haben.

Ich lasse die Uebung gewöhnlich Morgens und Abends je zwanzigmal machen. Mit der Zeit bringen es die Kinder so weit, daß sie auch bei hängenden Armen, also ohne die Hände zu schließen, die Schultern in der angegebenen Weise zurücknehmen können; dann sollen sie das recht fleißig Tags über thun, die Uebung aber des Morgens und Abends doch nicht ganz weglassen.

Armkreisen.

In Schreber’s „Zimmergymnastik“ ist diese Uebung als die siebente unter dem Namen „Hände hinten geschlossen“ angegeben. Aus dieser hochverdienstvollen Schrift kann man noch viele andere Uebungen entnehmen, welche nützlich gegen die hockige Haltung wirken, von welchen wir die folgenden im Bild wiedergeben. „Armkreisen“; „Armstoßen nach außen“ und „Auseinanderschlagen der Arme“. Auf diese Weise kann man in das langweilige Ueben ohne Gesellschaft etwas Abwechslung bringen; man möge aber die Hauptübung, das „Hände hinten geschlossen“, nie ganz weglassen.

In einer der nächsten Nummern werden wir einige Winke ertheilen, wie man einige Formen der entstehenden seitlichen Rückgratsverkrümmung gleichfalls durch Turnübungen bekämpfen kann und sollte.

Dr. Schildbach.     
[8]
Wie Berge und Erdbeben entstehen.
Von M. Wilhelm Meyer.


Die Erde bebt! Der Ausruf schließt den Schrecken aller Schrecken in sich. Vor allen anderen entfesselten Naturgewalten giebt es ein Entfliehen, oder Vorbeugungsmittel, Anzeichen, welche der Katastrophe vorangehen; man kennt ihre Ursachen und fürchtet deßhalb ihre Wirkung, so entsetzlich sie auch oftmals auftreten mag, nicht so sehr wie die dämonische Gewalt, welche den Erdboden, auf dem wir in sicherer Zuversicht unsere Häuser, unser Glück und unsere Hoffnungen bauen, aufwogen läßt wie ein sturmgepeitschtes Meer, klaffende Wunden in das Erdreich reißt, Gebirge aufwirft und Feuerschlünde, die mit glühenden Lavaströmen, erstickendem Aschenregen und siedendem Wasser die Landschaft überfluthen, über welcher eben noch ein hoffnungsstrahlender Himmel, lachender Sonnenschein lag. Das beständige Donnerrollen unter und über der Erde, der Sturm und die grellen Blitze, welche die plötzlich hereingebrochene Nacht schrecklich aufhellen, sind kaum noch im Stande die Todesangst zu erhöhen, welche bei solchen Paroxysmen der Natur auch den Muthigsten ergreift. Wohin sollen wir uns retten, da wir nicht dem Erdboden entfliehen können, welcher die unveräußerlichste seiner Eigenschaften, seine Unbeweglichkeit, plötzlich verloren hat? Uns ist, als müßten nun alle Grundbegriffe der Dinge, welche uns nie widerlegte Erfahrungen seit dem Tage unserer Geburt einimpften, schwinden und sich in ihr sinnverwirrendes Gegentheil umwandeln, als müßte nun das Feuer uns frösteln machen, das Eis brennen, die Luft zu Stein werden und das Wasser sich in trockenen Sand verwandeln, der den Berg emporströmt. Denn das sind keine unerhörteren Widersprüche in sich selbst, als den starren Fels in wogender Bewegung zu sehen. Die sonst so liebevolle Natur ist plötzlich in Vernichtungswahnsinn verfallen. Wir sind derselben gänzlich willenlos ausgeliefert.

Was Wunder, daß kein Naturereigniß so nachhaltig im Stande ist, das menschliche Gemüth in Erregung zu erhalten, ja verhängnißvoll bloß durch den allgemeinen Schrecken zu zerrütten! So erzählt ein Arzt, der nach dem furchtbaren Erdbeben auf Chios im April 1880, durch welches über 3500 Menschen getödtet wurden, Hilfe bringend das verwüstete Land durchreiste, daß der größte Theil des jungen weiblichen Geschlechtes nach dem Beginne der Erdbeben in Folge der Gemüthsbewegungen an Epilepsie erkrankte.

„Wenn ein Menschenkenner,“ so schreibt jener Arzt, „jetzt diese elenden, mehr bläulich als röthlich gefärbten Antlitze erblickt, so muß ihn Wunder nehmen, daß Furcht und Schrecken eine solche Verwandlung bewirken können.“

Hört man indeß vom den Einzelheiten solcher furchtbaren Ereignisse auch nur erzählen, so begreift man wohl die grauenhafte Furcht, welche das Geschehene den Ueberlebenden einflößen mußte. Man höre nur die folgenden Berichte aus dem großen Erdbeben von Lissabon, dem Ereigniß eines Augenblickes, welches die Gemüther aller Menschen in Europa während des ganzen Verlaufes der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts (das Erdbeben fand am 1. November 1755 statt) ebenso nachhaltig zu erregen und immer wieder zu beschäftigen vermochte, wie alle Schrecken der französischen Revolution.

Der erste fürchterliche Stoß war erfolgt, welcher in wenigen Sekunden die ganze, eine halbe Million Einwohner zählende Stadt in Trümmer legte und dessen die Grundfesten Europas erschütternde Wirkung bis hinauf nach Schweden und dem westlichen Rußland verspürt wurde. Was sich retten konnte, stürzte zum Meere, an dessen Ufer ein neuerdings aus Marmor aufgeführter Quai entlang lief, woran viele Schiffe vor Anker lagen. Plötzlich that sich eine gräßliche Kluft unter diesen Hunderten unglückseliger Menschen auf und verschlang sie alle in einem einzigen Augenblick mit sammt dem Quaigemäuer und allen Schiffen, die daran ankerten. Nie ist eine Spur wieder davon zum Vorschein gekommen. Wo die Mauer stand, fand man später unter dem Meere den Grund erst bei 600 Fuß Tiefe. Gleich nach der Katastrophe schäumte das Meer furchtbar auf und eine ungeheuere Woge stürmte über die zertrümmerte Stadt hin. Sie allein soll nach dem Erdbeben noch 60 000 Menschen mit sich fort in den Meeresgrund gerissen haben.

Kein Ort auf der weiten Erde ist vor Erdbeben sicher; denn es giebt keinen Fleck auf derselben, welcher nicht schon einmal durch diese geheimnißvollen Gewalten der Tiefe erschüttert worden wäre, und an jedem Tage, ja zu jeder Stunde erbebt die Erde irgendwo auf ihrem Umkreise; keinen Augenblick lang rastet der Dämon der Verwüstung unter unseren Füßen. Oft wüthet er, sobald er einmal sein dunkles Werk begonnen, Monate, selbst Jahre lang in denselben Erdgegenden. So dauerte das Erdbeben in der griechischen Provinz Phokis vom 1. August 1870 bis zu demselben Monat im Jahre 1873 fort, und es wurden in dieser Zeit dort von Schmidt, dem unlängst verstorbenen Direktor der Sternwarte von Athen, nicht weniger als 35 sehr starke Stöße und 300 bis 320 schwere Erdbeben, die stattgefunden hatten, verzeichnet. Ja in den ersten drei Tagen soll buchstäblich die Erde fortwährend gebebt haben, so daß vermutlich 29 000 größere oder kleinere Stöße in dieser kurzen Zeit erfolgt sind. An anderen Orten hört die Erde überhaupt fast niemals auf zu beben. Namentlich ist in dieser Hinsicht Centralamerika berüchtigt, von welchem man einen gewissen Theil „die Hängematte“ nennt: so schaukelt dort der Erdboden beständig hin und her. Die Einwohner dieser Länderstrecken haben ihr Leben von vornherein darauf eingerichtet. Sie leben in niederen Rohrhütten, die keinen erheblichen Schaden anrichten können, wenn sie einmal bei Nacht über ihnen zusammenstürzen.

Was ist die Ursache dieser schrecklichen Kundgebungen aus dem Innern unseres Planeten? Wo ist die Kraft zu finden, welche Berge versetzt in einem Augenblicke und Erdschollen vom Umfange ganzer Königreiche hin- und herrüttelt, sowie wir es etwa mit einem am Wege liegenden Baustein zu thun im Stande sind? Wie begreiflich ist es, daß die geängstigte Menschheit diese Fragen aufwirft, daß sie verzweifelt von der Wissenschaft die Lösung verlangt. Denn obgleich wir wohl wissen, daß wir ewig machtlos dieser ungeheuerlichsten aller Elementarmächte gegenüber stehen werden, so wissen wir doch aus vielfacher Erfahrung, daß die Kenntniß der Ursachen unseres Verderbens die Angst mildert, weil sie die Hoffnung auf irgend einen Ausweg oder ein Schutzmittel, und sei es auch von höchst problematischer Natur, gewährt, das unsere Sinne wenigstens zeitweilig beruhigt. Aber wie begreiflich ist es auch, daß wir noch so wenig unbedingt Zuverlässiges über diese Ursachen wissen, wie rastlos auch die Schar der Forscher am Werke thätig sein mag!

Die Gewalt, welche die Erde über so ungemein große Gebiete hin erschüttern kann, muß offenbar aus den tiefsten Tiefen des Planeten hervorbrechen. Genaue Untersuchungen einiger in neuerer Zeit stattgehabter, verhältnißmäßig unbedeutender Erdbeben, welche in Mitteleuropa stattfanden und deshalb vielseitig beobachtet werden konnten, haben ergeben, daß der Stoß, welcher die Erschütterung hervorbringt, nicht unter einer geographischen Meile, in einem einzelnen Falle, beim rheinischen Erdbeben von 1846, sogar fünf Meilen unter der Erdoberfläche erfolgte. Dieses gilt vom Stoß selbst. Die Ursache jedoch, welche den Stoß hervorbringt, liegt doch wahrscheinlich noch viel tiefer. Die größte Tiefe aber, bis zu welcher Menschen sich selbst in die Erde hinabgewühlt haben, beträgt kaum mehr als den zehnten Theil einer Meile, und das tiefste Loch, welches sie in die Erdrinde gebohrt haben, um wenigstens ihre Instrumente bis dort hinabzusenken und die Art des Erdreichs zu untersuchen, welches tief unten vergraben liegt, geht 1272 Meter hinab. Dieses tiefste Loch in unserm Weltkörper befindet sich in der Nähe von Berlin, bei dem Orte Sperenberg und wurde in den Jahren 1867 bis 1871 gebohrt. Eine gleich lange Strecke, als hier in die Tiefe hinabgeht, würde ein Fußgänger auf der Erdoberfläche bequem in einer Viertelstunde zurücklegen. Wie sollen wir über das eigentliche Erdinnere etwas Sicheres erfahren, wenn wir von der äußersten Umhüllung unseres Planeten noch nicht so viel untersuchen können, wie die Papierdicke über einem Globus von etwa einem Meter Durchmesser beträgt?

Als man das Thermometer in das Sperenberger Bohrloch hinabsenkte, fand man die längst bekannte Thatsache, daß die Temperatur des Gesteines mit der Tiefe regelmäßig wächst, auch

[9]

Winter im Gebirg.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[10] hier durchaus bestätigt. Während in den oberen Schichten nur eine Wärme von 8 bis 10 Grad herrschte, konstatirte man auf dem Grunde des Loches eine Temperatur von 48 Grad Celsius, bei welcher ein Mensch nur unter besonderen Vorsichtsmaßregeln einige Minuten lang existiren könnte, da bekanntlich eine Erwärmung des Blutes bis auf 42 Grad bereits den sicheren Tod zur Folge hat. Der Mensch selbst wird also niemals bis zu bedeutend tieferen Schichten der Erde hinabgelangen können. Trotzdem dürfen wir aber, wegen der überall ausnahmlos vorgefundenen Steigerung der Temperatur nach unten (wenngleich dieselbe in verschiedenen Bergwerken in sehr verschiedenen Progressionen vor sich geht) mit Bestimmtheit schließen, daß dieselbe auch in größeren Tiefen so weiter fortschreitet, und da man die sogenannte „geothermische Tiefenstufe“, das heißt die Anzahl von Metern, um welche man hinabsteigen muß, um einen Grad Celsius Temperatursteigerung zu beobachten, im Mittel aus vielen Messungen etwa zu 33 Metern veranschlagen kann, so ergab ein der damaligen Anschauung entsprechendes einfaches Rechenexempel, daß bereits in einer Tiefe von etwa zwei Meilen eine Hitze herrschen müsse, bei welcher die meisten uns bekannten Stoffe in glühenden Fluß übergehen. Bei 6 bis 8 Meilen aber müßten selbst die am schwersten schmelzbaren Stoffe, wie beispielsweise Porcellanerde, die bei 1700 Grad flüssig wird, im Körper der Erde ein gluthendes Meer bilden.

