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Die Gartenlaube (1887)/Heft 42

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[689]

No. 42.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Lisa’s Tagebuch.

Erzählung von Klara Biller.
(Fortsetzung.)
Den 20.  

Ja – er kommt auf den Ball! Er hat es heut früh zu Onkel gesagt, der war ganz erstaunt. Wir haben nämlich eine Stunde zusammen im Atelier gesessen. Onkel wollte unsere Gruppe einmal vollständig haben. Es war kindisch, aber ich freute mich darauf. Ich hatte vor, ihn dabei zu fragen, ob die Kousine Bertha auf dem Ball sein würde. Aber wie wir so still neben einander saßen, er eine Hand auf meiner Schulter, war’s, als ob alle meine Gedanken auf einmal fortgeflogen wären. Ich dachte weder an ihn noch an mich; es war, als ob ich träumte. Ganz leise flatterte seine weiße Draperie um meine Schulter, denn es war ein heißer Tag und Onkel hatte die Zuglöcher oben geöffnet. Ein paarmal hörte ich Herrn Heinrich leise athmen. Sonst war Alles still. Onkel, wenn er eifrig malt, spricht kein Wort.

„Sind Sie denn noch nicht müde?“ frug mich einmal Herr Heinrich.

„Nein – gar nicht; ich könnte noch eine Stunde so still sitzen.“ Wie ich dabei aufblickte, war mir’s, als ob er mir durch die Augen in die Seele sehen könnte, und ich mußte sie sogleich niederschlagen.


Später. 

Ein junger Engländer, Mr. Bluebottle aus Manchester, besuchte uns heut Nachmittag. Er fuhr in einer Equipage vor und sah aus, als wäre er eben frisch aus der Wäsche gekommen und geplättet worden. Seine Manschettenknöpfe waren groß wie Untertassen, und er roch wie ein Apotheker.

„Das ist ein feiner junger Mann von sehr einnehmendem Wesen,“ sagte Tante.

„Ich wußte, daß er Dir gefallen würde; wenn Einer zweispännig vorfährt, gefällt er Dir immer.“

„Dummes Kind – als ob ich auf Reichthum etwas gäbe.“

Aber ich weiß, daß ich Recht habe; wenn Herr Heinrich reich wäre, da würde er ihr auch gefallen. So findet sie, daß er ein rauhes Wesen habe und einen Gelehrtendünkel, weil er aus Büchern allerlei gelernt.

Mr. Bluebottle, der hat doch sicher nichts Ordentliches gelernt; wie kann Einer mit solchen Manschettenknöpfen an etwas Ernstes denken!


Den 21. 

Sehr heißer Tag. Früh zwei Stunden in der Bildergalerie. Wenn wir in einen Saal traten, fragte Onkel immer:

„Nun – was gefällt Dir hier am besten, Elisabeth?“ und Tante sagte:

„Sich einmal, Elisabeth, da ist ein Bild, das mußt Du doch schön finden!“

Ueber die Brühl’sche Terrasse zurückgegangen. Wie wir ans Belvedere kommen, spricht Onkel: „Was meinst Du zu einer Schale Eis, Lisa?“

Da braucht man mich nicht lange zu nöthigen.

Aller Anfang ist schwer.0 Nach dem Oelgemälde von L. Bechi


[690] Als ich die erste Portion gegessen habe, fragt er wieder:

„Lisa – eine zweite, doppelt hält besser.“

„Wie Du denkst, Onkel.“

Und nach der zweiten: „Aller guten Dinge sind drei – noch eine, mir zu Liebe!“

„Wie Du denkst, Onkel.“ (Melange ist nämlich meine Passion!)

Aber Tante steht schnell auf.

„Willst Du sie mit drei Portionen Eis in die ‚Nachrichten‘ bringen, Karl? Ein paar alte Damen am nächsten Tisch verwenden kein Auge von ihr. Wer für ein Kirchenbild gemalt wird, Lisa, sollte etwas Rücksicht nehmen!“

(Sie hält mir das Kirchenbild so oft vor – ich stehe doch für keine Heilige?)

Ich sehe gar nicht auf, als wir am nächsten Tisch vorübergehen. Da ruft plötzlich eine Stimme: „Fräulein – Fräulein!“

Meine beiden alten Damen von der Reise! Ich hätte unter die Erde sinken können! Nun werden sie ihm erzählen, daß ich naschhaft bin! Aber sie ließen sich nichts merken und machten Onkel sehr viel Komplimente über sein Bild. Ein lieber Verwandter, den er „in seinem Gemälde verewigt“ habe, hätte ihnen viel davon erzählt. Ob sie das Bild im Atelier sehen dürften?

Onkel war so lieb und gut. Er sagte: „Verwandte von meinem theuren jungen Freunde sind mir immer besonders willkommen!“

Und doch weiß ich, wie er Besuche haßt. Nicht alle, versteht sich.

Den 22.  
Mein erster Ball, heut Abend! Früh das weiße Kleid noch einmal Probe angezogen. Tante rief Onkel dazu.

„Findest Du nicht, daß die Garnirung auf der linken Seite etwas mager ist? Ich will mit Rosenzweigen raffen – was meinst Du?“

Er sah mich mit seinen sonderbaren Maleraugen an, ohne zu reden.

„So sprich doch, Karl – soll ich raffen oder nicht?“

„Das ist ja gleichgültig,“ sagt er endlich, „wenn das Bild gut ist, frägt keiner nach dem Rahmen.“

Da schob ihn Tante zur Thür hinaus. Ich dachte: eitel macht mich das nicht – aber daß Herr Heinrich mich so sehen wird, das gefällt mir wohl!

Den 23. früh 3 Uhr Sonntag. 
Ich bin wieder aufgestanden; schlafen kann ich doch nicht. Als ich vor vierzehn Tagen ans Land stieg, fühlte ich die Bewegung des Schiffs noch eine Zeit lang nach. So lag ich vorhin im Bett, hörte Ballmusik und drehte mich. Aber ich dachte nicht viel ans Tanzen. Ein frischer, kühler Morgen, er thut den Augen wohl. Venus, Mars und Merkur stehen noch am Himmel, ein Bischen verblaßt schon. Die drei Sterne sind jetzt früh zu beobachten. Ja – ich verstehe etwas Astronomie, Herr Heinrich hat mich belehrt!

Also mein erster Ball ist vorbei. Da liegt der Ballstaat. Röth würde sich ärgern, wenn sie die linke Garnirung sähe – Herr von Trauermantel hat darauf getreten. Weil er’s war, wird Tante nicht zanken. Vor dem Fenster stehen fünfzehn niedliche Kotillonbouquetts mit Schleifen voll eingedruckter Devisen. Ein Sträußchen davon werde ich pressen, aber nicht das von Herrn von Trauermantel. Doch ich will von Anfang anfangen, nicht vom Ende.

Wir waren für fünf Uhr eingeladen, aber wir kamen viel später. Ein Prälat, der durch Dresden reist, wollte die Kanahochzeit sehen. Er fuhr vor, als wir eben fertig mit Anziehen waren. Onkel sagte: „Geht doch voraus.“ Tante wollte nicht. Sie setzte sich auf den Balkon und sah nach der Atelierthür, ob der Prälat nicht bald wieder herauskäme. Das war gerade, wie wenn man sich ans Feuer stellt und wartet, bis das Wasser kocht. Sie wurde ganz verstimmt und gelb vom Warten.

„Tante,“ fing ich an, „das schwarze Sammetkleid steht Dir doch sehr gut. Der Ausschnitt zeigt Deine hübschen Schultern.“

Sie zog an der Taille, da kamen sie noch etwas mehr zum Vorschein.

„Ich finde auch, wenn Du Dein Haar steckst wie Mama, siehst Du ihr ähnlich.“ (Es war immer Tantens Ehrgeiz, meiner schönen Mama ähnlich gefunden zu werden.)

„So – meinst Du?“

„O – bitte, halt’ einmal Deinen Kopf still, so wie Du ihn eben hältst …“

„Weßhalb?“

„Weil der blaue Himmel jetzt gerade hinter Deinem Profil steht. Onkel würde sprechen: wie gut stimmt der warme Ton des Fleisches zu dem kalten Hintergrunde …“

„Alter Affe!“ (aber sie lachte dabei).

„Ach Tante – ich habe es so gern, wenn Du freundlich aussiehst! Jetzt hast Du gewiß eben an Cäciliens Brief gedacht. Morgen ist Sonntag, das ist ihr Tag und sie ist immer pünktlich. Eine Andere würde auf so einer Reise vielleicht vergessen, an ihre Mama zu schreiben.“

„Das ist wahr. Cäcilie hat ein edles Herz; wer weiß, ob Natti …“

Da ging die Atelierthür. Der dicke Priester, gefolgt von Onkel, schritt voraus – Tante hatte es gar nicht bemerkt, sie war guter Laune geworden.

Gebsattel’s wohnen halbwegs zwischen Weißem Hirsch und Loschwitz. Ihr Park reicht fast bis an die Elbe. Die Villa ist ein wahres Paradies, am besten gefällt mir der viereckige Thurm mit dem Observatorium. Da sitzt jetzt Rachts gewiß die Coeurdame mit Herrn Heinrich und beobachtet die Sterne. Ach – können diese Gebsattel’s glücklich sein! Dem alten Oberforstmeister merkt man’s freilich nicht an. Mit seiner schmalen, sehr hohen Stirn (sie nimmt gar kein Ende!) geht er verdrossen einher, als ob seine Chokoladenaugen das Licht scheuten.

Fast Alles war schon versammelt. Als wir ins Vestibül treten, fangen sie gerad die „Blaue Donau“ zu spielen an. „Das ist mein erster Walzer!“ sag’ ich zu Tante, und es zuckt mir schon in den Füßen.

An der Salonthür schaut der junge Herr von Gebsattel bereits mit dem Kneifer nach uns aus.

„Ach, Gnädige – wie spät, wie spät! Wenn ich diesen Walzer verloren hätte – untröstlich, wahrhaftig!“

Dabei legte er gleich den Arm um meine Taille. Ich hatte nur Zeit, Tante meinen Fächer zuzuwerfen, da tanzte ich auch schon in meinen ersten Ball hinein.

„Gnädiges Fräulein – man ruht ja aus, wenn man mit Ihnen walzt,“ ruft er mir während des Tanzens zu, „Sie schweben wie eine Elfe – auf Ehre!“

Ich aber sah mich über seine Schulter dabei im Ballsaal um, es war noch lichter Tag. Die erste Person, die ich erblickte, war Herr Heinrich. Er war Tante entgegengegangen und unterhielt sich mit ihr. Dabei sah er sich nach mir um – ich merkte es wohl. Und als ich seinen Augen begegnete, da war mir plötzlich so froh zu Muth, daß ich vor mich hinlachen mußte, während ich zwischen den Spitzentoiletten und Uniformen unter Wohlgerüchen und Musik dahinflog. Die drei großen Flügelthüren, die vom Saal nach dem Garten führen, standen offen und die frische Luft von der Elbe strömte herein.

„Wo darf ich Sie absetzen, Gnädige?“

„Neben Tante, bitte, sie steht an der Mittelthür.“

„Wie Sie befehlen.“

Und immer langsamer walzend brachte er mich durch ganze Wolken von Seidentüll und Spitzen bis in ihre Nähe. Ich bewunderte seine Geschicklichkeit.

Tante hielt sich sehr gerade und steif und sah etwas gelangweilt neben Herrn Heinrich aus. Er fährt ja nicht zweispännig! Aber sie machte mir mit den Augen ein gewisses Zeichen; daran merkte ich, daß sie mit mir zufrieden sei.

„Sie haben Ihr Entrée in die Welt gleich tanzend gemacht,“ sagte Herr Heinrich. „Ich bin ein ungeschickter Tänzer, aber wenn Sie eine Quadrille mit mir riskiren wollen …“

„Natürlich tanzen wir zusammen, die erste, wenn Sie wollen?“

Ich hatte es ja erwartet, daß er mich auffordern würde. Er wollte weiter mit mir reden, aber da kam Herr von Gebsattel und stellte mir einen Herrn nach dem andern vor. Ich wurde ganz verwirrt von den vielen fremden Namen, meine Tanzkarte aber war auf einmal voll.

„Vergiß nicht, Frau von Gebsattel Dein Kompliment zu machen,“ flüsterte Tante mir zu.

„Wo ist sie?“

[691] „Dort, nicht weit vom Eingang …“

Wahrhaftig – ich hatte sie zuerst nicht erkannt. Sie trug ein krêmefarbenes Atlaskleid, das vorn sehr kurz war und ihre kleinen Füße sehen ließ, die in Atlasschuhen mit hohen Absätzen steckten. Nach rückwärts war es so stark gezogen, daß man die Kniee – ja die ganze Figur! durchsah, wie bei einer von den Marmorfiguren im japanischen Palais. Ich würde roth, müßte ich mich so sehen lassen, aber es schien sie gar nicht zu geniren. Sie stand in einem Kreis von jungen Herren und lachte, daß die rothen Federn auf ihrem Kopfe tanzten.

„Ach – da ist ja unsere kleine Russin!“ rief sie, als sie mich erblickte, aber sie sprach nicht mit mir, und ich war recht froh, als ich meinen Lanciertänzer auf mich zukommen sah.

Während der Quadrille haben wir nicht viel mit einander geredet, Herr Heinrich und ich. Ich mußte auf die Touren Acht geben, sonst hätte er Konfusion gemacht, denn er griff manchmal nach meiner Hand und wollte Chaine machen, wenn er gar nicht daran war.

Dann führte er mich in den Garten, viele Paare promenirten schon, denn es fing an, im Saal sehr heiß zu werden. Was soll ich mit ihm reden? dachte ich, gewiß werde ich wieder keine Antwort in Bereitschaft haben! Aber ich merkte bald, daß er sich gar nicht ungern mit mir unterhielt, und da wurde ich auch dreister. Er hat etwas – wie soll ich sagen? – etwas Liebkosendes in den Augen, so daß man ihn gern ansieht. Ich möchte wissen, ob es Andern auch so geht …

„Ich habe Sie heute früh schon gesehen,“ fing er an.

„Mich? – Und davon weiß ich nichts!“

„Als ich von einem sehr zeitigen Spaziergang zurück kam, standen Sie am Fenster. Sie waren sicher noch nicht lange auf und hatten die Hände hinter dem Kopf gefaltet … Sie schienen in tiefes Nachdenken versunken – an was mögen Sie wohl gedacht haben?“

„Ich weiß nicht – vielleicht an den Ball …“

Aber in dem Augenblick fiel mir ein, daß ich an meine alten Damen gedacht hatte und ob sie ihm wohl erzählt, daß ich drei Portionen Eis essen wollte. Da wurde ich wieder einmal sehr roth.

„Wissen Sie, warum Onkel Frau von Gebsattel die Coeurdame nennt?“ fragte ich, um das Gespräch abzulenken.

„Vielleicht, weil sie ein besonders gütiges Herz hat.“

Aber an seinem Gesicht merkte ich gleich, daß das nicht das Richtige war. Da steckt gewiss eine Liebesgeschichte dahinter, dachte ich, wie kann ich die nur herausbekommen, denn so etwas interessirt mich immer am meisten. Direkt fragen wollte ich doch nicht. Wie ich mir das noch überlegte, hörten wir auf einmal Stimmen hinter uns rufen: Fräulein! – Lisa!

„Es scheint, wir werden steckbrieflich verfolgt,“ sagte Herr Heinrich und kehrte ärgerlich um.

„Schade,“ rief ich, „es ist viel schöner hier im Freien als drin, in der Gluthhitze.“

Tante und eine alte Dame kamen uns entgegen.

„Du kannst Dich erkälten, Lisa!“ (als ob man sich in einer warmen Mainacht je erkältete!) rief Tante, „geben Sie Lisa’s Launen nur nicht nach, Herr Doktor!“

„Warum versteckt sich denn unsere kleine Russin?“ redete mich die alte Dame an. Sie hatte ganz weißes Haar, sehr lebhafte Augen und war in ihren großen Cachemire eingewickelt, als ob sie fröre.

„Erlauben Sie, Gräfin, daß ich Ihnen meine Nichte Lisa vorstelle,“ schrie Tante. „Sprich laut, Lisa, die Gräfin Nolimé ist etwas taub, sei sehr verbindlich, hörst Du?“ flüsterte sie mir dann zu.

Gewiß fährt die alte Gräfin in einer Equipage! dachte ich, und es quälte mich sehr, daß Tante Alles hören würde, wenn ich laut spräche, sie ging mit Herrn Heinrich dicht hinter uns.

Ich mußte meinen Arm unter den Cachemire der Gräfin stecken

„Wissen Sie denn, was Sie angerichtet haben, Sie allerliebster Unheilstifter?“ wendete sie sich an mich. „Wenn das so fort geht, werden alle jungen Damen petitioniren, daß man Sie nach Rußland zurückschickt.“

„Weßhalb denn?“ fragte ich so laut, als meine Verlegenheit zuließ.

„Ach – Sie spielen die Unschuldige! Soll ich Ihnen wiederholen, liebes Kind, was man soeben von Ihnen gesagt hat?“

„Etwas Schlimmes?“ frage ich erschreckt.

„Wie?“

„Etwas Schlimmes?“ schrie ich und hätte dabei unter die Erde sinken mögen.

„Aha – unsere kleine Lisa wird neugierig! Nun, man hat mir gesagt … Nein, ich will Sie nicht roth machen, mein Neffe soll es Ihnen selbst wiederholen. Ja, ja – ich habe Jemand eben in Verzweiflung gesehen, weil Sie ihn kalt und abstoßend behandelt haben.“

„Mit Absicht habe ich Niemand gekränkt.“

„Wie?“

„Mit Absicht habe ich Niemand gekränkt,“ schrie ich in meiner Verzweiflung. Was mußte Herr Heinrich denken, daß ich Jemand beleidigt hatte! Der ganze Ball war mir auf einmal verleidet.

„Wie naiv Sie noch ist!“ rief Gräfin Nolimé Tante zu.

Ein nicht mehr junger Herr, der uns an der Thür erwartet hatte, kam uns ein paar Schritte entgegen.

„O – da ist er schon, mein Neffe! Ich glaube, er ist Ihnen bereits vorgestellt. Baron von Trauermantel-Papier.“

Er verbeugte sich, ich machte ein Kompliment.

„Gnädiges Fräulein scheinen vergessen zu haben, daß diese Polka mir zugesagt war …“

„Ich wußte nicht, daß der Tanz schon angefangen hatte.“

„Es ist durchaus meine Schuld – ich habe dem Fräulein die Volière zeigen wollen, und man hört die Musik in der Entfernung nicht,“ rief Herr Heinrich, als ob er nicht leiden wolle, daß mich ein Vorwurf träfe.

,O – bitte, Herr Professor – bitte,“ entgegnete Herr von Trauermantel mit einer höflichen Verbeugung und führte mich in den Saal. „Gelehrten darf man solche Dinge nicht übelnehmen, wir holen das nach!“ sagte er dabei, und gleich darauf tanzten wir ein paar Mal im Saal herum. Er kam aber viel schneller außer Athem als Herr von Gebsattel. Beleidigt schien er nicht, im Gegentheil, nur zu freundlich. Mit seinem breiten rothen Gesicht lächelte er mich fortwährend an, sein Mund verzog sich dabei schief. Das kam mir mit einem Male komisch vor. Himmel – dachte ich – wenn ich nur nicht ins Lachen gerathe, ich weiß, da giebt’s nicht gleich ein Aufhören! Und Herr Heinrich, der mich beobachtet!

Ich biß mir auf die Lippen und versuchte an den Abschied von Natti zu denken.

