Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1886)/Heft 6

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[93]

No. 6.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Was will das werden?

(Fortsetzung.)
Zweites Buch.
1.

Tirolerin.0 Studienkopf von Mathias Schmid.

Meine Knabenzeit war völlig zu Ende mit jener Nacht. Ich wußte es nicht, obwohl ich etwas derart spürte an der festeren Kraft, mit der ich jetzt die Dinge angriff, und der größeren Sicherheit, mit der ich den Menschen gegenübertrat. Vergebens, daß der Pastor Renner, der seine Heftigkeit bereuen mochte, jetzt durch freundliches Zusprechen, zuletzt durch offene Bitte, das verscheuchte Schaf zur Heerde zurückzulocken suchte; vergebens, daß der Direktor, welchem er den bösen Fall anvertraut, wieder umgekehrt, zuerst mit Güte, dann gewaltsam und unter Androhung der Strafe der Nichtversetzung meine Hartnäckigkeit zu beugen oder zu brechen unternahm – ich blieb fest, ohne auch nur meine Dränger auf eine spätere Zeit zu vertrösten, in der ich etwa anderes Sinnes werden würde. Ich hörte später, daß man mich, als einen sittlich Unreifen, vom Examen habe ausschließen wollen und daß darüber in dem Lehrerkollegium eine stürmische Scene stattgefunden. Aber Professor von Hunnius war nicht der Mann, der sich durch Heftigkeit, der kein Recht zur Seite stand, einschüchtern ließ. Er bestand darauf, daß ich versetzt und als der Erste versetzt werden müsse; und sagte mir, daß er es gesagt, und daß ich mich nun zusammennehmen solle. Es hätte für mich der Mahnung nicht bedurft; ich wußte ohnedies, was auf dem Spiel stand, durchschiffte muthig und geschickt alle Scyllen und Charybden des Examens und löste das Wort, das der brave Mann für mich verpfändet, ehrlich ein. Die Stimme, mit welcher der Direktor das Resultat verkündete, klang etwas rauh, und er hätte mich bei dem „Qui proficit in litteris“, mit welchem er seine Ansprache an die Versetzten schloß, nicht so grimmig zu fixiren brauchen – ich und alle wußten, daß es auf mich gemünzt war.

So erschlossen sich mir widerwillig knarrend die Pforten der Prima.

Es war an dem ersten Tage nach den Ferien in der großen Zwischenviertelstunde. Die „Alten“

[94] musterten im Vollgefühl der höheren Würde die „Füchse“ und schienen, nach ihren mißvergnügten Mienen zu schließen, an den neuen Acquisitionen keine besondere Freude zu haben, besonders nicht an Emil Israel, der sich, als der Letzte, noch eben durch das Examen gedrückt hatte und der, in Folgte dessen, jetzt auch wieder als der Letzte still auf seinem Platze saß, verschüchtert durch so viel auf ihn gerichtete übelwollende Blicke, daß er nicht mehr die kurzsichtigen Augen aufzuschlagen wagte. Ich hatte mich mit einem ganz Neuen unterhalten, einem, der von auswärts gekommen und mir durch die ernste Miene seines blassen, feingeschnittenen Gesichtes aufgefallen war. Er hatte mir seinen Namen genannt: Adalbert von Werin, und wir wollten uns eben in eine schwierige Optativ- Frage, die in der eben stattgehabten Homer-Stunde nicht zum Austrag gekommen war, vertiefen, als meine Aufmerksamkeit auf unliebsame Weise abgelenkt wurde.

Vor dem armen Emil stand Astolf von Vogtriz, der Bruder von Ulrich (welcher ebenfalls zu den „Füchsen“ gehörte, während Astolf bereits ein Jahr in der Prima saß), und ließ es sich angelegen sein, den „Judenjungen“ nach Gebühr zu hänseln. Ich hatte das Wort über dem Lärmen, das in der Klasse herrschte, nicht gehört, aber ich las es dem schönen Astolf förmlich von den hochmüthig gekräuselten Lippen und sah, wie es den armen Emil gekränkt, an dem weinerlichen Zucken seines Mundes, das ich so gut kannte. Mit ein paar raschen Schritten war ich von meinem neuen Bekannten weg an Emil’s Seite und ersuchte den Andern mit ruhiger Stimme, trotzdem mir bereits das Blut heftig wallte, „meinen Freund ungeschoren zu lassen“.

Die schönen, hochmüthigen Augen wandten sich auf mich mit einem Blick mehr des Erstaunens als des Zornes.

„Und wer bist Du denn?“ fragte er, mich von Kopf bis zu den Füßen messend; „ich habe, so viel ich weiß, noch nicht die Ehre gehabt.“

„Die Ehre würde allerdings auf Deiner Seite sein,“ erwiderte ich, „nach dem Betragen zu schließen, dessen Du Dich hier eben beflissen hast. Ich meinestheils sehe wenigstens keine Ehre darin, einen offenbar Schwächeren zu hänseln, noch dazu in einer so brutalen Weise.“

Wir standen uns dicht gegenüber mit blassen Gesichtern (wenn meines, wie ich vermuthe, so bleich war wie seines); und daß mein Athem in kurzen Stößen kam und ging, wie der seine, hörte ich deutlich genug. Und jetzt sprühten seine Augen hellen Zorn; ich mußte im nächsten Moment einen Schlag von seiner geballten Faust erwarten. Aber er bezwang sich zu meinem Erstaunen und sagte, sich auf den Hacken umdrehend, nur so über die Schulter:

„Wir sprechen uns ein andermal.“

„Ich trage kein Verlangen danach,“ rief ich hinter ihm her.

Ein paar „Alte“, die der Streit herbeigelockt, schienen einen andern Ausgang erwartet zu haben, und nahmen die Sache, die jener hatte fallen lassen, wieder auf. Höhnende Worte von allen Seiten, drohende Gesten. Und dann weiß ich nicht, hatte ich einen, der sich in beleidigend unbequeme Nähe herangedrängt, zurückgestoßen; hatte einer wirklich Hand an mich gelegt – plötzlich ertönte der Ruf „Hinaus!“ und zwölf Hände zugleich hatten mich erfaßt, die Exekution zur Ausführung zu bringen. Es war nicht so einfach, wie sie sich gedacht haben mochten: gewandt und für meine Jahre stark, wie ich war, hatte ich mich mit einer blitzschnellen gewaltsamen Bewegung von ihnen befreit und war meinerseits zum Angreifer geworden, so daß es mir gelang, mir meine sämmtlichen Gegner vom Leibe zu halten, freilich nicht, ohne die Kunst des Boxens, wie ich sie von meinen Freunden in der Hafengasse erlernt, ausgiebig zur Anwendung zu bringen. Dennoch hätte ich zweifellos der Ueberzahl der Feinde in kürzester Frist erliegen müssen, wie der wackere Ivanhoe den seinen am zweiten Tage des Turniers von Asby, wäre mir nicht, eben wie dem „Deschidado“, ein „Schwarzer Ritter“ gekommen, auf den ich nicht gerechnet hatte.

„Hollah!“ rief eine helle Stimme, die den Lärm übertönte, „sechs gegen einen! Schämt ihr Euch nicht?“

Und zwei Fäuste griffen in dem Schwarm einen und schleuderten ihn sechs Schritt links, und einen Zweiten und schleuderten ihn sechs Schritt nach rechts, und als sie so dem, welchem sie gehörten, freie Bahn gemacht, stand er selbst neben mir – Ulrich von Vogtriz – und seine helle Stimme rief:

„Kommt heran, wenn ihr noch etwas wollt! Das sage ich Euch aber, den Ersten, der sich heranwagt, schlage ich nieder, daß er das Aufstehen vergessen soll.“

Es hatte offenbar Keiner Lust, mit dem Hünen anzubinden, als plötzlich Astolf, der sich übrigens an der Rauferei nicht betheiligt hatte, rasch auf seinen Bruder zuschritt, der ihn mit finster zusammengezogenen Brauen erwartete. Aber bevor noch die beiden Brüder aneinander kamen, hatte ich mich zwischen sie geworfen, Ulrich zurufend:

„Halte mir nur die Anderen vom Leibe! Mit Deinem Bruder werde ich schon selber fertig!“

„Hast Recht,“ sagte Ulrich, bei Seite tretend, und dann zu seinem Bruder in gutmüthigem Spott: „Sieh Dich vor, Astolf! es sollte mir um Deine Nase leid thun. Ich weiß, Du hältst große Stücke darauf.“

Adolf schleuderte ihm ein heftiges Wort zu und wandte sich gegen mich, aber es sollte uns glücklicherweise eine Fortsetzung der leidigen, für eine Prima unerhörten Scene erspart werden; der Ordinarius, Professor Willy, trat herein, ließ unter den halb gesenkten Lidern für ein paar Momente seinen Blick über unsere glühenden Gesichter schweifen, machte dann aber mit seiner sanften Stimme nur eine Bemerkung über den häßlichen Staub, welchen wir doch schon um unsertwillen zu erregen vermeiden sollten, bestieg das Katheder und die Lektion begann.

Eine Litteraturlektion, in der das Thema zu unserm ersten deutschen Aufsatz: „Schiller’s Idealismus, mit besonderer Beziehung auf ‚Das Lied von der Glocke‘“ von ihm exponirt wurde in einem Frage- und Antwortspiel, das er geschickt zu leiten wußte und von Zeit zu Zeit durch Exkurse unterbrach, in welchem er schwierigere Punkte zusammenhängend erläuterte. Es war für mich ein eigener Zauber in diesen Ergießungen, denn so mußte man sie wohl nennen. Offenbar war das Herz des Mannes in den Worten die ihm in einem sanft dahingleitenden Strom von den schöngeschwungenen Lippen flossen. Und manchmal wallte es aus dem Strom auf, aber nicht in unruhigen Wirbeln, sondern wie wenn eine Quelle aus der Tiefe nach oben dränge, ihr lauteres Wasser mit dem des Stromes zu mischen, und dann hoben sich wohl auch die halb gesenkten Lider vollends: man durfte in ein paar große, fast schwärzlich blaue Augen blicken, und die schöngeschwungenen Lippen zitterten. Ich hatte dergleichen noch nie erfahren und vernommen. Das war nicht des Pastors Feuereifer, der den Hörer versengte; das war nicht die kühle Logik, mit welcher Professor von Hunnius seinen Schülern die konfusen Köpfe zurechtsetzte – ein paarmal wurde ich wohl an den Vater erinnert, aber doch nur, wie man sich bei einer prunkhaften Zierblume, deren Duft uns berauscht, der bescheidenen Wiesenblume erinnert. Ich fühlte förmlich, wie mir dieser Rausch zu Kopf stieg, aber willig gab ich mich einer Empfindung hin, die mich über mich selbst hinauszuheben schien. Wie gebannt hing mein Blick an dem Redner, und es mochte wohl deßhalb sein, daß auch sein Blick sich wiederholt auf mich wandte und er zuletzt nur noch zu mir zu sprechen schien. Jedenfalls hatte ich alle Anderen und alles Andere – und gewiß die eben stattgehabte Scene – völlig vergessen und erwachte, als die Stunde zu Ende war, mit einem tiefen Athemzuge, wie aus einem schönen Traume.