Daß sich in Wirklichkeit die Sache so verhalten sollte, daß wir nämlich auf der Schale eines Eies spazieren gehen, dessen Inneres eine wahre Hölle aus glühenden Lavaströmen sei: das haben wir Alle längst in der Schule erfahren, und seit ich das wußte, habe ich immer heimlich gezittert, wenn einmal einer meiner Kameraden diese zerbrechliche Eischale in trotzigem Uebermuthe mit Füßen stampfte. Selbst später, da ich als junger Mensch einmal den ausgebrannten Krater der Solfatara bei Neapel besuchte und der Erdboden, welcher sich wie der Deckel über einen Topf mit kochendem Wasser über die alte Feueresse gelegt hat, hier und da an den Seiten zischenden Dampf durchlassend, gar dumpf und hohl erdröhnte, wenn man einen schweren Stein mit Wucht gegen ihn aufprallen ließ, selbst damals überkam mich noch dieses seltsame Gefühl der Unsicherheit, als müsse hier bereits einige Meter unter mir ein schrecklicher Schlund sich wölben, der unmittelbar in das unermeßliche Flammenchaos des flüssigen Gluthmeeres unter uns führt.

Offenbar war es ja auch das Nächstliegende, die Thatsachen so zu deuten, wie es uns der Lehrer angab. Wir erblickten ja in den Vulkanen „Sicherheitsventile“, welche dafür sorgen sollten, daß die Erde nicht plötzlich einmal mit einem entsetzlichen Krach von den Mächten des Feuers aus einander gesprengt werden konnte, und aus diesen Vulkanen sahen wir ja wirklich glühend flüssiges Gestein hervorquellen. Das mußte natürlich unmittelbar aus dem Gluthmeere im Innern heraufgedrängt worden sein, weil sich die äußere Kruste langsam abkühlen, dadurch aber enger werden und den heißen Kern einschnüren muß, bis er sich in solch gewaltigen Ausbrüchen Luft macht. Wie durch das Emporbrausen der flüssigen Gesteinmassen und durch die Dampfexplosionen, welche das hereinsickernde Wasser erzeugt, die Erde auf weite Strecken hin erzittern kann, wie ferner ähnliche Vorgänge, welche nicht ganz bis an die Oberfläche gelangten, Erdbeben hervorbringen können, selbst wo sich kein sichtbarer Vulkan befindet, das Alles war am Ende beinahe unmittelbar zu begreifen.

Aber wir müssen uns daran gewöhnen, jene Ansichten von der Natur, welche wir in unserer Jugend liebgewonnen haben, eine nach der anderen preiszugeben. Die Naturwissenschaften haben seit zehn oder zwanzig Jahren fast in allen ihren Verzweigungen so gewaltige Fortschritte gemacht, so fundamental verändernde Grundideen sind über das Weltgefüge ausgesprochen worden und haben sich allgemein Geltung zu verschaffen gewußt, daß von dem alten Baue schlechterdings fast gar Nichts mehr als das Material, die einzelnen Bausteine noch vorhanden sind, die zu einem ganz neuen Gebäude zusammengefügt werden mußten. In besonderem Maße fällt diese neubildende Aufgabe der modernen Geologie zu, und ich muß die Leser bitten, ehe ich weiter erzähle, zunächst mit den alten Ansichten im Geiste gründlich aufzuräumen.

Vor Allem glaubt kein Forscher der Neuzeit mehr an die Eischale. Die Erdkruste ist im Gegentheil ohne Zweifel sehr dick. Die Bescheidensten nehmen einige fünfzig Meilen an; Einige aber gehen – auf wissenschaftlicher Forschungsbasis – bis 200 Meilen, und es giebt sogar Untersuchungen, welche eine vollkommen solide Erdkugel für sehr wahrscheinlich erklären.[1]

Zunächst zeugt nämlich, genauer besehen, die Temperaturzunahme des Erdreichs in der Tiefe durchaus nicht für einen glühend flüssigen Kern. Dieselbe Zunahme findet auch statt, wenn man sich in horizontaler Richtung durch einen Berg wühlt, wie man es bei Tunnelbauten thut. Dann richtet sich die Wärmeerhöhung genau nach der Höhe der überliegenden Gesteinsschichten. So fand man beispielsweise im Gotthardtunnel unter der höchsten Bergkuppe, als eine Schicht schwerer Gesteinmassen von 1700 Metern Mächtigkeit über den Häuptern der kühnen Eindringling ruhte, eine Temperatur des Gesteins von mehr als 30 Grad an, während bei Göschenen, etwas hinter dem Eingange des Tunnels, dasselbe Gestein eine von den äußeren Einflüssen unabhängige Temperatur von nur 8 Grad aufwies. Und doch war man im Innern des Tunnels dem Erdmittelpunkte um keinen Schritt näher als am Eingange. Die Temperatur wechselte, stieg und fiel in der ganzen Länge des Tunnels mit den Linien des Profils des über ihnen lastenden Gebirges. Es war kein Zweifel, daß die herrschende Wärme nur eine Folge des ungeheuren Druckes der überlagernden Gesteine sein konnte.

Dieser Druck wächst eben so regelmäßig mit der Tiefe, wie die Temperatur, und wir sind durch gar keine Anzeichen oder irgend einen haltbaren logischen Schluß berechtigt, anzunehmen, daß auch nur ein Theil der dort unten angetroffenen Wärme aus einem glühenden Kerne zu uns heraufstrahle. Bei streng mathematischen Untersuchungen über die Sonne hat man sogar ermittelt, daß der innere Druck in dieser gewaltigen Gaskugel heute noch viel mehr Wärme erzeugt, als sie in das Weltall zu unserm Nutz und Frommen ausstrahlt. Die Sonne wird also im Innern beständig heißer; sie giebt von innen keine Wärme an die Oberfläche ab. Bei der Erde liegen die Verhältnisse wohl etwas anders und man darf annehmen, daß sie sich in der That allmählich abkühlt und daß sie einstmals selbst bis zu ihrer Oberfläche glühend heiß gewesen ist; aber wir besitzen hierfür heute durchaus keine anderen Beweise mehr, als in der bekannten Entstehungsgeschichte der Planeten, welche einst Kant und Laplace ausdachten, begründet liegen. Darnach muß sich die Erde einmal als Gasball von der Sonne losgelöst und folglich damals die Temperatur der letzteren besessen haben. Die Urgesteinsschichten aber, welche wir zutiefst in der Erde ruhend finden, der Granit, Gneiß, Porphyr, welche allerdings mit der flüssigen Lava die meiste Aehnlichkeit haben und den ersten Panzer darstellen sollten, welcher sich über dem glühend flüssigen Ball erstarrend ausspannte: diese Urgesteinsschichten sind inzwischen eben so wohl als Ablagerungen aus Urmeeren erkannt, wie die überliegenden Schichten; nur daß sie durch den ungeheuren Druck, welcher ehedem über ihnen lastete, halb zerschmolzen, halb auskrystallisirt und alle Reste organischer Wesen in ihnen zertrümmert werden mußten.

Zugegeben, wird man erwiedern, daß dieser Druck die in der Tiefe herrschende Wärme erzeugt; dann muß sich aber doch dieselbe eben so andauernd steigern, als ob sie von innen her erzeugt würde, und es muß eine Tiefe geben, in welcher diese Hitze alle Gesteine in glühenden Fluß versetzt. Wir werden also durch die neuen Ansichten auf den alten Fleck zurückgeführt.

Die Frage ist aber, in welcher Tiefe dieser Fluß nach unseren neuen Ansichten eintritt, und hier liegt eben der wesentliche Unterschied. Obgleich es beispielsweise zweifellos ist, daß die Sonne an ihrer Oberfläche aus sehr leicht beweglichen Gasen besteht, halten doch die meisten Sonnenforscher dafür, daß dies in ihrem Innern keineswegs der Fall ist. Der ungeheure Druck hemmt die Atome in ihrer freien Beweglichkeit und es entsteht dadurch ein seltsamer Zustand, den man weder gasförmig, noch flüssig, noch fest nennen kann, der mit dem letzteren Eigenschaftsworte aber wohl beinahe am besten bezeichnet wird, weil ein Ding, dessen einzelne Theile sich gegen einander nicht verschieben lassen, für fest gilt. Solch „kritischer“ Zustand muß offenbar auch im Erdinnern herrschen.

In kleinem Maße sehen wir ähnliche Erscheinungen in unseren Laboratorien. Unter höherem Drucke bedarf es auch einer höheren Temperatur, um einen Körper zum Schmelzen zu [11] bringen. Läßt aber der Druck bei genügend hoher Temperatur plötzlich nach, so findet auch sofort die Schmelzung statt. Diese seltsamen Beziehungen zwischen dem herrschenden Druck und dem Uebergange aus dem einen in den andern Aggregatzustand kann man vom flüssigen in den gasförmigen Zustand jederzeit auf das Leichteste beobachten, und da diese Anschauung für unsere nächsten Betrachtungen von sehr großer Wichtigkeit sind, so will ich hier einen Moment dabei verweilen.

Man nehme eine Flasche kohlensaures Wasser. Wir wissen, daß die Kohlensäure unter großem Drucke in das Wasser hineingepreßt wurde und, da die Flasche luftdicht verschlossen ist, unter diesem selben Drucke verharrt. Die Kohlensäure, das leichte Gas, ist vollkommen mit dem Wasser zusammen flüssig geworden. Lüftet man nun den Verschluß der Flasche auch nur ein wenig, so steigen sofort aus allen Theilen der Flüssigkeit Gasbläschen auf, und wenn man die Flasche plötzlich ganz öffnet, so strömt das Gas mit großer Vehemenz aus dem Halse empor und reißt eine Menge Flüssigkeit mit fort, welche wahrhaft vulkanartig aus dem Halse empor geschleudert wird. Jedermann hat diese Erscheinung als ein selbstverständliches Ding kennen gelernt. Läßt man nun das Selterswasser ausbrausen, so daß lange Zeit keine Blasen mehr aufsteigen, erhitzt es aber dann, so entweicht aufs Neue Kohlensäure aus dem Wasser. Das geschieht aber nicht, wenn man eine geschlossene Flasche erhitzt, weil sich der Druck in gleichem Maße steigert wie die Temperatur. Dies ist eine sehr wichtige Wahrnehmung, welche, unterstützt von der Thatsache, daß ein hoher Druck allein genügt, um alle früher für „permanent“ erklärten Gase (Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff) in Flüssigkeiten zu verwandeln, deutlich zeigt, wie offenbar eine fortschreitende Erhöhung des Druckes jeden beliebigen Körper durch alle drei Aggregatzustände zu führen vermag. Auch Flüssigkeiten wird man einmal in unseren physikalischen Laboratorien durch den Druck allein fest machen, zum Beispiel Eis aus Wasser bei einer Temperatur erzeugen, die um so höher über dem Nullpunkte liegt, als der angewandte Druck erhöht werden kann. So paradox das klingt, so würde sich doch solches Eis, könnten wir es überhaupt in dem zusammenpressenden Apparate berühren, warm, ja sogar heiß anfühlen. Allerdings wird es wohl noch sehr lange dauern, bis wir die hierzu erforderlichen mechanischen Hilfsmittel besitzen.

Genug! Wir haben gesehen, daß eine Verminderung des Druckes genügt, um Flüssigkeiten gasförmig und feste Körper flüssig zu machen. Auf dieser Thatsache beruht die ganze moderne Vulkantheorie, und die Vulkane wieder sind heute nicht mehr wie vordem die Erzeuger, sondern die Erzeugten der Erdbeben. Alles kehrt sich um gegen die früheren Anschauungen.