Glücklicherweise fing er da zu reden an:

„Gnädiges Fräulein, Sie haben eine Toilette, die Ihnen vorzüglich steht. Auf Ehre – ich finde Ihren Anzug reizend.“

„Sehr gütig.“

„Gnädiges Fräuleim finden es indiskret, daß ich Ihren Anzug lobe – nicht?“

„Ich – nein … ich …“ ich wußte nicht recht, was ich hier erwiedern sollte.

„Ich spreche vom Anzug, weil ich mir doch nicht erlauben darf zu sagen: Gnädiges Fräulein, ich finde Sie …“

Jetzt nahm ich eine beleidigte Miene an, aber es brachte ihn nicht außer Fassung.

„Wir sind an der Reihe,“ sagte ich sehr steif. Und als wir zweimal herumgetanzt und er schon keuchte und mich absetzen wollte, rief ich doch:

„Bitte, noch eine Tour – es tanzt sich so gut nach dieser Polka.“

Wenn er außer Athem ist, kann er wenigstens nicht reden! dachte ich.

Nach dem Tanze wollte er mich ebenfalls in den Garten führen. Da rief ich schnell:

„Ich darf nicht, meine Tante hat’s verboten. Da ist sie!“ und so machte ich mich von ihm los.

„A bientôt – à bientôt!“ rief er mir noch zu.

Tante schien sehr aufgeregt.

„Warum läufst Du ihm denn fort?“

„Er wollte mich in den Garten führen – aber Du hast es ja verboten.“ Ich sagte das mit einem kleinen Triumph.

„Hier war das etwas Anderes. Herr von Trauermantel ist sehr gewählt; es ist eine große Ehre, daß er sich mit Dir

[692]

Norwegischer Wald.
Nach dem Oelgemälde von Morten-Müller.

[693] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [694] beschäftigt. Aber Dir fehlt es eben noch an dem richtigen Takt. Nun – wie gefällt er Dir?“

„O – er tanzt nicht besonders.“

„Darauf kommt es gar nicht an. Ich meine sein Wesen – seine ganze Erscheinung?“

„Er hat so wenig Haare, und wenn er lacht …“

„Du bist ein läppisches Ding – es sind die edlen Eigenschaften, die Güte des Herzens, auf die es bei einem Manne ankommt,“ unterbrach sie mich, „ich bitte Dich dringend, sei nicht abstoßend gegen ihn, Du könntest es später bereuen!“

Hier erlöste mich die alte Gräfin. Sie hatte durch Zeichen mit ihrem Neffen gesprochen und kam jetzt auf uns zu.

„Mais c’est le coup de foudre!“ rief sie Tante schon aus einiger Entfernung zu. „absolument le coup de foudre! Alfred ist noch ganz unter dem Charme!“

Tante hielt es nach dieser Eröffnung doch für besser, mich fortzuschicken und mit der Gräfin in ein Nebenzimmer zu gehen.

Ich weiß aber recht gut, was mit dem coup de foudre gemeint ist. Ich habe Herrn von Trauermantel sehr, sehr gut gefallen, das hat es zu bedeuten! Ach – wenn Herr Heinrich es nur gehört hätte! Natti hat Julie einmal Nachts erzählt – (sie dachte, ich schliefe! Ich habe oft nicht geschlafen, wenn sie so schwatzten!) –: Dimitri hat sich im Anfang nur für mich interessirt wie für eine nette Ballbekanntschaft. Erst als Fedor Kosnichef sich um mich zu bewerben anfing, da ist er so desperat verliebt geworden.

Ich möchte wissen, ob das ein Mittel wäre … Mein Gott, was schreibe ich da! … Aber vor sich selbst braucht man doch kein Geheimniß zu haben? – Nein, ich kann’s nicht niederschreiben – es geht nicht. Wenn ich plötzlich stürbe und man entdeckte das Buch, ich würde noch im Himmel roth vor Scham.

Ach – ich wollte, ich wäre reich, sehr reich – so reich wie diese Gebsattel’s. Dann ließe ich mir auch ein Observatorium bauen und meine Ferngläser von einem ausgezeichneten jungen Astronomen besorgen. Und Nachts nähme ich auch Stunden bei ihm, wie man die Sterne entdeckt. Ich wollte so aufmerksam sein, er sollte keine Noth mit mir haben. Freilich – mit Jedem möchte ich nicht so allein unter freiem Himmel lernen, es müßte schon Einer sein, der mir großes Vertrauen einflößt!

Onkel habe ich den ganzen Abend über nicht viel gesehen. Einmal merkte ich, daß Herr von Trauermantel sich ihm näherte, aber mir schien’s, der kam ihm nicht gelegen. Er nahm da gleich Herrn Heinrich unter den Arm und verließ mit ihm den Ballsaal.

Als wir vor der Thür auf den Wagen warteten, war Herr Heinrich auch neben uns. Ich hörte Folgendes:

Onkel sagte: „Wie sonderbar Du aussiehst, Heinz, was ist Dir denn begegnet?“

Herr Heinrich sprach:

„Das Glück ist mir begegnet, aber ich weiß nicht, ob ich’s festhalten darf …“

„Greif zu, mein Junge,“ rief Onkel, „es kommt nicht oft; ein Thor, der sich’s entgehen läßt!“

Da sah Herr Heinrich mich an, ganz lange und räthselhaft. Ich wurde feuerroth, aber weil’s schon dunkel war, so hatte Tante es nicht bemerkt.

O mein Gott, gieb, daß er seine Kousine Bertha nicht auch so ansieht … es ist mir, als ob ich gleich laut schluchzen müßte, wenn …

Himmel – Tante! – fort mit der Schreiberei!

Später. 
Sie hatte ganz leise angeklopft, falls ich noch schliefe; sie ist so gut, und ich komme mir manchmal recht schlimm vor, daß ich ihr nicht Alles sage. Als ob das möglich wäre! Ich könnte nicht einmal Mama alle meine Gedanken sagen, höchstens meiner herzallerliebsten Lenotschka!

„Liebes Kind,“ fing Tante an, „die paar Stunden ruhiger Schlaf haben Dir außerordentlich gut gethan. Man merkt gar nicht, daß Du so spät zu Bette gingst.“

Und ich, die ich kein Auge zugethan!

„Ich bin sehr munter, Tante,“ sagte ich.

„Es ist mir lieb. Ich habe der Gräfin Nolimé einen Besuch für heute Nachmittag versprochen und möchte, daß Du Dich zu Deinem Vortheil präsentirtest.“

„Herr Heinrich kommt ja heute Nachmittag …“

„Beschäftige Dich doch nicht mit Besuchen, die Onkel angehen. Was wirst Du anziehen?“

„Mein blaues Kleid?“

„Die Farbe ist etwas fade. Was hast Du sonst?“

„Das Kleid mit den kleinen Vergißmeinnichtbouquettchen mit rosa seidener Taille …“

„Hm – wirf es einmal über.“

Ich fuhr so schnell wie möglich hinein.

„Aber, Kind – diese Aermel sind geradezu unmöglich! Jetzt, wo man Alles anschließend trägt! Du siehst aus wie ein altes Bild.“

„Man muß sich doch bewegen können!“

Aber sie hörte gar nicht auf mich.

„Ich werde mit Pauline sprechen“ sagte sie, „die wohnt in der Nähe und macht vielleicht die kleine Aenderung, obwohl es Sonntag ist. Die Taille könnte man durch ein Plissé von Spitzen verbessern. Hast Du ein Bouquett für die Schulter oder eine zupassende Schleife?“

„Nein!“

„Du solltest wirklich anfangen, Dich selbst etwas mit solchen Dingen zu beschäftigen.“

„Tante, als ich Dir neulich von dem rosa Krêpehütchen der Prinzeß Olga vorschwärmte, hast Du gesagt: nur oberflächliche Naturen beschäftigen sich mit solchen Dingen.“

„Du wendest doch Alles falsch an. Es giebt Ausnahmen, wo es sogar geboten ist, eine gewisse Sorgfalt auf den Anzug zu verwenden.“

„Warum?“

„Weil Männer sich ebenfalls mit solchen Dingen beschäftigen und schnell herausfinden, ob ein Mädchen Geschmack hat oder nicht. Es ist ihnen nicht zu verdenken, wenn sie nur solche gern am Arme führen, die guten Geschmack verrathen.“

„Mich führt ja Niemand am Arm.“

„Ich setze den Fall, es fände sich Jemand dazu – das wär’ gar nicht übel.“

„Denkst Du an Heirathen, Tante? Ich habe keine Lust. Und nach Natti kommt erst Julie. Papa spricht: bei meinen Mädchen muß es nach der Reihe gehen!“

„Liebes Kind, wie die Verhältnisse bei Euch liegen, darfst Du nicht sagen: ich habe keine Lust, oder: ich will warten, bis mir Jemand gefällt. Wenn ich eine leidliche – vielleicht sogar eine glänzende Partie für Dich fände, kannst Du dem lieben Gott danken, daß er’s gut mit Dir meint.“

Sollte Tante wirklich die Absicht haben, mich zu verheirathen? Während ich das schreibe, ist mir ganz beklommen. Ich werde zu Pfingsten ja erst Siebzehn! Wenn sie nur nicht auch denkt, Schwestern müssen sich unter einander aushelfen – ich hatte nur eine Tochter, die ist untergebracht, Malwine (das ist Mama) hat drei, da muß ich eine übernehmen!

Als die Schneiderin mein Kleid änderte – Tante und ich halfen – fuhr ein Wagen vor.

„Herr von Trauermantel!“ rief die Tante, die am Fenster saß; sie sah ganz verklärt aus. „Geh’, Lisi, empfang’ ihn im Salon; ich will nur meine gute Brosche vorstecken.“

Er schien mir etwas gelber und etwas angegriffener als am Tage zuvor, aber gerade so gut gelaunt.

„Ich frage nicht erst, ob Gnädige gut geschlafen haben,“ rief er mir entgegen, „denn das sieht man Ihnen an. Wahrscheinlich haben Sie auch lange geschlafen – gestehen Sie, daß Sie eben erst aufgestanden sind?“

„Ich bin seit vier Uhr auf.“

„Gnädige scherzen …“

„Ich sehe die Sonne gern, wenn sie sonst noch Niemand sieht.“

„Was sagen Sie da, daß ich sie manchmal wochenlang gar nicht gesehen habe?“

„Litten Sie an den Augen?“

„O nein. Ich war damals in Paris.“

„Dort scheint sie doch gerade wie hier.“

„Immer naiv! Ich stand damals um fünf Uhr Nachmittags auf und ging früh sieben Uhr zu Bett. Ach – die glückliche Jugend, die noch unbeschadet mit der Sonne aufsteht!“

„Ja, es muß unangenehm sein, alt zu werden und es nicht mehr zu können!“ rief ich.

[695] Das hat ihn geärgert, ich weiß es! Und ich werde ihn noch viel mehr ärgern, denn sein coup de foudre ist schuld, daß wir heut zur Gräfin Nolimé eingeladen sind und ich nicht in Onkels Atelier sein kann, wenn er Besuch bekommt. Herr Heinrich kann den Trauermantel auch nicht leiden, das hab’ ich bald gemerkt.

10 Uhr Abends. 
Eben fertig mit Anziehen, warte auf Tante, sie fängt erst an. Er ist bei Onkel. Das Fenster steht offen, ich höre seine tiefe Stimme. Ach – wenn er mich doch sehen könnte; mein Anzug ist nämlich sehr hübsch geworden. Tante hat mir von ihren echten Spitzen gegeben und Pauline hat ein entzückendes Vogelnestchen daraus gemacht. Das sitzt auf meiner linken Schulter und darin steckt ein längliches Bouquett von Rosen und Vergißmeinnicht. Pauline hat mich auch frisirt – o, wie ist sie geschickt! Meine gewöhnliche Frisur, aber wie das gleich anders aussieht! Wie stell’ ich’s nun an, um ins Atelier zu kommen … Ich werde Onkel fragen, ob ich ihm morgen seine Pinsel waschen darf? – Das ist doch gewiß ein guter Vorwand!

(Schluß folgt.)




Mahnungen aus den Hochalpen.

Von Heinrich Noë.
(Schluß.)


Nur der steile Kamin trennte uns noch von der Jochhöhe. Am Tage wäre es kein Kunststück gewesen, denselben zu durchklettern, da man die Eisplatten und gefrorenen Schneekrusten, melche hier und da seinen geneigten Geröllboden unterbrachen, wohl entweder vermeiden oder mit einiger Vorsicht gefahrlos begehen konnte. Nunmehr lag aber der dunkle Schatten der Nacht in der engen Röhre, in welche die Mondstrahlen keinen Eingang fanden.

Trotzdem erreichten wir so ziemlich ohne absonderliche Anstrengung ungefähr die Mitte des Kamins. Der Ingenieur keuchte hinter mir her, der Führer irrlichterte mit seiner nutzlosen Laterne in einiger Entfernung voraus.

Ich weiß nicht, welche Erscheinungen den Ersteren mit einem Mal so in Schrecken versetzten, daß er stehen blieb und erklärte, unter keinen Umständen weiter gehen, sondern den Rückweg einschlagen zu wollen. Waren es einige Steine, die, vom Fuße des Führers gelockert, an uns vorüberflogen, war es die Furcht, auf dem Anstieg zum Joch noch weiteren Schwierigkeiten zu begegnen, oder die Gesammtwirkung der Ermüdung und der nächtlichen Einöde – genug, er erklärte, nicht weiter gehen zu können.

Das war unter den vorwaltenden Umständen der reine Unsinn. Da alle meine Vorstellungen nichts fruchteten, so stand ich eine Weile rathlos da, denn mir selbst fiel es nicht ein, den Rückweg einzuschlagen.

Nun kam mir ein Gedanke – der Himmel weiß, woher. Vielleicht flüsterten mir ihn die Unholde der Nacht zu. Die Ausführung desselben ist wohl einzig in den Jahrbüchern der Bergbesteigungen.

Ich trat zum Führer hin, der weiter oben stand, und wechselte mit ihm längere Zeit Worte, welche der Ingenieur nicht vernehmen konnte. Zuerst wollte jener durchaus nicht auf das eingehen, was ich ihm zumuthete. Endlich hatte ich aber seine Bedenken dennoch überwunden.

Da geschah das Unerhörte. Mit einem Mal stand der Führer an der Seite meines Genossen und brachte ihm unter gräulichen Flüchen, indem er ihn zugleich vorwärts schob, einen Hieb nach dem andern bei. Er glich in diesem Augenblicke einem Fuhrmann, welcher mit Gebrüll und Verwünschungen auf ein Pferd lospeitscht, das vor einem steigenden Hang stehen bleibt.

Es folgte, was ich erwartet hatte. Mein Genosse, dem über diesen rohen Angriff der Verstand stehen geblieben war, taumelte willenlos unter den Püffen des Bauernknechtes, ohne zu wissen, was mit ihm vorging, den Rest des Kamines hinan.

In wenigen Augenblicken hatten wir die Paßhöhe erreicht. Als wir den Athem wieder gewonnen hatten, nahm der Führer seinen Hut ab, fiel auf die Kniee nieder und bat meinen Genossen um Vergebung für das, was er ihm angethan hatte. Dieser aber hörte kaum auf das, was der Führer vorbrachte. Er blickte unverwandt in den Kamin hinab und sagte ein über das andere Mal: ‚Da bin ich herauf gekommen? Nicht um alle Millionen der Erde würde ich den Weg noch einmal zurücklegen.‘

Ich beschwichtigte ihn, so gut es ging, und suchte das Verfahren, das auf ihn angewendet worden war, thunlichst zu entschuldigen – eine nicht ganz leichte Aufgabe. Er hatte indessen den guten Geschmack, glatt über die Sache hinwegzugehen, und war offenbar selbst froh, daß er auf irgend eine Weise über das Joch hinüber befördert worden war.

Ich glaubte nun, daß wir das Schlimmste hinter uns hätten. Es dauerte aber nicht lange, bis ich meinen Irrthum erkannte. Der Gletscher auf dem Südhang war allerdings nicht so ausgedehnt, aber unter dem Einflusse der Sommerhitze in einem viel höheren Grade zerrissen und zerklüftet worden als die Eisfelder auf der Nordseite. Als ich den Führer über den einzuschlagenden Weg befragte, zeigte es sich, daß er dieses ,Kees‘ niemals betreten hatte. Sein Verstandeslicht half uns also da noch weniger als seine Laterne.

Wir geriethen alsbald in ein Labyrinth von Gletschertischen und Spalten, deren Wände, wenn sie vom Mondlicht getroffen wurden, in einem unheimlichen Grüngold schimmerten. Unvergeßlich bleibt mir jene Wanderung.

In der Erinnerung treten die lästigen und bösen Seiten eines Erlebnisses mehr zurück, es bleiben dafür die anregenden sogenannten romantischen, stärker haften. Ich will mich jetzt nicht mehr darüber besinnen, wie oft ich voll Besorgniß auf der nassen, dünnen, rutschenden Schuttschicht, die an den meisten Stellen das Eis bedeckte, stehen blieb, um vorzusehen, ob nicht ein Abgleiten in irgend eine Kluft zu befürchten wäre, oder um einen Ausweg aus dem Durcheinander von Spalten ausfindig zu machen.

Mein Genosse stürzte mehrmals, indem er sich an steileren Stellen der Eisfläche auf dem mürben Schutt nicht zu halten vermochte. Als er wehklagend sich wieder einmal von einem solchen Fall erhob, verließ mich die Selbstbeherrschung und Geduld, die ich mir bis dahin bewahrt hatte. Mein Ingrimm über die Unwissenheit, Unfähigkeit und den Leichtsinn des Führers machte sich in einer furchtbaren Schimpfrede, die ich über denselben ergoß, Luft.

Ich hatte Unrecht. Erstlich war es hierfür lange zu spät und dann hatte mein Wuthausbruch einen Erfolg, an den ich allerdings nicht gedacht hatte. Derselbe sollte sofort eintreten.

Kaum hatte der Widerhall von den Wänden meine mehr geschrieenen als gesprochenen Worte wiedergegeben, als ich dicht neben mir einen Aufschrei vernahm. Mein Genosse war in eine Kluft abgestürzt, die durch eine Schneebrücke zugedeckt war, welche kaum zwei oder drei Zoll im Durchmesser hatte. Ich war dem nämlichen Schicksal nur dadurch entgangen, daß ich, um meine Standrede zu halten, etwa eine Klafter von ihm entfernt stehen geblieben war.

Mein erster, instinktiver Schrei war nach dem Seil. Bis jetzt hatten wir dasselbe nicht benutzt, weil es auf dem sanften Gletscher der Nordseite unnöthig war, und diesseits hatte ich es abgelehnt, uns anbinden zu lassen, weil ich dem Führer mißtraute und beim lichten Mondschein hoffen durfte, meinen Genossen zwischen den, wie mir schien, allenthalben offenen Klüften, wenn er sich knapp bei mir hielt, leichter durchzubringen, als wenn wir Alle zusammengebunden gewesen wären. Hatte ich ihn doch fast immer, so unnöthig es schien, während dieses letzteren Theils unserer Wanderung knapp an der Hand gehalten.

Der Führer warf mir das Seil zu und ich beugte mich über den Rand der Kluft. Ein Mondstrahl fiel auf einen hervorragenden weißen Buckel, etwa sieben oder acht Meter unter der Oberfläche. Auf diesem saß rittlings mein Genosse. Er schrie mir herauf, daß er sich unverletzt fühle. Der Spalt hatte ein Aussehen, als ob eine teigige Masse aus einander gebrochen wäre. Fast allenthalben standen an den Wänden Hervorragungen einander gegenüber. Ich konnte also vorläufig hoffen, daß mein Genosse nicht so rasch in die Tiefe sinken würde.

[696] Ich ließ ihm nun den Strick hinab, forderte ihn auf, sich anzubinden, und rief nach dem Führer, daß er mir beim Ziehen behilflich sein solle. Keine Antwort. Betroffen schaute ich herum. Der Führer war verschwunden.