Und in dieser traumhaften Stimmung war ich noch, als ich durch die Straßen, in welchen heller warmer Frühlingssonnenschein lag, nach Hause schlenderte. Allein: Emil Israel, mein sonstiger stetiger Begleiter auf den Schulwegen, mußte vorausgelaufen sein. Ich mochte ihn heute leicht entbehren. Durfte ich doch überzeugt sein, daß der gute Junge von dem Vortrage unseres neuen Professors kaum ein Wort verstanden habe! Ich aber wälzte, was ich vernommen, eifrig in meiner bewegten Seele und schritt so, nachdenklich, vor mich hin, als sich plötzlich der „ganz Neue“, Adalbert von Werin, zu mir gesellte. Es stellte sich heraus, daß wir so ziemlich denselben Weg hatten: er wohnte mit Mutter und Schwester in einer der Hafengasse zunächst benachbarten Straße, die er mir nannte. Die Straße war womöglich noch weniger vornehm als die Hafengasse, ja, fast verrufen, und ich sagte mir sofort mit jenem Scharfsinn, welchen selbst arme Knaben für dergleichen Dinge haben, daß Leute, die sich da einquartierten, mindestens nicht reich sein könnten. Eine verstohlene Musterung, die ich jetzt zum ersten Male mit dem Anzug meines neuen [95] Gefährten anstellte, schien das zu bestätigen: ein peinlich sauberer, aber auch ebenso dürftiger und augenscheinlich von einer wenig geschickten Hand, vermuthlich zu Hause gefertigter Anzug, der etwa noch zu der nachlässigen Haltung der lang aufgeschossenen hageren Gestalt, aber gar nicht zu dem vornehm spöttischen Ausdruck des feinen blassen Gesichtes stimmte. Und dieser Ausdruck trat noch deutlicher hervor, als er jetzt, nachdem wir uns so weit gefunden, plötzlich fragte:

„Du schienst ja sehr erbaut von all’ den schönen Dingen, die uns der Herr Professor aufgetischt hat?“

„Ja,“ sagte ich erstaunt; „es scheint, Du nicht?“

„Nein, ganz und gar nicht.“

„Und warum nicht?“

„Das ist nicht so einfach. Ich will versuchen, es in dem Aufsatz zusammenzubringen, vorausgesetzt, ich komme nicht, wie ich vermuthe, vorher zu der Einsicht, daß ich besser thue, meine Weisheit für mich zu behalten.“

„Ich möchte gern ein Stück davon hören.“

„Glaub’ ich Dir. Vielleicht wenn wir einmal näher mit einander bekannt sind. Vorläufig meine ich, Du hättest den besten Kommentar zu des Professors Friedens- und Eintrachtspredigt an dem erbaulichen Spektakulo vor der Stunde.“

„Was hat das mit der ,Glocke‘ zu thun?“

„Es ist eben ein Kommentar. Wie heißt es doch gleich:

,Dem Schicksal leihe sie die Zunge;
Selbst herzlos, ohne Mitgefühl,
Begleite sie mit ihrem Schwunge
Des Lebens wechselvolles Spiel.‘

Nun, und das Schicksal von langnasigen Judenjungen ist, daß sie von hochnasigen adligen Jungen geprügelt werden und daß, um etwas Abwechselung in das Spiel zu bringen, ein braver Bürgerssohn – Du sagtest, Dein Vater sei Tischler – sich für den Juden mit den Adligen rauft, damit zuguterletzt der Jude beiden, Adligen und Bürgerlichen, die Haut über die Ohren zieht. Und da die Glocke eingestandenermaßen ,selbst herzlos‘ ist, so kann sie ja auch ,ohne Mitgefühl‘ die saubere Bescheerung mit ansehen oder gefälligst ,mit dem Schwunge‘ begleiten.“

„Wenn Du es so nimmst,“ sagte ich, „aber so ist es eben nicht zu nehmen. Einmal ist das ,Schicksal‘, wie wir vom Professor gehört haben, eine Idee, welche Schiller aus der griechischen Weltanschauung in seinen idealen Humanismus hinüber genommen hat, und auf die wir deßhalb nicht allzu viel Gewicht legen dürfen. Und zweitens, wenn das Schicksal oder das Los des Menschen hart ist und Kampf und Zwietracht unter ihnen herrscht, so ist es ja eben die Aufgabe des Idealismus und Humanismus, diese Gegensätze zu mildern, auszugleichen und uns durch die Schönheit zur Freiheit, das heißt zur Einigkeit und Brüderlichkeit zu führen.“

Er war stehen geblieben und blickte mich mit seinem spöttischen Lächeln an:

„Der Tausend! hast Du ein famoses Gedächtniß! gratulire zu der Nummer Eins unter dem Aufsatze! Den bekannten ,ewig Blinden‘ läßt Du aus der schönen Geschichte wohl besser weg? Du weißt, der verdammte Kerl versteht keinen Spaß und hat eine verzweifelte Neigung, mit des Lichtes Himmelsfackel auf Erden etwas unvorsichtig umzugehen, was ihm, in Anbetracht, daß sie ihm nicht strahlt, auch weiter nicht groß zu verdenken ist. Das sind arge Ketzereien, nicht wahr? Vielleicht denkst Du etwas anders darüber, wenn Du so alt bist wie ich.“

Wir schritten schweigend neben einander hin. Ich war nichts weniger als überzeugt, aber es war doch eine Saite in meiner Seele berührt, die von den krausen Reden des seltsamen Genossen wiederklang. Ich weiß nicht, weßhalb mir plötzlich das Bild einfiel von des Vaters Aeltervater, den sie auf einen Hirsch gebunden hatten. Mit fast scheuem Blicke betrachtete ich meinen seltsamen Gefährten, der, ohne für die ihm doch neue Scenerie der Straßen die mindeste Aufmerksamkeit zu zeigen, neben mir herschlenderte.

„Wie alt bist Du?“ fragte ich.

„Achtzehn,“ erwiderte er. „Ich war als Kind viel krank, das hat mich zurückgebracht. Auch habe ich mich erst jetzt entschieden, daß ich studiren will. Vorher sollte ich Soldat werden; bin auch schon ein paar Jahre auf einer Kadettenschule gewesen.“

Wir waren an der Ecke seiner Straße angekommen. Er deutete auf ein Haus linker Hand und sagte:

„Da, in der Spelunke, wohnen wir, Vielleicht besuchst Du mich einmal, wenn Du Zeit hast. Meine Mutter ist ein wenig wunderlich, was ich Dir sagen zu müssen glaube, damit Du an manchen Reden, die sie führt, keinen Anstoß nimmst. Uebrigens sehr gescheidt. Von meiner Schwester sage ich nichts: sie wird Dir schon gefallen. Und, welin ich mich nicht irre, Du ihr auch. Wirst Du kommen?“

Ich versprach es. Er nickte mir zu und schlenderte die Straße hinauf. Ein paar kleine Jungen balgten sich schreiend und heulend in seinem Wege. Er ging um sie herum, aber ohne auch nur nach ihnen hinzublicken, und trat in das bezeichnete Haus, das nicht gerade eine Spelunke, wie er sagte, aber gewiß auch keine Wohnung war, wie sie sich nach meinen Begriffen für eine adlige Familie zu schicken schien.


2.

Ich war während der letzten Wochen selten in das Israel’sche Haus gekommen. Meine Einsegnungshändel, dann die Vorbereitungen zu dem Examen, das ich ehrenhalber glänzend absolviren mußte, hatten mir wenig Zeit übrig gelassen, und dieses Wenige hatte ich darauf verwandt, Freund Emil „einzupauken“. Es war das eine harte Arbeit gewesen, und mehr als einmal hatte ich es schier aufgegeben, dem guten Jungen, der doch mit den grausamsten Logarithmen Fangball spielte, die Geheimnisse des Accusativ cum Infinitiv jemals beizubringen. Auch heute hatte er mir durch einen haarsträubenden Optativ, den er in der Homerstunde verbrochen, die Schamröthe in die Wangen getrieben; dazu der Streit, in welchen er mich in der Zwischenpause verwickelt, und der meine ohnehin schwierige Stellung in der Schule nur noch mehr gefährdete, ohne daß er, um dessenwillen ich mich so ausgesetzt, das kleinste Dankeswort für mich gehabt hätte – mit einem Worte: ich war böse auf ihn, und gerade deßhalb ging ich gegen Abend hinüber, ihm meine Meinung zu sagen.

ich fand Jettchen allein in dem dämmerigen Wohnzimmer, in welchem mir heute das koncentrirte Parfum der vier Getreidearten auf dem Boden ausgesprochener schien, als je zuvor. Sie kam mir mit ihrer gewohnten Taubenschüchternheit entgegen und reichte mir die kleine magere Hand mit niedergeschlagenen Augen, denen ich sofort ansah, daß sie geweint hatten.

„was giebt es, Jettchen?“ fragte ich. „Der unglückliche Emil hat doch nicht gar –“

„Ja, es ist Emil’s wegen,“ sagte sie schnell. „Ich freue mich, daß Du gekommen bist; ich wollte so gern mit Dir darüber reden. Wir sind für den Augenblick ganz allein.“

Wir hatten uns in das Fenster hinter die mit grüner Gaze bespannten Rahmen gesetzt, durch welche ein abscheuliches Licht auf das Gesichtchen mit den rothgeweinten Augen mir gegenüber fiel. Die Dame meiner Ritterthaten kam mir zum ersten Male entschieden häßlich vor. Ich war in der übelsten Laune, die ich höchst unritterlich an dem schuldlosen Mädchen ausließ. Es sei erbärmlich vom Emil, so aus der Schule zu schwatzen und seine Leute zu Hause mit dergleichen Albernheiten zu behelligen. Wenn das noch einmal vorkomme, würde ich meine Hand von ihm ziehen und ihn seinem Schicksal überlassen.

„Du wirst Dich von jetzt nicht mehr so mit ihm zu quälen brauchen,“ sagte das arme, durch meine Heftigkeit vollends verschüchterte Kind. „Emil soll von der Schule abgehen.“

„Wie?“ rief ich erstaunt.

Sie horchte ängstlich hin, ob sich im Hause oder an der Hausthür etwas rege, und fuhr mit leiser, hastiger Stimme fort:

„Es ist nicht recht, aber Dir muß ich es sagen. Vater war schon vorher entschieden, daß Emil nur noch nach Prima kommen solle, um Einjähriger werden zu können, weißt Du. Aber Doktor Lewin, unser neuer Arzt, weißt Du, hat dem Vater versichert, es sei ganz unmöglich; Emil müsse zurückgewiesen werden, schon seiner Augen wegen, er übernehme die Garantie dafür. So wäre auch das garstige Examen unnöthig gewesen – ich meine garstig für Dich, denn Du hast Dich ja so mit ihm plagen müssen – aber Vater bestand darauf, er solle wenigstens einen Tag in Prima gesessen haben.“

„Nun,“ sagte ich, „das kommt mir freilich unerwartet, aber schlimm ist das doch nicht. Warum hast Du denn darüber geweint?“

[96] Sie hob für einen Moment die schweren Lider, blickte aber sofort wieder in den Schoß und erwiderte fast tonlos:

„Darüber nicht. Ich freue mich sogar, daß Du ihn los wirst. Je älter Ihr wurdet, eine desto schwerere Last wurde er für Dich. Einmal des Lernens wegen und dann der andern Knaben wegen. Es war schon schlimm genug hier in der Gasse, und ich habe mich oft halb zu Tode geängstigt; aber in der Schule ist es noch schlimmer – viel schlimmer, zum Beispiel heute: Du hast Dich gegen zwölf Gegner wehren müssen –“

„Sechs,“ warf ich stolz bescheiden ein.

„Gleichviel – es bringt Dir nur Schaden, zumal Du wegen der anderen Sache schon so schlecht angeschriebem bist. Und deßhalb finde ich es auch nicht recht –“

Sie stockte und fuhr dann mit verhaltenem Weinen fort:

„Vater hätte doch nur einfach zu sagen brauchen, daß Emil abgehen solle, da ja doch schon alles vorher beschlossen war. Aber er ist so außer sich über die Sache in der Schule heute – und nun ist er zum Direktor gegangen, um sich darüber zu beklagen, und daß er deßhalb Emil vom Gymnasium nehmen müsse. Ich habe ihn so gebeten, er solle davon nicht reden, denn jetzt würde von der Sache gewiß nicht weiter gesprochen, während es nun herauskommt, daß Du Dich gleich am ersten Tage in der Klasse gerauft hast –“

Sie konnte nicht weiter vor dem Weinen, das sich in unaufhaltsamen Thränen Luft machte; kaum, daß sie noch hervorzubringen vermochte:

„Nun bist Du gewiß bös und willst nichts mehr mit uns zu thun haben."

Ich war allerdings sehr entrüstet. Wer konnte wissen, wie der mir feindlich gesinnte Direktor die leidige Affaire gegen mich ausbeutete, nachdem ihm dieselbe officiell als Grund des Abgangs eines Schülers mitgetheilt war. Ich hatte freilich den Streit nicht provocirt; aber die Vogtriz waren seine Pensionäre, und ich hatte gegründete Veranlassung, auf den Gerechtigkeitssinn des Herrn Direktors nicht allzuvertrauensvoll zu bauen.