Die Erdbeben werden hervorgebracht einerseits durch den Kampf der zusammenziehenden Molekülarkraft, welche die Wärme-Ausstrahlung des Erdkörpers im Laufe der Jahrmillionen erzeugt, mit den inneren Kräften des Gesteins, welche seine Festigkeit bedingen, und andererseits durch den Kampf der allgemeinen Schwere mit der hinwegschleudernden Centrifugalkraft. Wir wissen, daß der Erdball mit mächtiger Energie um seine Achse schwingt und dadurch die Aufbauschung am Aequator, die „Abplattung“ des Planeten, entstehen läßt. Es ist nun streng mathematisch nachgewiesen, daß diese Abplattung bei einem sehr großen und nicht absolut festen Körper sich stets so groß erhalten muß, wie sie bei einem flüssigen sein würde. In der That findet man diese Bedingung bei der Erde und den übrigen Planeten erfüllt. Gleichzeitig folgt aber aus jener mathematischen Untersuchung, daß die Erde, wenn sie in ihrem Umschwung aufgehalten würde, ganz abgesehen von anderen Einwirkungen, sich schnell zur vollkommenen Kugel zusammenziehen würde. Die drei Meilen Erdreich, welche sich jetzt rings um den Aequator aufthürmen, müßten also mit fürchterlicher Gewalt nach den Polen hingedrängt werden und dabei offenbar die Erdoberfläche rings zersprengen, zerreißen, überwerfen, mächtige Gebirgszüge bilden, wo ein Hinderniß die vom Aequator nach den Polen hin wandernden Erdschollen aufhalten, aufstauen, nach oben empordrängen, knicken würde, wie man es im Innern der Gebirge an den Schichtungen als in der That geschehen deutlich erkennt.

Die Rotation der Erde nimmt aber in Wirklichkeit unzweifelhaft ab. Selbst während historischer Zeiten glauben die Astronomen eine Verlängerung des Tages konstatiren zu können. Jedenfalls aber wissen wir, daß aus dem Weltraume beständig Staub und Steine auf die Erde herabfallen, welche der letzteren Bewegung nothwendig hemmen. Nur die Quantität dieser Hemmung, nicht ihr Vorhandensein, ist noch zweifelhaft. Mit der Rotation nimmt also die Abplattung der Erde ab. Das Erdreich wandert in der That vom Aequator nach den Polen. Die geologischen Beobachtungen bestätigen es vollkommen. Dies ist die eine, horizontal wirkende Bewegung, welche Gebirge, wenn auch in sehr langsamem Tempo, zu bilden im Stande ist.

Die andere, und wahrscheinlich die stärkere, Bewegung ist nach unten gerichtet. Sie wird durch die Wärme-Ausstrahlung bewirkt, wodurch sich die Ausdehnung der Erde beständig vermindern muß. Das Erdreich will niedersinken. An einigen Stellen ist es nachgiebiger als an anderen. Hier sinkt es zuerst und bricht schließlich an den Linien durch, wo eben die Erde zufällig am wenigsten widerstandsfähig ist.

Dieses wird im Allgemeinen sehr langsam geschehen. Die Natur, der unzählige Millionen von Jahren zu Gebote stehen, hat durchaus keinen Grund, sich zu übereilen; sie weiß es gewiß besser als wir, daß bei der Uebereilung und bei überstürzten Revolutionen nie etwas Gutes herauskommt. Man hat deßhalb heute längst die „Katastrophentheorie“ bei Seite geworfen und ist überzeugt, daß alle die noch so ausgedehnten Veränderungen der Erdoberfläche und alle die grundverschiedenen Schöpfungsperioden der Erdgeschichte ganz allmählich in einander übergehend sich gestalteten. Die Gewalten der Erdschöpfung arbeiten noch beständig an dem ungeheuren Werke und die Erdbeben sind die Anzeichen der gebirgsbildenden Kraft. Deßhalb treten dieselben auch in jungen Gebirgen, wie den Alpen, an denen die Natur noch fortwährend arbeitet, in größerer Menge auf als in den uralten Bergresten, zu denen beispielsweise der Harz gehört. Das Erdreich rückt beständig von der Stelle; kein Fleckchen Erde ruht absolut. Ich selbst habe es mit beobachtet, wie der Hügel, auf welchem die Sternwarte von Neuenburg steht, zwischen Sommer und Winter in beständiger drehender Bewegung begriffen ist, und auf der Berliner Sternwarte hat man die überraschende Thatsache mit aller Sicherheit konstatirt, daß der Pfeiler, worauf das dortige Meridianinstrument ruht, sich seltsamerweise mit der Anzahl der beobachteten Sonnenflecke mehr oder weniger bewegt. Wenn nun solchen Bewegungen der Erdscholle Hindernisse entgegen treten, wodurch sich die bewegende Kraft mehr und mehr ansammelt, so begreifen wir, wie sie sich schließlich durch plötzliche Zuckungen Luft machen wird, sobald die erdbewegende Kraft größer geworden ist, als die hemmende war. Diese Zuckungen sind die Erdbeben, welche man deßhalb „tektonische“ nennt. Bei Weitem die größte Zahl der Erdbeben gehört offenbar dieser Kategorie an und hat deßhalb mit vulkanischen Erscheinungen nicht das Geringste zu thun.

Wo dagegen auf großen Bruchlinien gewaltige Erdschollen tiefer und tiefer gesunken sind, wie zum Beispiel längs der ganzen Westküste von Amerika, wo das Erdreich von der Höhe der Kordilleren bis in die Tiefe des Großen Oceans abgerutscht ist, da entstehen begreiflicherweise auch im Erdinnern leicht tiefe Spalten. Der Druck der überlagernden Gebirgsmassen vermindert sich, das unter demselben früher festgewesene Gestein schmilzt; die darin eingepreßten Gase entweichen. Ein Vulkan entsteht; die Selterswasserflasche hat uns gezeigt, wie das ganz natürlich zugeht. Wir begreifen nun auch, weßhalb sich die Vulkane immer längs der großen Gebirgszüge am Meere hin wie Perlenschnüre an einander reihen. Hier existiren eben die größten Bruchlinien, die tiefsten Spalten. Die Erdscholle sank hier am meisten herab und das Meer konnte hier bis zu den stehen bleibenden Gebirgsmauern vordringen. Das Meer selbst hat deßhalb, abermals im Widerspruche mit der alten Ansicht, mit der Vulkanbildung direkt gar Nichts zu thun; seine Nähe bei den Vulkanen ist nur eine Begleiterscheinung, einer gemeinsamen Ursache entspringend. Wo das Land flach zum Meere herabsteigt, wie an den atlantischen Küsten von Europa und Amerika, kommen deßhalb auch keine Vulkane vor.

Es muß auffallen, daß ich in diesem schnell skizzirten Bilde von den neuen Ansichten über die Erdbildung bis jetzt eines vermeintlichen Einflusses auf das Auftreten der Erdbeben gar keine Erwähnung that, welche gerade in gegenwärtiger Zeit wieder in Aller Munde ist. Ich meine die Falb’sche Idee von dem Einflusse des Mondes. Der Grund meines Schweigens hierüber ist einfach der, daß diese Ansicht, welche übrigens lange vor Falb der [12]

gründliche Erdbebenforscher Perrey aussprach, auf der früher allgemein üblichen Ueberzeugung vom glühend flüssigen Meere unter unseren Füßen beruht. Dabei soll und darf niemals geleugnet werden, daß der Mond einen gewissen „auslösenden“ Einfluß auf die Erdbeben- und Vulkanerscheinungen ausübt. Er ist aber zweifellos nicht die Ursache derselben, sondern spielt höchstens in vereinzelten Fällen die Rolle des Zündholzes, welches man in ein Pulverfaß wirft.

Wir haben ja oben gesehen, wie die Verminderung des Druckes auf die tiefliegenden Schichten den Ausbruch von Vulkanen hervorbringt. Die Anziehung des Mondes vermindert nun in der That diesen Druck unter Umständen, doch nur in so sehr geringer Weise, daß sie eben höchstens bei schon vorhandener außerordentlich großer Spannung den letzten Ausschlag zur Katastrophe giebt. In einem Falle wissen wir es sogar ganz unzweifelhaft, daß allerdings selbst eine sehr geringe Druckverminderung die Vulkanerscheinungen begünstigt. Dieser Fall betrifft den kleinen, beständig und wie ein Uhrwerk regelmäßig thätigen Vulkan Stromboli, der nördlich von Sicilien aus dem Mittelländischen Meere hervorragt. Derselbe stößt notorisch bei niederem Luftdrucke mehr Rauch aus und ist lebhafter thätig als bei hohem, und die Schiffer benutzen ihn deßhalb, wie es scheint, schon seit dem grauen Alterthume als zuverlässigen Wetterpropheten.[2]




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Die Todteninsel.
Von Richard Voß.


Es war in Roms goldener Zeit. Die Kaiserstadt am Tiber war in Flammen aufgegangen und soeben aus der Asche neu erstanden. Was der menschliche Geist an Herrlichkeit, an Ueppigkeit und Vergeudung, an ungeheuerlichster Verworfenheit und schändlichem Laster hervorbringen konnte, ward ausgesprochen, wenn man Rom nannte. Mit dem Wahnwitze Nero’s war die schreckliche und scheußliche Kaiserkrankheit bereits typisch geworden: es gab Nichts, was in der Welt, die jener Grimasse eines großen Herrschers unterthan war, unmöglich gewesen wäre.

Noch lebten die Götter Griechenlands. In Rom befand sich eine Stadt von Tempeln, welche ein Volk von göttlichen Bildnissen aus Marmor, aus Gold und Elfenbein bewohnte. Ueberall standen die Altäre der Olympier. Aber bereits schwebte über der Glorie dieser Götterwelt der Schatten des Kreuzes, unter dessen triumphirendem Zeichen der Glanz der goldenen Roma erblassen, die Tempel zerbrechen, die Altäre stürzen, die Götter vergehen sollten; bereits stieg von Golgatha der Dunst vergossenen göttlichen Blutes auf, den alle Wohlgerüche Arabiens nicht zu überduften vermochten, und das bacchantische Evoë des Heidenthums durchzitterte der letzte Seufzer des sterbenden Gottessohnes: in der von Lust und Genuß übersättigten Menschheit erwachte die Sehnsucht nach einem erlösenden Tode.

Rom war das Meer brausender Lebensfreuden, schäumender Daseinswonnen und schimmernder Herrlichkeiten, von dem nach allen Himmelsgegenden Ströme ausgingen, die Welt mit Wogen römischen Glanzes und römischer Verderbniß überfluthend. Einer dieser zahllosen Kanäle, welche römische Kultur, Sitte und Fäulniß über die Erde verbreiteten, lief durch Latinum dem Meere zu, die ganze Küste von Centumcellae bis zu dem wollüstigen Bajä mit einem strahlenden Bande von ländlichen Lusthäusern und Prachtbauten säumend, daß der Strand weit hinausleuchtete in die blauenden Fernen des herrlichen, von Göttern und Menschen geliebten tyrrhenischen Meeres.

Und die römische Herrlichkeit schimmerte gleich einem Nebelstreif zu einem winzigen Klippeneilande hinüber, welches weltfern in der erhabenen Einsamkeit der Meeresfluthen ruhte.

Die Insel war der Gipfel eines todten Vulkans, fast bis zur Spitze lag der gewaltige Berg in den Wellen versenkt. Nach dem Festlande zu hatte die Gewalt des unterirdischen Elementes den Kraterrand gesprengt, aus einander gerissen und theils in die Tiefe des Kraters selbst, theils in den Abgrund der Wellen geschleudert. Als ein Halbkreis von mächtigen Wänden, an denen kein Pflänzlein Wurzel zu fassen vermochte, entstieg der braune Tufffels dem Meere; gleich dem Thron des Neptun erhob sich der geborstene Gipfel über der leuchtenden Wogendecke. Möven umkreisten die Klippen, der Seeadler ruhte darauf, die Wellen schlugen beim Sturme schäumend und donnernd daran; aber keines Menschen Fuß berührte das öde Gestein. In langer Kette zogen die Jahrhunderte an dem einsamen Felsen vorüber, langsam die Wandlung vollziehend.

Der vulkanische Stein verwitterte, und wo der Krater in sich zusammengestürzt war, deckte eine dichte Erdschicht die Trümmer. Winde und Vögel trugen geschäftig aus beiden Welttheilen Samen von Bäumen und Blumen nach dem Eiland hinüber. Im Halbkreis der Felsenmauern blühte es auf; ein tiefschattiger Hain entstand, ein paradiesisches Gefilde, die köstlichste Wildniß von Blumen und Blüthen, in denen Scharen buntgefiederter Vögel nisteten, ringsum die Luft mit Gesang erfüllend, so daß Vogellied das Rauschen der Meeresfluth übertönte.