Ich weiß nicht, durch welche plötzliche Erleuchtung mir die Wahrheit, so unwahrscheinlich sie sein mochte, augenblicklich in das Bewußtsein trat. Dieser sogenannte Führer, bereits eingeschüchtert von meiner Strafpredigt und jetzt durch das Einbrechen meines Genossen ganz außer Rand und Band gebracht, hatte sich geflüchtet und war in seiner Dummheit einfach davongelaufen, um sich irgendwo den Folgen, die er fürchtete, zu entziehen.

Das war nun aber noch nicht das Schlimmste. Mein Genosse rief mir zu, er stütze sich mit seinen beiden Händen auf den Eisbuckel und wage es nicht, denselben auch nur mit einem Arme loszulassen. Er fürchte sich davor, sich die Schlinge um den Leib zu legen.

Ich machte ihm begreiflich, daß wir in diesem Falle alle Beide verloren sein könnten, denn mir bliebe jetzt nichts Anderes übrig, als zu ihm hinab zu klettern und einen Versuch zu wagen, ihm selbst die Schleife um den Leib zu legen. Machte ich dabei einen Fehltritt und glitt ab, so würden wir alle Zwei in der Kluft begraben sein.

Auch das machte keinen Eindruck auf ihn. So blieb mir nichts Anderes übrig, als mich ungefähr in der Weise eines Kaminfegers hinabzulassen. Aus unsichtbarer Tiefe rauschte das Wasser herauf, aus der Dunkelheit zog sich ein Luftstrom in die Höhe, der Einem das Mark erstarren machen konnte. Ich nahm mein Messer zu Hilfe und tiefte, mich vorbeugend, da und dort Höhlungen aus, in welche ich alsdann die Fußspitze einsetzte.

Auf diese Weise gelangte ich so weit in die Nähe meines Genossen, daß ich ihn zu berühren vermochte. Aber auch jetzt wagte er es noch nicht, mir die Hand zu reichen, um das Seil entgegenzunehmen. Eben so wenig getraute er sich aufzustehen, obwohl ich ihn mit einer Hand von oben herab festgehalten hätte. Dabei wiederholte er stets die Worte: ,Es ist umsonst, ich erfriere, ich erfriere.‘

Indem ich jetzt mich noch weiter, bis auf den Vorsprung seines Eisbuckels hin, hinabließ, ihn zwang, seine Arme vom Eis zu entfernen, damit ich ihm die Schleife unter die Achsel schieben konnte, und mich nur mit einer Hand an einen Eiszapfen der jenseitigen Wand festhielt, schwebte ich selbst in der alleräußersten Lebensgefahr. Wenn ich sage: ‚schwebte‘, so ist dieses Wort in seiner eigentlichsten Bedeutung zu nehmen.

Ich verlor deßhalb auch keinen Augenblick, mich sofort wieder in die Höhe empor zu zwängen, sowie ich verspürt hatte, daß die Schlinge unter den Achseln fest saß. Trotz der Kälte in Angstschweiß gebadet und schier athemlos, erreichte ich den Rand der Kluft.

Nachdem ich mich etwas gesammelt hatte, rief ich dem Verunglückten zu, er möge sich nun mit dem nächsten Rucke, den er verspüre, aufraffen, seine Kniee ordentlich zu Hilfe nehmen, sich je nach Umständen mit den Händen am Seile oder am rauhen Eise halten und sich in die Höhe zerren lassen.

Umsonst. Ich weiß nicht, wie es geschah, aber es ging nicht. War meine Kraft nicht ausreichend genug, stellte sich mein Genosse zu ungeschickt oder zu furchtsam – er kam um keinen Fuß weit in die Höhe. Statt dessen hörte ich, wie er mit schwacher Stimme herauf rief, ich solle ihn zu Grunde gehen lassen.

Jetzt fiel mir in meiner Angst bei, daß es mir in der stillen Nacht vielleicht gelingen könne, die Insassen der Knappenstube, die auf dieser Höhe einen bescheidenen Bergbau auf Smaragde trieben, durch Schreien aus ihrem Schlafe zu erwecken. Die Knappenstube konnte nach meiner Rechnung in der Luftlinie kaum mehr als zwei Kilometer weiter unten liegen. Es war also nicht undenkbar, daß Rufe gehört wurden.

Eben schickte ich mich an, einen durchdringenden Schrei auszustoßen, als mir die Stimme in der Kehle erstarb. War es denn heute nicht Sonntag und wußte ich nicht, daß die Knappen des Sonnabends ihre Hütten verlassen, um erst Montags früh wieder zurückzukehren?

Ich gestehe offen, daß ich jetzt unsere Partie für verloren gab. Wohl versuchte ich es noch unzählige Male, den Verunglückten emporzuziehem und redete ihm unablässig zu. Aber es rührte sich nichts und seine Antworten wurden immer schwächer und einsilbiger.

Mit einer Art von Wuth gedachte ich zeitweilig meines letzten Ganges über dieses Gebirge im Frühsommer. Es war ein herrlicher Spaziergang durch glänzende Gefilde hindurch gewesen, kein Schatten von Anstrengung oder Beschwerlichkeit hatte mir den wundervollen Tag getrübt. Und jetzt, diese Reihe von Widerwärtigkeiten, die schließlich an ein offenes Grab führten!

Wie lange es so fort ging – ich weiß es nicht mehr. Plötzlich hörte ich Geräusch hinter mir auf dem Eise. Als ich mich umwandte, standen zwei Männer vor mir.

Es waren der Hutmann der Knappenstube und ein Schmied aus dem obersten Dorfe des Thales.

Die Sache hatte sich so zugetragen. Der Hutmann war, statt wie gewöhnlich an Montagen gegen Morgen, schon vor Mitternacht aus dem Thale aufgebrochen. Er hatte sich den Schmied mitgenommen, der ihm einen Fehler am Pocher ausbessern sollte, damit die Maschine schon wieder in Gang gesetzt werden konnte, wenn in der Frühe die Knappen heraufkamen. Auf dem Wege waren die beiden Männer dem flüchtigen Burschen begegnet. Die Gewissensbisse, welche denselben quälen mochten, veranlaßten ihn, von seinen Abenteuern wenigstens so viel zu erzählen, daß diese begriffen, um was es sich handelte.

Für den Augenblick wurde wenig gesprochen. Die beiden Männer machten nicht viel Federlesens, sondern rissen mit vereinten Kräften, denen sich meine schon ermüdeten Arme beigesellten, meinen Genossen an die Oberfläche empor.

Es war höchste Zeit geworden. Wenn mir,“ so schloß der Botanikus seine Rede, „jene Nacht in der Erinnerung bleibt, so wird, wie ich glaube, der gute Ingenieur Zeit seiner Tage um so lebhafter daran denken.“

„Diese Geschichte,“ bemerkte nach einer Weile Justus von Liebig, „bietet allerdings eine Reihe von widrigen Zufällen, wie sie in dieser Aufeinanderfolge nicht leicht vorkommen mögen. Daß sie nicht wesentlich zur Sache gehören, beweist der Verlauf des früheren Ganges, welchen der Vertreter der lieblichen Wissenschaft, den wir soeben gehört haben, über den nämlichen Berg hin zurückgelegt hat. Ich glaube, daß wir, wenn wir die Geschichte alpiner Unglücksfälle verfolgen, fast bei jedem derselben auf ein ähnliches Ungefähr stoßen, das so wenig zur Sache gehört, wie etwa die Entgleisung eines Zugs in die Fahrordnung. Wenn solche Dinge einerseits zur Vorsicht mahnen, so wäre es andererseits nicht genug zu beklagen, wenn dadurch eine oberflächliche Betrachtungsweise sich von den Wundern der Alpenwelt abschrecken ließe. Jene hohe und glanzvolle Region ist und bleibt einmal die Rüstkammer, in welcher sich Leib und Seele neue Gesichtskreise und neue Kräfte holen. Es ist gewiß kein Zufall, daß der Trieb, in die Welt dort oben einzudringen, sich gerade in einer Zeit besonders geltend macht, in welcher der harte Kampf des Kulturdaseins, der philisterhafte Eigennutz, die Streberei und die Jagd nach Gewinn dringend ein Gegenmittel und eine Gegenbewegung herausfordern. So macht es die Natur ja überall, im Leiblichen wie im Geistigen. Sie besitzt an sich eine eigene Heilkraft, welche entstehende Schäden auszugleichen trachtet. Rührt sich hier die rücksichtslose Selbstsucht, will sich das Geld auf den Thron der Erde setzen, so regt sich andererseits der Trieb nach dem seligen Glanze der Höhen. Lockt hier der Koupon, so winkt dort das Edelweiß.“

Jahre sind darüber hingegangen und ich habe mich oft jener Stunde zu Höhlenstein erinnert. Am eindringlichsten geschah dies in den letzten Tagen, als ich wahrnahm, daß man aus einer Reihe von Unglücksfällen hie und da fast Veranlassung nehmen will, die Alpenwelt in Bann zu legen. Was verschuldet ist an jenen Unglücksfällen und was zum Schutze der Touristen geschehen muß, soll hier nicht untersucht werden. In einer der nächsten Nummern wird eine berufene Feder diese Frage vor den Lesern der „Gartenlaube“ erörtern. Das Eine möchten wir aber schon jetzt betonen: Niemand fällt es ein, andere körperliche Uebungen als solche für das verantwortlich zu machen, was zeitweilig aus irgend welchem Grunde dabei Unliebsames vorfällt. – So wollen wir es auch mit dem Besuche der Alpenwelt halten. Nach wie vor werden alljährlich die ungezählten Tausende zu ihr emporpilgern wie zu einer Heilstätte und sich dort die Arznei holen für das, was das moderne Leben an ihnen verbrochen hat und verbrechen wird.



[697]

Der Raub in der Thierwelt.

Charakterdarstellungen von Adolf und Karl Müller. Mit Originalzeichnungen von Adolf Müller.
II. (Fortsetzung.)

Bei den Nachtraubvögeln, den Eulen, sind die Fänge wie bei den Tagräubern auch die Waffen, die in erster Linie zum Fang und Mord dienen, so, sie erscheinen als solche zum Theil noch wirksamer. Dem ersten Schlag des furchtbaren Uhu erliegt die nicht allzu große Beute gewöhnlich gleich. Tief gräbt sich der sehnige, mit scharfen Bogennägeln versehene Fang in den Sitz des Lebens ein. Die Unternehmungen dieses unheimlichen Nachtthieres bestehen im Aufscheuchen der ruhenden Thierwelt durch weckende Flugzüge über Felder, Wiesen und Waldblößen oder in jähem Ueberfall. Der Jagd vermag dieser Unhold empfindlichen Schaden zuzufügen Dagegen erweisen sich die Eulenarten sonst

Schleierkauz von Tagvögeln ausgezankt.

als wesentlich nützliche Vertilger schädlicher Nager. Ihre Gewölle zeugen von ihren Thaten, wenn sie auch zum Theil mehr als oberflächlich eingreifen in die Reihen der Insektivoren. Die Stärke der Eulen als Räuber liegt in dem unhörbaren Flug, dem die Nacht durchdringenden Auge, der außerordentlich wirksamen Fang- und Mordwaffe. Mit einem gewissen Grausen gedenken wir der sicher gezielten, augenblicklich tödtenden Fangschläge in die Käfige edler Sänger, so der Singdrosseln zur Nachtzeit, mit gründlichem Respekt der am offenen Fenster Abends von Schleiereulen ausgeführten Angriffe auf einen Mann, der ihre beiden Jungen in die Stube hereingenommen hatte. Mit jedem Schlage flogen Hautfetzen vom Kopfe und strömte das Blut herab. Das Verhältniß des Schleierkauzes zu den ihn umgebenden Kleinvögeln ist der Art, daß bei ihrem Erscheinen am Tage oft große Erregung in diesem befiederten Völkchen entsteht und die verschiedensten Vertreter der Sängerarten ihn umfliegen, Aengstlichkeit, Unwillen und Neugierde zugleich offenbarend. Wahrlich, ein interessantes Scenenbild für den aufmerksamen Beschauer!

Kehren wir zu Räubern des Tages zurück und verlassen wir die eigentlichen Raubvögel. Wir greifen uns als den Repräsentanten und das Urbild aller Raben den Kolkraben heraus, in welchem wir eine außerordentliche Schärfe der äußeren Sinne verbunden finden mit weitgehender Berechnung, Schlußbildung und Folgerung der Verstandesgabe. Der Mensch ist schon von weiter Ferne in seiner Gefährlichkeit oder Nichtgefährlichkeit von diesem Rabenkopf erkannt. Es ist, als ob er jede Bewegung in ihrer Bedeutung und Absicht verstehe, den Feind nach dem Kleide beurtheile, das er trägt, aus der Haltung seine Verdachtsgründe schöpfe. Die Küchlein der Hühner, Enten, Gänse und Truthühner auf Anger, Feld und Weide, wenn sie nur von einem Kinde gehütet werden, zieht er sofort in den Bereich seiner Raubpläne, und trotz der abwehrenden Versuche in Ton und Gebärde wagt er den frechen Diebstahl vor den Augen des geringgeschätzten Menschleins. Dem tapfer sich wehrenden und seine Jungen hinter sich vertheidigenden Mutterhasen versetzt er mit dem Schnabel, dieser derben, kraftvoll geführten Waffe, im Flugstoß betäubende Hiebe, die unter Umständen auch tödten und verloren ist dann die ganze Hasensippschaft, denn eins nach dem andern der Kleinen, deren Sitz sein vortreffliches Ortsgedächtniß genau sich gemerkt hat, trägt er zum nahen Walde oder zum einsamen Ort der Flur. Sein Horst zeugt durch die Reste der Vorräthe von der Vielseitigkeit und Fülle des Raubes. Alles durchforscht er, Bäume, Büsche, Flur, Trift, Wiesengrund, Fluß- und Teichufer. Was da stiegt und kriecht, kann er's bewältigen, wird unbarmherzig gemordet. Seine seelische Begabung führt ihn zu gemeinschaftlicher Ausführung von komplicirten Anschlägen mit einem Genossen, wobei die Rollen geschickt vertheilt sind.

An der Elster und dem Heher dürfen wir nicht vorübergehen; denn sie sind wahre Verwüster der Vogelbruten, erstere vorzugsweise in Fluren und Gärten, letzterer in Wäldern. Während die Elster hauptsächlich die ihr Sicherheit bietenden Morgenstunden [698] benutzt, um Bäume, Büsche und Boden nach Nestern und unbehilflichen Vögelchen zu durchsuchen, ist der Heher den ganzen Tag über auf dem Wege der Auskundschaftung. Wach und scharfsinnig sind beide in hohem Grade; sie merken auf die verrätherischen Anzeichen und wissen aus dem Gebahren und den Tönen elterlicher Besorgniß der Paare Schlüsse zu ziehen auf den Stand der Bruten. Und wie schlau weiß die Elster den Nachstellungen zu entgehen, die ihr Leben bedrohen! Wie dreist und verwegen benimmt sie sich dagegen im Bewußtsein ihrer Sicherheit bei Räubereien! Eine Glücksstunde führte uns einst zur Begegnung einer Elster mit einem Eichhorn, welches gleich ihr lüstern auf den Raub der Eier eines Restes bedacht war. Mit


Eichhorn und Elster beim Nestraub sich begegnend.


wetterndem Geschrei empfing die Elster das Eichhorn und brachte dasselbe alsbald zum Zurückweichen, während sie von der Ausführung ihres geplanten Raubes nicht abließ und denselben rasch und derb ausführte. Steht ihr etwa der Heher im Raube nach? Spielend gleichsam mit sich selbst wie das unschuldige Kind, vor sich hinplaudernd und spottend über Andere mit nachgeahmten Tönen und Rufen durchwandert er Bäume und Büsche. Aber verborgen lauert der Mörder in ihm, und zur rechten Stunde wird der Heimtückische zum offen auftretenden Verderber des in Sorglosigkeit eingewiegten Vogellebens. Ja, wir können es als unbestreitbare Thatsache aussprechen, daß er die brütenden Kleinvögel unbehelligt läßt und an ihnen dicht vorübergeht und abwartet, bis die Jungen ausgekrochen sind. Im Augenblicken, wo die Eltern das Nest zur Herbeiholung von Futter oder zum Zwecke der Ausspannung verlassen haben, fällt dann der Mörder über die appetitlichen Nacktvögelchen her und verschlingt eins nach dem andern, der erfolglosen Angriffe der hinzukommenden Beschützer oft nicht achtend.

Auch die gemeine Krähe ist in den Kreis unserer Behandlung zu ziehen, weil man ihrem unbedingten Schutze selbst von berufener Seite aus vielfach das Wort geredet hat, obschon sie denselben keineswegs verdient. Außerdem aber gehört sie zu den hervorragend wachen und verstandesbegabten Räubern. Ihre Vielseitigkeit ist noch lange nicht bekannt genug. Namentlich tritt in ihrem Thun und Treiben ein großes Verständniß für die Interessen der Gemeinschaft hervor, welches sich durch die Geselligkeitsneigung zu so hoher Ausbildung gestaltet hat. Das Krähenvolk einer ganzen Gemarkung steht oft in engem Wechselverkehr. Und die Gemeinschaft wiederum giebt das Bewußtsein der Stärke und die Siegeszuversicht, so daß beim Angriff das Kühnste und Verwegenste von der wild schreienden und mit Stoß und Hieb herabfahrenden Sippschaft unternommen wird.

Es ist keine Uebertreibung des Erfolgs, wenn behauptet wird, daß selbst der Wolf unter dem Massenangriff solcher Dränger die nach dem Walde zu schleppende schwere Beute sacken lassen muß. Wo wird ein angeschossener Hase in der Flur von Krähen entdeckt, ohne daß diese Alarm geben, um im Gefühle der Unzulänglichkeit ihrer Fähigkeit, die Beute zu bewältigen, die Genossen aus der Ferne herbeizurufen? Dagegen sehen wir in anderen Lagen die Krähe allein oder wenigstens abseits von Gefährten hochaufgerichtet die niedere Krescenz durchschreiten, spähend nach erdständigen Vogelnestern, deren Inhalt sogleich geplündert wird, bestehe er in Eiern oder Jungen, oder nach einem Satz kleiner Häschen, die in alter Stille durch Schnabelhiebe getödtet und verzehrt werden, wenn die Hasenmutterliebe sich nicht zur Vertheidigung aufwirft, in welchem Falle sofort das Schreisignal ausgegeben und wie der Ton des Eisenbahnhornes von Station zu Station weiter befördert wird. Dort [699] lauert die lüsterne Krähe am seichten Ufer, um zu fischen oder zu krebsen, und man irrt, wenn man geringschätzig von ihrem Erfolg nach dieser Richtung hin denkt. Wie zutraulich sie gewöhnlich erscheint, bei der Verfolgung setzt sich alsbald nicht bloß in den bedrohten Krähen Mißtrauen fest, sondern auch in denen, welche die Vorgänge aus der Ferne mit angesehen haben oder denen dieselben von andern der Sippschaft erzählt worden sind. Die Noth macht erfinderisch. Das bewies eine Krähe, deren Weibchen heißbrütend auf dem Neste saß und vor dem anschleichenden Jäger nicht fliehen wollte. Das Männchen stieß jäh auf das Nest herab und trieb das Weibchen mit Gewalt zur Flucht. Dieser Vorgang stellt sich als ein wahrer Triumph der Thierseele in Bezug auf die Befähigung zu verstandesmäßigem Schließen dar, giebt uns aber auch zugleich den Schlüssel zur Würdigung des Scharfsinns und der Ueberlegung, mit welcher die Krähe in ihren Raubunternehmungen aufzutreten vermag.


(Schluß folgt.)




Der Unfried.
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.


(Fortsetzung.)


Als Karli mit Götz die Stube betrat, suchte er mit den Augen die Stelle, an welcher das Bild seiner Mutter gehangen – und fand die Mauer leer.