Dies überdenkend, saß ich in stummem Unmuth da, während Jettchen jetzt leiser weiter weinte, als, nun doch von uns unerwartet und überhört, die Mutter hereintrat. Sie sah sofort, daß Jettchen mir alles gesagt hatte, und auch ihre Sorge war, wie ich es nehmen würde. Sogar ihre Entschuldigung war dieselbe: der Vater sei außer sich gewesen.

Ich weiß nicht, war es die Wiederholung der identischen Worte, war es eine fast instinktive Empfindung, die im Grunde doch aus meiner intimen Kenntniß der Personen hervorging: ich konnte an das „Außersichsein“ von Isaak Israel über eine derartige Veranlassung nicht glauben. Und hatte weiter den Verdacht, daß auch die beiden Frauen daran nicht glaubten. Ich hütete mich natürlich zu sagen, was in mir vorging, und wurde auch der Mühe, meinerseits zu lügen und die Frauen durch gespielte Unbefangenheit zu beruhigen, überhoben, da jetzt die Hausthürschelle klapperte und Herr Israel mit seiner quecksilbernen Beweglichkeit in das Zimmer trippelte. Er stutzte, als er mich sah, faßte sich aber alsbald und bat mich, ihm in seinem Komptoir einige Minuten zu schenken. Ich folgte ihm sofort über den Flur, wo er mit zwei Schlüsseln: einem großen und einem kleinen, die Thür zum Komptoir aufsperrte und mich hinein und auf ein hartes zweisitziges Sofa komplimentierte, während er selbst auf dem hohen Drehstuhl vor dem Stehpult niederhockte.

Doch nur für wenige Augenblicke, um dann aufzuspringen und heftig gestikulirend vor mir in dem schmalen Zimmerchen zwischen dem großen Geldschrank im Hintergrunde und dem Stehpult am Fenster auf- und abzulaufen:

„Das Maß sei voll; er könne und wolle nicht mehr geduldig mit ansehen, wie sein Emil, sein einziger Sohn, mißhandelt werde aus keinem anderen Grunde, als weil er ein Jude sei und fest im Glauben seiner Väter stehe. Bis jetzt habe er es ertragen in der Hoffnung, daß aus den oberen Klassen einer gelehrten Schule dergleichen Brutalitäten ein für allemal verbannt seien. Er sei mir ja persönlich auf das Innigste dankbar für den Schutz, den ich nach wie vor seinem Emil gewähre; aber dieser Schutz genüge ihm nicht; er wolle den des Gesetzes. Und der werde ihm nicht werden. Diese Ueberzeugung habe er aus seiner Konferenz mit dem Direktor gewonnen„ von welchem er eben komme. Der Direktor habe nicht versprochen, den jungen Herrn Astolf von Vogtriz zu bestrafen, sondern den ,Schuldigen‘, und wer der sei, werde erst die Untersuchung herausstellen. – ,Nun Herr Direktor,‘ habe ich gesagt, ‚ich habe es etwas eilig und keine Zeit, das Resultat abzuwarten, bei dem sich am Ende herausstellt, daß mein Emil ,der Schuldige‘ ist. Ich ziehe es vor, ihn aus einer Anstalt zu nehmen, in welcher ein Knabe selbst in der obersten Klasse nicht ungestraft Jude sein kann. Lieber soll er drei Jahre die Muskete tragen; lieber unter der Last, der seine Schultern nicht gewachsen sind, zusammenbrechen, als noch einen Tag länger die Zielscheibe vergifteter Pfeile sein.‘ – Das habe ich gesagt, und das Wort werde ich halten, so wahr ich Isaak Israel heiße! He?“

Er hatte wieder auf dem hochbeinigen Schemel gesessen, von dem er nun bei den letzten Worten abermals wie elektrisirt herabhüpfte. Ich hatte den Mann nie so gesehen. Ich traute meinen Augen kaum und ebenso wenig meinen Ohren. Was er da vorbrachte, war ja nach dem, was ich eben drüben aus Jettchens wahrhaftigem Munde gehört, ganz offenbar gelogen. Er würde Emil auf jeden Fall jetzt aus der Schule genommen haben. Welchen Grund hatte er, ein anderes Motiv vorzuschützen und aus einer einfachen Sache eine Haupt- und Staatsaktion zu machen?

Er war in dem Hintergrunde des Zimmerchens vor dem großen Geldschranke stehen geblieben, mir den Rücken zuwendend und mit den Schlüsseln in der Tasche klimpernd. Plötzlich drehte er sich wieder um und rief mit heiserer Stimme:

„Wenn der Herr Direktor sagt: es müsse freilich Aergerniß in die Welt kommen, wehe aber Dem, durch den es käme, und damit meinen Emil meint – es giebt viel Aergerniß in der Welt. He? Mir sind Leute ein Aergerniß, die nicht rechnen und nie mit ihrem Gelde auskommen können und sich dabei den Luxus hochmüthiger Herren Söhne verstatten zu dürfen glauben. Wir werden uns nächsten Johanni wieder sprechen, der Herr von Vogtriz auf Nonnendorf und ich, wir werden uns wieder sprechen! – Wollen Sie das Wechselchen prolongiren, lieber Israel? – Thut mir leid, Herr Baron, kann’s beim besten Willen nicht so lang machen wie eine Judennase! He?“

Isaak Israel lachte, und es klang fast wie das Klappern der Hausthürschelle. Es beleidigte mein Ohr, wie die Reden, die der Mann führte, mich innerlich verletzt, ja empört hatten. Ich verstand zwar von Geschäften ganz und gar nichts, hatte nur eine äußerst vage Vorstellung von einem Wechsel, glaubte aber annehmen zu dürfen, daß es ein gefährliches Ding sei, welches Dem, der es in seinem eisernen Geldschrank habe, einen großen Vortheil gebe gegen Den, von welchem er es habe, und daß Herr Israel sich dieses Vortheils gegen den Vater der beiden Vogtriz bedienen wollte, und um sich desselben recht nach Herzenslust bedienen zu können, jetzt den Beleidigten spiele, ohne danach zu fragen, ob er mich – den Freund seines Sohnes – dadurch nicht in die größten Ungelegenheiten bringe. Ja, war denn das nicht buchstäblich, wie mein spöttischer Begleiter auf dem Nachhausewege gesagt hatte? Hatte ich, der Bürgersohn, mich nicht für den Judensohn nur deßhalb mit den Adligen geschlagen, damit jetzt der Vater Jude sein Müthchen kühle an den Adligen auf Kosten des Bürgersohnes?

Ich erschrak über das grelle Licht, das da plötzlich in meine Seele fiel. Bisher hatte ich den kleinen Mann, der mich immer mit so ausgesuchter Höflichkeit behandelte, den ich gegen die Arbeiter und nun gar gegen seine Familie nie anders als wiederum höflich und freundlich gesehen, für das harmloseste Wesen von der Welt gehalten. Nun, wie er da vor mir in dem Zimmerchen hin- und herhuschte mit seltsam zappelnden Bewegungen während des eifrigen Sprechens, das beinahe ein Kreischen war, bald die rechte, bald die linke Hand an das Ohr legend, um zu hören, ob sich auf dem Flure etwas rege, oder ich vielleicht ein Wort geäußert habe, erschien er mir wie ein böses Thier, wie eine große Ohreule, die nach Mäusen jagt. Ich konnte ihm das natürlich nicht sagen und saß schweigend da, aber der Ausdruck meiner Mienen mochte beredt genug gewesen sein, oder es war dem klugen Manne auch von selbst beigefallen, daß er seine Karten denn doch allzu offen gezeigt, selbst einem jungen Menschen gegenüber, der von dem Spiele des Lebens so wenig verstand. Wieder legte er die Hand an das Ohr: ich saß noch immer stumm. Er kam zu dem Drehstuhle zurück, hüpfte hinauf, räusperte sich und

[97]

Das Abbringen der Fahnen zum Kaiserlichen Palais in Berlin.
Nach einer Moment-Photographie von M. Ziesler in Berlin.

[98] sagte – jetzt in einem ganz anderen, seinem gewohnten Tone schmeichelnder Höflichkeit, welcher manchmal sogar etwas Schalkhaftes hatte:

„Habe Ihnen eben ein abschreckendes Beispiel gegeben, lieber Herr Lorenz, he? Ja, ja, alte Leute sollten sich nicht ereifern. Wenn das am dürren Holze geschieht, was soll an Eurem jungen grünen Holze geschehen? Und was können Sie dafür, daß jetzt die Herren Gelehrten, wie früher die Herren Adligen, ihr Müthchen kühlen wollen an dem armen Juden? Der arme Jude wird ihnen zeigen – sagten Sie etwas? he? Nun, ich dachte, Sie würden mich schelten, weil ich zu dem Herrn Direktor gegangen bin. War übrigens so weit ganz höflich, der Herr Direktor. Und daß Ihnen aus der Sache eine Unannehmlichkeit erwächst, daran ist nicht zu denken. Da habe ich vorgebeugt. Und auch meinem Emil dürfen Sie es nicht nachtragen; Sie müssen sein Freund bleiben. Was wäre mein Emil ohne Sie! Und – Sie sagten etwas? he? Nun, ich wollte eben bemerken: ich würde glücklich sein, wenn ich etwas dazu thun könnte, Sie meinem Emil auf die Dauer zu erhalten, immer an seiner Seite, als sein Berather und starker Helfer. Mein Emil ist nicht stark –“

„Außer im Rechnen,“ murmelte ich.

Herr Israel hatte es diesmal doch gehört, ohne die Hand an das Ohr gelegt zu haben. Er lächelte schalkhaft:

„Außer im Rechnen! he? ganz recht. Und deßhalb soll er auch Kaufmann werden – ich habe bereits vorläufig mit Konsul Riekelmann gesprochen – konfuser Kopf, aber doch die größte Firma hier am Platze – was ich sagen wollte! ja: zum Kaufmann gehört mehr als bloß Rechnen. Dazu gehört Muth, Welt- und Menschenkenntniß, ein feines Benehmen, ein einnehmendes Exterieur – lauter Dinge, die Sie entweder bereits besitzen oder sicher mit den Jahren sich spielend aneignen werden. Sie sagten? he? Wozu auch: Sie sind viel zu klug, um es nicht längst gewußt zu haben, wo ich hinaus will. Was könnten Sie, wie heute die Geschäftslage ist, Besseres thun, als Kaufmann werden? Ihr Stiefvater ist ein braver Mann, aber – unter uns – in bedenklicher Weise unpraktisch. Ich sehe die Zeit kommem, wo er nur noch mit Schaden arbeitet. Ihre Frau Mutter hat, glaube ich, einiges Vermögen – Sie sagten etwas? he? – Nun, so muß ich freilich offen sein. Ihre Frau Mutter hat einiges Vermögen, das in meinem Geschäft angelegt ist, he? und das ich höher verzinse, als sonst üblich. Es ist so viel: Sie könnten dereinst von den Zinsen leben, das heißt: bei bescheidenen Ansprüchen. Aber wer steht Ihnen dafür, daß Ihre Frau Mutter, im Falle das Unglück wollte, daß Ihr lieber Stiefvater stürbe, nicht wieder heirathete? Sie sagten? he? Sie halten es für unwahrscheinlich? Ganz und gar nicht: Ihre Frau Mutter ist nach meiner Rechnung kaum in der Mitte der Dreißiger, he? und eine selten schöne Dame, die jetzt für die Andacht lebt, aber das kann sich ändern. Und Sie sind dann auf sich angewiesen – à la bonne heure! Robinson Crusoe? he? Lamas – Kartoffeln in der Asche – Goldklumpen? he? Alles Hirngespinnste, glauben Sie mir: pure Hirngespinnste! In der Welt, wie sie geht und steht, da heißt es Konnexion, Protektion, Gehorsamsein, Katzenbuckeln, den Mantel nach dem Wind hängen, Ja und Nein sagen in einem Athem. Sie sagten? Das sei nicht Ihre Art? he? Das ist es ja gerade, weßhalb Sie Kaufmann werden müssen. Heut zu Tage giebt es nur einen freien Mann: den Kaufmann – natürlich, wenn er Geld hat. Aber dazu ist er ja eben Kaufmann, um welches zu machen. Es giebt heut zu Tage keine Macht, als das Geld. Alles Andere scheint nur Macht, ist aber keine. Sie müssen Alle zu uns kommen: Edelleute, Bauern, Fürsten, Konservative, Liberale, selbst die Socialdemokraten – Alle! Alle! Alle! he?“

Der kleine Mann zappelte mit Händen und Füßen, daß der Drehstuhl in die Wette mit seiner Stimme knarrte, und ich dachte, er müsse herunterfallen. Der komische Anblick und des zappelnden Mannes wunderliche Sprechweise mit den „He’s“ und „Sie sagten?“ wirkten viel stärker als seine Lobpreisung eines Dinges, das ich so gründlich verachtete, wie das Geld. Auch war ich für meine Jahre und mein Temperament heute schon zu lange ernsthaft gewesen – ich versuchte es noch damit, daß ich die Lippen auf einander biß, aber es that’s nicht, und ich brach in ein schallendes Gelächter aus.