Dann entdeckte der Mensch das glückselige Eiland. Von der Küste her kamen die Römer, und da die winzige Klippe zu wenig Raum bot, als daß ein Volk von Lebendigen darauf hätte Fuß fassen können, wurde die Insel zu einer Wohnstätte der Todten bestimmt. Man sprengte Galerien in das Gestein, wölbte Grotten und Grabkammern, rodete den Hain aus, die Platanen und Steineichen, die Palmen und Pinien, und pflanzte den Todten schwarze Cypressen, in deren Mitte sich leuchtend der Altar erhob, darauf den Unsterblichen das Opferfeuer angebrannt wurde. Was die tiefen Schatten der Bäume durchstrahlte, weit bis ins Meer hinaus, das waren die Rosen, deren Heimath der meerumbrandete Felsen zu sein schien: Rosen umblühten die Stufen des Altares, Rosen umrankten die Stämme der Cypressen, durchwanden die starren Zweige, kletterten hinauf in den Gipfel, stürzten sich von droben in schimmerndem Blüthenfall zur Erde nieder.

Und Rosen bedeckten ringsum die braunen Klippen! Gleich einem strahlenden Vorhang hing es von den jähen Wänden, in deren Tiefen die Todten schliefen, bis herab in die Fluthen. Die rosigen Blumenwellen trieben auf den Meereswogen.

Generationen von Menschengeschlechtern ruhten in den engen, dunklen Kammern vom Leben aus; ein ganzes Volk von Todten bewohnte das liebliche Eiland, schon war es mit Sarkophagen und modernden Leichnamen angefüllt, aber das Blühen der Rosen nahm kein Ende. Mancher, der aus der blauen Fluth das schimmernde Eiland auftauchen sah, rief, ernsten Auges hinüberspähend, mit gedämpfter Stimme aus:

„Seht dort – die Insel der Seligen!“

* *
*

Die Insel der Seligen, wie das Eiland von den Küstenbewohnern bald allgemein genannt wurde, ward zur neronischen Zeit außer von der Heerschar seliger Todten nur noch von einem Priester und einem Hüter der Gräber nebst ihren Familien bewohnt. Der Priester, welcher dem Dienste der Todtenopfer oblag, hieß Atinas und war ein überaus gottesfürchtiger, in seinem Glauben strenger und eifriger Mann. Sein Weib führte den göttlichen Namen Trivia. Leider starb die Frau in jungen Jahren, nachdem sie ihrem Gatten, der sie heiß liebte, einen Sohn geboren hatte. Die Götter mögen wissen, was aus dem kleinen Tullus geworden wäre, hätte das Weib des Grabhüters Daunus nicht mütterlich des Knäbleins sich angenommen. Zur selben Zeit, als Trivia einem Kinde das Leben gab und daran starb, ward auch die wackere Larina Mutter eines Mädchens, so daß sie die Quelle ihrer Brust zwischen dem mutterlosen Knaben und ihrem eigenen Kinde theilen konnte. Der arme Atinas hüllte sein todtes Weib in ein Linnen, opferte für ihren Schatten den finsteren Gottheiten und half Daunus den Leichnam in eine Grabkammer tragen. Da fast alle Höhlungen der Felsen ihre Sarkophage oder Aschenurnen bereits empfangen hatten, mußten die Männer mit der Gestorbenen bis in das höchste Stockwerk des großen Todtenhauses hinauf, woselbst sich noch einige leere Zellen

[13]

Nordenskiöld.
Nach dem Oelgemälde von Graf Georg v. Rosen.
Mit Genehmigung der Photographischen Gesellschaft in Berlin.

[14] befanden: eine mühselige Wanderung beim Scheine einer Fackel durch die Nacht des engen Felsenganges. Als das Grab seine ewige Bewohnerin aufgenommen hatte, meinte Daunus:

„Nun ist unser Tagewerk hier bald gethan. Wenn unsere Kinder groß geworden sind, schiffen wir uns Alle ein, fahren nach Antium hinüber und wandern mit einander nach Rom. Dort soll es uns gut gehen! Die Todten hier werden wohl von den Wellen bewacht werden und auf Deinem Altare, mein guter Atinas, mögen die Cypressen und Rosen den Göttern opfern.“

Atinas erwiederte Nichts. Er gedachte seiner Todten und daß sein Weib ihren Knaben nicht sehen sollte, wenn er groß geworden war und mit der jungen Acca nach Rom zog.

Anderen Tages wurde der Eingang zur Grotte, darin sich nur noch Platz für einen Todten befand, vermauert, und Larina flocht aus Cypressenzweigen und bunten Bändern eine Tänie[3], die Atinas trauernd über die Grabthür hängte.

Einträchtig lebten die Inselleute weiter. Atinas, dessen von Natur finsteres Gemüth sich mehr und mehr verdüsterte, wohnte auf der einen Seite der Insel, wo neben dem eingestürzten Kraterrand der Fels als mächtige und unzugängliche Wand ins Meer abfiel, seinen treuen Gefährten in der Einsamkeit gerade gegenüber. Zwischen beiden Behausungen lag der Cypressenhain mit der Blumenwildniß und dem Altar in seiner Mitte. Beide Hütten waren ehemalige Grabkammern, in welche man nach dem Meere zu Fenster eingebrochen hatte. Aber weder bei Atinas noch bei Daunus war es den Räumen anzumerken, daß sie während vieler Jahrhunderte von Todten bewohnt gewesen. Die Wände waren mit hellem Stuck überzogen, darauf heitere Gemälde: Landschaften, Genien und anmuthige Menschengestalten, Bilder des Lebens, der Schönheit und der Freude erglänzten; ein bunter Fries, an dem Gewinde von Blumen und Früchten niederhingen, umrandete die mit lichten Stuckaturen geschmückte Decke. Der Fußboden trug eine schöne Mosaik und wurde an festlichen Tagen mit wohlriechenden Kräutern bestreut.

Die Geräthe beider Wohnungen waren überaus schlicht und ihrer nur sehr wenige; sie genügten indessen den Bedürfnissen der Bewohner. In der einen Kammer stand neben dem Ehebette der Webstuhl; in einem andern Gelasse befand sich der Stein, darauf das Brot gebacken und die Fische gebraten wurden, befanden sich auch die verschiedenen Amphoren, Gefäße von nicht allzu mäßigem Umfange, und der Platz, um den Mischkrug zu bewahren.

In dem kleinen Nachen, für den die sorgende Natur an dem sanften Gestade der einen Inselseite einen winzigen Hafen geschaffen, trat der biedere Daunus einmal in jedem Monat die Meerfahrt nach Antium an. In dieser herrlichen Stadt, in deren Mauern der Kaiser geboren worden, beschaffte er für sich und seinen priesterlichen Freund Alles, dessen das Haus und der Grabkultus bedurfte: Mehl und Salz, Oel, Wein und Flachs, buntes Bandwerk, um Tänien zu flechten, und allerlei Spezereien für den heiligen Opferdienst.

Nach glücklich abgeschlossenem Handel und nachdem er sich beim Oberpriester des Apollotempels gemeldet, unter welchem hohen Heiligthum die Gräberinsel stand, schiffte Daunus so eilig wie möglich wieder zurück. Die reiche, lärmende Hafenstadt mit ihrer Menge von prangenden Tempeln, Basiliken und Hallen war für sein ehrliches, weltfremdes und weltscheues Gemüth voller Schrecknisse, Gefahren und Nöthe, denen er sich erst dann glücklich entronnen fühlte, wenn er sich weit entfernt von dem sirenischen Gestade auf offenem Meere befand. Segelte er seiner lieben Gräberinsel zu, so war ihm, als ob die Wellen ihn einem seligen Gestade entgegentrügen, und das Herz bebte ihm bei der Vorstellung, daß sie, sobald die Kinder groß geworden, ihr friedliches Eiland verlassen und nach Rom ziehen würden, um sich in dieser ungeheuren Stadt ihres Lebens zu erfreuen. Der gute Daunus zerbrach sich bereits jetzt den Kopf, wie sie es dereinst anfangen sollten, in dem Gedränge der Gassen nicht erstickt und zerdrückt zu werden. Wenn schon das kleine Antium als ein Rom erschien, wie mußte dann erst die Stadt des Kaisers sein!

Die glückliche Rückkehr des Daunus aus der weiten, weiten Welt war auf der Insel jedes Mal ein Ereigniß. Der Weitgereiste sollte erzählen. Larina erkundigte sich eifrigst nach allerlei Frauenangelegenheiten: ob die vornehmen Antiatinnen sich immer noch das Haar aufthürmten, des Nachts frisches Hühnerfleisch auf die Gesichter legten und Belladonna in die Augen gössen? Ob die Frau des Cäsars wirklich goldenes Haar hätte, ein Hemd aus Byssus[4] trüge, wie Spinnweb so fein, und eine Freigelassene wäre? Ob Daunus einen Gladiator gesehen und ob in Antium nicht bald wieder ein Fest gefeiert würde, bei dem wilde Thiere gefangene Uebelthäter zerrissen?

Der schweigsame Atinas fragte nur nach Einem: aber er fragte es jedes Mal:

„Sage, o Daunus: werden in Antium die Götter geehrt?“

Dann wurde Daunus redselig:

„Das will ich meinen! Welche Tempel, welche Bildnisse, welche Weihgeschenke! Es ist nicht zu glauben!“

„Und in Rom? Hörtest Du in Antium sagen, daß auch in Rom den Unsterblichen eifrig gedient würde?“

„Je nun, in Rom – freilich, auch in Rom; ganz sicher auch in Rom! Es soll nicht zu glauben sein!“

„Aber der Kaiser?“

„Nun, das ist Einer! Der versteht’s! Das ist ein Anderer als der Caligula. Und wie er die Götter ehrt! Er soll sogar daran denken, selber einer zu werden, ein ganz anderer, als der Caligula war: ein wirklicher Gott. Gar nicht zu glauben ist’s! – Sagtest Du Etwas?“

Doch Atinas hatte Nichts gesagt; nur tief aufgeseufzt hatte der Priester.




Unter Todten, die in ihrem ewigen Frieden selig waren, und unter Blumen, welche das ganze Jahr hindurch blühten, wuchs das Kinderpaar auf; an Lebensfülle, Heiterkeit und Schönheit jungen Göttern gleich. Die kleine Acca mit ihren zarten Gliedern, dem schlanken Hals und blassen Gesichtchen glich einem Marmorbilde der Psyche, welches in einem laurentinischen Heiligthum verehrt wurde. Sie hatte lichtes, welliges Haar und in ihrem lieblichen Antlitz erstrahlten die Augen in dem tiefen Blau der von Sonne durchleuchteten Meereswogen. Wenn sie lächelte, was sie that, so oft sie ihres Spielgefährten ansichtig ward, erschien sie so reizend, daß selbst Atinas glaubte, es könnte auf der Welt nichts Holdseligeres geben. Ihre Stimme war voll Wohllauts, und sie hatte eine eigentümlich anmuthige Art zu gehen und sich zu bewegen. Im Spiel mit dem Knaben huschte und schlüpfte sie wie eine Eidechse durch die Büsche; dann hörte man durch die Zweige ihr Lachen, lieblich wie Sirenengesang.

Sie war heiteren Gemüthes, von einem stillen Frohsinn, gleichmäßig sonnig, einem schönen Frühlingsmorgen ähnlich. Wenn sie in die Kammer ihrer Eltern oder in die Wohnung des Atinas trat, so schien der trübste Tag plötzlich weniger trübe, ein sonniger noch strahlender zu werden. Frühzeitig lernte sie, ihrer Mutter Larina beim Flechten der Tänien behilflich zu sein, welche das Weib des Grabhüters an bestimmten Tagen vor den Grabkammern aufzuhängen hatte; sie goß für Vater Atinas den Wein in die Opferschale, häufte die Spezereien auf dem Altar, den sie jeden Tag mit frischen Blüthen kränzte, und schaffte bereits als halbwüchsiges Mädchen eifrig mit der Spindel und am Webstuhl. Da nun seit dem Tode der armen Trivia in des Atinas Kammer der Webstuhl verlassen stand, so war Nichts natürlicher, als daß der leere Platz von Acca eingenommen wurde, welche auch sonst im Hause des Priesters geschäftig als kleine Domina waltete.