„So, Mutterl – so? Bist schon dahin – und hast schon Platz g’macht? Ah ja – für mich wird’s auch bald Zeit sein!“ Mit beiden Händen deckte er das Gesicht, wankte nach der Bank und warf sich schluchzend über den Tisch. Dann wieder fuhr er auf: „Na – g’wiß wahr – Alles, Alles könnt’ ich ihm verzeihen, aber nie net hätt’ ich mir ’denkt, daß er so falsch sein kann, und daß er mir net amal den Tag anzeigt, an dem er Hochzeit macht.“

„Dein Vater hat Dir geschrieben – am selbigen Morgen noch, an dem der Tag von der Hochzeit festg’setzt worden is. Ich selber war dabei, wie er den Brief dem Postboten ’geben hat – und gestern muß der Brief in München g’wesen sein.“

„Und gestern bin ich fort! Aber na – na – ins Lager hat er mir noch g’schrieben, daß Alles gut und recht wär’, und daß die Kuni lang schon fort is in ihr Hamath.“

„Sie war auch fort – aber freilich, fünf Tag’ später war s’ wieder da, mit die Schriften, denk’ ich, wo s’ zur Heirath ’braucht hat. Ich sag Dir’s, Karli, bei der, da könnt’ a Fuchs in d’ Schul’ gehen. Am selbigen Tag, wo Du fort bist, hab’ ich mir gleich schon ’denkt, es muß ’was B’sonders ’geben haben. Aber daheim im Haus, da hat man kein Wörtl nimmer g’hört, und von mir selber bin ich halt auch net hinter ’s Richtige ’kommen. Wie ’s Deandl nachher fort war, hab’ ich freilich g’merkt, daß Dein Vater allweil um mich ’rumgeht, als möcht’ er mir ’was sagen, was ihn druckt, oder möcht’ mich fragen um ’was. Aber er wird halt ’s Kurasch net g’funden haben – und wie die Kuni wieder da war, da hat er sich schon so wie so kein Wort nimmer z’reden ’traut – ja, ich sag’ Dir’s, diemal hat er sich völlig ang’schaut, wie wann er sich fürchten thät’ vor ihr – weiß Gott, wegen was – und ganze Tag’ sind g’wesen, wo kein’ Lacher von ihm nimmer g’hört hast! Und da kannst Dir jetzt denken, wie ich g’schaut hab’ – ich und alle und ’s ganze Dorf mit einander – wie auf amal am letzten Sonntag Dein Vater mit der Kuni verkündt worden is in der Kirchen – einmal für dreimal. Und gleich am andern Tag is d’ Hochzeit festg’setzt worden.“

„Und Du, Götz – Du hast gar nix g’sagt – und zug’schaut hast, statt daß mei’m Vatern fürg’stellt hättst –“

„Was willst von mir! Ich bin der Knecht, und Dein Vater is der Bauer. Und amal, da hab’ ich’s dengerst vergessen und hab’ Dein’ Vater drum ang’redt – aber d’ Antwort hab’ ich von der Kuni ’kriegt. Und von der Stund’ is ’s Deandl Dei’m Vater nimmer von der Seiten g’wichen – und wo ich ’gangen und g’standen bin, da war auch die Kuni net weit. Ich weiß ja, daß ich ihr noch nie net ’taugt hab’. Sie hat von eh’ was g’habt gegen mich, das hab’ ich an Allem g’merkt – und b’sonders seit dem Tag, Karli, wo Du ins Manöver fort bist. Von da an hat s’ Dir so a g’spaßige Freundlichkeit g’habt für mich – weißt – so a Freundlichkeit, bei der der Haß aus alle Augen schaut – der Haß und d’ Furcht! Und so gar Unrecht hat s’ auch net damit! Vom ersten Schritt ins Haus ’rein hab’ ich’s ihr ang’sehen, daß die nix Gut’s net unters Dach ’rein bringt. Aber diemal nachher – diemal is mir’s dengerst wieder g’wesen, als ob ich mich ’täuscht hätt’ in ihr – mit mei’m unguten Glauben. Denn daß ich Dir’s sag’, Karli – ich will Dein’ Vater net weiß malen – aber sie hat ’was an ihr, wo Ei’m ankann –“

Jählings richtete Karli das verweinte Gesicht empor, und mit einem höhnischen Gelächter, das Zorn und Thränen halb erstickten, schrie er gegen die Decke: „Ja jetzt is schön – Du also auch – ja sag’ – ’leicht bist mir gar noch eifersüchtig auf mein’ Vater!“

„Dir, Karli, kann ich nix verübeln – und heut’ schon g’wiß net. Und daß ich in der Kuni ’s Deandl g’sehen hab’ – ich weiß – das glaubst ja dengerst net von mir. G’rad einmal, Karli’ – ein einzigsmal g’rad haben meine Augen nach so ’was ausg’schaut – und kein zweitsmal nimmer in mei’m Leben!“

Vor dem tiefernsten, schmerzdurchzitterten Ton dieser Stimme verging dem Burschen das Lachen, und mit erschrockenen Augen starrte er auf den Knecht.

Götz athmete schwer auf, fuhr sich langsam mit den Händen über die geschlossenen Augen und sprach mit rauher Stimme weiter: „Was mich diemal an der Kuni so g’spaßig an’packt hat – ich ’ kann’s net sagen – und gar lang hat so ’was auch nie net ’dauert bei mir. Oft war’s bloß a Minuten – und in der nächsten hab’ ich ’s Deandl schon wieder g’rad so ang’schaut, wie selbigsmal, wo s’ mir die erste Hand hin’boten hat. Ich hab’s von Anfang g’wußt, daß mit der Kuni der Unfried zur Thür’ ’rein tanzelt – aber daß sich derselbig Anfang zu ei’m solchen End’ auswachst, das hätt’ ich mir dengerst nie net träumen lassen! Denn schau, Karli – daß ich Dir’s offen einb’steh’ – was ich g’forchten hab’, hab’ ich g’forchten ganz allein für Dich – denn weißt, in junge Jahr’, da is halt ’s Blut so a Sach’ – das kann Dir Keiner besser sagen als wie ich – und um Dich wär’s mir leid g’wesen – um Dich und d’ Sanni!“

„Für mich hast g’forchten, Götz – für mich?“ stotterte Karli, während eine flüchtige Röthe seine verstörten Züge überhuschte. „No schau – ein’ Offenheit is die ander’ werth!“ Und mit stockenden Worten berichtete er dem Knechte, was in jener Nacht nach seinem lustigen Abschied vorgefallen.

Erregte Spannung im Gesichte, mit vorgestrecktem Kopfe, Schritt um Schritt, kam Götz auf Karli zu gegangen.

„Natürlich, wie ich am andern Morgen nach’denkt hab’ über alles,“ so schloß der Bursche, „da hab’ ich halt auch nix anders ’glaubt, als daß die Kuni ihr’ Rechnung g’macht hätt’ mit mei’m rauschigen Blut. Aber was für a unsinnige Einbildung das g’wesen is, das hab’ ich gleich erfahren müssen, wie ich ’runter ’kommen bin in d’ Stuben –“

Karli verstummte und schaute mit fragenden Blicken in die seltsam funkelnden Augen des Knechtes, der mit heftigem Griffe seinen Arm umklammert hatte und nun in überstürzten, halblauten Worten auf ihn niedersprach: „Und wie in d’ Stuben ’kommen bist, Du hast zum spötteln ang’fangt – gelt? Und hast es ihr so hing’rieben, was sie für Eine wär’? Und z’erst, da hat s’ Dich ang’schaut, wie wann s’ kein Wörtl net verstehen thät’ – gelt? – und nachher auf amal, da hat s’ Dir g’rad ins G’sicht ’neing’lacht – und hat Dir g’sagt, wie denn Du so ’was von ei’m Deandl denken könntst, das über a paar Wochen schon Hochzeit mit Dei’m Vater macht? Red’, sag’ ich Dir – hab’ ich Recht oder net?“

„Ja, Götz – ja – so is g’wesen!“ stotterte Karli. „Aber – wie kannst denn Du erfahren haben –“

Wieder verstummte er und schaute kopfschüttelnd auf Götz, der die Hände an die Stirn schlug und unter heiserem Lachen den Kopf zwischen die aufgezogenen Schultern drückte.

Und in die seltsamen Laute dieses Lachens mischten sich jetzt die näherkommenden Klänge von Trompeten, Geigen und Klarinetten, mischte sich das Kreischen und Krachen der Jauchzer und Schüsse, die den Hochzeitszug auf seinem Wege begleiteten.

[700] Erbleichend schnellte Karli in die Höhe und taumelte der Thür zu. Götz aber hielt ihn am Arme zurück. „Was is? Wo willst denn hin?“

„Fort will ich – fort! Und Du – Du wirst es auch net wollen, daß ich da herin in der Stuben stehen muß, wann der Vater sein’ liebe Braut zur Thür ’reinführt!“

„Da sorg’ Dich net, sie kommen jetzt net heim! Der Zug muß halt am Hof vorbei, wann er von der Kirch’ zum Wirthshaus will. Da, schau zum Fenster ’naus, da sind ja d’ Musikanten schon!“

Mit beiden Armen zog Götz den Burschen in die Mitte der Stube, und da standen sie nun und sahen es mit an, wie draußen auf der Straße die Geiger und Bläser vorüberzogen, Paar um Paar, die hohen Spitzhüte mit dicken Blumensträußen geschmückt. Ihnen folgte der Hochzeitslader, und in tanzendem Gange schwenkte er seinen hohen Stab, dessen bunte Bänder lustig im Winde flatterten. Dann kam der Pfarrer, inmitten des Paares, das er verbunden „für Leben und Sterben, für Erde und Himmel“. Kuni, in reichem bäuerlichen Gewande, trug den Kopf mit der blitzenden Brautkrone stolz erhoben; eine leichte Blässe lag auf ihrem hübschen Gesichte; sie schaute gerade vor sich hin, mit einem leisen, fast verächtlichen Lächeln, das auf ihren Lippen wie versteinert schien. Mit dem energischen Gange dieser Beiden vermochte der Pointner nicht Schritt zu.halten. Er ging gebückter als sonst und verwandte keinen Blick von der Erde.

„Da – da, Götz – da schau ihn an – mein’ Vater!“ fuhr Karli, die Hand nach dem Fenster streckend, mit bebenden Worten auf. „Schaut er net aus, wie wann er die schwere Sünd’ am Buckel spüret, die er an mir verübt – an mir und mehr noch an ihm selber?“ Schluchzend kehrte er sich vom Fenster ab, schlug den Arm vor die Augen und wankte aus der Stube.

Mitleidigen Blickes schaute Götz ihm nach. Dann wandte er mit nickendem Kopfe die Augen gegen die Kammerthür und raunte mit herbem Lächeln vor sich hin: „Ja, Bauer, jetzt erbarmst mich selber! Das Räuscherl, wo Dir an’zecht hast zum Abschied von Dei’m Buben, das kommt Dir theuer z’stehen.“

Langsamen Ganges folgte er dem Burschen in den Flur hinaus und sah ihn mit schwankenden Schritten über die Treppe steigen. Als Karli die oberste Stufe erreichte, mußte er sich an die Mauer stützen, so zitterten ihm die Kniee. Stöhnend raffte er sich wieder zusammen und suchte seine Kammer. Er stieß die Thür vor sich auf, und da traf sein erster Blick das verblaßte Bild seiner Mutter, das zu Häupten des Bettes an der Wand hing.

„Mutterl – Mutterl, gelt ja – wir zwei – wir g’hören jetzt zu anander!“ weinte er, warf sich über das Bett und vergrub das Gesicht tief in die Kissen. So lag er und rührte sich nicht; nur die Schultern zuckten ihm unter heftigem Schluchzen.

Eine Stunde mochte vergangen sein, als sich wechselnde Stimmen im Flur und Schritte auf der Treppe vernehmen ließen. Erschrocken fuhr Karli in die Höhe. Da öffnete sich schon die Thür, und Götz erschien. Mit einem eigenen Lächeln sprach er den Burschen an: „Karli, Dein Vater is da, und ich, meint er, soll Dir’s sagen – er hätt’s halt gern, wann mit ihm ’nübergingst ins Wirthshaus!“

„Ich? Und ’nübergehn? Na – nie net!“ schrillte es mit zornigen Lauten von Karli’s Lippen. „Ehnder fall’ ich um am Platz!“

„Karli – Bua!“ tönte von draußen eine schüchterne Stimme, und über der Schwelle tauchte der Pointner auf.

„Vater!“ schrie der Bursche, während ihm das Blut mit dunkler Röthe in die Stirne schoß und seine Hände sich zu zuckenden Fäusten ballten.

Dem Pointner zitterten die Backen; er flocht die Hände ineinander, Thränen füllten seine Augen, und mit angstvollen, flehenden Blicken schaute er zu Karli auf. Es war ein Etwas in diesen Blicken, das dem Burschen unwillkürlich die Fäuste öffnete.

„Laß gut sein, Vater,“ stieß er mit versagender Stimme vor sich hin, „laß gut sein – rechten därf ich net mit Dir – und daß wir zwei in der Güt’ miteinander reden, dazu is lang schon z’spat!“

„Na, Karli – na – schau, laß Dir sagen – schau g’rad erst hab’ ich’s g’hört, daß da bist, und da hat’s mir kein’ Ruh nimmer g’lassen, und vom Mahl bin ich weg – und schau, für Dich und mich wär’s besser g’wesen, wenn Alles vorbei g’wesen wär’, bis heim wärst ’kommen – aber jetzt – schau – jetzt – weil jetzt schon da bist, jetzt wirst mir doch so ’was net anthun können, daß net amal zu meiner“ – – der Pointner würgte das Wort hinunter, das ihm auf der Zunge gelegen, „daß Du daheim bleibst, wo ’s halbete Dorf Dei’m Vater z’ Ehren geht! Schau, Karli – g’rad das Einzige thu’ mir net an!“

„Ich kann net, Vater – na – na – ich kann net!“

„Karli, laß Dich erbitten – thu mir so ’was net an!“

Bei dem rührend flehenden Ton dieser Stimme versagten dem Burschen die Worte; er schüttelte nur heftig den Kopf und wandte sich zur Seite.

Da schien der Pointner am Erfolge seiner Bitte zu verzweifeln. Er ließ die Hände auseinanderfallen, seufzte tief auf und neigte mit traurigem Gesichte das Kinn auf die Brust. „No also – wann halt gar net kannst – nachher kannst halt net! Und schau, Karli – ich bin Dir net harb drum, na, g’wiß net – aber – aber was mir da jetzt anthust, das kann Dir schon gar net sagen!“

Langsam kehrte sich der Pointner gegen die Thür, und tiefer und tiefer sanken ihm die Schultern, während er mit zitternd tastenden Füßen über die Schwelle schlich. Es schien, als wäre in diesem Augenblick richtig das Alter über ihn gekommen.

Karli aber fuhr auf, in zitternder Unruh, und als hätte er sich von Götz einen Rath erholen wollen, so flogen seine Augen nach der Stelle, an welcher der Knecht gestanden. Doch Götz war lange schon verschwunden. Eine Weile noch stand der Bursche – in seinen Zügen spiegelte sich der heftige Kampf, den er im Innern stritt. Dann stürzte er aus der Stube, und als er auf der untersten Treppenstufe den Vater gewahrte, rief er ihm mit heiser überschlagender Stimme zu: „Vater – a paar Minuten wann warten magst – nachher – nachher komm’ ich halt!“ Und bevor es der Pointner noch zu einer Antwort brachte, stand Karli schon wieder in seiner Stube, schlug hinter sich die Thür zu, riß mit zitternden Händen die beim Sturze zu bösem Schaden gekommene Uniform vom Leibe und warf sich in seinen bäuerlichen Sonntagsstaat.

Als er dann so verwandelt die Treppe niederstieg, streckte ihm der Pointner von unten die beiden Arme entgegen, mit leuchtenden Augen, mit thränenüberströmten Backen und unter den schluchzenden Worten: „Karli – das vergiß ich Dir net – und mag’s jetzt gehen, wie’s will – eh’ laß’ ich mir d’ Haut übern Buckel ziehen, eh’ daß ich zugib, daß Du in Dei’m Recht verkümmert wirst – na, Karli – das vergiß ich Dir net! Und komm jetzt – komm, mein Bua – komm – komm –“

Mit beiden Händen faßte er den Sohn am Arme und zog ihn mit sich fort ins Freie. Auf der Hausbank saß Götz, und Karli athmete erleichtert auf, als er den herzlichen, ermunternden Blick gewahrte, der ihn aus den Augen des Knechtes traf. Zu einem Worte ließ ihn der Pointner nicht mehr kommen. Er riß ihn mit sich fort, durch das offene Zaunthor, auf die Straße hinaus, vorüber an Häusern und Gehöften. Wer auch den Weg der Beiden kreuzen mochte, bekam vom Pointner die Worte zu hören, die er unter Thränen lachend sprach: „Du – da schau – mein Karli is ’kommen – ganz extra auf den heutigen Tag – ganz extra is er ’kommen – gelt, da schaust!“ Ja freilich schauten die Leute – kopfschüttelnd und lächelnd. Und als die Beiden das Wirthshaus erreichten, in dessen ebenerdiger Stube die „halbeten“ Hochzeitsgäste, die nicht zur Tafel geladenen Burschen und Dirnen schon des baldigen Tanzes harrten, füllten sich alle Fenster mit neugierigen Gesichtern. Das Alles sah der Pointner nicht; er sah nur seinen Buben, er zog ihn über die Schwelle, er schleppte ihn hinter sich die Treppe hinauf, zerrte ihn gegen die Thür des leeren Tanzsaales – und da ließ er nun plötzlich die Hände von ihm und stotterte in Schreck und Sorge: „Karli – thu’s mir z’lieb – und nimm Dich z’samm’!“

Aus der Thür des Nebensaales, in welchem an langer Tafel die Mahlgäste saßen, kam ihnen Kuni entgegen. Während hinter ihr die Thür sich mit Leuten füllte, streckte sie dem Burschen lächelnd die beiden Hände hin, unter den lauten, herzlich klingenden Worten: „Ja Karli – grüß’ Dich Gott! Und schau, a größere Freud’ hätt’ ich schon net haben können, als daß Du jetzt dengerst net fehlen thust an mei’m Ehrentag!“ Da kam ein boshaft spöttischer Zug in ihr Lächeln, und während sie Karli’s Hände schüttelte und drückte, dämpfte sie die Stimme: „Ja, jetzt komm nur gleich! G’rad ’nüber von mir mußt sitzen! Von meiner Familli is ja keiner net da – weißt – daß Dich net

[701]

August Junkermann in seinen Fritz Reuter-Charakteren.
Portrait nach einer Photographie von H. Brandseph in Stuttgart; die Kostümbilder nach Photographien von O. Graß in Mannheim.
Jochen Päsel.             Schauster Hank. („Du dröggst de Pann weg“).
Dörchläuchting.             Onkel Bräsig.
Möller Voß („Ut de Franzosentid“).       Johann Schütt („Kein Hüsung“).       Smid Snut („Hanne Nüte un de lütte Pudel“).