„He? He?“ sagte der kleine Mann mit beiden Händen an den Ohren. Ich sprang von dem harten Sofa auf und trat zu ihm.

„Verzeihen Sie, Herr Israel – es ist sehr unschicklich von mir – aber ich: ein Kaufmann und Geld machen! – Sehen Sie, da könnten Sie mich ebenso gut lebendig in Ihren eisernen Schrank –“

Das Lachen wollte wieder ausbrechen, aber ich bezwang mich und sagte ganz ernsthaft:

„Nein, lieber Herr Israel, wenn ich was vermöchte, dann würde ich dafür sorgen, daß es gar kein Geld mehr in der Welt gäbe und Keiner mehr zu katzenbuckeln brauchte und alle Menschen freie Menschen wären, alle, alle!“

Herr Israel saß da, ohne sich zu regen – mit dem auf die Seite geneigten Kopfe, der langen, krummen Nase, den runden, zu mir aufblinzelnden Augen und der Hand, die noch an seinem rechten Ohre lag, mehr als je einer alten Eule ähnlich – wie ich wähnte, in tiefstem Nachdenken über das, was ich eben gesagt hatte, und was mir in meinem jugendlichen Dünkel als der Abgrund der Weisheit erschien.

Und im Vollgefühle dieses meines intellektuellen und moralischen Triumphes über den armen banausischen Geldmacher stolzirte ich zum Komptoir und zum Hause hinaus.

Hinter mir, als ich die Hausthür schloß, klapperte die Schelle überlaut. Wäre ich nicht ein Triumphator gewesen, hätte ich wohl daraus das Lachen hören können, das auf seinem Drehstuhle Angesichts seines eisernen Geldschrankes sicherlich in diesem Augenblicke Isaak Israel hinter dem jugendlichen Phantasten gelacht hat.

(Fortsetzung folgt.)

Allotriophagie.

Plauderei über allerlei Esser und Fresser. 0 Von Rudolf Kleinpaul.

Vor Kurzem hat der Fall großes Aufsehen erregt, daß der Barbier Möcke in Dresden ein Oberkiefergebiß verschluckt hatte und daß dann dieses Gebiß aus dem Magen durch Operation entfernt ward. Man erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß eine ähnliche Operation bereits sechsmal ausgeführt worden ist: das erste Mal hat es sich um ein verschlucktes Messer, das zweite Mal um einen Löffel, das dritte Mal um eine Gabel, das vierte Mal um eine abgebrochene Schlundsonde aus Draht, das fünfte Mal um eine Haarfilzgeschwulst, entstanden durch jahrelanges Abbeißen der Spitzen des eigenen Zopfes, das sechste Mal gleichfalls um ein Gebiß gehandelt, und zwar ist der Erfolg dieser Operationen meist ein glücklicher gewesen.

Mir brachte der Dresdener Barbier lebhaft den Florentiner Gabelverschlucker Egisto Cipriani in Erinnerung, der als „Uomo della Forchetta“ in Italien eine gewisse Popularität genießt und den ich vor zehn Jahren in Florenz öfters gesehen und gesprochen habe. Der junge Mann, der damals etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, hatte einmal in einem öffentlichen Lokale zum Scherze eine 21 Centimeter lange Gabel von Komposition soweit wie möglich in den Rachen gesteckt und dann unwillkürlich hinuntergeschlungen, die er nun wohlgemuth und ohne große Beschwerden mit sich herumtrug. Er schlug sogar Kapital daraus, denn er ließ sich im Tivoli sehen, allwo er in grünseidenem Wamse und rothem Trikot ganze Eier hinunterstürzte, lange Degen in seinen Schlund einführte und darauf sogar noch eine Flinte abschoß. Aehnliche Vorstellungen sind bereits im Alterthume häufig gewesen, wie dies aus einer Anekdote des Plutarch in der Lebensbeschreibung des Lykurg zu ersehen ist – ein Bewohner Attikas spottet über die Kleinheit der spartanischen Schwerter, welche von den Gauklern in den Theatern leicht verschlungen werden. „Aber gut erreichen wir mit unseren Dolchen die Feinde,“ antwortete Agis.

Daß überhaupt Menschen aus Versehen und wider Willen einen ungenießbaren und unverdaulichen Gegenstand verschlucken, kommt öfter vor, als man denkt. Charakteristisch dafür ist [99] folgende Geschichte. Ein französischer Familienvater läßt den Herrn Guignol zu sich kommen, um Unterricht in der Kunst des Pulcinell zu nehmen: er möchte seinen Kindern, die für das Puppentheater schwärmen, eine kleine Freude machen. Der gute Vater will also etwas profitiren, aber er weiß nicht, daß sich die Pulcinellstimme nur vermittelst einer sogenannten Praktik hervorbringen läßt, eines Instrumentes, ähnlich einem Brummeisen oder einer Maultrommel, welches aus zwei Stückchen Blech mit einem Zünglein von Zwirnband in der Mitte besteht. „Da,“ sagt Guignol, „Sie haben keine Praktik, also nehmen Sie meine.“ Unser Bourgeois ist nicht weiter ekel, er steckt Guignol’s Praktik in den Mund. Aber er ist das Ding nicht gewohnt, er kann es nicht regieren, und bei jeder Bewegung seiner Zunge kommt er in Gefahr, die Praktik zu verschlucken. „O, fürchten Sie sich nicht,“ beruhigt ihn Guignol; „das würde Ihnen gar nichts schaden. Sehen Sie, eben die hier, die habe ich schon mehr als zehnmal verschluckt.“

Am Dreikönigstage wird bekanntlich in Frankreich beim Essen ein Kuchen unter die Gäste vertheilt, worin eine Bohne ist: wer die Bohne bekommt, heißt Bohnenkönig. Natürlich muß die Bohne vom Inhaber gegessen werden. Neuerdings hat man an Stelle der Bohnen Porcellanpüppchen (Bébés en porcelaine) treten lassen: sie werden auch verschluckt.

Ja, selbst das ist nicht ungewöhnlich, daß Leute in Gefahr, namentlich auf Reisen, Werthgegenstände mit Bewußtsein verschlucken, um sie nicht Räubern in die Hände fallen zu lassen; daß sie, wie die Araber sagen, ihre Barschaft zwischen Leib und Seele, das heißt, in den eigenen Eingeweiden bergen. Sie werden von den Beduinen Goldmägen genannt, und es ist für den ehrlichen Mann sehr mißlich, den Verdacht eines solchen zu erwecken, denn die Barbaren schlitzen ihm den Bauch auf oder geben ihm wenigstens wochenlang Bitterwasser ein. Noch in unserem Jahrhundert ist dergleichen in Tunis geschehen. Nebenher läuft in Arabien die andere Praxis, vor einer Reise in räuberische Distrikte Edelsteine und Perlen in ein silbernes Büchschen mit abgerundeten Ecken zu thun und dieses in eine zu dem Behufe (am linken Oberarme) geschnittene Wunde, welche man dann wieder zuheilen läßt, zu stecken. Daß sich aber die zuerst erwähnte Methode unter Umständen gut bewährt, zeigt der Fall des französischen Numismatikers Vaillant, welcher im 17. Jahrhundert Aegypten, Persien und andere fremde Länder durchreiste, um Münzen des römischen Ost- und Westreichs zu sammeln. Er wurde einst auf der Rückkehr von Rom mit mehreren anderen Franzosen von einem algerischen Korsaren aufgegriffen, beraubt, nach Algier gebracht und erst nach Monaten freigelassen. Man gab ihm 20 goldene Medaillen zurück, die man ihm abgenommen hatte, und er schiffte sich nach Marseille ein. Wiederum wurde sein Schiff durch Piraten von Saleh verfolgt. Jetzt entschloß sich Vaillant kurz und gut, seine Medaillen zu verschlucken. Doch diesmal erhob sich ein Wind, der marokkanische Korsar konnte den Franzosen nichts anhaben, und der moderne Midas kam mit seinen Schätzen im Leibe nach mancherlei Wechselfällen endlich glücklich in der Nähe der Rhonemündungen ans Land. Nun aber war er in großer Verlegenheit: die Medaillen, die an zehn Loth wiegen konnten, drückten ihn im Magen. Er befragte die Aerzte, sie konnten sich darüber, was er vornehmen sollte, nicht einigen; in seiner Ungewißheit that er nichts. Die Natur kam ihm selbst zu Hilfe, und als er in Lyon anlangte, hatte er bereits die Hälfte seiner Münzen wieder. Er besuchte einen Freund. dem er seine Abenteuer erzählte; er zeigte ihm die Medaillen, die da waren, und beschrieb ihm diejenigen, die er noch erwartete. Unter den letzteren war ein Otho, den sein Freund gern haben wollte. Vaillant sollte ihm diese Medaille für einen bestimmten Preis ablassen. Sie wurden auch wirklich handelseinig, und zum Glück war Vaillant noch an selbigem Tage in der Lage, Wort zu halten. Die interessanten Stücke finden sich gegenwärtig in der reichen Sammlung von Münzen und Medaillen in der Nationalbibliothek zu Paris.

Trauriger endete der Versuch des unglücklichen französischen Dichters Nicolas Gilbert, den Schlüssel seiner Kassette zu verschlucken. Er war vom Pferde gestürzt und wurde in das Pariser Krankenhaus Hôtel Dieu mit schweren Verletzungen gebracht. Der arme Mensch, bekanntlich ein geschworener Feind der Encyklopädisten, mag geglaubt haben, daß ihm die Philosophen seine Manuskripte oder andere Werthpapiere stehlen wollten, die er in gedachter Kassette verschlossen hielt, und verschluckte den Schlüssel zu derselben, der ihm in der Speiseröhre stecken blieb. Einige behaupten auch, er habe sich auf diese Weise das Leben nehmen wollen. Unter furchtbaren Schmerzen wies er beständig auf den Schlund und griff sich mit den Fingern an den Hals, aber Niemand verstand ihn, man wußte nicht, was er mit dieser Bewegung sagen wollte. So starb der französische Juvenal, der noch acht Tage vorher in einem lichten Augenblicke eines der ergreifendsten und herrlichsten lyrischen Gedichte der Franzosen, den „Poète mourant“ niedergeschrieben hatte, im Alter von 29 Jahren; erst nach seinem Tode bei der Sektion entdeckte man den jammervollen Thatbestand (12. November 1780).

Alle diese Fälle haben jedoch mit der Allotriophagie, welche den Hauptgegenstand unserer Betrachtung bilden soll, nichts zu thun. Allotriophagie nennt man die Begierde, „Allotria“ zu essen: gefährliche und ungenießbare Gegenstände, Kohlen, Glas, Nägel, Messer u. dergl. zu verschlingen und diese krankhafte Neigung findet sich nicht selten bei Geisteskranken, bei Nervenverstimmungen bei Bleichsüchtigen im Wechselfieber etc. Auch die maßlose Gefräßigkeit, die nichts Festes verschmäht und oft zur Schau-Esserei ausartet, steht nur in losem Zusammenhange mit der Allotriophagie. Sie ist jedoch interessant genug, um kurz skizzirt zu werden.