Auch der junge Tullus war von besonderer Art, ein prächtiger Bursche, um dessen braunes Antlitz düstere Locken sich ringelten, mit schwarzen, blitzenden Augen, die bald in überquellender Lebenslust und Jugendfreude aufleuchteten, bald voll unsäglicher Schwermuth still vor sich hinblickten. In solchen Stunden schien des Knaben Seele eine Flamme zu sein und er sich bei diesem innern Feuer zu verzehren.

Schneller als Tullus selbst empfand Acca die Wandlung, die so häufig mit ihrem Freunde vorging. War sie bei ihm, so wich sie nicht von seiner Seite. Nie war ihr Lächeln so lieblich, ihr Antlitz so sonnig, ihre Stimme so voll süßen Wohlklangs, als wenn Tullus’ Geist von der dunkeln Wolke beschattet ward, von der auch das Mädchen nicht wußte, woher sie kam und was sie barg. Sie steckte dann voller unschuldiger List und Künste, denen nicht zu widerstehen war. Tausend Einfälle flogen ihr zu, immerfort neue, mit denen sie den Freund fortzulocken wußte; allerlei [15] anmuthige Possen kamen ihr in den Sinn. Sie summte schelmische Lieder, die Niemand sie gelehrt, erzählte wunderschöne Geschichten, die sie von Niemand gehört hatte. Aus der engen Kammer trieb sie den schwermüthigen Gespielen heraus in den von Sonnenglanz durchflutheten Tag. Sie selbst versteckte sich im Hain; Tullus mußte sie suchen, und fand er sie endlich, so schleuderte sie ihm eine Fülle von Rosen ins Gesicht. Dann riß auch Tullus Blüthen ab; es entbrannte zwischen Beiden der Kampf, bei dem der Jüngling Heldenthaten beging und seine reizende Feindin glorreich besiegte. Oder sie lockte die Vögel, die Nachtigallen, die Amseln und die Tauben, welche alle Acca als Herrin und Königin des Eilandes kannten und ihr unterthan waren. Die kleine Zauberin stand auf den Stufen des Altars und von allen Seiten kam das Gevögel herangeflattert. Zwitschernd und gurrend schwirrte es aus den Blumendickichten und den Wipfeln der Cypressen nieder; von den Felsenwänden kamen sie geflogen, ein schimmerndes Gewölk, das sich, Acca’s Haupt umrauschend, zu ihren Füßen niedersenkte. Auf Schultern und Armen saß das kecke Vogelvolk, die Brosamen aus den geöffneten, rosigen Lippen naschend. Dann wurde Tullus eifersüchtig, dann lachte Acca.

Zuweilen zog das Mädchen den Träumer mit sich fort, tief in das Innere des Todtenberges hinein. Die düsteren Gänge entlang, die engen Felsenstiegen empor, die sie kannten wie die Gänge und Wege draußen im Hain, an allen den Gräbern und Grüften vorüber, klommen sie hoch und höher, bis sie wieder hinauf an den Tag und auf den Gipfel gelangten. Auf seinem schmalen Rand dahinschreitend, schienen sie zwischen Himmel und Erde zu schweben. Zu ihren Füßen ruhte das herrliche Meer, so weit sie blickten in dunklem Purpur erstrahlend, oder in hellem Silberglanz aufleuchtend, unübersehbar, unendlich, aus seinem heiligen Schoß die schöne Erde zur Sonne emporsendend und in seinen Abgrund den Himmel herabziehend mit aller seiner Wolkenpracht. Dann stand Acca auf der Klippe; ihr weißes Kleid wehte um ihre winzigen bloßen Füße, es wehte um Stirn und Wangen ihr glänzendes Haar. Sie hob die Arme. Es war, als ob ihren Schultern Flügel entwachsen müßten und die kleine lichte Gestalt sich aufschwingen würde in den Himmel hinein. Waren die Beiden in die blühende Tiefe zurückgekehrt, so war Tullus’ Blick wieder beruhigt, dann wand ihm die Freundin zum Lohn für seine freundliche Miene von ihren schönsten Blumen einen Kranz. Diesen setzte sie ihm auf, und wenn er sie zum Dank küssen wollte, entwand sie sich ihm; er mußte sie jagen und fangen und halten. Dann tönten die Stimmen der beiden Unschuldigen und Reinen fröhlich durch die wonnige Wildniß, mit den Vogelstimmen und dem Rauschen der Wogen sich mischend.

Aber nicht immer gelang der jungen Sirene ihre Bestrickung; zuweilen enteilte Tullus, wohin sie ihm nicht zu folgen vermochte. Er sprang in den Nachen und trieb mit raschen Schlägen vom Lande ab; taub für die süße, flehende Stimme, die vom Ufer her zu ihm drang, blind für die kleine, einsame Gestalt, für die ihm zuwinkende Hand, ihren bittend erhobenen Arm. Oft geschah es dann, daß Tullus im Nachen sich hinwarf und, vollständig unbekümmert um Wind und Wellen, dalag, zum Himmel aufblickend, der wie ein zweiter, blauender, strahlender Ocean über ihm fluthete; die junge Seele krank vor Sehnsucht nach einem unbekannten, aber göttlichen Glück, träumte der Knabe.

Einmal war es ihm, als sähe er den Himmel offen. Alles war Glanz und Glorie. Zwei leuchtende Gestalten schwebten empor. Acca und er! Es waren aber nur zwei zarte Wölkchen, die dem Abendroth zuwallten. Da sie in das goldene Licht eintauchten, lösten sie sich auf und zerrannen.




Weil auf der Todteninsel beinahe alle Grabstätten gefüllt waren, kam von der Küste selten noch Jemand herübergeschifft. Nur bisweilen erschien im Morgengrauen dieser und jener Trauernde, um an irgend einem Gedächtnißtage seinen Gestorbenen eine Tänie zu bringen und nach kurzem Aufenthalt wieder zu scheiden. Niemals kam Jemand von den Ponza-Inseln herüber, deren Bewohner die nächsten Nachbarn der Leute auf dem Gräbereiland waren; denn dort lebten Verbannte, Feinde und Widersacher des Kaisers, welche der Herr der Welt nicht hatte tödten lassen wollen und daher auf diese öden Klippen sandte, wo ihr Leben ein langsames Sterben war. So kam es, daß von der Sturmfluth der Ereignisse und Dinge selten der Schall einer verrauschenden Woge zu den fünf Einsamen drang; aber es befand sich unter ihnen Keiner, der sich nach den brausenden Tönen des Lebens gesehnt hätte; jeder Laut, der nicht von dem altgewohnten Liede der Wellen und Winde herrührte, gellte als Mißklang in diese von den Vogelstimmen und dem Lachen Acca’s durchtönte reine und schöne Welt.

Friedlich spannen sich die Tage ab. Mutter Larina und Acca walteten sorgsam in den beiden Häusern; der fromme Atinas diente mit alter Strenge den Göttern, von Jahr zu Jahr mehr in seinem Gemüth verdüstert, während der derbere und gutmüthigere Daunus für Herd und Tisch bedacht war, wobei ihm Tullus zur Hand gehen mußte; er that es nicht allzufreudig.

Manchen Tag befanden sich die Beiden schon beim Morgengrauen auf dem Meere; aber anstatt dem Daunus zu helfen, das schwere Netz zu werfen, hockte Tullus im Nachen und schaute der Sonne zu, wie der große, goldige Flammenball aus dem Purpurgewölk langsam und feierlich aufschwebte und die ersten Strahlen sich über die noch dunklen Wellen ergossen. Dann murrte der wackere Daunus: „Aus Dir wird Dein Lebtage Nichts. Wozu Du wohl auf der Welt bist?“

Das hätte Tullus selbst gern gewußt; da er es aber nicht wußte, überließ er diese Sorge den Göttern.

Eine noch unliebsamere Beschäftigung war dem Jüngling, zu den Zeiten, wo der Thunfisch die Küsten entlang strich, mit Daunus des Nachts auf den Fischfang auszuziehen. Alsdann flammte am Bug des Schiffes die Harzfackel; Daunus lehnte mit dem spitzigen Dreizack über den Rand und traf mit sicherem Stoß den Thun in den fleischigen Rücken, worauf es zwischen Fischer und dem mächtigen verwundeten Thier häufig zu einem Kampf kam, bei dem in dem schwankenden Kahn auch der Mensch seines Lebens sich wehren mußte. Bessere Zeit war im Frühling, wenn der Jüngling mit dem Alten die Klippen erstieg, um den von Afrika wiederkehrenden Wachteln Netze zu stellen. Von dem weiten Flug übers Meer zu Tode ermattet, ließen sich die heimkehrenden Vögel in Scharen auf den Felsen nieder: eine leicht erjagte Beute, welche Larina’s Vorrathskammer füllte.

War des Tages Arbeit vorüber, fand man sich beim Altar zusammen. An schönen Abenden, deren es auf diesem seligen Eilande gar viele gab, ruhte man nach vollbrachtem Opfer am Ufer, angesichts der lang sich hinziehenden lateinischen Küste. Dann erzählte Atinas von dem göttlichen Helden Odysseus. – Dort, wo jener Felsenthron dem Meere entstieg, waren die Gärten der argen und holdseligen Zauberin Kirke! Und Atinas erzählte von dem unsterblichen Aeneas. An jenem Gestade, der Insel gerade gegenüber, war der Held mit den Seinen nach langer Irrfahrt gelandet; damals war die Gegend dort drüben dunkle Waldung und schauervolle Wildniß, grenzenlose Steppe und Sumpf. Gen Antium zu erhob sich unweit des Meeres die Stadt des schönen Rutulerfürsten Turnus; mächtig ragten, von hochstämmigem Lorbeer beschattet, die Mauern der Stadt des greisen Königs Latinus, der den stammverwandten griechischen Fremdling gastlich empfing, diesem die Tochter, die liebliche Lavinia, zur Ehe gelobend. Heiß entbrannte zwischen Rutulern und Latinern der Kampf, dem von des Albanus Höhen die zornige Juno zuschaute: dort ragte der Gipfel des heiligen Berges! – In jenen Wäldern starb das herrliche Jünglingspaar Nisus und Euryalus den Heldentod, sank der wonnige Pallas aus Todeswunden blutend auf die Blumen der Flur, beweint von Göttern und Menschen.

Starren Auges schaute Tullus hinüber, wo so hehre Dinge geschehen waren. Ein Nebelstreif, versilbert durch Mondesglanz, säumte das Land. Aus dem Haupt des Albanus, der des Landes höchstes Heiligthum trug, stieg das sanft glühende Himmelslicht empor; eine breite Strahlenbrücke führte von der Insel zur Küste hinüber: hätte Tullus sie beschreiten können!

Leise erhob er sich und schlich davon in die Finsternisse des heiligen Haines. Hier, auf den Stufen des Altars, darauf das Opferfeuer verglühte, warf er sich nieder, seufzte, schluchzte, weinte. Schön war das Leben, denn Acca athmete es! Aber noch schöner mußte es sein, das Leben dahingeben zu können, zu sterben – ganz gleich um was; starb man nur den Tod eines Helden. Acca war dem Freunde nachgeschlichen. Sie kauerte neben ihm nieder, raunte ihm zu, tröstete ihn. Aber selbst Acca konnte nicht trösten. So geschah es manche Nacht.

(Fortsetzung folgt.)     
[16]

Am Sonntag. Von R. Beyschlag.
Nach einem Lichtdruck im Verlage von F. A. Ackermann in München.

[17]
Der gute Muth des deutschen Soldaten.
Von Fritz Klien. Mit Originalzeichnungen von O. Gerlach.

.