[702] schaamen mußt! Und ich – ich bin ja jetzt die Bäurin auf der Point – und das is doch g’wiß was anders als wie so a lumpige Kellnerin, wo nix anders net is als wie a Handtüchl für ei’m Jeden seine Händ’. So geh – so komm doch, Bua!“

Bis in die Lippen war Karli erblaßt, und mit zornigen Blicken suchten seine Augen den Vater. Der aber machte ein Gesicht, dem es deutlich anzusehen war, daß er nicht wußte, was er zu Kuni’s seltsamer Rede denken sollte. Jetzt war aber auch für ihn keine Zeit zum Denken. „So geh, so komm doch, Bua, geh!“ mahnte er mit Kuni’s Worten, faßte Karli am Arme und zog ihn gegen die Thür des Nebensaales. Mit dem Ellbogen stieß er die Leute bei Seite, die sich zur Begrüßung herandrängten, und kreischte: „Da schaut’s her, was da für a Gast noch kommt!“ Was noch auf den Stühlen saß, erhob sich; nur der hochwürdige Herr blieb sitzen. Der Pointner aber zog seinen Buben nach der Mitte der Tafel, ergriff das nächste Glas und stieß es auf einen Teller, daß er in Scherben aus einander fuhr. „Stad sein, sag’ ich – jetzt hab’ ich ’was z’ reden! Da schaut’s her – mein Bua is ’kommen zum heutigen Tag! Und daß ich a größere Freud’ net hätt’ erleben können, das is wahr. Und reden will ich mit jedem, der’s net glaubt! Da giebt’s fein nix zum lachen – hörst es, Holzerbauer? Ja – und g’rad freuen thut’s mich, daß man mich als Hochzeiter noch net hat leben lassen! Denn der, wo z’erst heut’ leben soll, das is mein Bua! Und leben soll er hundert Jahr’ – na – gleich tausend Jahr’ – denn für so an Buben sind hundert Jahr’ gleich gar nix! Gelt, jetzt könnt’s lachen – ja – das is der Neid, weil keiner von Euch Glatzköpf’ so an Buben hat wie ich! Und drum soll’s ihm auch gut gehen, und Alles soll er haben, was er sich einbildt! Und leben soll er – he! Musikanten! Blasen, sag’ ich – Kreuzsaxen – g’rad blasen! Und leben soll er – dreimal – na – hundertmal hoch!“

Da schlang der Alte unter Schluchzen und Lachen seinen Arm um Karli’s Hals und leerte in gurgelnden Zügen sein Glas bis auf die Neige.




9.


An der Hochzeitstafel war die Ordnung wieder hergestellt, und in das schnatternde Geplauder mischte sich das Klappern der Gläser und Teller.

Dem Pfarrer gegenüber, der zwischen dem Brautpaare saß, hatte Karli seinen Platz erhalten. Er hob fast keinen Blick von seinem Teller, und um jedem Gespräche mit seinem Nachbar auszuweichen, nahm er zwei- und dreimal von jeder Schüssel und aß von jeder Speise so lange, bis die nächste an die Reihe kam. Auf die sprudelnden Fragen des Vaters konnte er freilich nicht immer die Antwort schuldig bleiben. Der stieß vor jedem Trunke mit ihm an und that überhaupt, als hätte der festliche Tag nur den einen Zweck, seinen Buben zu ehren – als wären die fünfzig Gäste nur geladen, um Karli’s Heimkehr mit ihm zu feiern. Er wurde ordentlich verdrießlich, als draußen die Musik begann, als der Pfarrer sich erhob, um das Hochzeitspaar zum Ehrentanz in den Saal zu führen.

Auch Karli erhob sich – erleichtert aufathmend. Es war ihm eine Wohlthat, nun endlich von Kuni’s funkelnden Blicken und ihrem ewigen Lächeln erlöst zu werden. Unter der Schar der anderen Gäste drängte er sich in den Tanzsaal. Der Pointner mochte wohl seit langen Jahren kein Tänzlein mehr versucht haben; seine Füße waren der flinken Bewegung entwöhnt und geriethen immer wieder aus dem Takte. Dafür aber that Kuni durch energische Führung das Möglichste, damit ihr „Ehrentanz“ für all diese hundert neugierigen Augen nicht zu einem lächerlichen Schauspiel wurde.

Mit finsteren Augen schaute Karli zu. Doch als er gewahrte, daß dem Vater allzu wirblig zu Muthe wurde und seine Beine schon gar zu sichtlich ins Zittern geriethen, näherte er sich mit raschen Schritten dem Paare, löste Kuni’s Hand von der Schulter des Vaters, schwenkte sie unter seinem Arme durch und tanzte mit ihr weiter, während der Pointner pustend und schnaubend seitwärts an die Mauer taumelte.

Drei Runden tanzte Karli mit Kuni; dann stellte er sie an die Seite des Pfarrers, stieß mühsam ein „Vergelt’s Gott, Hochzeiterin!“ hervor und schoß davon. Als er die Treppe erreichte, schallte ihm aus der unteren Wirthsstube lautes Gelächter, Citherklang und eine jodelnde Stimme entgegen. Drunten im Flur prallte er auf einen Burschen, der mit wieherndem Lachen aus der Stube getreten war. Als er den jungen Pointner erkannte, packte er ihn mit beiden Händen am Arme und schrie: „Jesses na, Du bist da! Und g’rad hat man g’redt von Dir! Du, wenn jetzt g’rad dag’wesen wärst, da hättst lachen können! Weißt, der Maurer-Hansl hat a nagelneu’s Liedl zum Besten ’geben – vom Haserl und der Feechin (Füchsin). Aber geh weiter – geh ’rein a Bißl – Dir z’lieb muß er’s noch amal singen!“ Unter diesen Worten wurde Karli von ihm in die Wirthsstube gezogen, wo unter einer lachenden Gruppe von Burschen und Dirnen der Maurer-Hansl vor der Cither saß. „He, da schaut’s her – wen ich da daherbring’! Und mach’ weiter, Hansl – jetzt fang nur gleich noch amal an – der Karli muß Dein Liedl hören.“

„Ah na, ich ’trau mich net,“ meinte der Hansl, während er verlegen die Finger über die Saiten strich.

„Därfst Dich schon trauen! Der Karli is Dir net harb d’rum! Kannst es ihm ja am G’sicht ablesen, was ihm der heutige Tag für a Freud’ macht! Geh weiter und sing’!“

Und während sich alle Gesichter in Neugier und Schmunzeln nach dem jungen Pointner wandten, ließ der Hansl die Saiten schnarren und sang dazu mit näselnder Stimme:

„Z’naxt war ich gen Holzen,[1]
Net lang noch is ’s g’we’n,
Hab’ a ganz an alt’s Haserl
In Daxboschen[2] g’sehn.

Vor Kält’ hat’s Dir g’schnadert,[3]
Kein’ Sonn hat’s erwarmt –
O mein Gott, wie hat mich
Das Haserl erbarmt!“

Einer der Burschen ließ ein gröhlendes Lachen hören, während die andern in mißtönigem Chor wiederholten:

„O mein Gott, wie hat mich
Das Haserl erbarmt!“

Mit einem lauernden Blicke schielte Hansl zu Karli auf, griff einen schwirrenden Accord und sang:

„Z’naxt war ich gen Holzen,
Weiß nimmer, wann’s war,
Hab’ a Feechin drauß g’sehen
Mit brandrothe Haar’.

Mit ei’m bluhweißen Brüsterl,
Hab’s g’sehen ganz g’nau,
Mit schneeweiße Pranterln,[4]
Mit ei’m sakrischen G’schau!“

Auf Karli’s Wangen wechselte Röthe mit Blässe. Er riß mit einem zornigen Ruck seinen Arm aus den Händen des Burschen, der ihn in die Stube geschleppt, und trat mit blitzenden Augen dicht an den Tisch, indessen der Maurer-Hansl die dritte Strophe begann:

„Z’naxt war ich gen Holzen,
Hab’ Schindelholz ’kliebt,[5]
Da hat sich das Haserl
In d’ Feechin verliebt.
Und a Manderl hat’s g’macht
Und a Hupferl hat’s ’than
Und hat – –“

Doch weiter kam der Maurer-Hansl nicht, denn mit hastigem Griffe hatte ihm Karli die Cither aus den Händen fortgerissen. In der Stube wurde es plötzlich so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören. Und da beugte sich Karli weit über den Tisch und raunte dem Burschen mit zornbebender Stimme ins Gesicht: „Jetzt hab’ ich’s g’nug. – verstehst mich – mit Deine spöttischen G’sang’! Und Dir und all die Andern sag’ ich’s – so lang ich noch zwei g’sunde Arm’ an meine Achseln hab’, so lang laß’ ich kein’ Spott net auf mein’ Vater kommen. Und was die Ander’ angeht – mag’s jetzt sein, wie’s will – von heut’ an tragt s’ mei’m Vatern sein’ Nam’ – und für den steh’ ich ein! Und drum gieb ich Dir’s z’merken – g’rad hören därf ich, daß Du Dein saubres Liedl noch an einzig’s mal wo singst – nachher wachsen wir z’samm’ – wir zwei – verstehst mich!“

Schwerathmend richtete sich Karli auf, warf einen drohenden Blick auf all die verdutzten Gesichter, rückte den Hut und verließ die Stube.


(Fortsetzung folgt.)


  1. Neulich war ich bei der Holzarbeit im Walde.
  2. Niederes Fichtengebüsch.
  3. Gezittert.
  4. Pfötchen.
  5. Habe weiches Holz zu Schindeln gespalten.




[703]
Das erste Jahr im neuen Haushalt.
Eine Geschichte in Briefen. 0 Von R. Artaria.
X.
Neustadt, den 4. April. 

Ach Marie, Marie, ich habe etwas Entsetzliches angerichtet und bin ganz verzweifellt darüber! Was ist doch ein böses Gewissen für eine schreckliche Sache! Das meine foltert mich unaufhörlich, daß ich manchmal glaube, ich kann es nicht länger aushalten. Und dabei heiter scheinen müssen mit der Todesangst: jetzt kommt es heraus! Ich will Dir Alles sagen; es wird mir leichter, wenn ich denke, Deine lieben Augen sähen mich trostvoll an. Helfen freilich könntest Du mir auch nicht; mir hilft Niemand mehr; ich denke manchmal, es wäre am besten, wenn ich sterben könnte!

Die Schuld an dem ganzen Unglück ist die abscheuliche Russin. O, wie ich sie hasse, diese Frau mit den geschminkten Wangen und dem falschen Lächeln! Nicht genug, daß sie mit Hugo kokettirt, wo sie ihn findet, nein, sie macht slch offenbar einen Spaß daraus, ihn bei Gelegenheit gegen mich einzunehmen; es ärgert sie vermuthlich, daß Zwei mit einander glücklich sind! So warf sie ihm neulich eine ganz perfide Bemerkung hin uber meine „Freundschaft" mit Dr. Brandt, der freilich in letzter Zeit ihre Fahne verlassen hat. Hugo entgegnete ihr wohl scherzend, sie müsse am besten wissen, welch’ ein ungefährlicher Verehrer der schöne Doktor sei; aber es ärgerte ihn doch und ich bekam hinterher ein paar gereizte Reden über mangelnde Vorsicht und Taktgefühl zu hören; daß ich darauf hin die arglistige Schlange nur noch als Luft behandeln würde, stand fest. Aber es kam anders, viel, viel schlimmer!

Ehe ich sie noch wiedersah, saßen wir vor zehn Tagen im kleinen Damenkreis bei Fräulein Berghaus zum Kaffee. Gerne bin ich nicht dabei, das weißt Du; aber ganz fortbleiben kann man eben doch nicht. Nun, da schwärmte denn Fräulein Frieda, die in neuerer Zeit sehr viel mit Frau von Kolotschine Klavier spielt, ganz enthusiasmirt von ihr und sagte, Jene sei das in Wirklichkeit, was zu sein Andere sich nur einbildeten, nämlich eine Dame aus der großen Welt. Na, darauf sagte ich denn auch Einiges; das Gespräch wurde animirt, und Fräulein Frieda brachte plötzlich eine Redensart vor, von einem interessanten tête-à-tête mit dem schönen Doktor, worin mich ja wohl neulich Frau von Kolotschine gestört habe. (Das war, als ich ihn auf der Straße zu jenem lustigen Abend einlud und mich abwandte, als ich sie kommen sah!) O, nun bekam ich eine solche Wuth über die miserable Person, daß ich gar kein Blatt mehr vor den Mund nahm, sondern in sehr kräftigen Ausdrücken meine Ansicht über sie und ihre Vergangenheit sagte. Die Andern saßen ganz still; Fräulein Frieda bemerkte nur bedeutungsvoll: „Das ist viel gesagt, Frau Assessor, das werden Sie hoffentlich Alles gewiß wissen!“

„Das weiß außer mir die ganze Stadt S…“ fuhr ich heraus. „Fragen Sie nur die Frau Amtsrichter, die auch von dort ist; wir haben noch kürzlich darüber gesprochen; sie erzählte mir eine ganze Menge Details von jener Geschichte.“

Auf dem Heimweg war mir gleich nicht recht wohl zu Muthe, und den Abend, wenn Hugo mit mir sprach, hatte ich immer das Gefühl, ich müsse ihm eine Schuld bekennen; dann aber dachte ich: pah! was für eine Dummheit! Du hast ja Nichts gethan, als was die Andern jahraus jahrein in ihren Cafés betreiben; es wurmt Dich nur, weil Du eine höher angelegte Natur bist.

Acht Tage gingen vorüber; ich dachte schon gar nicht mehr an die Geschichte; da trat eines Nachmittags um drei, als Hugo auf dem Bureau war, seine Mutter ins Zimmer, machte ihr finsterstes Gesicht und sagte kurz: „Setze Dich her, Emmy, ich habe mit Dir zu reden."

Das ist nun das Unangenehmste, Einem so zu kommen; man kriegt sogar Herzklopfen, wenn man sich ganz unschuldig weiß.

„Ist es wahr,“ eröffnete sie das Verhör, „daß Du neulich bei Fräulein Berghaus Frau von Kolotschine eine Abenteurerin nanntest?"

„Sie ist eine,“ fiel ich lebhaft ein.

„Nicht darum frage ich Dich, sondern ich will wissen, ob Du sie so genannt hast? Ich habe Dich bis jetzt auf keiner Unwahrheit gefunden. Also die Rede giebst Du zu?“

Ich nickte.

„Ist es ferner wahr, daß Du sehr kompromittirende Geschichten von der Dame erzähltest?“

„Als ob die nicht alle schon ohne mich bekannt gewesen wären!“

„Um so thörichter, daß Du Deinen Namen zur Deckung hergiebst. Und hast Du wirklich die Frau Amtsrichter als Quelle dieser Klatschereien genannt?“

Ich fühlte, daß mir das Weinen kam. „Das nimmt sich jetzt Alles ganz anders aus, wenn man es so zusammenhält. Ich habe Nichts über die abscheuliche Person gesagt, was nicht allgemein bekannt ist, und die Frau Amtsrichter sagte auch, daß sie gar nichts tauge und ihrer Schwester schon viel Kummer bereitet habe.“

„Das stellt die Frau Amtsrichter vollkommen in Abrede.“

Mir war, als finge das Zimmer an, sich zu drehen. War denn das möglich? Eine ältere, ganz brave und würdige Dame! Sie log ja geradezu, wenn sie so sprach. Auf der Stelle wollte ich zu ihr hin. Nur besann ich mich noch und fragte so muthig, als ich konnte: „Wie kommst Du denn zu Alledem? Warum stellst Du mich zur Rede?"

„Weil die Geschichte bereits in der ganzen Stadt herumgetratscht ist,“ erwiederte sie strenge, „und weil es mir nicht einerlei sein kann, wenn die Gattin meines Sohnes in eine Klage wegen Ehrenbeleidigung verwickelt wird. Emmy, Emmy," fuhr sie fort, während das Entsetzen mir die Zunge lähmte, „Du bist ein leichtsinniges, thörichtes Geschöpf, an dem ich wenig Freude habe. Bis jetzt schwieg ich, wenn mir manchmal Aeußerungen zu Ohren kamen, die Dein unbedachter Mund über mich gethan hat, eben weil es nur mich betraf; aber jetzt, wo es gar nicht fehlen kann, daß Hugo durch Dich in die unangenehmsten Verdrießlichkeiten geräth, wo morgen vielleicht schon der Schwager jener Frau – Du verstehst doch, was ein Officier in solchem Fall bedeutet? – hier vor Euch steht und Rechenschaft verlangt, da trieb es mich, zu kommen, um Dich in Kenntniß zu setzen. Ich weiß nicht, was Fräulein Berghaus gegen Dich haben kann; nur so viel sehe ich, daß sie die Seele dieser ganzen widerwärtigen Klatscherei ist. Freilich hoffte ich bisher noch, sie möge stark übertrieben haben. Wenn dem aber nicht so ist, wenn Du wirklich alles Das gesagt hast –“ sie konnte offenbar keine Worte mehr finden, um die Größe meines Verbrechens zu bezeichnen. Es war auch überflüssig; ich saß schon vernichtet genug, mit dem einzigen dunklen Gedanken: „Was thun, um Gotteswillen, was thun?!“

Endlich sprang ich in die Höhe. „Ich gehe zur Frau Amtsrichter hin; sie muß mir bezeugen, was wahr ist; ich habe nicht allein in dieser Sache gefehlt.“

„Wenn das Deine ganze Hoffnung ist,“ sagte aufstehend meine Schwiegermutter, „dann wäre es besser, Du gingest zu Frau von Kolotschine und suchtest Dich zu entschuldigen.“

„Nimmermehr!“ rief ich außer mir.

Wir nahmen kalten Abschied; ich zog mich an und lief nach Amtsrichters Wohnung. Schon beim Hinaufgehen durch das steingewölbte Treppenhaus mit den dunkel gebahnten Stufen fiel mir der Muth. Als ich aber oben eintrat und die stattliche, klug aussehende Frau unter einer Anzahl Waisenmädchen sitzend fand, denen sie Strick- und Nähunterricht ertheilt, da imponirte mir so viel Tugend und Verdienst dermaßen, daß ich nur stammelnd meine Bitte vorbrachte, sie allein sprechen zu dürfen.

Sie führte mich schweigend in ein Kabinet, und dort, verwirrt, unzusammenhängend, so ungeschickt wie möglich brachte ich meine Sache vor. Ihr Gesicht nahm einen immer abweisenderen Ausdruck an.

„Ja, ich habe davon gehört,“ sagte sie endlich, „und ich habe mich sehr gewundert, Frau Assessor, daß Sie es sind, die eine solche Klatscherei stiftet. Ich muß Ihnen sagen, daß ich das am wenigsten von einer Dame erwartet hätte, die so gern von der Höhe ihrer Residenzbildung auf uns Kleinstädterinnen herabsieht.“

„Es ist nun geschehen,“ sagte ich zerknirscht, „ich gäbe viel darum, könnte ich es ungeschehen machen. Aber für mich kommt jetzt Alles darauf an, nachzuweisen, daß ich nur Dinge sagte, die bereits bekannt sind. Und deßhalb, liebe Frau Amtsrichter, müssen Sie mir bezeugen, daß Sie ebenfalls davon sprachen."

„Ich muß?!“ erwiederte sie hoch erstaunt. „Aber es fällt mir ja gar nicht ein, meine beste Frau Assessor. Glauben Sie, daß ich Lust habe, mich von Ihnen in eine Klatscherei hineinbringen zu lassen? Ich lebe ruhig und friedlich unter meinen Mitmenschen, habe niemals mit Jemand Verdruß, und so Gott will, wird das so bleiben.“

„Aber Sie können doch nicht leugnen, daß Sie mir sagten –“

Hier unter vier Augen werde ich Ihnen nicht leugnen, was ich Ihnen, wohlverstanden auch unter vier Augen, sagte. Aber sowie Sie mich vor Zeugen zur Rede stellen, kann ich es leugnen und thue es, denn Sie haben gar kein Recht, meine liebe junge Frau, hier zwischen uns Unfrieden zu säen und Feindschaften zu stiften. Weil Sie, wie ich höre, auf Frau von Kolotschine eifersüchtig sind (lächerlich! ich und eifersüchtig!), deßhalb werde ich Ihnen noch lange nicht gegen diese Dame, die mir nicht das Mindeste zu Leide gethan hat, Gefolgschaft leisten. Jeder für sich selbst, meine liebe Frau Assessor. Vor Zeugen, merken Sie sich das, wenn Sie es noch nicht wissen sollten, vor Zeugen sagt man Nichts, was nicht wieder gesagt werden darf, und mas man ohne Zeugen gesagt hat, das kann man getrost in Abrede stellen, denn warum? Niemand kann es Einem beweisen.“

Damit strich sie mit vielem Selbstgefühl ihre schöne schwarzseidene Schürze glatt, und ich schwieg, vernichtet von der Höhe dieser Moral. Meine Schuld ist es ja ganz allein, ich, ich habe geklatscht, davon spricht mich Niemand mehr frei; ich möchte vor Scham vergehen …

Ueber allen diesen Aufregungen war es spät geworden. Ich ging außen herum an den Gärten heim; es war ein lauer Abend; droben am Himmel glänzte die Mondsichel, ein weicher Vorfrühlingshauch zog durch die Luft und über die Zäune her streckten sich die schwellenden Baumzweige. Der frische Erdgeruch weckte ein Gefühl von Hoffnung, als müsse nun Alles gut werden, wenn der Frühling kommt. Ich setzte mich auf ein Bänkchen am Weg und sah dem Flußlaufe nach in das stille Abendroth. Und es wurde mir so weh und traurig ums Herz!