Zu allen Zeiten und in den verschiedensten Gegenden hat es niedrige Menschen gegeben, die ein Gewerbe daraus machten, zur Belustigung des Publikums viel und darunter das unglaublichste zu essen. Unter Nero, berichtet ein Chronist, war ein Vielfresser, von Geburt ein Alexandriner, Namens Harpokras, welcher nicht nur ein gekochtes Wildschwein und hundert Eier, sondern auch eine lebendige Henne mitsammt den Federn und ein Milchferkel, ja, Pinienäpfel, Heu, Palmbesen, Tischtücher, Glasscherben und Schuhzwecken verschlang; ein ähnlicher Künstler ließ sich unter Alexander Severus, ein dritter, welcher auch den Namen Fresser, nämlich Phagon führte, unter Aurelian sehen. Ich selbst habe in Berlin Leute getroffen, die Schnapsgläser einbissen und zu Pulver kauten; einen „Glasscherbenfresser“ lernte Rosegger’s Waldschulmeister in Winkelsteg kennen.

Im Jahre 1771 starb zu Ilefeld der Passauer Vielfraß Joseph Kolniker. Er konnte nicht anders satt werden, als wenn er Steine unter sein Essen mischte, und zwar hatte er diese Liebhaberei von seiner Mutter und Großmutter geerbt. Schon in seinem dritten Jahre fraß er vor Hunger Steine wie Saturn. Sein Appetit war ungeheuer – er hatte sich den Athleten Milo zum Vorbilde genommen, der einen Stier durch die Rennbahn trug und an selbigem Tag verzehrte; binnen 24 Stunden aß er, so einmal auf dem Braunschweiger Schlosse, ganze Kälber- und Rinderviertel auf. Aber immer mischte er Steine unter sein Essen. Auch nahm er Metalle, Filz und andere Dinge zu sich.

Wer hätte ferner noch niemals von dem Wittenberger Gürtner Jakob Kahle, dem sogenannten Freßkahle gehört? Dieser Mann, der im Jahre 1750 zu Wittenberg als neunundsiebzigjähriger Greis gestorben ist, machte sich einst in einem Wirthshause in Gegenwart vieler Menschen darüber her, einen ganzen Dudelsack zu fressen. Von ihm wird erzählt, daß er bei seinen Mahlzeiten gelegentlich die irdenen Schüsseln und Teller mitverzehrte, daß er Tassen und Gläser zermalmte, daß er die Spanferkel mitsammt den Borsten und die Lämmer mitsammt der Wolle einschlang. Einmal raste seine Eßlust so, daß er ein bleiernes Schreibzeug nebst der Tinte, dem Streusande, dem Federmesser und den Federn verschwinden ließ. Diesen Umstand haben sieben Zeugen vor Gericht eidlich versichert, wie überhaupt der ganze Mann nichts weniger als ein Mythus ist; sein Leichnam ward 1750 auf landesherrlichen Befehl geöffnet und de Polyphago Wittenbergensi eine Dissertatio verfaßt. Erst in seinem sechzigsten Jahre war er ein wenig menschlich geworden. Dabei war er auch gleich den indianischen Mohawk und den italienischen Lazzaroni ein „Esser lebendiger Speise“: lebendige Eulen, Mäuse, Ratten, Heuschrecken und Raupen nahm er mit Vorliebe zu sich, und diese Vorliebe theilte er mit dem französischen Grenadier Tarare, der 1799 im Alter von 26 Jahren gestorben ist. Dieser entsetzliche Mensch nährte sich gelegentlich von Schlangen und zerriß lebendige Katzen mit den Zähnen.

(Ein zweiter Artikel folgt.)




[100]

Das „Indische Dorf“ im Albert-Palast zu London.

Der Schaulust unsrer verwöhnten Großstädter scheinen die wandernden Truppen der Indianer, Lappländer, Kalmücken, Singhalesen etc. nicht mehr zu genügen, seit einiger Zeit ist es Mode geworden, daß aus den fernsten Zonen nicht allein einzelne Familien, sondern ganze Dörfer nach Europa importirt werden und hier zur Ausstellung gelangen. London besitzt in diesem Augenblick nicht weniger als drei solcher „Dörfer“, das „Japanische“, welches sich schon lange im Herzen von London eines äußerst regen Zuspruchs des Publikums erfreut; das der „Erdmänner“ aus Central-Afrika, wobei indessen die Bezeichnung „Dorf“ insofern kaum zulässig ist, als dieselben hinsichtlich ihrer Behausungen mehr als primitiven Ideen huldigen; und als drittes Dörflein ist nun das „Indische“ hinzugekommen, das gleich dem letzteren in dem erst vor Kurzem vollendeten Albert-Palast aufgeschlagen wurde.

In möglichst getreuer Nachahmung indischer Häusereinrichtung, bei der indessen die Außenwände für den Einblick des Publikums offen gelassen sind, gehen hier in der heimathlich gewohnten Weise 45 Indier, unbekümmert um die Zuschauer, ihrem Gewerbe nach. Daß dieselben die verschiedensten Klassen und Stände ihrer Heimath im Allgemeinen repräsentiren, erhellt schon aus dem Umstande, daß sie nicht weniger als 27 verschiedenen Kasten angehören; ein Umstand, der aber auch seine ganz besonderen Unzuträglichkeiten für eine gedeihliche Dorfgemeinschaft im Gefolge haben muß. Wähnen doch einzelne Kasten schon durch bloße Berührung mit Zugehörigen anderer Kasten, schon indem deren Schatten auf sie fällt, sich schrecklich verunreinigt zu haben. Diese biedern Indier weigerten sich entschieden, als sie bei ihrem Eintreffen in England vom Lord Mayor gastlich auf das Mansion House entboten wurden, mit diesem an ein und demselben Tische zu essen. Die tägliche Speisung der vielen verschiedenen Kasten muß darum umständlich genug sein. Doch was auch diese Kasten-Unterschiede für Rangstreitigkeiten verursachen mögen, wir bekommen keinen Einblick in das, was hinter den Koulissen vorgeht, und vor denselben herrscht eine Eintracht und Friedfertigkeit, die durch nichts gestört wird. Ja Friedfertigkeit und Herzensgüte sind gerade diejenigen Ausdrücke, die auf einzelnen Gesichtern ganz besonders deutlich geschrieben stehen. Daneben mangelt es auch nicht an Intelligenz in den im allgemeinen wohlgebildeten, in einzelnen Fällen unleugbar schönen Zügen. Die verschiedensten Künstler und Handwerker sind hier vertreten, die mit Hilfe der primitivsten Geräthschaften – genau solcher, wie ihre Altvordern vor Jahrtausenden sie besaßen – die kunstvollsten Dinge zu Stande bringen. Da sitzt zunächst der Bildhauer, dessen Portrait der Zeichner unsern Lesern vorführt, und daneben der Drechsler und Tischler, die allesammt, in Ermangelung einer Hobelbank und derartiger Vorrichtungen, ihr Material mit den nackten Füßen fest halten, während sie mit den Händen daran arbeiten. In dem nächsten Gehäuse sitzt der Töpfer, der mittelst eines einfachen Drehrads und einiger anderen Geräthschaften dürftigster Art, vornehmlich durch die Geschicklichkeit seiner Hände, thatsächlich „im Handumdrehen“ recht hübsche Thongefäße fertigt.

Besonders kunstvolle Werke liefern auch die Männer, die Stickereien in Gold, in Silber und in Seide ausführen. Frauen wirken bei all diesen Arbeiten nicht mit; sie sind leider in dem eigentlichen Dorfe gar nicht vertreten. Nur in einem Nebengebäude, wo Tanz und aller Art Zauberkünste geboten werden, treten auch zwei Mädchen als Bajaderen auf. Eröffnet werden diese Vorstellungen durch verschiedenartige Taschenspielerkünste, die aber auf jedem europäischen Jahrmarkte mit derselben Geschicklichkeit vorgeführt werden. Die Schlangenbeschwörer haben ihre Thiere so abgerichtet, daß dieselben, durch einige Töne eines musikalischen Instruments hervorgelockt, aus ihren Körben kriechen und sich jenen um Brust und Hals schlingen. Obwohl sich darunter einige der gefürchteten Brillenschlangen befinden, ist das Spiel doch harmlos, da den Unthieren vorsichtiger Weise die Giftdrüsen entfernt wurden.

Die Leistungen der Bajaderen haben Manche enttäuscht. Eine der Tänzerinnen „sang“ auch, freilich nach unseren Begriffen von Musik entsetzlich falsch, indem sie zugleich tanzende Bewegungen machte, mit den Händen gestikulirte und ein beredtes Gebärdenspiel ausführte. Sie sang von der Schönheit ihres Geliebten, von dem wunderbaren Zauber seiner Augen, die größere Wunder verrichteten, als die bedeutendsten Zauberer. So sagte wenigstens das Programm, indessen sehr deutlich auch ihr Gebärdenspiel.

Können wir auch nicht Alles unbedingt bewundern, was uns hier geboten wird, so ist doch Alles mehr oder weniger neu und im Allgemeinen ein Besuch bei den Indiern ebenso lehrreich wie unterhaltend. Es steht daher zu hoffen, daß dieselben, ehe sie in ihre Heimath zurückkehren, ihr „Dorf“ für einige Zeit auch in Deutschland aufschlagen werden. Wilh. F. Brand (London).     

[101]

Die Andere.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Von dem Kopieren der Bilder war keine Rede mehr gewesen seit Lotte’s Verlobung; auch jetzt nicht. Es schien, als möchte sie die Staffelei nicht mehr sehen. Sie saß meistens, den Ellenbogen auf dem Fensterbrett, den Kopf in die Hand gestützt, in tiefen Gedanken; eine völlige Schlaffheit schien über sie gekommen. Im Nebenzimmer aber lag die Großmutter zu Bette. Sie war nicht eigentlich krank, „nur müde,“ sagte sie. Ich ging von Lotte zu Großmutter und von Großmutter zu Lotte, mit bangem Herzen forschend und fragend; und die alte lebensmüde Frau lächelte und bat mich, Geduld mit ihr zu haben. Aber die junge Braut sah verdrießlich und lebensmüde aus und wies mich unfreundlich zurück.

Zuweilen wurde sie merkwürdig lustig, die Lotte und begann ihr späteres Leben auszumalen mit tollem spöttischen Humor. Und dann setzte sie hinzu: „Ich kann das ja, ich bekomme ja einen steinreichen generösen Mann; in meinen Kaffees gebe ich noch eine Torte mehr als die Frau Superintendentin, und der Brokat zu meinem Kleide soll einen Thaler mehr kosten, als derjenige der Frau Postdirektorin, ich kann es ja.“ Und traf er sie in solcher Stimmung, dann ließ sie sich großmüthig von ihm in die Arme schließen und zupfte ihn am Bart, nannte ihn „ihren großen Friedrich“ und versetzte ihn mit tausenderlei Schnaken und Schnurren in den siebenten Himmel.

Meistens aber war sie still und einsilbig, bis zur Unerträglichkeit schlecht gelaunt, und der guten Stunden wurden immer weniger.

„Aber, um Gotteswillen, Tone, was ist’s mit der Lotte?“ fragte mich der halbverzweifelte Bräutigam, „was drückt sie? Was verstimmt sie so? Vielleicht vertraut sie es Ihnen an!“

Ich schüttelte den Kopf und log: „Ich weiß es nicht!“ Und ich glaubte doch es zu wissen, sie fühlte sich bedrückt, ihm verpflichtet zu sein; bedrückt, ihn verkannt zu haben; oder – ja, ich wußte es am Ende doch nicht?

Und Weihnacht kam und ging vorüber und hatte wahre Schätze in Lottes Schoß geworfen. Rührend war es, wie Fritz ihre Wünsche zu erforschen gesucht, wie er nichts unterlassen, um ihr ein Lächeln abzugewinnen, und sie, sie hatte buchstäblich nichts für ihn. Unser Zureden, sie solle eine, wenn auch noch so kleine, Arbeit schenken, war vergeblich gewesen. Wir bekamen stets die nämliche Antwort. „Laßt mich! Sollt ich ihm etwa ein Paar Morgenschuhe sticken, wie die Rieke ihrem David? Laßt mich – wir sind ja so arm.“ Sie rührte auch die Sachen nicht an, die sie bekommen; es wurde Alles wohlverwahrt zu dem Andern in Schrank und Kommode gethan; sie trug nichts, sie benutzte nichts.