Eine Fülle kecker Lebenslust steckt in unserm deutschen Soldaten. Man findet sie allerdings nicht bei militärischen Uebungen, wenn die starren schweigsamen Linien unseres Heeres sich scheinbar mechanisch und von einem unsichtbaren Willen gelenkt, den Bestandteilen einer Maschine gleich hin und her bewegen. Dann behält die strenge Manneszucht die Oberhand; der Humor kommt in freieren Stunden zur Geltung. Er klingt aus den Soldatenliedern; er verkürzt die langen Märsche; er macht das schlechteste Quartier, das verregnetste Bivouak erträglich. Auch bei Gelegenheiten, wo sich der Soldat „fein“ macht, wo er sich in „Extra“ wirft, um, seinen Schatz am Arm, ein militärisches Fest zu feiern, genügt ihm nicht Tanz und ein tüchtiger Trunk allein; nein, er will auch Etwas haben, worüber er lachen kann. Und was das Beste ist, dieser Humor entwickelt sich frei vor den Augen der Vorgesetzten; er fügt sich willig ein in die Grenzen militärischer Zucht und soldatischen Anstandes, er ist ein trefflicher Prüfstein für den guten Geist einer Truppe.

Wer einmal so einen Marsch in glühender Sonnenhitze mitgemacht hat – dicker Staub rings umher, keine Gelegenheit zu einem frischen Trunk weit und breit, wohin man sieht, ernste schweißtriefende Gesichter: der weiß es wohl zu schätzen, wenn sich endlich, endlich der Humor durchringt und es, zunächst noch etwas melancholisch angehaucht, in die schwüle Luft klingt:

„Was nützet mir ein schönes Mädchen,
Wenn Andre mit spazieren gehen
Und küssen ihr die Schönheit ab,
Woran ich meine, woran ich meine
      woran ich meine Freude hab.“

Aber es ist doch schon Etwas; der Bann ist gebrochen; die gedrückten Gestalten richten sich auf; das Auge wird lebhafter. Von Minute zu Minute klingen die Kehlen frischer und lustiger und immer mehr Stimmen fallen ein, und ehe man es sich versieht, ist man bei dem Lied angelangt, welches nur erklingt, wenn die Stimmung in der Kompagnie eine ganz vortreffliche ist, wenn das gefürchtete große Buch des Feldwebels lange Zeit zwischen dem dritten und vierten Knopf stecken geblieben ist, wenn der gestrenge Herr Hauptmann friedlich seine Cigarre raucht und für Den und Jenen ein freundliches Wort hat:

„Unser Hauptmann, der ist gut,
Wenn man ihm den Willen thut;
Aber hat man was verbrochen,
Wird man gleich ins Loch gestochen.
     Tschumderassassa, Tschumderassassa.

Morgens aus dem Scheibenstand,
Schießt man eine in den Sand,
Fängt der Hauptmann an zu fluchen:
Wart, der Kerl soll Kugeln suchen.
     Tschumderassassa, Tschumderassassa.“ etc.

Verstohlene Blicke fliegen zu dem Gestrengen hinüber. Er schmunzelt auf seinem Fuchs vergnüglich vor sich hin. Allgemeiner Jubel. Nun ist alle Hitze und Müdigkeit vergessen; jetzt braucht der Hauptmann nicht mehr zu fürchten, daß einer seiner Leute „schlapp“ werden wird.

Verregnetes Bivouak.

Nicht nur gegen Hitze, sondern auch gegen Kälte und anderes Ungemach findet der gute Muth des deutschen Soldaten – eine treffliche Verdeutschung für Humor – seine Mittel. Ein kühler Herbstmorgen nach einem Bivouak ist ein eigen Ding. Der frische kalte Thau liegt auf den Gräsern und macht alle Mühe, die man sich soeben mit seinem Schuhwerk gegeben, werthlos. Die Kompagnie steht fröstelnd umher, die Hände in den Hosentaschen vergraben; übernächtige Gesichter, wohin man blickt.

„J“, ruft Einer, der es gewohnt ist, den Ton in der Kompagnie anzugeben, „wollen uns doch ein Bischen Bewegung machen.“

„Jawohl,“ tönt es von allen Seiten, „Frischwachs, Frischwachs!!“

„Was ist denn Frischwachs?“ fragt so ein junger Rekrut.

„Warte, mein Sohn, sollst es gleich kennen lernen,“ meint der Aeltere. Schnell bildet sich ein Kreis um den jungen Krieger, und voll Vertrauen giebt dieser dem Druck, der ihm den Kopf nach unten biegt, nach. Plötzlich fühlt er einen empfindlichen Schlag. Er fährt entsetzt empor und blickt in lauter fröhliche Gesichter, und aus achtzig Kehlen schallt es ihm entgegen. „Wer war’s?“

Der Aermste weiß es nicht, und das Spiel wiederholt sich. Aber Noth und körperlicher Schmerz machen erfinderisch. Bald trifft er den Missethäter, der nun an seine Stelle tritt. Das nächste Mal fragt er aber sicherlich nicht wieder: „was ist denn eigentlich Frischwachs?“ Wenn jetzt das Kommando „An die Gewehre!“ erschallt, dann ist die Kompagnie so warm und frisch, als hätte sie im schönsten Bett geschlafen.

Kommt man während des Manövers aber erst mit andern Truppentheilen zusammen, dann bricht die gute Laune des deutschen Soldaten mit Macht hervor. Je mehr buntes Tuch zusammenkommt, um so mehr fühlt sich der Soldat in seinem Element, um so stärker kommt es ihm zum Bewußtsein, wie stolz er ist, ein Mitglied unseres prächtigen Heeres zu sein.

Fast jedes Regiment hat seinen Spitznamen und trotz aller guten Kameradschaft giebt es auch hier Sympathien und Antipathien. Zumeist sind die ersteren auf die Kriege unseres Vaterlandes zuruckzuführen. Die große Zeit von 1870 bis 1871 ist Gottlob auch in diesen jungen Generationen lebendig geblieben, und Gefahren, welche die Altvordern im Rock des Königs gemeinsam bestanden, bilden auch für die noch bartlosen Nachkommen einen unverbrüchlich festen Kitt.

In manchen Regimentern begrüßen sich befreundete Truppentheile mit einem fröhlichen weithin schallenden „Lehmug“, ein Wort, über dessen Abstammung und Bedeutung die Gelehrten noch durchaus uneins sind. Keine Husarenschwadron reitet an einer Jägerkompagnie vorüber ohne ein einstimmiges „Guten Morgen, Kouleur“, welcher Gruß von den Grünen prompt erwiedert wird. Seit den Tagen des alten Fritz gehören die Jäger und Husaren zusammen; „leichte Waare“ nennen sie die Andern. Erscheinen aber die Dragoner mit den schwarzen Kragen, überall die „Eisenbahner“ genannt, dann geht der Spaß los. „Klinglingling – einsteigen, meine Herren, einsteigen – wann geht der nächste Zug nach K.?“ so schallt ihnen von allen Seiten entgegen, und die Schwarzkragen bleiben die Antwort nicht schuldig. – Eine besondere Pique hat die Infanterie auf die Jäger; sie sind ihnen zu fein, wollen stets etwas Besonderes haben. Ihre Unterofficiere heißen Oberjäger; sie tragen keine Tornister, sondern Dächse, führen keine Gewehre, sondern Büchsen – „und sind doch nichts weiter als grüne Infanterie,“ behauptet so ein eingefleischter Infanterist. Kommen die schmucken Jägersleute vorbeigezogen, sofort geht der

„Guten Morgen, Koleur.“

[18] Kampf los: „Guten Morgen, Laubfrösche – quak, quak, quak“ ruft man ihnen zu. Ein besonders Witziger fragt wohl auch: „Kinder, wo brennt es denn?“ und die Anspielung auf die dem Kopfschutz der Löschmannschaften nicht ganz unähnliche Kopfbedeckung der Jäger wird verstanden und findet jubelnden Beifall. Die Jäger sind auch nicht auf den Mund gefallen. „Ruhig, ihr Trommelköpfe,“ herrschen sie den lustigen Blauen zu. Im Felde aber, in der Stunde der Gefahr, da verschwinden alle Neckereien und Hänseleien, da stehen unsere Soldaten Schulter an Schulter in Kampf und Noth wie echte treue Kameraden.

Herr Hauptmann und Frau Feldwebel.

Muß der Soldat auf ein schützendes Dach und auf ein warmes Bett verzichten, sagt er sich bei „Mutter Grün“ zu Gast, dann bietet sich ihm der rechte Tumnmelplatz, um den Ueberschuß an Lebenslust und Lebenskraft zu verwerthen. Und wunderbar! Je unfreundlicher der Himmel auf das bunte Treiben herabblickt, um so ausgelassener wird die Stimmung. Das Gefühl, sich nicht „unterkriegen“ zu lassen, steckt in unserm deutschen Soldaten und trägt im Felde die herrlichsten Früchte. Ist die Mahlzeit verzehrt, sind die Waffen gereinigt und der Anzug wieder blank, dann ist es Zeit zu einem richtigen Bivouakschwank. Zunächst begraben die nun bald zur Entlassung kommenden alten Leute, die „Reservisten“, wie sie sich schon mit einem gewissen Stolz nennen, die alten treuen Gefährten so manchen Bivouaks – die Löffel. An einem großen Gerüst sind diese Zeugen gesunden Soldatenappetits aufgehängt, und unter Vorantritt der Regimentsmusik setzt sich der Zug der fröhlichen Leidtragenden in Bewegung. Zunächst rückt man vor das Zelt des Kommandeurs. Der zum „Sprecher“ Auserkorene hält eine Rede, so gut er kann. Er gedenkt der gemeinsam im Rock des Königs verlebten Jahre, versichert, daß Alle auch im schlichten Bürgerkleid gute treue Soldaten bleiben wollen, und schließt mit einem stürmisch aufgenommenen Hoch auf den obersten Kriegsherrn. Dann schreitet man zu dem eigentlichen Begräbniß. An der großen Grube, die unterdessen aufgeworfen worden ist, waltet der Sprecher wiederum seines dornenvollen Amtes. „Lebt wohl, Ihr alten treuen Kumpane,“ ruft er den zur Grube sinkenden Löffeln zu, „nie wieder sollt Ihr Erbswurstsuppe zu kosten bekommmen, nie wieder sollt Ihr Reis rühren oder Fleisch kennen lernen, das doch nie gar wurde. Begraben und vergessen, das ist des Löffels Fluch“, schließt er mit einem kühnen Sprung in die klassische Poesie. Die Rede scheint auf die Umstehenden einen gewaltigen Eindruck gemacht zu haben; wenigstens können sich Einige nicht enthalten, die thränenden Augen mit Strohwischen zu trocknen.

Der Hauptspaß bleibt aber doch das Bataillonsexerciren. Sowie die Anregung hierzu gegeben, eilt Alles auf den freien Platz inmitten des Bivouaks, ergreift sein Gewehr, einen Kloben Holz, und stellt sich in Reih’ und Glied. Ein Bataillonskommandeur und Adjutant sind bald gefunden, und mehr braucht es für dieses Bataillon nicht. Mächtige Schärpen und Achselstücke von Stroh geben ihnen das nöthige Ansehen und ein paar prächtige Renner stellen sich ihnen in den kräftigsten Burschen der Kompagnie zur Verfügung. Kleine Eigenthümlichkeiten in Haltung und Sprechweise der Herren Vorgesetzten nachzuahmen, gehört zu den alten Ueberlieferungen dieses Bataillonsexercirens, und da hierbei die Leute aus gewissen Grenzen nie herausgehen, wird ihnen dieser Spaß durchaus nicht verargt, ja, der Herr Bataillonskommandeur sieht sich wohl ganz gern von Weitem seinen Kollegen „in Stroh“ lächelnd an. „Still–ge–standen. Richt – Euch,“ ertönt das Kommando und der Stab galoppirt an den rechten Flügel. „Hierher die Augen, hierher die Augen. Da ist ein Mann im zweiten Gliede der zweiten Kompagnie, der sieht immer noch geradeaus – natür – lich ist es der Ziep. Herrrr, wollen Sie gefälligst Ihre Samengurke nach rechts nehmen?“

Der mit einem besonders stattlichen Riechorgan von Natur bedachte Ziep zuckt schmerzlich betroffen zusammen. Allgemeiner Jubel. „Rechts – um! In Züge links marschirt auf – Marsch – marsch – Kerls, was ist das für ein Aufmarsch, das ist ja, als ob ein Flug Sperlinge aufgeht“ – Wiederum große Freude. „Bataillon – Marsch – eins – zwei – drei – vier, Ru–he, Tem–po! Der Mann in der 3. Kompagnie mit ’nem Bart ums Kinn wie ein Fußsack, Herr, glauben Sie, Sie wären ein Seiltänzer? Ruhe in die Beine, ran die Brust an die Hosenträger, oder Sie fliegen in den Kahn.“ Stürmische Heiterkeit. „Und nun zum Schluß noch einen guten Parademarsch, Alles vorwärts marschirt, nicht gestutzt!“ Die Linien defiliren vorbei, die Gesichter glänzen vor Vergnügen und die kräftigen Beine fliegen heraus, daß einem Kompagniechef das Herz im Leibe lachen würde. Ja, so ein richtiges fröhliches Bivouak ist ein militärisches Fest so gut wie ein anderes.