Hugo – wie wurde er es aufnehmen, was er nun jeden Augenblick erfahren konnte? Sehr böse würde er zuerst wohl sein, aber dann – würde er mich dann schützen oder aus Gerechtigkeitsliebe preisgeben? Ich wußte es nicht; ich dachte nur, wie glücklich ich mich noch vor drei Tagen fühlte, wie froh im innersten Herzen. Damals wollte ich ihm etwas ganz, ganz Anderes sagen und zögerte, weil er in den letzten Tagen schlecht gelaunt war, und nun –. Ich kann mich noch nicht zum Bekenntniß entschließen; er wird mich zu streng verurtheilen!

Früher, wenn ich von Verbrechern hörte, dachte ich mir nichts weiter dabei; jetzt aber weiß ich, wie ihnen zu Muthe ist.

„Bist Du nicht wohl, Emmy?“ fragt Hugo, wenn ich so vor mich hinstarre, dann sage ich schnell: „O nein, ich dachte nur gerade an Etwas …“

O Marie, liebste Marie, was werden die nächsten drei Tage bringen? Wären sie vorüber! Ich schreibe Dir wieder, einstweilen habe Mitleid mit
Deiner armen Emmy. 



[704]
August Junkermann als Reuter-Darsteller.
Von Johannes Proelß.

Die Lieblinge des deutschen Volks waren allezeit auch die Lieblinge der „Gartenlaube“. Ja noch mehr, so mancher Künstler, so mancher Dichter, der heute Jedermann im Volke lieb und werth ist, gelangte erst zu allgemeiner Geltung und Ansehen dadurch, daß die „Gartenlaube“, als jener noch der Anerkennung bedurfte, ihren Lesern klar machte, welche Fülle von Erbauung und Erholung das Schaffen gerade dieses Mannes dem Volke gewähren müsse. Unter denen, von welchen Beides gilt, steht der prächtige Humorist Fritz Reuter im ersten Gliede. Gerade ihm als Dialektdichter war es schwer gemacht, die Volksthümlichkeit zu gewinnen, die dem Wesen seiner Werke entspricht, zumal es seinem biederen redlichen Wesen, seiner beschaulich zurückgezogenen Lebensart völlig fern lag, seinerseits etwas Anderes im Interesse seiner Werke zu thun, als dieselben drucken zu lassen. Das andauernde Alleinsein in der langen Haft, in der er während seiner schönsten Lebenszeit, der Reise zum Manne, den frohen Jünglingsmuth abzubüßen hatte, für die Einheit und Größe des deutschen Vaterlandes zu einer Zeit zu schwärmen, da dies noch nicht eine bequem geübte und vortheilbringende Bürgertugend, sondern ein mit Todesstrafe bedrohtes Verbrechen war; die lange Entwöhnung vom Leben in geräuschvoller Öffentlichkeit, die Gewöhnung dagegen an ein schweigsames Einspinnen in die eigene Gedankenwelt: Sie hatten wohl die selbständige eigenwüchsige Art seiner Dichtung mächtig gefördert, aber jene Fähigkeiten, die Dickens zum besten öffentlichen Vorleser seiner eigenen humoristischen Romane machten, nicht in ihm zur Entwickelung gelangen lassen. Was aber er weder konnte noch wollte, das thaten Andere für ihn. Gerade die Thatsache, daß das Plattdeutsch seiner Romane nicht überall im großen Vaterlande verstanden wurde, daß die Freude an der Reuter’schen Poesie zunächst ein Geheimgut seiner engeren Landsleute blieb, verschaffte ihm schnell eine Gemeinde, welche mit hingebender Liebe den neugewonnenen Besitz plattdeutscher Schriftwerke von großem inneren Werth als heiliges Gut hegte und pflegte.

Wo solche Gemeinde sich bildet, erstehen ihr auch Apostel. So ging es auch Reuter. Er fand Verehrer, die in hochdeutscher Sprache in Zeitungen und Zeitschriften von allgemeiner Verbreitung die eigenthümliche Schönheit seines Humors darlegten und wieder andere, die das gesprochene Wort zu Hilfe nahmen und, die Grenzen der engeren Heimath überschreitend, als Vorleser der Reuter’schen Dichtungen eine eifrige und betriebsame Propaganda begannen. Palleske, Kräpelin u. A. – sie alle haben für ihre Thätigkeit in der „Gartenlaube“ einen sicheren Rückhalt gefunden. Und als dann unter ihnen einer sich fand, der mit Glück den Versuch wagte, als Apostel der Reuter’schen Muse neben dem Katheder und Hörsaal auch die Bühne sich dienstbar zu machen, da war es wiederum das Keil’sche Volksblatt, das dem kühnen Neuerer sofort wärmste Theilnahme, weitwirkende Unterstützung lieh.

Jetzt ist von den Aposteln Reuter’s nur dieser Eine, dafür aber auch in rüstiger Kraft, noch am Leben. August Junkermann, der erste und nach wie vor beste der Schauspieler, welche die Gestalten der Reuter’schen Romane der Bühne gewannen und die Kunst der unmittelbaren Lebensdarstellung in den Dienst der Muse des niederdeutschen Humoristen stellten, hat als Reuter-Apostel bei Weitem die größten Erfolge erzielt. Von Tausenden, welche das Theater besuchen, finden sich ja kaum hundert geneigt und befähigt, in der Enge eines heißen Hörsaals ihr literarisches und künstlerisches Interesse zu befriedigen. Als Junkermann zum ersten Male – es war im Jahre 1877 – in Wien gastirte, fand sich in keiner der vielen Buchhandlungen dort ein Exemplar „Reuter“ auf Lager. Heute kennt die Hauptgestalten seiner Schöpfung wohl jeder gebildete Oesterreicher. Es ist Junkermann’s allgemein anerkanntes, unbestreitbares Verdienst, dem süddeutschen Publikum im weitesten Sinne des Wortes die heitersonnige gemüthswarme Welt des Reuter’schen Humors erschlossen zu haben. Und heute steht er nun im Begriff, auch Amerika in den Bereich seiner Mission einzubeziehen.

Anfang Oktober beabsichtigte August Junkermann sich einzuschiffen, um eine auf drei Mouate sich ausdehnende Gastspielreise durch die Städte Amerikas in New-York zu eröffnen. Er hat zu dem Zweck sein bisheriges Verhältniß als Mitglied des Stuttgarter Hoftheaters gelöst und gedenkt auch fernerhin sich seinem mehr und mehr sich erweiternden Reuter-Repertoire mit größerer Ausschließlichkeit wieder zu widmen. Er tritt somit in eine neue Aera seiner künstlerischen Laufbahn ein, und Fritz Reuter bleibt die Devise, unter der er auch in dieser wirken und siegen will. Einen Geleitbrief nach Amerika bedarf der Künstler eben so wenig wie der Dichter selbst, dem amerikanische Städte mehr Denkmäler errichtet haben, als irgend einem anderen deutschen Dichter. Aber eine Auffrischung seines Gedächtnisses ist dem treuherzigen Humoristen – bei der Schnellebigkeit und Vergeßlichkeit unserer Zeit – sogar in seiner engeren Heimath zu wünschen, die ihm ein solches Denkmal immer noch erst setzen will, und unseren Lesern in Amerika wird es willkommen sein, gerade jetzt etwas Näheres über den zu ihnen kommenden Apostel des ihnen längst theuren Dichters zu erfahren.

August Junkermann ist am 15. December 1832 in Bielefeld als Sohn eines Kaufmanns geboren. Ein früh sich regender Trieb führte ihn aus der Sphäre der Wachtstubenabenteuer, in die er als Officiersaspirant gerathen war, in die noch abenteuerlichere der Bühne. Als er aber im Oktober 1853 zum ersten Male auf einem öffentlichen Theater sein Können erprobte, es war zu Trier in der Rolle des Manasse Banderstraaten in Gutzkow’s „Uriel Acosta“, da war das Ergebniß ein schnöder Mißerfolg. Derselbe leitete eine Periode von „Künstlers Erdenwallen“ für ihn ein, welche der ironischen Bedeutung dieses Ausdrucks völlig entsprach. So manche Enttäuschung lehrte seine von Haus aus weltheitere Seele den Schmerz kennen, durch dessen Schule er gehen müßte, um für jenen herzentquellenden Humor die echten Töne zu finden, der nach Heine’s Ausdruck die Thräne neben der Schellenkappe im Wappen führt. Die Stimmungswelt von „Richard’s Wanderleben“ ward auch die seine; es trieb ihn von Bühne zu Bühne. Da geschah’s in Bremen, wo er es noch am längsten aushielt, daß eine Vorstellung Reuter’scher Dichtungen von Kräpelin ihn zur Erkenntniß seines besonderen Berufs brachte. Wie eine Erleuchtung von oben kam’s über ihn. Es war ihm beim Anhören dieser Vorträge klar geworden, welch starkes dramaturgisches Element doch in den Erzählungen des Dichters walte, der schon lange vorher ihn mächtig angezogen hatte. Er suchte nach Helfern zur Bearbeitung zunächst jener Handlung, die sich in Reuter’s größtem Werk um die Gestalt des „oll Entspekter Bräsig“ kristallisirt. Er fand einen solchen in dem Oberregisseur des Breslauer Stadttheaters, der unter dem Pseudonym Peter Dimiter die erste Bearbeitung des „Onkel Bräsig“ vornahm.

Doch glaubte Junkermann, auf Grund seiner Erfahrungen dieses wie alle anderen Reuterstücke seines Repertoires einer eigenen Bearbeitung unterwerfen zu müssen. Heute tritt er nur in solchen Bühneneinrichtungen aus, für die er persönlich dem Genius Reuter’s und dem Publikum gegenüber die Verantwortung übernimmt. Daß dieselben seinen Zwecken nicht nur, sondern auch denen einer billig urtheilenden Kritik genügen: das haben die glänzenden Erfolge seiner Gastspiele erwiesen, die er von nun an Jahre hindurch in allen wichtigeren Bühnenstädten Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz veranstaltete, auch dann noch, als er aus dem Hoftheater zu Stuttgart eine feste Anstellung als erster Charakterkomiker übernommen hatte.

Wer da weiß, wie sehr die Gesetze, welche die epische Kunst und diejenige des Dramas bedingen, von einander abweichen, wie so sehr verschiedene Aufgaben dem Erzähler und dem Dramatiker gestellt sind, wird immer mit Mißtrauen die Bearbeitungen berühmter Romane ansehen. Können die Reuterstücke Junkermann’s für sich betrachtet dieses Mißtrauen auch nicht überwinden: das Spiel Junkermann’s, so lange man in dessen Bann sich befindet, überwindet es völlig und ganz. So erging es Ludwig Speidel in Wien, den Junkermann’s „Bräsig“, als er ihn zum ersten Mal kennen lernte, zu unbedingtem Lobe hinriß; so ging es auch dem Schreiber dieser Zeilen, als er zum ersten Male dieser Leistung als Kritiker gegenüber saß. Es ist die Bescheidenheit und Zurückhaltung, welche möglichst ganz dem Originaldichter das Wort überläßt, was an diesen Bearbeitungen vor allem zu rühmen ist. So wenig das „Charakterbild“, welches eine Reihe der köstlichsten Scenen aus „Ut mine Stromtid“ mit geschickter Verknüpfung an einander reiht, in seinem technischen Bau völlig befriedigt: so hervorragend, so anziehend wirkt es durch die quellende Lebensfrische, den volksthümlichen Humor und die poetische Stimmung der Scenen, welche dem Roman mit thunlichster Treue gegen den Wortlaut entnommen sind. Und wenn auch auf dem Weg in die enge Welt der Bühne der behaglich sich ausbreitenden Poesie Reuter’s so Manches an Fülle des Lebens und Feinheit der Charakteristik verloren geht: die Kunst Junkermann’s weiß das Fehlende überall, wo „Onkel Bräsig“ spricht und handelt, vermittelt und tröstet, flucht oder lacht, vergessen zu machen. Der „Pickwick des deutschen Dickens“, der joviale, treuherzige, geraddenkende und geradredende Zacharias Bräsig, der seinem tugendhaften Freund Karl Hawermann immer in der Fixigkeit über ist, der treue Anwalt und Berather von Lining und Mining, der lachlustige Junggeselle, der so spaßig von seinen „drei Brauten“ scherzt, von denen keine geheirathet zu haben ihm doch in innerster Seele weh thut: er verliert wahrlich nichts an seiner ursprünglichen Lebfrische und Echtheit, wenn er, in Junkermann’s künstlerischer Persönlichkeit ein fröhliches Auferstehungsfest feiernd, mit wuchtigem Selbstbewußtem im Theater vor uns hintritt. In diese herrlichste Schöpfung der Muse Reuter’s, von der dieser beim Schaffen selbst sagte: „Ich glaube, der Bräsig wird nicht übel“, hat sich Junkermann’s Talent und Wesen geradezu hineingelebt. Er bringt das Kunststück fertig, eine Romanfigur, die vor unserer Phantasie längst zuvor in festen Umrissen dastand, so durchglüht von Frohsinn, so umspielt von den Geistern der Schelmerei und gutmüthigen Schalkheit, so überzeugend wahr und echt mecklenburg’sch in Haltung, Gebärde und Sprache vor uns hinzustellen, daß das Phantasiebild vor dieser Farbenfrische erblaßt und jeder Zuschauer bekennen mußt „Ja, das ist Bräsig, der gute ,Onkel‘ Bräsig, wie er leibt und lebt.“

Unsere Galerie von Reutergestalten in der Darstellung Junkermann’s zeigt diesen in allen Hauptrollen seines Reuter-Repertoires, von denen „Bräsig“ allerdings die bei Weitem bedeutendste ist. Aber alle sind sie Kabinettstücke einer fein realistischen, scharf individualisirenden blutwarmen Darstellungskunst. Und welchen Umfang, welche Spannkraft sein Talent hat, wird uns klar, wenn wir im Geiste die tieftragischen Accente seines „Möller Boß“, seine psychologische Schilderungskraft in „Dörchläuchting“, dem die „drei Grugl im Leib“ die Freude am Herrschen verderben, die harmonische Mischung von eisenhartem wilden Trotz und doch weichem Empfinden in der wetterharten Brust seines Jehann Schütt in „Kein Hüsung“, die drollige Blödigkeit seines „Jochen Päsel“ und die gemüthliche Biederkeit seines „Smid Sunt“ mit einander vergleichen. Und überall gewahrt man mit gleicher Freude das Walten eines Humors, welcher der Poesie Reuter’s wundersam entspricht und doch auch der eigenen Natur des darstellenden Künstlers zugehört. So zeigt sich auch hier, daß der Künstler da erst das wirklich Bedeutende schafft, wo die eigene Natur sich dabei ausleben darf.



[705]
Meyer’s Konversations-Lexikon.
Die Geschichte eines Buches.0 Von Friedrich Hofmann.

Eine überaus schwierige Aufgabe ist es, das gesammte Wissen der Menschheit, die Thatsachen der Geschichte und die Fortschritte der Neuzeit in einem einzigen Werke zusammenzudrängen, ein Buch zu schaffen, in welchem Jedermann über alles Wissenswerthe eine klare und zuverlässige Auskunft erhält. Seit Diderot’s Zeiten, welcher das Muster aller Realencyklopädien geschaffen, fehlte es zwar nicht an Bestrebungen, ähnliche Werke auch für das deutsche Volk herauszugeben; aber im Laufe

Trachtenbild: Schaube.

der Zeit vermochten nur äußerst Wenige, das hohe Ziel, dem sie entgegenstrebten, zu erreichen. Nur wenige der Realencyklopädien und Konversationslexika bestanden die Feuerprobe der Kritik, und um so mehr verdienen diejenigen Anerkennung, welche sich durch Jahrzehnte die Gunst des Publikums zu erhalten wußten und von Auflage zu Auflage vollständiger und besser wurden.

Bronzestanduhr im Stil Heinrich’s II.
Moderne französische Arbeit.

Zu diesen wenigen gehört unzweifelhaft Meyer’s Konversationslexikon.

Wir haben schon wiederholt der besonderen Vorzüge dieses Werkes gedacht und erst vor Kurzem empfehlend auf die vierte, gerade im Erscheinen begriffene Auflage desselben hingewiesen. Wir möchten jetzt, wo von der neuen Auflage bereits die Hälfte der sechzehn Bände des Gesammtwerkes erschienen ist, unser Urtheil vervollständigen und glauben dies am besten durch die Wiedergabe seiner Geschichte zu erreichen. Spiegelt sich doch in derselben getreu der Geist wieder, welcher den Gründer und die späteren Leiter des Unternehmens beseelte. – –

Der Gründer des Bibliographischen Instituts, Joseph Meyer (geboren in Gotha 1796, gestorben in Hildburghausen 1856), hatte in England seine kaufmännischen Erfahrungen gesammelt und dann in Deutschland auf den Buchhandel dadurch reformatorisch eingewirkt, daß er das Subskriptionswesen und das lieferungsweise Erscheinen größerer Werke einführte: beides, um nicht bloß Massenproduktion zu ermöglichen, sondern vor Allem, um die Mittel zur Bildung der großen Masse des Volks zugänglich und erwerbbar zu machen, getreu seinem Wahlspruch: „Bildung macht frei.“ Wie er diesem Wahlspruch diente, bezeugte gleich sein erstes Verlagsunternehmen: die Herausgabe der sogenannten „Groschenbibliothek der deutschen Klassiker“. Tausende werden noch leben, die mit mir sagen können, daß sie ihre erste Kenntniß von deutscher Litteratur einzig und allein diesen Heftchen verdanken, an die sie freudig ihre Sparpfennige wendeten; waren doch selbst Gymnasien damals noch so beschaffen, daß Professoren derselben äußern konnten, „ein gewisser Schiller sei ebenfalls ein Dichter, der ganz hübsche Sächelchen geschrieben habe“. Als

Schmiedekunst: Schlüssel. Aus dem 17. Jahrhundert.

Meyer’s in Folge der Julirevolution (1830) entstandene Zeitung „Der Volksfreund“ vom Bundestag unterdrückt worden war, schuf er sich eine neue Stimme als Rufer zum Volk: sein weltberühmtes „Universum“ (1832). Und zur Zeit Metternich’s, als Theater- und Bücherkritik noch die einzigen Gegenstände publicistischer Thätigkeit sein durften, wagte J. Meyer mit den Heften seines Bilderbuchs sich ins Volk und benutzte die Textblätter desselben zur Verbreitung liberaler Ideen und humaner Bildung. Eine Auflage von 80 000 Exemplaren in jener Zeit zeugte dafür, daß Meyer für Kopf und Herz der noch nicht Eingeschlafenen im Volke wieder das Richtige getroffen hatte.