„Lotte,“ bat ich, „kränke ihn nicht so furchtbar; von dem Manne, dessen Frau Du wirst, kannst Du doch ein Geschenk tragen? Es sieht ja aus, als wolltest Du über kurz oder lang das Verhältniß lösen!“

„O nein,“ erwiderte sie, „ich könnte es ja gar nicht; aber überlaß mich doch mir selbst, quäle mich nicht; – was thue ich denn?“

„Prinzeßchen,“ begann ich aufs Neue, „sei ehrlich, um Gotteswillen, sei ehrlich! Wenn Du ihn nicht liebst – noch ist es nicht zu spät –.“

„Quäle mich nicht!“ wiederholte sie trotzig, „und sorge Dich nicht um mich. Ich werde wissen, woher und wohin!“

Und in nächster Nähe schlug ein Herz in ehrlichem hellen Zorn, das hatte mit dem Instinkt der Mutterliebe herausgefühlt, daß ihr Kind leiden mußte.

„Tone, Tone!“ sagte erbittert die alte Frau auf der Domaine, „sie liebt ihn nicht! Was soll das für eine Ehe werden! Und wäre er noch so vernarrt in das schöne Lärvchen, einmal kommt er zur Einsicht. Ach, Tone, womit hat der Junge das verdient?“

Und sie trocknete verstohlen die Thränen, denn der „Junge“ durfte sie nicht weinen sehen. Und sie wollte auch nichts wieder dazu sagen, versicherte sie, denn als sie mit zagendem Finger an sein Herz gerührt, da war ihm die Zornader mächtig geschwollen und er außer sich gerathen. So, wie seine Lotte wäre, so sei sie ihm gerade recht! Er allein habe mit dem Prinzeßchen zu hausen später; beim Heirathen solle man die Worte sparen, zwei gehörten dazu, und nicht mehr –!

„Er ist in seinem Leben noch nicht so heftig geworden, Tone,“ schloß die Mutter, „er kam auch nachher gleich und fiel mir um den Hals, aber eben die Heftigkeit! Er schrie nur so laut, um seine innere Angst zu betäuben; ich weiß es, ich kenne ihn.“

So ging die Zeit hin. Das neue Jahr, das große Jahr 1870 war angebrochen; noch ahnte Niemand den Sturm, der daherbrausen sollte in gewaltiger wunderbarer Herrlichkeit. – In unserem kleinen Erdenwinkel schien die Zeit stille zu stehen: mit Schnee und Eis zogen Januar und Februar vorüber, und der März thaute den winterlichen Schmuck hinweg von unseren Bergen und lockte die Veilchen hervor im Domainengarten; da ging im warmen Sonnenschein Lotte an der Mauer hin und sammelte die kleinen duftenden Lenzesboten. Auf dem Balkon saß Großmama sorgfältig in Kissen verpackt, und athmete die warme Luft. Braune dicke Knospen schwollen an den feinen Aestchen der Bäume, hier und da schimmerte ein voreiliges Sträuchlein schon im hellsten Smaragd, und von weit her leuchtete das junge Grün der Saaten so hoffnungsfreudig in das verzagte Herz.

„Ich weiß nicht,“ sagte die alte Frau und blickte mich an, die ich ihr gegenüber saß, „sehe ich nur so schlecht, oder hast Du Dich so verändert? Wo ist Dein rundes Gesicht geblieben?“

„Ich bin ganz wohl, Großmütterchen; aber Lotte sieht schlecht aus.“

Ich schaute dem Mädchen nach, wie sie langsam an der sonnigen Wand hinschritt, sich bückte und emporrichtete und wieder bückte; und nun stand sie hochaufgerichtet und sah gradeaus, und Schnips begann sich in rasenden Galopp zu setzen und sprang bald darauf an Fritz empor, der rasch auf seine Braut zueilte. Sie gab ihm die Hand, senkte den Kopf, ließ ihn den Arm um ihre Taille legen und war genau so apathisch wie alle Tage.

Er sprach eifrig, ich hörte seine Stimme bis hier herüber, ohne die Worte zu verstehen. Sie lauschte geduldig, nahm ihre schwarze Schleppe empor; und langsam wandelnd kamen sie auf das Haus zu.

„Nein, das geht nicht länger so,“ hörte ich ihn sagen, als sie in die Thür traten. Einen Augenblick später waren sie im Vorderzimmer angelangt, und ich eilte hinüber, ihn zu begrüßen. Er sah roth und erregt aus und strich sich hastig über den Bart, wie er immer that, wenn ihn etwas lebhaft beschäftigte.

„Es geht nicht länger so,“ wiederholte er, mir die Hand gebend. „Irgend etwas muß geschehen, Tone; stehen Sie mir bei, rathen Sie, helfen Sie mir Lotte überzeugen, daß es das Beste ist, wenn wir im Mai Hochzeit machen.“

Sie hatte theilnahmlos neben ihm gestanden. Als er bei diesen Worten ihre Hand faßte, zog sie dieselbe rasch zurück und eine Purpurgluth schoß in ihr bleiches Gesicht. Aber sie antwortete nicht, sie zuckte nur schweigend die Schultern.

Er wurde ebenfalls um einen Schein röther.

„Aber worauf sollen wir denn noch warten?“ fragte er. „Sieh, ich kann Dich nicht so sehen, so traurig, so müßig. Alles, was Dich sonst gefreut hat, interessirt Dich nicht mehr. Du liest nicht, Du spielst nicht Klavier, Du malst nicht einmal mehr! – Wenn wir im Mai heirathen, könnten wir reisen; Du hast einmal gesagt, Du möchtest den Rhein sehen – gut, gehen wir dorthin. Lebe wieder auf, werde frisch wie sonst, Liebling! Nicht wahr, Tone?“

Aber sie, der er am liebsten die Hände unter die kleinen Füße gebreitet hätte, sie blieb abermals stumm.

„Nun sage Ja!“ schmeichelte er. „Drüben ist Alles in Ordnung, um Dich zu empfangen; die letzte Einrichtung besorgen Mutter und Schwester Tone; glaube nur, sie machen es uns behaglich. Und wenn wir zurückkommen, just um die Erntezeit, da ist’s so kühl und schön in unseren Bergen. Nun sage: Ja!“

[102] Er hatte halb scherzend gesprochen, aber in seinen Zügen spiegelte sich eine tiefe innere Bewegung.

Aber Lotte sagte nicht: „Ja!“ Sie hatte sich abgewandt und schaute zum Fenster hinaus, auf die grell beleuchteten Schloßwände, und nach einer langen Pause sprach sie, ohne sich umzuwenden:

„So rasch entscheide ich mich nicht; noch ist Papa kein Jahr todt.“

Er sah mich groß an; es lag etwas wie Angst und Enttäuschung in seinem Blick. Doch mit keinem Worte drang er mehr in sie.

Wie erleichtert kam das Mädchen vom Fenster zurück.

„Ich will wieder malen,“ sagte sie fröhlich, „ich will doch endlich die Erlaubniß benutzen und da drüben kopiren; in dem gelben Zimmer ist ein Stillleben, es hat mir sehr gefallen. Ich will hinübergehen und fragen, ob ich morgen beginnen kann.“ Und sie trat vor den schweigenden, finster blickenden Mann und faßte ihn an den Rockkragen. „Keine Gletscher, Friedrich – ein Stillleben; und wenn Du willst, so kannst Du es haben, wenn es fertig ist.“

Es war seit langer Zeit das erste Mal, vielleicht überhaupt das erste Mal, daß sie so zu ihm sprach. Er vergaß, daß sie in kindischer Weise die Vereinigung mit ihm ins Ungewisse hinausschob, vergaß Alles über ihre unerwartete Freundlichkeit; ein glückliches Leuchten ging über sein Gesicht.

„Ja!“ sagte er. „Male das Stillleben – bald, mein Liebling!“

0000000000

Mit wahrem Feuereifer begann Lotte ihre Wanderungen nach dem Schlosse. Dort drüben im gelben Zimmer waren die Vorhänge zurückgezogen, und zuweilen trat sie ans Fenster, die Leinwandschürze vorgebunden, und grüßte herüber. Es kam mir vor, als hätten sich ihre Züge wieder belebt; sie plauderte bei Tische und sah nicht mehr so lange starr auf einen Fleck wie sonst. Das alte reizende Lächeln, halb schelmisch – halb mokant, spielte, wenn auch nur schwach, um den Mund; wenn sie aber auf Fritz’ Wunsch den Nachmittag oder Abend bei seiner Mutter zubrachte, kam sie immer bleich zurück und klagte über Abspannung. Sie unterdrückte überhaupt nur mit Mühe einen Gähnkrampf in der Nähe der alten Frau; sie waren doch auch allesammt zu entsetzlich prosaisch und spießbürgerlich! –

Die alte Dame kannte keinen der neuen Romane, hatte keine Ahnung von Offenbach’s „Pariser Leben“, dafür stand auf ihrem Bücherbördchen neben Schiller, Goethe und Lessing ein Buch, betitelt: „Der Schutzgeist edler Weiblichkeit“, mit goldenen Regeln für Jungfrau und Weib. Lotte hatte es einmal hervorgezogen und sich über den „altmodischen“ Inhalt fast todtgelacht. Das nahm die alte Dame natürlich übel, und Fritz war in eine häßliche Lage gerathen, da jede sich bei ihm beklagte. – Die einfachen Lieder, welche die alte Frau zum Klavier gesungen in ihrer Jugend, wurden mitleidig freundlich betrachtet, und drei Tage hinter einander nannte Lotte ihre künftige Schwiegermutter immer nur „den guten Mond“, weil sie ihr freundlich mittheilsam erzählte, als sie Braut gewesen, habe sie das Lied so gern gesungen: „Guter Mond, du gehst so stille –“. Die Offenbach’schen Melodien aber, die Lotte zuweilen in Erinnerung an verschwundene schöne Stunden spielte, erklärte die alte Frau für nichtssagende Dudeleien, und legte ihr Beethoven’s Sonaten hin, worauf Lotte natürlich nicht reagirte. Ja, das Prinzeßchen langweilte sich grenzenlos, sie verstand nicht, jene oft mühsam errungene Zufriedenheit eines Menschenherzens zu schätzen, das in Arbeit und Mühe alt geworden und voll Stolz auf ein ehrenhaftes Leben zu blicken vermag. Es war einfach „spießig“ nach ihren Begriffen.

Und da drüben in der großen Giebelstube des Gutshauses saßen vier Nähterinnen und schafften an der Aussteuer.

„Kinder, ich bitte Euch,“ hatte die alte prächtige Frau eines Tages gesagt, „beschafft kein Leinenzeug: bei mir liegt es bergehoch in Spinden und Truhen, es wäre die reine Verschwendung! Der Fritz ist mein einziger, und von Großmutter Zeiten her ist für Viele gespart; seit drei Generationen hatten die Rodens keine Tochter auszustatten, es waren immer nur Söhne im Hause. Ein wahrer Segen, daß endlich einmal das Zeug ans Tageslicht kommt.“ – Und da häufte sich nun das köstlichste Linnen, der wundervollste Damast zu hohen Paketen auf und in der Ecke prangte der Name C. v. W. „Denn,“ raunte mir die alte Dame zu, „es braucht Niemand zu wissen, daß es die Lotte nicht mitbringt; die Leute sind so wunderlich hier, sie reden darum. Ich sagte, ihr hättet drüben keinen Platz für die Nätherin.“

Aber Lotte bemerkte das gar nicht. Sie stand nicht wie eine dankbare Tochter vor der alten Frau; das Mädchen mit den völlig leeren Händen, das nicht einen Heller sein nannte, um die Aussteuer zu kaufen, es fand kein Wort des Dankes für soviel Zartgefühl. Nach ihren Begriffen war es auch nur der andere Theil, der zu danken hatte – sie ließ sich herab. Sie warf den schönen Kopf in den Nacken zurück und streifte gleichgültigen Auges diese Schätze.

Vom Hans, von jenem Abend, war nie wieder die Rede gewesen; wohl aber erfuhr ich, daß Fritz Roden, auf einen Brief seines Freundes, die damals gewünschte Summe an Hans abgesendet hatte. Eine Antwort war nicht erfolgt. Ich mochte nicht daran rühren, ich schämte mich dieser Bettelei; und sie hatte den Namen des Bruders nie wieder genannt.

Das Frühjahr schwebte auf leisen, duftenden Schwingen über das Land und brachte die alte, ewig neue Lust – Vogelsang, Blüthenbäume und hoffnungsfrisches köstliches Grün, und an einem warmen duftigen Morgen zu Ende April schlug vor unserm Zimmerfenster die erste Nachtigall. Ich weiß nicht, warum ich weinen mußte; ob es die Ahnung war von dem, was kommen sollte; ob es das Bewußtsein machte, daß Lenz und Glück für Alle erschien, nur für mich nicht?