Mit dem Schatz.

Aber ein Fest kennt der deutsche Soldat, welches ihm doch das liebste ist: das ist der Tag, an welchem vor so und so vielen Jahren dem Vaterlande der Mann geschenkt wurde, zu welchem jeder Soldat vom ältesten bis zum jüngsten als zu seinem unerreichbaren Muster und Vorbild emporblickt – Kaisers Geburtstag. Ist die Parade vorbei, hat man bei Schweinebraten, Backobst und Klößen und der an diesem Tage unerläßlichen halben Flasche Wein seinem Kriegsherrn zugejubelt, dann winkt am Abend das Kompagniefest mit seiner Fülle von Freuden. Hier tritt der Soldat so recht aus sich heraus, denn hier genießt er nicht allein, nein, hier darf auch, der Schwarm seines Herzens, die treue Gefährtin seiner Militärzeit, die unermüdliche Aufbesserin seiner Kost – seine Köchin Theil nehmen. Hat der Ball mit dem Herrn Hauptmann und der Frau Feldwebel an der Spitze seinen Anfang genommen, sind die ersten Tänze herumgedreht, dann drängt sich Alles um die Schaubühne am Ende des Saals und über die unscheinbaren Bretter geht eine Fülle echten frischem Soldatenhumors.

„Es lebe der Reservemann.“

Es ist erstaunlich, was für Talente sich in der Stille des militärischen Lebens herausbilden. Ein ganzes Theater steckt in der Kompagnie beisammen: dramatische Dichter, Regisseure und Schauspieler. Was die Soldaten als „Statisten“ auf der großen Bühne gelernt, das wissen sie hier im Kleinen mit Geschick zu verwerthen. Ein schlichter, aber warm empfundener Prolog, natürlich von Einem aus der Kompagnie verfaßt, macht den Anfang; ein Kaisergeburtstagsfestspiel folgt, spaßhafte Kouplets, Schwänke aus dem Garnisonleben, dem Quartier und Bivouak, lebende Bilder, Chorgesänge – Alles in buntem Wechsel, Alles mit den einfachsten Mitteln, aber frisch dargestellt und dem Geschmack des Soldaten angepaßt. Auch für den Nichtsoldaten ist eine solche Feier der beste und erhebendste Schluß eines Kaisergeburtstagsfestes. Er nimmt das Gefühl mit nach Hause, daß er sich in einer Gemeinschaft befand, die geeignet ist zu einer festen Säule für Kaiser und Reich.

Jeder aber, der den deutschen Soldaten kennt, jeder, der Gelegenheit gehabt hat, ihn in Ausübung des Dienstes sowohl als auch bei seinen Vergnügungen zu beobachten, wird mit uns fühlen, wenn wir mit dem Wunsche schließen: Gott erhalte dem Vaterlande seinen strammen, pflichttreuen und – fröhlichen Soldaten!

[19]
Blätter und Blüthen.

Die Urania. In Berlin wird demnächst ein eigenartiges Institut ins Leben gerufen werden, das im edelsten Sinne der allgemeinen Aufklärung weitester Kreise in allen naturwissenschaftlich interessanten Dingen dienen soll. Was die große Natur Wunderbares, Seltenes, Großartiges aufweist, sei es in den letzten Tiefen des dämmernden Weltgebäudes oder im Umkreise unserer irdischen Planetenwelt, vom Größesten und Gewaltigsten bis zum unsichtbar Kleinsten, soll in diesem Institute, das den Namen „Urania“ führen wird, theils in Natur oder, wo der Gegenstand solches verbietet, in naturgetreuen bildlichen Darstellungen, die in großem Maßstabe unter der Leitung kompetenter Fachmänner auszuführen sind, dem unmittelbar anschaulichen Verständniß des Laienpublikums vorgeführt werden. Diesem Zwecke wird zunächst eine mit großen Instrumenten reich ausgerüstete Sternwarte gewidmet sein, so jedoch, daß zugleich dafür gesorgt wird, die Wunder des Himmels auch bei ungünstigem Wetter in naturwahren Nachbildungen und leuchtenden Projektionen der Betrachtung darbieten zu können. Ein anderer Raum wird die Welt des Kleinsten in einer Anzahl guter Mikroskope zeigen; dann werden hier die interessantesten physikalischen Erscheinungen in brillanten Experimenten vorgeführt. In dieser Abtheilung des Unternehmens sollen auch die besten Werke unserer modernen Präcisionsmechanik ausgestellt werden, nachdem sie vorher nach streng wissenschaftlichen Methoden auf ihre Güte geprüft worden sind.

Als dritte Abtheilung wird sich dem Unternehmen ein „wissenschaftliches Theater“ anschließen, in welchem seltene oder unseren Blicken überhaupt unzugängliche Naturerscheinungen und -Scenerien in effektvollen dekorativen Darstellungen an uns vorüberziehen werden, wie z. B. Sonnenfinsternisse, die in ihrem ganzen Verlaufe durch die Kunst der Theatertechnik uns auf der Bühne so erscheinen, als ob wir wirklich Zeugen eines dieser seltenen und durch die Ungunst des Wetters leider so oft unserer Betrachtung gänzlich entzogenen Himmelsereignisse wären. Auch durch die dunklen wundererfüllten Zeitalter vorsündfluthlicher Schöpfungen werden wir dort im Geiste wandern können. Von allen ähnlichen früher dargebotenen Versuchen verschieden wird dieses Unternehmen namentlich dadurch werden, daß eine Anzahl hervorragendster Berliner Gelehrten es durch ihren wissenschaftlichen Rath unterstützen werden und daß es gediegene Belehrung zugleich im großen Stile einer gewissermaßen musischen Darstellung bieten soll. Die „Gesellschaft Urania“ wird auch gleichzeitig eine illustrirte populäre Monatsschrift unter dem Titel „Himmel und Erde“ herausgeben. Das Unternehmen wird auf das Thatkräftigste von der königlich preußischen Staatsregierung unterstützt, welche derselben die Überweisung eines Bauplatzes in sehr geeigneter Gegend zu den genannten Zwecken in nahe Aussicht gestellt hat, während eine Vereinigung von Naturfreunden im Begriffe ist, sich unter der gesetzlichen Form einer Aktiengesellschaft zur Finanzirung des Unternehmens zu konstituiren. Demselben ist in Anbetracht der hohen Wichtigkeit der Verbreitung gediegener naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in unserm Jahrhunderte, das bereits längst den Namen eines eminent naturwissenschaftlichen trägt, der beste Erfolg zu wünschen, der ihm bei der ungemein starken Anziehungskraft, welche die Wunder der Natur auf alle Kreise der Bevölkerung auszuüben vermögen, auch ohne allen Zweifel sicher ist.


Das Löffelbegraben.

Das Bataillonsexerciren.


Auf dem Pic von Teneriffa. Den Erinnerungen und Auszeichnungen des Grafen Adolf Friedrich v. Schack „Ein halbes Jahrhundert“ (Stuttgart und Leipzig), die an stimmungsvollen und glänzend kolorirten Landschaftsbildern reich sind, entnehmen wir eine Schilderung des Pics von Teneriffa und der Besteigung desselben, die mit größerer Leichtigkeit bewerkstelligt werden kann, als diejenige gleich hoher, nördlicher gelegener Gebirgsspitzen; denn diese sind das ganze Jahr hindurch mit großen Gletschermassen und Schneefeldern überdeckt. Gleichwohl gilt die Besteigung des Donnerbergs auch den Führern für ein schwieriges Unternehmen. Nachdem die mittlere Bergzone mit ihren Lorbeer-, Kastanien- und Aepfelbäumen passirt war, ging es über Lavatrümmer weiter aufwärts, und die Retamapflanze, ein dem Pic von Teneriffa eigenthümliches Gewächs, überwucherte den Boden; hier und da flog ein kleiner Schmetterling um ihre Blüthen. Zwischen erstarrten Lavaströmen und Steinblöcken stieg der Reisende höher bergan; immer schwieriger wurde der Pfad wegen des zackigen, ringsum aufgethürmten Gesteins. Auf der Alta Vista, in einer Höhe von 10 000 Fuß, verbrachte Schack die Nacht, um mit größerer Sicherheit vor Tagesanbrach den Gipfel zu erreichen. Und in der That gelang es ihm, oben anzukommen, vor Sonnenaufgang, als noch die Nacht mit ihren Myriaden Sternen auf ihn niederschaute. „Da sah ich unten einen matten Dämmerungsschein um die Ränder der Erde spielen, die Finsterniß zerbrach nach und nach in sich selbst, blasse Strahlen zuckten durch sie hin. Noch vermochte mein Auge in der Tiefe Insel und Meer nicht zu unterscheiden; plötzlich jedoch gewahrte ich im Zwielicht neben mir einen Riesenberg, dessen Gipfel gleich hoch war wie die Spitze, auf der ich stand. Lange starrte ich nach dieser gigantischen Felsmasse und fragte sodann den Führer, welcher Berg dieses sei, da Teneriffa doch nur einen Pic habe; Cristoval aber wußte keine Antwort zu geben und blickte sprachlos nach derselben Seite wie ich hin. Allmählich dann schienen die Umrisse des Riesenbergs minder scharf zu werden; seine Wände und Zacken stürzten ein, und erst jetzt ward mir klar, der Pic habe auf eine leichte Schicht von Dünsten sein Spiegelbild geworfen; es sei eine Erscheinung gewesen wie die Fata Morgana oder das Brockengespenst. Nun brachen die Flammengeister mächtig über den Erdball herauf; der Mond ward bleicher, die letzten Sterne sanken wie blinkende Tropfen in die Wogen des steigenden Lichtes. Unten ringsum wurde der Ocean in seiner grenzenlosen Ausdehnung sichtbar; der Pic schien wie eine Klippe unmittelbar aus ihm aufzuragen; denn die Insel zu meinen Füßen verschwand beinahe. Wie ich den Blick in die Tiefe sandte, glaubte ich die Rundung der Erdkugel gewahren zu können; denn das Meer erhob sich zu allen Seiten gleich der Wölbung einer Kuppel nach der Insel zu. Erst jetzt, wo es heller und heller wurde, erkannte ich die Eilande Palma, Gran Canaria, Lanzarote und viele andere kleine Inseln; sie wurden von der Fluth des wachsenden Lichtes wie umhergewirbelt. Alles schien nur noch zu kreisen und zu wogen ... Erst da die Sonne völlig über dem Horizont stand, konnte ich ruhiger das ungeheure Bild in mich aufnehmen. Über dem Abgrund lagen einzelne Wolkenschichten, die, vom Frühglanz vergoldet, durch ihre Spalten einen Blick in das Meer hinab gewährten. Ein bleicher Streifen in fernster Ferne, aber durch das Sehrohr wohl


[20] erkennbar, ließ die Küste von Afrika ahnen, nach allen Richtungen bis in endlose Weiten hin nur Meer und Himmel – und meine Seele, das Zagen der Nacht besiegend, dehnte sich aus in der hehren Fülle des Lichtes.“ †      

„Die Lehrerin kommt!“ (Mit Illustration S. 4 und 5.) Die Statistik behauptet, daß Mädchenlehrer und Lehrerinnen zu den langlebigsten Menschen zählen. Hingegen versichern eben diese höchst ehrenwerthen Pädagogen und Pädagoginnen, daß ärgerlichere und ränkevollere Plagegeister, als heranreifende Schülerinnen, nicht zu erdenken seien. Das läßt sich schwer zusammenreimen! Entweder enthält der Stachel jener jugendlichen Teufeleien und Schelmenstreiche kein sonderlich wirksames Gift oder es ist irgend ein Gegengift dabei im Spiele. Letzteres ist meine Meinung, und das reizende Spitzer’sche Bild ist wie beschaffen, um sie begründen zu helfen. So gewinne es doch einmal irgend ein Sauertopf über sich, angesichts des Zwischenstundenunfugs dieser übermüthigen Backfischchen sich pädagogisch zu entrüsten! Pädagogisch vielleicht, aber sicher nicht persönlich. Es sind Mädchen, welche da tollen – das ist das ganze Geheimniß. Ja – alle die tausend Reize, mit denen die aufgeblühte Weiblichkeit bestrickt und entwaffnet: jenes geheime Spiel der Grazie, jener fesselnde weiche Rhythmus der Form und der Bewegung – ist das Alles mit siebzehn Jahren plötzlich da wie vom Himmel geschneit? Wird das nicht groß mit dem Kinde? Es sind Mädchen – hinter diesen Tollheiten und kleinen Bosheiten, diesen Aeußerungen übermüthigen Lebensdranges steht nicht die kampflustige Kraft des Knaben, welche herausfordert, sondern jene Alles zwingende Macht, die mit lachendem Munde und strahlenden Augen einen Herkules an den Spinnrocken brachte; und jene Klasse, welche Spitzer zum Modell gedient, ist sicherlich danach angethan, selbst eine Lehrerin, wie sie im Portrait auf der Wandtafel skizzirt ist, gegen Bosheiten und Pflichtwidrigkeiten zu entwaffnen. Diese würdige Dame! Es hat etwas Beruhigendes, an der Spitze einer so bezaubernden Klasse sie, und nicht etwa einen jungen Probekandidaten zu wissen, der noch ein nicht vergebenes Herz hat.