Schon damals stand Meyer’s Plan, dem Volke ein Konversationslexikon nach seinem Geist und Wahlspruch in die Hand zu geben, fest; denn ich selbst habe bereits im Jahre 1833 an den Vorbereitungen dazu durch Artikellieferungen mitgewirkt, also sechs Jahre bevor Joseph Meyer (zugleich im Namen seiner Mitredakteure) das vom August 1839 datirte Vorwort dem ersten Bande seines „Großen Konversationslexikons“ Vordrucken ließ, das die Jahrzahl 1810 trägt. Mit dem Anfang des folgenden Jahres trat ich in die Mitredaktion ein und erhielt die zweite Sektion.

Der Kaiserstuhl in Goslar.
Thronsessel KaiserHeinrich’s III., später im Besitz des Prinzen Karl von Preußen, diente am 21. März 1871 dem Kaiser Wilhelm als Thronsessel bei der Eröffnung des ersten deutschen Reichstags.

Trotz der sichtbaren Ausdehnung des Riesenwerks blieb das Publikum immer bedeutend (die Auflage war bis zu 70 000 gestiegen); denn ein neuer Vorzug lieh ihm immer starke Anziehungskraft: ein fast 2000 Blätter umfassender Atlas mit landschaftlichen, architektonischen, technologischen und naturwissenschaftlichen Tafeln, dazu Hunderte von Landkarten und Bildnissen hervorragender Zeitgenossen.

Die Arbeit an dem großen Unternehmen war im glücklichsten Fortgang, als über uns Alle in Deutschland und natürlich auch über unser Werk das erschütterndste Schicksal hereinbrach: der Sturm von 1848! Der unermeßliche Freiheitsjubel betäubte im ersten Aufwallen selbst die Kühlsten und Bedenklichsten, wie er die Stärksten und Mächtigsten augenblicklich lähmte und unbegreifliche Ereignisse ins Leben rief. Auch wir jubelten mit und unser Werk jubelte mit; hatten wir doch mit ihm uns aufs Eifrigste bemüht, das, was plötzlich als „die große Zeit“ vor uns stand, herbeizuführen. Es war ein wundervoller Traum, dem jedoch ein blutiges Ende folgte und ein namenloses Elend, welches über Tausende hereinbrach. Und von dieser ganzen Zeit, wie überhaupt von der Zeit seines Erscheinens, ist Meyer’s großes Konversationslexikon das treueste Spiegelbild. Während es noch unter dem Drucke der Censur begonnen wurde, schimmerte es mit der fortschreitenden Zeit immer freiheitsfreudiger in den geschichtlichen und politischen Artikeln, bis das Feuer von 1848 so hell auflohte, daß wir heute unmöglich das noch einmal drucken lassen dürften, was damals im Wonnerausch der Preßfreiheit in alle Welt hinausstürmte.

Und als endlich den allzu langen Wortkämpfen in der Paulskirche die Straßenkämpfe folgten, als die Verfolgten massenhaft flohen und verdarben – da zählte auch das Lexikon die Häupter seiner Lieben, und siehe, sie fehlten zu Tausenden!

Benutzung des Kehlkopfspiegels.

Jeder Andere würde damals die Flinte ins Korn geworfen haben, Joseph Meyer jedoch ließ den Muth nicht sinken, er schaffte sieben neue Schnellpressen an und alle Kräfte wurden angespannt, um trotz der unermeßlichen Verluste das große Werk ehrenhaft zu Ende zu bringen. Der Schatten der Reaktion lag nun auf den Artikeln, bis auch dieser sich verlor und das Werk mit dem männlichen Ernst schloß, der in dem musterhaften „Schlußwort des Herausgebers“ als dem lautersten Zeugniß rücksichtsloser Wahrhaftigkeit sich ausspricht.

In diesem Schlußwort sagt Joseph Meyer: „Mein großes Konversationslexikon liegt vollendet vor dem richtenden Publikum und erwartet [706] sein Urtheil. Viele Werkleute sind daran gewesen, und ein jeder hat sein Bestes nach dem Maß seiner Kräfte und Fähigkeiten gethan. Hat auch keiner eine billige Kritik zu fürchten, so ist es auch keine Schande zu sagen, daß wir Alle einer solchen bedürfen. – Was ich mit dem Buche wollte, ist in dem Programm kund gegeben, mit dem es begonnen hat. Meine Encyklopädie ging von dem Gedanken aus, nur eine allseitige Bildung erkenne unsere Zeit für die wahre, und jedes Mittel, jene zu fördern, habe etwas Verdienstliches. Als ein solches Mittel dachte ich mir ein Realwörterbuch des menschlichen Wissens und Könnens, in welchem Jeder das, was er suche und bedürfe, auffinden könne, ein Buch, welches in einer mäßigen Anzahl von Bänden den Kern und Schatz einer großen Bibliothek in sich schließe. Kannst du – so folgerte ich – einem solchen Werke eine allgemeinere Verbreitung geben, so giebst du der Fortbildung des Volkes eine Stütze und den Mächten der Verdummung zerbrichst du die gefährlichste Waffe. – Mein Motto war: die Intelligenz Aller ist der stärkste Hort der Humanität und Freiheit.“ – Es war Joseph Meyer nicht vergönnt, für die weitere Entwickelung und Verbesserung seines großen Unternehmens – jenes Werks, welches das umfangreichste seiner Gattung in der gesammten Litteratur und ein bleibendes Denkmal der Kultur und der Anschauungsweise der Zeit, in der es entstand, ist – selbst noch wirken zu können; er starb schon ein Jahr nach der Vollendung, aber er hinterließ das Erbe seines Geistes einem Sohn, welchem es gelungen ist, es in der That besser zu machen.

Burg Fleckenstein im Elsaß. (Nach Specklin.)

Hermann J. Meyer schuf, dem Wahlspruch seines Vaters treu und in der Einsicht, daß eine zweite Auflage des großen Lexikons eine Unmöglichkeit sei, das „Neue Konversationslexikon für alle Stände“, das 1858 bis 1860 in 15 Bänden vollendet wurde, und dem 1861 bis 1868 die zweite Auflage, eine Neuarbeit nach verbessertem Plane, folgte. Einen bedeutenden Aufschwung indeß, auch in der inneren Einrichtung, gewann die dritte Auflage, die 1873 zu erscheinen begann und eine bis dahin unerhörte Verbreitung fand. Erst von dieser Auflage, an welcher sich eine stattliche Reihe unserer vorzüglichsten Gelehrten und Schriftsteller als Mitarbeiter betheiligte, datirt die große Popularität des Meyer’schen Konversationslexikons, wie es der gegenwärtigen Generation bekannt ist. In nicht weniger als 15000 Häusern fand es während des verflossenen Jahrzehnts Eingang, und der Herausgeber ließ es sich angelegen sein, durch fünf ebenfalls mit außerordentlichem Beifall aufgenommene eigenartige jährliche Supplementbände zur Neuerhaltung und Vervollkommnung des Werkes beizutragen. Auch der illustrative Theil des Werkes erhielt von Auflage zu Auflage eine wesentliche Vervollkommnung und Vermehrung. Die Probe-Illustrationen, welche diesen Artikel schmücken, mögen dem Leser einen, wenn auch sehr geringfügigen, Einblick in die Mannigfaltigkeit der belehrenden Abbildungen des Lexikons gestatten.

So vorbereitet, wurde vor zwei Jahren die vierte Auflage ins Werk gesetzt, der ein gleicher Siegeszug beschieden ist. An planmäßiger, geschmackvoller, sachgemäßer Durchführung übertrifft sie alle ihre Vorgänger.




Blätter und Blüthen.

Deutsche Gouvernanten in England. Da ist ein englisches Buch erschienen von Wilhelm F. Brand, dem auch unsere „Gartenlaube“ viele interessante Artikel über englische Zustände verdankt; es hat den Titel: „London Life, seen with German eyes“ (Londoner Leben, mit deutschen Augen gesehen) und enthält viele feine Beobachtungen über das Leben und Treiben in der Weltstadt. Was Brand über die deutschen Gouvernanten in London sagt, dürfte in Deutschland besondere Beachtung verdienen. Die Zahl der nach England strömenden deutschen Lehrerinnen ist überaus groß; auch finden allerdings viele derselben Stellungen. Sind sie so unterrichtet, daß die englischen Hausfrauen die ganze Erziehung ihrer Töchter ihnen anvertrauen können, so werden sie mit Rücksicht auf ihre Vielseitigkeit und Gewissenhaftigkeit vor den Erzieherinnen aus anderen Nationen bevorzugt. Diejenigen haben die meisten Aussichten, welche Deutsch und Französisch zu lehren verstehen, auch Unterricht in Musik und, wenn möglich, in Malerei und Latein ertheilen können. Die Gouvernanten, die man „finishing governesses“ nennt, das heißt solche, welche die letzte Hand an die Erziehung der Tochter zu legen im Stande sind, erhalten oft ein Jahresgehalt von 100 bis 120 Guineen; andere müssen sich aber mit geringeren Gehältern begnügen, als in Deutschland bezahlt werden. Es kommen eben auch viele junge Damen nach England, welche kein Examen gemacht haben und überhaupt ganz unfähig zur Kindererziehung sind. Sodann wird den deutschen Gouvernanten häufig der Vorwurf gemacht, sie hielten zu wenig auf ihr Aeußeres, und in der That kann man es einer Mutter nicht verargen, wenn sie nicht als Erzieherin, die doch ein Vorbild für die Tochter sein soll, eine Dame wählt, welche sich geschmacklos kleidet und linkisch in ihrem Benehmen ist. Am besten ist’s in England, wenn die junge Dame zu schneidern versteht und sich selbst ihre Kleider machen kann, da die Kleiderstoffe in England wohlfeiler sind als anderswo.

In Deutschland sind die Gouvernanten an das Leben im Kreise der Familie gewöhnt; sie werden oft als die ältesten Töchter des Hauses betrachtet und sind überall gern gesehen. In England werden sie in das Schulzimmer verwiesen; außerhalb desselben haben sie keine Rechte; hier nehmen sie die Mahlzeit einsam zu sich, während die ganze übrige Familie zusammen bei Tisch sitzt und den Abend gemeinsam verbringt. Die Engländer wollen in ihrer Familie durch keine Fremden gestört sein und nicht auf eine Gouvernante Rücksicht nehmen müssen.

Diese Abgeschlossenheit der Lehrerinnen ist gewiß eine Härte; doch sie hat auch wiederum den Vorzug, daß dieselben nicht ihre Abende langweiligen Tisch- und Gesellschaftsgesprächen zu opfern brauchen, sondern ihren Geist durch freigewählte Studien fortbilden können.

Unter dem Patronat der Herzogin von Connaught, der Großherzogin von Baden und anderer Fürstlichkeiten hat sich in den letzten Jahren ein deutscher Gouvernantenverein gebildet, welcher in jeder Hinsicht nur Gutes wirkt und deßhalb rasch eine geachtete, angesehene Stellung erlangt hat. Der Verein läßt nur solche Lehrerinnen zu, die ihre Berechtigung nachweisen können. Diese erhalten Stellungen, soweit dies irgend möglich ist, und für Krankheitsfälle sowie für die freien Feiertage ist ihnen ein Heim geschaffen, wie sie es sonst nirgends finden können. Stoßen sie auf Schwierigkeiten, so finden sie bei erfahrenen Kolleginnen Rath und Hilfe. Die Gesellschaft zählt 700 Mitglieder. Sonst ist es sehr schwer für deutsche Gouvernanten, Stellung zu finden; nicht jede hat persönliche Empfehlungen; die Anzeigen in den Zeitungen sind in England sehr theuer und die Vermittlung durch Agenten hat ihre großen Schattenseiten. †      

Als künstlerisches Ereigniß ersten Ranges wird überall in Deutschland die kürzlich in München durch Konservator Hauser bewerkstelligte wundervolle Restauration der Darmstädter Madonna von Holbein gefeiert. Bekanntlich ging diese aus dem jahrzehntelangen Kampf der Kunstgelehrten 1872 als Siegerin über die Dresdener Madonna hervor, nachdem eine genaue Vergleichung der beiden sowie der vorhandenen Studien das Darmstädter Bild als das ältere Originalwerk festgestellt hatte. Immerhin blieb dem Dresdener der Vorzug viel größerer Farbenpracht und Schönheit der Köpfe; man sah wohl: das Darmstädter war im Lauf dreier Jahrhunderte schlimm übermalt und gefirnißt worden; allein zum Wagniß einer Restauration wollte sich der hohe Besitzer des Bildes doch nicht verstehen. Erst auf dringendes Zureden seines neuen Galerie-Inspektors, Herrn Hoffmann-Zeitz (des bekannten Malers der „Francesca da Rimini“, „Heilige Elisabeth“ u. a.), der aus langjährigem Münchener Aufenthalt Hauser’s vortreffliche Methode und große Erfolge kannte, entschloß er sich dazu. Der Inspektor kam mit dem sorgsam verpackten Schatz in München an und nach kurzem Aufenthalte in dem geheimnißvollen Parterreraum der Pinakothek, wo Apparate, Flaschen und Fläschchen die Tische bedecken, stand ein wundervolles Bild da, ein echtes Meisterwerk.

Der dicke schwarze Ueberzug ist verschwunden, mit ihm alle fremde störende Uebermalung. In ursprünglicher Herrlichkeit und Leuchtkraft heben sich die Figuren vom Grunde, und ihre Züge stimmen jetzt in Linien und Ausdruck vollständig mit denjenigen der Dresdener Kopie überein. Das Kind auf dem Arm der Madonna lächelt nicht mehr krampfhaft; diese selbst hat die Steifheit verloren und blüht in holdseligem Jugendreiz; der hintere Frauenkopf, bisher eine schattenhafte Maske, tritt aufs Lebendigste hervor; der vordere aber, die klugblickende Bürgermeisterin, die knieenden Kinder mit dem entzückenden blonden Knäbchen, vor Allen die Prachtgestalt des Bürgermeisters Meyer selbst, sind von einer Frische, als habe das Bild gestern die Staffelei verlassen.

Zeugte nicht schon die unvergleichliche Schönheit und Feinheit der Ausführung laut für dieses Bild als Original, so würde es ein hochwichtiger Umstand thun: man sieht erst jetzt nach entfernter Schmutzkruste ganz deutlich unter der obersten Farbenschicht allerhand frühere Kontouren an den Kopftüchern der Frauen, den Haaren des Mädchens, der Hand des knieenden Jungen u. s. w., welche genau mit den in Basel befindlichen Studien Holbein’s zu dem Bilde stimmen, von ihm aber während der Arbeit abgeändert wurden.

[707] Der Großherzog von Hessen soll gewillt sein, das Bild, welches bisher in seinen Wohnräumen hing, von nun an im alten Schlosse zu Darmstadt dem allgemeinen Besuch zugänglich zu machen. Geschieht dies wirklich, so wird er damit den Dank Unzähliger ernten, welche herbeiströmen werden, dieses neu erstandene höchste Kleinod der deutschen Kunst zu sehen.

Norwegischer Wald. (Mit Illustration S. 692 und 693.) Norwegens Forsten haben sich den Charakter des Urwaldes in seiner ganzen Majestät bewahrt. Ueberall bildet der Granit den Untergrund für die dünne Humusschicht, welcher Norwegens Wälder entsprossen sind. Von jung auf führen darum die Bäume bereits einen harten Kampf ums Dasein. Ihre Wurzeln müssen Felsblöcke umklannern oder sich in enge Spalten senken: aber sie gewinnen dabei Kraft, und, gelingt es ihnen, die Unbilden ihrer Jugendzeit zu überwinden, so stehen sie endlich da als stämmige hochragende Gesellen, deren Aeste gleich den Armen eines Athleten sich trotzig und knorrig in die Luft strecken. Wo man es nicht für möglich halten sollte, oft an lothrechten Felswänden treiben die nordischen Fichten und Kiefern ihre Wurzeln.

Wenn die schaurigen Frühjahrs- und Herbststürme von den ungeheuren Gletscherfeldern niederstürzen über die weiten Hochfjelds in die waldbewachsenen Fjords und in die Schluchten, welche in diese münden: dann sieht es an manchen Stellen fast aus, als sei dort von Menschenhänden ein Verhau angelegt. Die von den entfesselten Elementen zu Boden geschleuderten Stämme strecken hoch ihre mächtigen Wurzeln empor und bilden im Verein mit den sie umwuchernden Farrnkräutern und Brombeerranken ein fast undurchdringliches Dickicht. Modernd ruhen die Kinder des Waldes im Moose; Niemand nimmt sich die Mühe, das gefallene Holz hinwegzuschaffen. Die rostrothe Rinde löst sich; gleich bleichendem Gebein tritt das weiße Holz hervor, bis auch dieses seine Farbe verliert, die in ein fahles Graublau übergeht: ein Zeichen, daß die Zeit ihr ewiges Zerstörungswerk auch hier bald vollbracht haben wird.

Es ist eine eigenthümlich düstere Landschaft, die uns in dem Bilde „Norwegischer Wald“ von Morten-Müller entgegentritt: der nordische Urwald mit seiner melancholischen Stille, mit all seinen charakteristischen Eigenthümlichkeiten, wie wir sie eben an uns vorüberziehen sahen. Inmitten der wilden Natur, der himmelragenden Baumriesen und am Boden liegenden Stämme, umkränzt von einem Schilfgürtel, träumt in abgeschiedener Stille ein Weiher, über dessen glatten Spiegel eben zwei Wasservögel hinstreichen. Kurz zuvor kreisten sie noch über den Wipfeln der Bäume; der Frieden des Orts hat sie herniedergelockt aus den luftigen Regionen. Sie wollen hier ausruhen von der langen Wanderung; sie sehen nicht den allbekannten Räuber, der – im Norden wie im Süden gleich beutegierig – auf den fetten Bissen im Riedgras des Ufers lauert.

Für den Naturfreund, der das interessante Bild betrachtet, bietet gerade die kleine Staffage, die Gestalt Meister Reinekes, eine angenehme, humoristische Abwechselung, geeignet, der melancholischen Stimmung des Ganzen ein Gegengewicht zu geben.

Vermißten-Liste (Fortsetzung aus Nr. 13 des laufenden Jahrgangs).

101) Der Müller Wilhelm Emil Reinhold Steingräber, am 4. April 1849 zu Arnswalde in der Neumark geboren, war zuletzt auf der Malzmühle bei Czarnikau thätig und hat seit December 1879 seine Verwandten ohne Nachricht gelassen; den letzten Brief hatte er sich nach Guben postlagernd senden lassen.

102) Gustav Adolf Gruber, 11. Januar 1859 zu Pöhl bei Plauen i. V. geboren, Sattler, verließ vor 7 Jahren Deutschland und durchwanderte Ungarn, Südfrankreich, die Schweiz und Italien, wo er in Venedig längere Zeit am Gallenfieber darniederlag. Seine letzte Nachricht sandte er aus Triest am 1. April 1880; er wollte nach Jerusalem wandern, ist dort aber nicht angelangt, und alle Nachforschungen, welche sein alter Vater angestellt, sind vergeblich geblieben.

103) Der Pharmaceut Paul Friedrich Schürmann, geboren in Gützow in Pomm. am 6. Febr. 1861, schiffte sich 1884 in Hamburg ein, um nach Amerika zu gehen. Am 21. Febr. dieses Jahres reiste er auf dem Dampfschiff „Rainbow“ nach London; von da ab fehlt jedoch jede Spur von ihm.

104) Eine tiefbetrübte Mutter sucht ihren Sohn. Derselbe, Wilhelm Dittmeier, geboren 20. November 1859 in Wittstock an der Dosse, Schlosser, reiste 1875 nach London und schrieb von dort zum letzten Male im Jahre 1877 an seine Mutter.