Ich führte ein seltsames Leben in jener Zeit; ich fühlte sozusagen nichts mehr. Ich wußte, daß mein Leben verrinnen würde wie ein träger Bach zwischen reizlosen Ufern, in Sorge und Arbeit, und der Gedanke macht so still, so müde und stumpf. Ich sah die alte Frau im Sorgenstuhl und dachte nach über die unendliche Spanne Zeit, die mich noch von ihrem Alter trennte; und dann betete ich: laß mich nicht so alt werden, großer Gott! Es ist ein furchtbares Geschick, zii leben, wie ich lebte! Das Einzige, was mich noch beunruhigte, war das ernste Gesicht von Fritz Roden. Er ist auch nicht glücklich, dachte ich dann, aber er kämpft, er kann noch ringen; bei mir ist Stille, ist Alles vorüber!

0000000000

„Willst Du Dir einmal ansehen, Tone, wie weit mein Bild gediehen ist?“ fragte Lotte eines Morgens, als sie im Begriff war hinüberzugehen. „Komme doch nachher und hole mich ab; es ist dort noch sonst allerhand Schönes zu sehen, die ganze wunderliche üppige Einrichtung aus der Zeit des ersten Napoleon, und Anita erklärt Alles ganz originell; es ist doch einmal etwas Anderes in diesem monotonen Einerlei. – Oder bist Du etwa zu sehr beschäftigt mit den Toilettevorbereitungen für das Souper auf der Domaine, von dem man sich diesmal nicht loskaufen konnte? Denn – o großer Triumph! – die Gesellschaft von Rotenberg soll und will endlich die künftige Frau Roden kennen lernen.“

„Für mich nicht, Lotte,“ erwiderte ich. „Ich habe mein schwarzseidenes Kleid, aber für Dich möchte ich etwas zurechtstellen; ich denke, Du nimmst Deine weiße Kachemirtoilette; als Braut und Hauptperson mußt Du Dich schön machen, Prinzeßchen. Ich wollte Dir, anstatt der blauen Bänder, schwarze Sammetschleifen daran heften.“

Sie antwortete nicht, aber zwischen den feinen Brauen zeigte sich eine verdrießliche Falte.

„Kommst Du?“ fragte sie ausweichend.

„Ja, Lotte. Du hast Recht, ich kenne die Räume nicht, in denen Du so oft jetzt bist. Ich komme so gegen halb Zwölf, dann schläft Großmama.“

„Du klingelst also am Hauptportale, Tone, und wenn die Thür aufspringt, gehst Du die Treppe hinauf, öffnest rechter Hand die mit Glasscheiben versehene Thür und biegst in den langen Korridor ein, rechts die siebente Thür ist es. Adieu, auf Wiedersehen.“

Gegen halb zwölf Uhr war ich mit der Toilette des Prinzeßchen fertig; eine elegante Robe, aus gelblich weißem Kachemir und Seidenatlas zusammengestellt. Sie hatte das Kleid getragen zu einem Bazar im Palais des russischen Botschafters, um dort [103] Blumensträuße zu verkaufen; das letzte Mal, wo das Leben all seinen Glanz und Schimmer um sie verbreitete. Ich schrak zusammen, so fremd kam mir die Gegenwart vor; man kann sich durch eine Sache aus vergangenen Zeiten so tief in Gewesenes zurückversetzen.

Nun erinnerte ich mich meines Versprechens und machte mich in Eile auf den Weg nach dem Schlosse. Beim Ueberschreiten des Domainenhofes sah ich im Herrenhause alle Fenster geöffnet, und die alte Frau erschien einen Augenblick dort; sie schlug ein weißes Staubtuch aus und war so im Eifer, daß sie mich nicht bemerkte. – Aha! Die Zurüstungen für den Abend! Und ich mußte daran denken, wie sehr sie erfreut war, als Lotte endlich den Bitten des Bräutigams nachgegeben, eine Art von Verlobungsfeier zu begehen. „Kindchen, man lebt doch einmal mit den Leuten,“ hatte sie befriedigt gesagt, „und sie nehmen Antheil an Allem, was uns betrifft, wie wir es ebenso bei ihnen thun, und glaubt’s nur, es geht nichts über getreue Freunde und gute Nachbarn! Nun wünschte ich nur, Lotte sähe freundlich aus an seiner Seite; es steht ihr so gut, und die Munkeleien hätten dann gleich ein Ende. Sie wissen ja, Tone, sie gilt hier als stolz und unliebenswürdig, auch schon deßhalb, weil sie bei Niemand Visite machen wollte.“

Ja, ob Lotte freundlich aussehen würde, konnte ich nicht rathen; aber ich fürchtete fast das Gegentheil, wenn ich an die kleine Scene vorhin dachte.

Und nun war ich unter den Kastanien dahin geschritten, stand vor dem Portale des Schlosses und zog die Glocke, auf deren Porcellangriff das Wort „Kastellan“ zu lesen war. Gleich darauf öffnete sich ein Flügel der Thür, und ich trat in eine weite Halle; zu beiden Seiten derselben führten breite Treppen nach oben, an deren untersten Stufen je zwei bronzene Ritter Wache zu halten schienen. Niemand zu sehen! Ich schritt die Marmorstiege empor, betrachtete die Büsten römischer Kaiser, welche die weißen, reich mit Stuck dekorirten Wände schmückten, und den mächtigen Kronleuchter aus Bronze. Eine kühle feuchte Atmosphäre überschauerte mich und die spukhafte Stille eines unbewohnten vornehmen Gebäudes. Oben ein weiter Vorplatz, Alles in weiß lackirtem Holz gehalten; purpurne wollene Vorhänge und rothbezogene Stühle; die Fenster gewährten einen Blick auf den Schloßhof, zwischen dessen Pflastersteinen Gras wucherte. Rechts und links weiß verhüllte Glasthüren. Ich klinkte die erstere auf und trat in einen langen dämmerigen Korridor, dessen hohe Wände regelmäßig unterbrochen waren durch geschnitzte Flügelthüren; hier und da eine Nische, Spiegel, Polsterstühle mit Bronzebeschlag. Im Weiterschreiten zählte ich die Thüren, die Siebente sollte es sein. Ich öffnete; geräuschlos drehte sich der Flügel in seinen Angeln, und ich stand auf weichem Teppich in einem kleinen entreeartigen Gemach. Alte schwere Gobelintapeten bedeckten die Wände; über schwarzem Marmorkamin ein Spiegel in facettirtem Glasrahmen, aus dem mir ein goldiger Schimmer entgegenblinkte; zwei mit schweren türkischen Stoffen verhüllte Thüren, die nach rechts und links in die Gemächer führten, und über einem wunderlichen Meubel, halb Kredenztisch, halb Spinde, besetzt mit köstlichen alten Gläsern, die prächtige Kopie der büßenden Magdalena von Battoni.

Im Weiterschreiten stockte mein Fuß, denn aus dem Nebenzimmer flog mir ein Lachen entgegen, wie ich es lange nicht gehört, und doch so bekannt, so silbern und herzlich. Und diesem Lachen folgte eine klangvolle Männerstimme, die lustig sprach: „Sie glauben mir nicht?“

Ich war regungslos stehen geblieben. Aus dem Spiegel aber, mitten aus dem goldigen Gewirr tiefgelber seidener Falten, die er zurückwarf, sah ich Lotte’s Profil; der feine Kopf mit dem dunklen Haar hob sich wunderbar von dem satten Gelb. Sie saß vor ihrer Staffelei, mir den Rücken halb zuwendend, und sah zu dem Sprecher hinüber, der neben dem Bilde stand, an welchem sie malte; ein Männerantlitz, auf dem der Uebermuth der Jugend und des Glückes lag, die blauen Augen blitzend vor Lebenslust. Es war ein Anblick, wie er einen Maler mit Entzücken erfüllen kann; mich packte er mit Angst.

„Nein, Durchlaucht,“ hörte ich sie jetzt wieder sprechen, „das glaube ich nicht. Uebrigens bin ich gerade zu Ende mit meiner Arbeit, und da meine Schwester nicht zu kommen scheint, so –; Fräulein Anita, Sie sind so freundlich und besorgen mir die Sachen in unsere Wohnung hinüber.“ Ich sah im Spiegel, wie sie sich erhob.

Im Sturm trieb es mich vorwärts; ich stand plötzlich unter den gelben Vorhängen der Thür und fühlte die blitzenden Männeraugen auf mich gerichtet, befremdet und verwundert. „Lotte!“ rief ich. – Ich weiß heute noch nicht, ob ich mich verbeugte, wie es die Etikette verlangt, als Lotte, sich umwendend, sagte: „Meine Schwester, Durchlaucht.“

„ich habe Ihr Fräulein Schwester in unverantwortlicher Weise gestört,“ redete er mich verbindlich an. „Im Begriff nach Schloß Grunen hinauf zu fahren, kam mir die Laune, hier einmal Station zu machen, und ich fand beim Betreten meiner Zimmer, ohne von dem überraschten Kastellan unterrichtet zu sein, die fleißige Malerin –“

„Und ich erschrak nicht wenig,“ fügte Lotte unbefangen hinzu und band ihr Schürzchen ab. „Aber Durchlaucht, Sie sehen, das Bild ist fertig und – ich störe nicht länger.“

„Im Gegentheil, es ist nicht fertig!“ rief er und betrachtete prüfend die Malerei. „Sehen Sie, Fräulein von Werthern, auf dem Kelchglase mit goldnem Rheinwein fehlt noch der letzte Aufsatz des vollen Lichtes; der Flaum der Pfirsiche könnte weicher sein und der Brillantring hier in der Ecke, der so achtlos und doch bedeutungsvoll neben der reichen Fruchtschüssel auf der grünen Sammetdecke liegt, ist skizzenhaft ausgeführt; Sie müssen ihm mehr Sorgfalt zuwenden; sehen Sie das Original an, es ist das Zeichen des Meisters, Pieter de Ring; Sie dürfen es nicht vernachlässigen. Meiner Meinung nach haben Sie noch viele Tage an dem Bilde zu arbeiten.“

„Es sind nur Kleinigkeiten,“ erwiderte Lotte bestimmt, „die ich ganz gut drüben nachholen kann.“ Und als der Prinz eine heftige Bewegung machte, um sie zu unterbrechen, setzte sie rasch hinzu: „Ich will das Bild noch heute verschenken, Durchlaucht.“

„An ihren Bräutigam,“ sagte ich laut, und ich fühlte, meine Stimme klang schwer und ernst. Ich konnte nicht anders.

Er sah Lotte groß an; es lag eine Frage in diesem Blick.

„Ja!“ bestätigte das Mädchen leise und blickte zu Boden. „An meinen Bräutigam.“

„Er ist zu beneiden,“ sprach der Prinz, ohne sein Auge von dem ihren zu verwenden. Und Lotte setzte hastig ihr Strohhütchen auf und nahm das noch nasse Bild von der Staffelei. Sie war blaß, und um ihren Mund lag wieder der harte Zug der letzten Wochen, der vorher wie verschwunden schien. Mit einer tiefen Verbeugung trat sie zurück, faßte mich an der Hand, grüßte Anita, die unbeweglich am Ofen stand und zum Fenster hinausstarrte, mit einem leichten Neigen des Kopfes, und im nächsten Augenblick durchmaßen wir den Korridor, eilten die Treppe hinunter und gingen bald unter den Kastanien hin der Oekonomie zu. Keine von uns hatte bis jetzt ein Wort gesprochen.

„Wie kam der Prinz dorthin?“ fragte ich endlich.