Vater und Tochter. Der neulich von uns empfohlene Roman: „Nach dem Sturme“ von B. Renz (Leipzig, Ernst Keil’s Nachfolger) hat zum Verfasser den Vater von Wilhelmine Heimburg und ist von diesem seiner Tochter gewidmet worden. Das Widmungsgedicht schildert uns einen Traum des Dichters, der die Hauptgestalten, welche die Phantasie der Tochter geschaffen, um sich versammelt sieht, bereit, der Dichterin mit Blumenspenden zu huldigen:

„Und nun, ein heimlich Flüstern, ein Erröthen,
Und endlich laut, daß ich es hören kann:
‚Ihr Vater ist’s, gebt ihm die Blumenspenden
Für sie, die uns so rein, so schön und wahr – – ‘
Da wacht’ ich auf und stand mit leeren Händen.
Doch jener Worte Deutung ist mir klar,
Klar, wie sie Allen, die mit dir empfinden,
Was rein und wahr und schön. Kein Traumbild mehr,
Die Wirklichkeit, glaub’ mir, wird dir noch winden
Der Kränze viel’, duftig und blüthenschwer.“

Gewiß werden sich alle Leser und Leserinnen der „Gartenlaube“ diesen Blumenspendern und Blumenspenderinnen anschließen und sich der poetischen Huldigung erfreuen, welche der Vater seiner Tochter widmet. †      

Nordenskiöld. (Mit Illustration S. 13.) Unter den tapferen Männern, welche die Gefahren unbekannter Meere und Länder nicht scheuten, um die Kenntnis von der Erde zu vermehren, steht in erster Linie der Schwede Nils Adolf Erik Freiherr von Nordenskiöld. Hier sehen wir ihn vor uns, den energischen Mann, umgeben von Eisgefilden und Eisbergen, den Mann mit dem unerschütterlichen Willen, dem hohen Norden seine Geheimnisse abzutrotzen, den Kolumbus der Polarwelt.

Nordenskiöld war am 18. Nov. 1832 in Helsingfors geboren, Sohn eines berühmten Mineralogen; er studirte unter Leitung seines Vaters und erhielt schon im Jahre 1858 in Stockholm eine Anstellung als Professor und Vorsteher der mineralogischen Sammlungen. Gleichzeitig begann er seine Polarfahrten; die drei ersten 1858, 1861 und 1864 fanden auf kleinen norwegischen Schiffen statt; die vierte aber auf einem vom Staate ausgerüsteten größeren Dampfer „Sofia“, welcher den 81°42′ nördlicher Breite erreichte, also weiter nach Norden vorgedrungen war als bisher irgend ein Fahrzeug. Dort nöthigten große Eismassen zur Rückkkehr. Die Resultate dieser Fahrten, besonders der letzteren, hat Nordenskiöld in mehreren Schriften und wissenschaftlichen Arbeiten niedergelegt: die Spitzbergen’sche Inselgruppe und das Bäreneiland sind früher nicht so genau untersucht worden. Im Jahre 1870 machte Nordenskiöld eine Reise nach Grönland, wo er auf dem Binneneise weit bis Norden vordrang; nicht lange darauf, 1872, unternahm er wieder eine Expedition nach Spitzbergen und überwinterte dort in der Mosselbai; im Frühjahr 1873 fuhr er auf Schlitten nach den nördlich gelegenen Nebeninseln und kehrte zurück über das Binneneis des Nordostlandes. In den Jahren 1875 bis 1876 unternahm er zwei Fahrten über das Karische Meer nach der Mündung des Jenisei; das waren Vorbereitungen für die große Fahrt, welche dem Namen Nordenskiöld’s einen Ehrenplatz unter den neuen Entdeckern gesichert hat, der Umschiffung der ganzen Nordküste Sibiriens auf dem Dampfer „Vega“ in den Jahren 1878 bis 1879. Bei dieser Fahrt fror die „Vega“ im nördlichsten Theil der Beringstraße fest und konnte erst im Juli 1879 ihre Reise fortsetzen. Im September dieses Jahres traf Nordenskiöld in Japan ein und reiste durch den Suezkanal nach Europa zurück. Er wurde von seinen Landsleuten festlich begrüßt, mit Ehren überhäuft, von dem König in den Freiherrnstand erhoben. Ohne auf seinen Lorbeeren auszuruhen, unternahm er 1883 eine neue Entdeckungsreise in das Innere Grönlands, und es gelang ihm, dort weiter vorzudringen, als irgend ein Vorgänger, wie er auch der Erste war, der das Eis der Südostküste dieses in starren Winterschlaf gebannten Landes durchbrochen hat. In seinen Reiseschriften, von denen „Die Umsegelung Asiens und Europas auf der ‚Vega‘“ (2 Bände 1881–1882) in die meisten Sprachen übersetzt wurde, hat er über seine kühnen Unternehmungen genaue Rechenschaft gegeben, in seinen wissenschaftlichen Arbeiten sie für den Fortschritt der Polarerkenntniß verwerthet, wie er auch dem Völkerverkehr neue Bahnen gebrochen. †      

Ein ökonomischer Dichter. Wie Dr. Max Oberbreyer in seinem „Ordensbüchlein“ (Leipzig, Ruhl) erzählt, welches allerlei lustige bunte Ordensgeschichten bringt, lebt in Bulgarien ein Poet, Herr Nicolow, der seine dichterischen Erzeugnisse mit großer Sparsamkeit zu verwerthen sucht. Als Prinz Ferdinand von Koburg seinen Einzug in Sofia hielt, begrüßte ihn der Dichter mit einer schwungvollen Hymne. Der Fürst nahm das poetische Lob sehr freundlich auf und erklärte seinem Adjutanten, er werde Nicolow durch einen Orden auszeichnen. Am nächsten Tag erfuhr er indeß, daß der Poet den Orden schon besitze. Der Fürst ließ jetzt nachforschen, bei welcher Gelegenheit jener die Dekoration erhalten habe. Mit Mühe sein Lachen unterdrückend, meldete Tags darauf der Adjutant dem Fürsten, Nicolow habe den Orden bekommen, als er beim Einzuge Alexander’s von Battenberg diesem dieselbe Hymne überreicht hatte. So wurde aus der Ordensertheilung Nichts. Vielleicht geräth Nicolow in die günstige Lage, noch einen dritten Fürsten, der in Bulgarien seinen Einzug hält, mit derselben Hymne ansingen zu können. †      

Schach-Aufgabe Nr. 1.
Von J. Berger in Graz.

SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.



Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Herrn Oskar Feistel in Weida. Wir bestätigen Ihnen den Empfang Ihrer „kleinen Riesenarbeit“. Sie haben uns einen Bogen Kanzleipapier gesandt, auf welchem in stenographischer Miniaturschrift folgende Romane und Novellen, so wie sie in der „Gartenlaube“ zum Abdruck gelangten, niedergeschrieben sind: „Sankt Michael“ von E. Werner, „Herzenskrisen“ von W. Heimburg, „Speranza“ von A. Schneegans, „Hängende Fäden“ von A. Godin, „Die Einsame“ von S. Kyn, „Die Insel der Seligen“ von Helene Pichler, „Der kleine Schuh“ von Isolde Kurz. Der zweibändige Roman „St. Michael“ ist auf den Raum von 1617 Quadratcentimeter, der Roman „Herzenskrisen“ auf 693 Quadratcentimeter zusammengedrängt, und die Erzählung „Die Einsame“ füllt nur den schmalen Streifen von 75 Quadratcentimetern. Wir bewundern Ihre Leistung, möchten aber Niemand dazu verleiten, Ihr Beispiel nachzuahmen; denn die Augen, selbst die gesündesten, müssen durch solche Arbeiten ruinirt werden. Hoffentlich wird diese Leistung, nachdem wir dieselbe öffentlich anerkannt, auch Ihre letzte auf diesem Gebiete sein.

B. C. in S. Einsamer Spatz, auch Einsiedler, ist der volksthümliche Name für die Blaumerle oder Blaudrossel (Monticola cyana). Der Vogel führt den Namen mit Recht. Schon der „deutsche Plinius“ des 16. Jahrhunderts, Konrad von Geßner, schreibt über ihn: „Dieser Vogel, Cyanus genannt, hasset von Natur den Menschen, fleucht derhalben alle versammlungen derselbigen, auch alle Wildnussen, darinnen Menschen wonen, hat lieb die einöden Ort und hohen Gibel der Bergen. Epirum und andere Insulen, so behauset werden, hasset er, liebet dagegen Scyrum und andere dergleichen einöde und unfruchtbare Ort.“ In südlichen Kronländern Oesterreichs kommt die Blaumerle oft vor. In Deutschland ist sie nur im bayerischen Hochgebirge als Strichvogel beobachtet worden.

„Maikäfer“ in Berlin. Sie wünschen ein Buch, in welches Sie alle Erlebnisse während Ihrer Militärdienstzeit eintragen, die Namen Ihrer Vorgesetzten, Lehrer und Kameraden etc. übersichtlich verzeichnen können. Ein solches Buch ist vorhanden: Kaufen Sie „Des Soldaten Tagebuch für Frieden und Krieg“ (Karl Rocco’s Verlagshandlung in Bremen). Es ist ein schönes Buch, das, wenn es sorgfältig geführt wird, zu einer Quelle lieber Erinnerungen für das ganze Leben werden kann.

G. M. in H. Auch Ihnen kann geholfen werden. Dr. Max Vogler’s „Deutsches Schüler-Jahrbuch für 1888“ (Gera, Theodor Hofmann) ist durchaus praktisch und wird Ihrem Sohne Freude machen. Neben einem vollständigen Notiz- und Aufgabenkalender für jeden einzelnen Tag des Jahres enthält es sehr werthvolle Geschichtstabellen, geographische Uebersichtstafeln, Litteraturtafeln etc.

K. N. in Bonn. Ueber das St. Rochusfest zu Bingen berichtet Goethe in seinen Skizzen „Aus einer Reise am Rhein, Main und Neckar in den Jahren 1814 und 1815“. In der sechsbändigen Ausgabe von Goethe’s „Sämmtlichen Werken“ (Cotta’scher Verlag, 1860) finden Sie diese Schilderung Bd. 4, S. 561.

D. v. Köppen, Straßburg i. E. Wir bitten behufs Rückgabe der Manuskripte um Angabe Ihrer genauen Adresse.


  1. Lesern, welche in die Theorien und Ansichten der modernen Geologie tiefer eindringen möchten, ist das vor Kurzem komplett erschienene, ganz vorzügliche Werk von Neumayr, „Erdgeschichte“, auf das Wärmste zu empfehlen.
  2. In Anbetracht des Interesses, welches die Falb’sche Theorie in letzter Zeit erregt hat, werden wir auf den obigen trefflichen Artikel in einer der nächsten Nummern unseres Blattes einen Artikel „Ueber Erderschütterungen“ von Rudolf Falb folgen lassen. Die Redaktion.
  3. Binden, die man Todten weihte.
  4. Batist