105) Der am 6. Februar 1851 in Gleiwitz geborene Kaufmann Joseph Friedenstein war in den siebziger Jahren in Wien in verschiedenen Geschäften thätig, zuletzt bei einer nicht mehr vorhandenen Firma Jacobowitz, und schrieb im Juni 1872 seinen Angehörigen, daß er auf Geschäftsreisen gehe. Seit der Zeit schien er jedoch spurlos verschwunden, bis in jüngster Zeit Nachrichten eingingen, daß er vor Jahren in Serbien gewesen sei.

106) Wilhelm Jochim Heinrich Petersen, Lehrer, geboren 12. März 1844 in Wahlstorf in Holstein, wanderte nach Amerika aus und schrieb zum letzten Male am 6. April 1872 aus St. Louis nach Hause. In den Jahren 1870 und 1871 hielt er sich in Clinton in Iowa auf. Sein alter Vater bittet dringend um Nachrichten über den Verbleib seines Sohnes.

107) Die Balletttänzerinnen Johanna Maria Emma Appel, geboren 20. Januar 1839 in Braunschweig, und Konradine Elisabeth, genannt Ella, Appel, geboren 11. Januar 1847 zu Kassel, Schwestern, waren in Begleitung ihrer Mutter von 1856 bis 1861 beim Hoftheater in Hannover, dann in Hamburg und an verschiedenen anderen Bühnen beschäftigt. Im Jahre 1867 waren sie in Itzehoe und sind seit der Zeit für ihren Bruder verschollen, der um ein Lebenszeichen von ihnen bittet.

108) Der Cigarrenmacher, spätere Seemann Robert Ernst Konstantin Lisse, geboren 28. März 1852 in Breslau, wanderte 1868 nach Hamburg, um von dort aus zur See zu gehen. Er schrieb zuletzt aus Hull am 28. Oktober 1873, daß er sich nach dem Mittelländischen Meere begeben und Spanien, Portugal und die Türkei durchreisen wolle. Seit der Zeit ist keine Nachricht mehr an den 64 Jahre alten Vater gelangt.

109) Von den schmerzerfüllten Eltern wird gesucht August Karl Müller, Sohn des Polizeisergeanten K. Müller in Zeitz, geboren 2. Juni 1867 in Torgau. Er stand beim Schlossermeister Reyher in Teuchern in der Lehre und war Ostern 1883 bei seinen Eltern zum Besuch. Seit seiner Abreise ist er spurlos verschwunden. Er hatte auf der linken Wange eine runde Narbe, ebenso an der linken Nasenseite, dem Auge zu; beide Narben rühren von einem Hundebiß her.

110) Seit 1879 ist der Kutscher Eduard Tanzer, geboren 31. December 1849 in Wien, verschollen. Seinem Bruder theilte er beim Abschiede mit, daß er sich der Fischer’schen (?) Expedition nach Afrika anzuschließen gedenke, während er der Schwester sagte, daß er nach Indien gehen wolle.

111) Der Maschinenschlosser Friedrich Groß, in Mainz am 5. März 1852 geboren, schrieb zum letzten Male am 4. Juni 1879 aus Wilhelmshaven an seinen Vater, der seit dieser Zeit nichts mehr über den Verbleib seines Sohnes in Erfahrung bringen konnte.

112) Spurlos verschwunden ist am 2. Mai 1885 in Hamburg, wo er sich mit seiner Frau aufhielt, der Barbier und Friseur Gustav Albert Teschke, geboren 5. Januar 1850 in Graudenz.

113) Eine gänzlich alleinstehende, fünfundsiebzigjährige Mutter hat den dringenden Herzenswunsch, den Aufenthaltsort ihrer einzigen Tochter zu erfahren, welche sie vor 24 Jahren zum letzten Male gesehen und gesprochen hat. Die Gesuchte heißt Anna Therese Liebert, ist am 19. Mai 1842 in Merseburg geboren, war Köchin und ist von Dresden am 4. November 1865 nach St. Petersburg abgemeldet. Ihr letzter Brief vom Jahre 1875, den sie an ihre Verwandten schrieb, ist von diesen leider verlegt, ohne daß der Aufgabe-Ort festgestellt wurde.

114) Der Gärtner Peter Elley Möller, in Roeskilde in Dänemark am 20. Juli 1840 geboren, ist seit seinem letzten Briefe, welcher aus Wellington auf Neu-Seeland vom 19. August 1873 datirt ist, spurlos verschwunden.

115) Der Kaufmann Johannes Karl Nikolaus Laackmann, geboren den 15. December 1851 zu Brunsbüttel, ging 1869 nach Manila und hat seit 1877, wo ein Brief aus Watsunville (Australien) von ihm bei seinen Verwandten eintraf, nichts mehr von sich hören lassen.

116) Heinrich Ludwig Friedrich Wagner, Weißbäcker, geboren 16. August 1862 in Hermannstadt, ging am 2. April 1880 in die Fremde und sandte aus Basel am 6. September 1880 dem Vater seinen letzten Brief. Dem Vernehmen nach soll er in Paris sein; doch blieben die Nachforschungen über seinen Aufenthalt daselbst ohne Erfolg.

117) Gewißheit über das Schicksal ihres Ehemannes sucht eine tiefgebeugte Frau auf diesem Wege zu erlangen, nachdem alle andern ihr zu Gebote stehenden diesbezüglichen Hilfsmittel erschöpft sind. Der praktische Arzt Dr. Friedrich Ludwig Heinrich Hermann Grapengießer, am 21. September 1845 in Schwerin geboren, war in Folge eines durch die Beschwerden des Feldzugs 1870/71 hervorgerufenen Herzleidens genöthigt, seine Landpraxis aufzugeben, und machte als Arzt mehrere Reisen nach Afrika, Amerika und Australien. Bis 1881 schrieb er regelmäßig an seine Frau; vom März des genannten Jahres ab lief jedoch keine Nachricht mehr ein, und ein Brief, welchen seine Frau an seine Bremer Adresse „Wall 119“ sandte, kam als unbestellbar mit dem Vermerk „Verstorben“ zurück. Nachforschungen bei der Polizeidirektion in Bremen ergaben, daß Dr. Friedrich Grapengießer im Juni 1881 in Stuttgart verstorben sein solle; die Polizeidirektion in Stuttgart jedoch weiß von diesem Todesfall nichts – und so ist die Frau des Verschollenen bis heute noch in folternder Ungewißheit über das Schicksal ihres Mannes.

118) Der Landwirth Eduard August Werner, in Königsberg i. Pr. am 27. Juli 1849 geboren, wanderte 1878 nach Afrika aus, arbeitete, nach einem Briefe vom Mai 1879, als Bäcker in Builfontein bei einem Herrn Hesse, ging nach Jahresfrist von dort nach Leidenburg in Transvaal und schrieb 1880, daß er sich nach den Goldfeldern von Transvaal begeben wolle. Von da ab fehlt jede Nachricht über ihn.

119) Friedrich Karl Hecht, geboren den 20. Juli 1853 zu Gehofen bei Sangerhausen, Seilergehilfe, wurde 1873 zum Militär einberufen und diente beim königl. Chevauxlegers-Regiment zu Neu-Ulm beziehentlich Augsburg bis 1876. Nach seiner Entlassung ging er nach Teisendorf als Seilergehilfe, wo er bis Anfang 1879 blieb; dann ging er nach Waging bei Traunstein in Oberbayern und ist seit März 1879 spurlos verschwunden.

120) Der am 23. Juli 1862 in Ilgezeem[WS 1] bei Riga geborene Bäcker Alfred Ferdinand Heinrich Aldenrath wanderte am 18. Juli 1882 nach Amerika aus und schrieb zum letzten Male an seine Angehörigen im Juli 1884 von Teutonia in Brasilien, Rio Grande do Sul, wo er bei dem Bäckermeister Friedrich Landmeyer in Arbeit stand.

121) Albert Alder, am 1. Sept. 1862 zu Herisau in der Schweiz geboren, wanderte am 7. September 1882 nach Montevideo aus, wo er als Zuckerbäcker Arbeit finden sollte. Durch Vermittelung des schweizerischen Konsulats in Valparaiso gelangte ein Brief vom 15. April 1883 an seine Mutter; seit dieser Zeit hat er jedoch kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben.

122) Die Wittwe Elise Leopoldine Sophie Kratz, geborene Wadenpfuhl, im Februar 1831 in Hermeskeil geboren, hielt sich als Gesellschafterin in verschiedenen größeren Städten des Auslandes auf und schrieb zum letzten Male an ihre Anverwandten am 8. Juli 1873 von Paris aus.

123) Otto Hermann Heydler, 23. Juli 1842 in Schandau geboren, von Hause aus Zeichner, ist, seitdem er am 31. Januar 1880 aus dem Krankenhause in Bischofswerda in Sachsen als geheilt entlassen wurde, spurlos verschwunden.

[708] 124) Das Dienstmädchen Emma Auguste Keller, in Glauchau am 29. Juli 1861 geboren, schrieb 1880 von Budapest zum letzten Male an ihre Mutter, welche, tiefbetrübt, dringend um ein Lebenszeichen ihrer Tochter bittet.

125) Der Färbergesell Georg Oskar Johannes Krüger, geboren 22. April 1867 in Prettin a. d. Elbe, war im Winter 1886 in Basel in einer Seidenfärberei beschäftigt und ging im März desselben Jahres über Paris nach Lyon und Marseille, von wo aus er am 11. Juni seinen Eltern mittheilte, daß er in Frankreich keine Arbeit finden könne und deßhalb nach Spanien gehen wolle. Seitdem ist über seinen Verbleib unerachtet aller Nachforschungen nichts zu ermitteln.

126) Der Apotheker Gottfried Wilhelm Alexander Heidemann, geboren 18. März 1840 in Köslin in Pommern, schrieb am 27. März 1867 aus Hamburg an seine Schwester, daß er mit dem Kauffahrer „Eurydice“ nach Buenos-Aires segeln und später nach Australien gehen wolle. Seitdem ist er verschollen.

127) Der Bierbrauer Friedrich Wilhelm Oswald Junghanns, geb. 12. Januar 1845 in Lassen bei Lommatzsch im Königreich Sachsen, hielt sich bis zum Jahre 1880 bei dem Wurstmachermeister Zittlow in Saratow a. d. Wolga auf, von wo er am 15. November desselben Jahres den letzten Brief an seine Mutter schrieb.

128) Eine siebzigjährige Mutter bittet ihre Tochter auf diesem Wege um ein Lebenszeichen, da alle ihre Briefe an dieselbe als unbestellbar zurückgekommen sind. Die Tochter, Anna Schulz, geborene Schottmann, in Dresden am 7. August 1839 geb., lebte mit ihrem Manne, der Schneider ist, in Hamburg. Ende der siebziger Jahre sind die Eheleute verzogen, wie man sagt, nach dem Hannöverschen, wo der Mann ein ererbtes Haus übernehmen wollte.

129) August Ferdinand Everts, geb. 13. August 1864 in Barmen, verließ 15½ Jahre alt die Heimath, um als Schiffsjunge Dienste zu nehmen. Nach einer Fahrt an den afrikanischen Küsten kehrte er im September 1880 auf 14 Tage zum Besuche bei seinen Eltern zurück. Die zweite Fahrt ging von Bremen aus nach New-York, die dritte nach Westindien. Den letzten Brief an seine Eltern schrieb er unterm 29. Juli 1881 aus Rotterdam, von wo er auf einem Passagierboot nach England und von dort mit dem Schiff „Nieuwe Waterweg“ nach Ostindien fahren wollte. Seitdem ist er spurlos verschwunden, und die angestellten Nachforschungen ergaben nur, daß er mit dem genannten Schiff nicht abgefahren sei.

130) Wilhelm Hülpüsch, Schneidergesell, geboren am 2. September 1861 zu Maxsain, Regierungsbezirk Wiesbaden, verließ im September 1880 die Stadt Essen und ist zuletzt im Jahre 1882 in Stuttgart gewesen. Seit dieser Zeit hat seine Mutter keine Nachricht mehr von ihm erhalten.

131) Der Bergmann Georg Heinrich August Karl Schrodt, in Zellerfeld am Harz im Februar 1834 geboren, wanderte 1851 von Zellerfeld aus und gab sein letztes Lebenszeichen im Jahre 1860 von Adelaide (Süd-Australien) durch einen Brief an seine Mutter, worin er mittheilte, daß er Goldgräber geworden.

132) Robert Michaelis, geboren 22. Juli 1829 in Berlin, in England (Maidstone) verheirathet, wanderte im September 1852 mit dem Schiffe „Bongatoro“ nach Australien aus und ist seitdem verschollen.

133) Am 24. Aug. 1880 verließ der Schneidergesell Karl Bernhard Senf, geboren den 20. August 1862 zu Münchenbernsdorf, Großherzogthum Sachsen, seine Eltern, um auf die Wanderschaft zu gehen. Nachdem er zweieinhalb Jahre in Nord- und Süddeutschland gearbeitet hatte, ging er im März 1883 in die Schweiz, wo er fünf Monate in Nyon am Genfersee, dann fünf Monate in Lyon arbeitete. Auf seiner Reise nach Spanien sind ihm in Beziers, Kanton Herault, die Reisepapiere gestohlen worden, weßhalb er seine Weiterreise aufgeben und nach Mülhausen im Elsaß zurückkehren mußte. Auf einen dorthin gesendeten neuen Reisepaß im August 1884 fehlen nun alle Nachrichten vom Betreffenden, und seine tiefbekümmerten Eltern ersuchen ihren Sohn, ihnen doch Nachricht über seinen Verbleib zu geben.

134) Der Brauer Paul May, geboren am 12. Juni 1856 zu Hundsfeld, Kreis Oels, ging im November 1883 von Hamburg über London nach Australien (Melbourne). Ein mit ihm gleichzeitig dorthin abgesandter Geldbetrag von circa 100 Mark muß auf dem dortigen Postamt von ihm abgeholt worden sein, da ihn die Post nicht zurücksendete. Alle Nachforschungen über den Verbleib des Verschollenen waren bisher erfolglos.

135) Der Schuhmacher Friedrich Karl Julius Curth, geboren am 1. August 1861 zu Wiehe in der goldenen Aue, verließ im März 1881 seine Heimath und schrieb im Jahre 1883 an seinen Vater, daß er an Bord des englischen Schooners „Anna“, Kapitän Waler, als Matrose beschäftigt und am 19. Oktober nach Südamerika abgesegelt sei. Seit dieser Zeit hat sein alter Vater keine Nachricht mehr von ihm erhalten.

136) Der Maler Richard Ritter, geboren 27. Juli 1864 in Markvippach bei Weimar, war im Frühjahre 1885 in Freiburg in Baden beschäftigt und schrieb von dort im September desselben Jahres, daß er nach der Schweiz wandern wolle; seitdem ist er verschollen. Er ist taubstumm.

Schach.
Von J. Kotrč in Prag.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.
Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 648.
Weiß: Schwarz:
1. L e 4 – a 8 ! L g 2 – a 8 :
2. S b 5 – c 3 L a 8 – d 5 ! a)
3. S c 3 – e 2 † K f 4 – e 4
4. f 2 – f 3 matt.

a) Weiß droht mit 3. f 2 – f 3 nebst 4. S c 3 – e 2 oder d 5 matt. Schwarz widerlegt jetzt diese Drohung mit 3. … L d 5 – c 4 ! –

Spielt Schwarz 1. … L b 7 (c 6, d 5, e 4), so kann 2. S c 3 oder f 2 – f 3 etc. folgen. – Der Versuch von Weiß mit 1. L d 3 ! scheitert nur an L e 4 ! (2. S c 3, L : L, 3. f 3, L c 4 !). Der fein pointirte Einleitungszug 1. L a 8 ! bezweckt, den schwarzen Läufer im zweiten Zuge von der Diagonale f 1 – c 4 – a 6 abzubringen und erwirkt zugleich sein Betreten des Verderben bringenden Feldes d 5.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

K. in Z. Die Fabrikation von Kinderuhren wird in Paris in sehr großem Maßstabe betrieben. Es befinden sich dort mehrere Anstalten, welche täglich Tausende von Uhren liefern, die sich aufziehen und stellen lassen. In Paris allein werden jährlich 30 Millionen Stück solcher Uhren fertiggestellt. Die Spielwaarenindustrie steht jedoch in Deutschland auf einer höheren Stufe als in Frankreich. Die jährliche Ausfuhr aus Sonneberg in Thüringen allein erreicht den Werth von 10 bis 12 Millionen Mark. Näheres darüber finden Sie in der „Gartenlaube“, Jahrgang 1883, S. 279 und in dem Vortrag „Von den Produktionsstätten des Weihnachtsmarktes“. Von Karl Bücher (Benno Schwabe, Basel 1887).

L. N. in Leipzig. Am 14. September war es hundert Jahre her, daß Schiller’s „Don Carlos“ zum ersten Male in Leipzig gegeben wurde. Das Leipziger Theater beging dies Jubiläum mit einer Art von Festvorstellung. Sie wundern sich, daß Schiller damals die schwunghaften Verse seines „Don Carlos“ auf den Wunsch des Leipziger Regisseurs in Prosa auflöste. Es war dies gewiß eine saure Arbeit für den Dichter, eine That der Selbstvernichtung. Doch wahrscheinlich hatte der damalige Regisseur Reinecke, der spätere Darsteller des Posa, dies zur Bedingung gemacht für die Aufführung des Stückes in Leipzig – und auch unsere großen Dichter machten alle erdenklichen Zugeständnisse, wenn ihre Stücke nur gegeben wurden. So spröde war die deutsche Bühne stets gegenüber echten Dichtwerken.


Inhalt: Lisa’s Tagebuch. Von Klara Biller (Fortsetzung). S. 689. – Aller Anfang ist schwer. Illustration. S. 689. – Mahnungen aus den Hochalpen. Von Heinrich Noé (Schluß). S. 695. – Der Raub in der Thierwelt. Charakterdarstellungen von Adolf und Karl Müller. II. (Fortsetzung.) S. 697. Mit Illustrationen S. 697 und 698. – Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 699. – Das erste Jahr im neuen Haushalt. Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria. X. S. 703. – August Junkermann als Reuter-Darsteller. Von Johannes Proelß. S. 704. Mit Illustration S. 701. – Meyer’s Konversationslexikon. Die Geschichte eines Buches. Von Friedrich Hofmann. S. 705. Mit Illustrationen S. 705 und 706. – Blätter und Blüthen: Deutsche Gouvernanten in England. S. 706. – Künstlerisches Ereigniß ersten Ranges. S. 706. – Norwegischer Wald. S. 707. Mit Illustration S. 692 und 693. – Vermißten-Liste S. 707. – Schach. S. 708. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 648. S. 708. – Kleiner Briefkasten. S. 708.


In unserem Verlage ist erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:

Gartenlaube-Kalender für das Jahr 1888.

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Der Kalender bringt wieder neben einem ausführlichen Kalendarium, verbunden mit haus-, garten- und landwirthschaftlichen Notizen, zahlreiche praktische Nachweise und Tabellen, populär-wissenschaftliche, belehrende und unterhaltende Artikel, besonders auch gute Erzählungen, Humoresken, Gedichte und vorzügliche Illustrationen. – Billiger Preis bei reichem, gediegenem Inhalt und geschmackvoller Ausstattung zeichnen auch diesen dritten Jahrgang unseres „Gartenlaube-Kalenders“ vortheilhaft aus.

Die ersten Jahrgänge 1886 und 1887 des „Gartenlaube-Kalenders“ sind zum Preise von 1 Mark für den Jahrgang ebenfalls noch zu haben.

Der „Gartenlaube-Kalender“ kann durch jede beliebige Buchhandlung bezogen werden oder gegen Einsendung von 1 Mark und 20 Pfennig (für Porto) in Briefmarken direkt von der Verlangshandlung

Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Iļģuciems; Vorlage: Ilgezen