„Ich weiß es nicht, Tone,“ erwiderte sie. „Ich saß und malte, und Anita plauderte und legte Holz in den Kamin auf meine Bitte, der feuchten kühlen Luft wegen, da hörte ich einen Wagen sehr rasch fahren, so wie hier zu Lande sonst nicht gefahren wird – sie schonen ja Alle die Gäule – nun, etwa wie in Berlin; und ich sagte, das klingt wie eine herrschaftliche Equipage. Auch Anita hatte aufgehorcht; dann wurde es still. Wir sprachen noch von anderen Sachen, als ich auf einmal leichte Schritte hinter mir hörte, und als ich aufsah, stand er schon dicht neben mir. Es war mir sehr peinlich, weißt Du! Er sagte, was er zu Dir gesagt, er habe nach Grunen gewollt, und die Laune habe ihn gefaßt, Rotenberg, den Ort, wo er die langweiligsten Wochen seines Lebens vertrauert, wieder zu sehen. Es ist mir unangenehm, Tone; sprich nicht darüber.“

„Da wird Deine Lieblingsbeschäftigung wohl für ein Weilchen ruhen müssen, Lotte?“

Sie seufzte und betrachtete das Bild. „Er bleibt vielleicht nicht lange,“ sagte sie dann, „aber gleichviel, es ist nicht angenehm, so überrascht zu werden.“

Wir traten in den Gutshof, und ich wollte links abbiegen nach der Gartenpforte. Sie war zögernd stehen geblieben; „ich möchte erst noch einen Moment hineingehen, Tone oder willst Du ihm das Bild geben?“

„O nein,“ sagte ich erfreut, „ich komme mit Dir.“

(Fortsetzung folgt.)




[104]

Allerlei von den Königsbauten im bayrischen Hochlande.

Von † † †.
Die Bauten auf dem Falkenstein. – Der Hubertuspavillon. – Der Linderhof und sein Geheimniß.

Die gesammte deutsche Zeitungspresse beschäftigt sich neuerdings mit den Verlegenheiten, in welchen die Privatkasse König Ludwig’s II. von Bayern sich befindet, und zwar in um so intensiverer Weise, als Ludwig II. eine Persönlichkeit ist, welcher sich schon lange ein außergewöhnliches Interesse weitester Kreise zugewandt hat. Nach dem Tode seines Vaters Max, noch bei Lebzeiten seines Großvaters, des kunstsinnigen Dichter-Königs Ludwig’s I., als achtzehnjähriger Jüngling auf den Königsthron Bayerns erhoben, lenkte er von da ab durch das Absonderliche und Romantische seiner Situation, seines Wesens und seiner Lebensgewohnheiten die lebhafteste Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen auf sich. Im Jahre 1870, als das Vaterland in Gefahr war, hat er in schwerer Stunde einen männlichen Entschluß zum Heile Deutschlands gefaßt und sich dadurch die dauernde Dankbarkeit aller Patrioten, das Interesse und die Sympathie von ganz Deutschland erworben. Später waren es hauptsächlich zwei Dinge, welche Veranlassung wurden, daß man sich aller Orten in besonderer Weise mit dem jugendlichen König von Bayern beschäftigte: sein Hang zur Einsamkeit und zu großartigen phantastischen Bauten.

Der Hang zur Einsamkeit zeigte sich besonders frappant bei jenen vielbesprochenen nächtlichen, oft bis zum Morgen währenden Theatervorstellungen, in welchen der König ganz allein in dem sonst leeren Zuschauerraume des königlichen Hoftheaters in München sich große Opern und Schauspiele, die eigens für ihn gedichtet wurden und die außer ihm und den Mitwirkenden Niemand kennen durfte, mit enormen Kosten für prachtvolle Dekorationen und Kostüme vorführen ließ; der Hang zum Bauen an zahlreichen Berg- und Waldschlössern, die plötzlich an entlegenen Orten wie durch Zauber entstanden. Die Baulust mag vom Großvater Ludwig auf den Enkel vererbt worden sein, aber während Ludwig I. seine Bauten, welche ebenfalls viele Millionen verschlangen, in München und anderen Städten des Königreichs errichtete und meist allgemein-kulturellen Zwecken dienstbar machte, pflegt Ludwig II. die baulichen Schöpfungen, welchen seine Kabinetskasse ihre gegenwärtige Krisis verdankt, entweder in die weltabgeschiedene, heimliche Verborgenheit des Gewäldes, oder auf die sonnigen, ihre Umgebung weit und breit beherrschenden Zinnen des Hochgebirges zu stellen. Ersteres ist hinsichtlich des Linderhofes, des Hubertuspavillons und des Schlösser-Ensembles auf Herren-Chiemsee der Fall; letzteres bezieht sich auf die Pavillons auf dem Schachen, dem Brunnenkopf, dem Hennenkamm und der Klammspitze in der Nähe des Linderhofs, sowie auf die umfangreicheren Bauten, welche auf dem Falkenstein erstehen sollen. All diese zum Theil mit ungeheuren Kosten ausgeführten und mit Zufahrten versehenen Bauten dienen lediglich dem Privatgebrauch des Königs. Sie stehen einsam und verlassen, bis der König vielleicht einmal im Jahre auf ein paar Tage oder Wochen kommt, um in Prunkgemächern Wald- und Bergeinsamkeit zu genießen! Die Bedienung im engsten Sinne bildet in einem solchen Falle ein Kammerlakai, im weiteren drei Chevaux-legers vom vierten Chevaux-legers-Regiment und ein Friseur.

*               *
*

Eine der neuesten und bizarrsten Gebirgsbauten des Königs soll der Falkenstein werden. Zwei Stunden westlich von dem alten, aber freundlichen Städtchen Füssen am Lech liegt er, ein Vorberg nur des Hochgebirgs, in der Nähe des Weißen Sees, hart an der Grenze Tirols. Allein er besitzt den ausschlaggebenden Vorzug, eine unvergleichlich schöne Aus- und Fernsicht einestheils nach Norden auf die wellige, von den hellgrünen Fluthen des Lechs durchblitzte, weitgedehnte Hochebene von Bayrisch-Schwaben und vom Allgäu, und anderntheils auf die Ketten des Hochgebirges zu gewähren. Ein Meer von Zacken, düster-ernste Wände, die eine immer drohender, immer zaubergewaltiger als die andere, ragen nach Süden, Osten und Westen auf.

Bis jetzt krönte den äußersten Gipfel des Falkensteins die Ruine einer Burg, welche vor Jahrhunderten Eigenthum des Fürstbischofs von Augsburg war und in der Schwedenzeit niedergebrannt wurde.

An einem Hochsommertage des Jahres 1883 hatten sich zwei elegante Herren an der kahlen verwetterten Südwand des Berges verstiegen. Der Aufstieg an dieser jeglichen Pflanzenwuchses baaren Seite des Berges, vom Pfrontener Thal aus, ist kein Kinderspiel und überhaupt nur auf sehr schmalen Bergpfaden möglich. Wohl brach sich der Schall der von den Herren ausgestoßenen Rufe an der Bergwand. Allein was bedeutet der Ruf der menschlichen Stimme in der Einsamkeit des Gebirges! Ein Glück war’s, daß „der Seppl“ just um dieselbe Zeit in seiner Hütte das Mittagsschläfchen beendet hatte und das Rufen vernahm. Seit acht Jahren nämlich hat der Seppl, ein blutarmer, aber grundehrlicher „Bua“ von dreißig und einigen Jahren ein Einsiedlerleben geführt auf dem Falkenstein, hat einen Pfad nach demselben angelegt und für diejenigen, welche ja einmal kamen, die Ruine zu besichtigen, einen Trunk bereit gehalten. Jetzt, wie er das Rufen hörte, da war er in seinem Fahrwasser. Bald hatte er die Herren heraufgeholt in seine Hütte. Und nun ging es an ein Fragen, daß der Seppl schier gar nicht genug hat antworten können. Er hat aber alles genau der Wahrheit gemäß berichtet, so wie er es selbst gewußt hat von Kindheit auf. Und dann hat er die Herren hinaufführen müssen auf den Gipfel. Und auch auf den allerhöchsten Gipfel sind sie geklettert, dahin, wo die Ruine steht, an deren Stelle das neue Schloß gebaut werden soll. Da haben sie freilich Augen gemacht, als das Gebirg und das Land viele, viele Meilen weit vor ihnen ausgebreitet lag, wie ein aufgeschlagenes Buch. Wer die Herren gewesen? Ja, der eine war ein bekannter Hofbeamter aus München, und der andere – der andere? – ja, der andere hat’s dem Seppl nicht gesagt, wer er gewesen ist, und zu fragen hat er sich nicht getraut, und darum hat er seinen Namen mir auch nicht verrathen können. Aber schon im Herbst desselben Jahres erfuhr man, daß König Ludwig II. einen Theil des Berges, zu welchem die Spitze mit der Ruine gehört, durch Kauf von der Gemeinde Steinach in seinen Privatbesitz gebracht habe.

Als die Frühlingssonne 1884 den Schnee auf dem Gebirg zum Schmelzen brachte, da begann ein Leben und ein Treiben an der waldbestandenen Nordseite des Berges, daß es eine Lust war. Ein Jahr später führte eine breite, solid gebaute Fahrstraße bis zur Spitze. Zugleich mit dem Bau derselben war eine Wasserleitung bis auf den äußersten Gipfel des Berges gelegt worden, ein ganz bedeutendes Werk. Bei dem Tiroler Städtchen Vils steht das Maschinenhaus, von welchem aus das Wasser auf den Gipfel getrieben wird. Die Entfernung zwischen beiden Orten beträgt 2½ Kilometer in der Luftlinie!

Die bis jetzt auf dem Gipfel selbst vorgenommenen Arbeiten galten ausschließlich der Herstellung eines Planums, auf welchem das Schloß erbaut werden soll. Felssprengungen auf der Nordostseite lieferten Anschüttungs- beziehentlich Ausfüllungsmaterial innerhalb nach Höhe und Stärke gleich gewaltiger Strebemauern. Weiter gilt es jedoch, auch den höchsten Gipfel und die denselben krönende Ruine abzutragen. Letztere besteht nur aus einem einzigen Innenraum. Hohl hallt der Tritt auf dem Fußboden desselben, und zu verschiedenen Malen schon sind Theile des Gesteins in die Kellerräume gesunken. Die Abtragung der Ruine und die Rasirung des Gipfels sollen in diesem Frühjahr erfolgen. Dann erst kann der eigentliche Bau des Schlosses beginnen. Die Bauzeit ist auf fünf Jahre festgesetzt. Mit seinen Thürmen, Söllern und Altanen weit hineinleuchtend in das Land, von allen Seiten sichtbar, würde dieses neue Schloß in der That eine glänzende Zierde der Gegend werden, aber voraussichtlich ebenso wie andere Schlösser, deren Erbauung und prunkvolle Ausstattung Millionen verschlang, in selten unterbrochener Stille und Verödung unbewohnt daliegen als ein glänzendes königliches Dekorationsstück.

Gestützt auf das feinsinnigste Verständniß des Wesens vom Schönen in der Kunst, verfolgt der königliche Bauherr mit Aufmerksamkeit das Fortschreiten seiner baulichen Unternehmungen. Von Zeit zu Zeit erfolgen Inspicirungen der Bauarbeiten durch

[105]

„Was schreibt er?“
Nach dem Oelgemälde von W. Hasemann.

[106] den Monarchen in Person. Fast durchgehends erscheint er dann entweder mitten in der Nacht oder kurz nach begonnener Tagesarbeit an der Baustätte.

Bekannt ist, daß König Ludwig II. den Wechsel seines jeweiligen Aufenthaltsortes vorzugsweise in der Zeit zwischen den ersten Tagesstunden und dem Tagesanbruch bewirkt. Auch diese Nachtfahrten des Königs bildeten lange Zeit ein allgemeines Gesprächsthema und sind im Jahrg. 1882, S. 755 der „Gartenlaube“ gelegentlich des Besuchs Ludwig’s II. auf dem Schachen bei der Errichtung des Kreuzes auf der Zugspitze geschildert worden.

Ist der Schloßbau auf dem Falkenstein auf seiner gegenwärtigen Entwickelungsstufe noch Jedermann zugänglich, so ist dies bezüglich des Hubertuspavillons und des Linderhofes nicht der Fall. Der Hubertuspavillon liegt etwa drei Stunden südöstlich von Hohenschwangau am Fuße des Straußberges, da, wo der sogenannte Jägersteig von dem von Oberammergau und Greswang nach dem Städtchen Reute in Tirol führenden Vicinalweg abzweigt, unmittelbar neben der bayerisch-tirolischen Grenze. Eine Sennhütte befindet sich 50 Schritte davon. So sehr in die geheimste Tiefe des Waldes ist dieser Pavillon hineingeborgen, daß die ernsten, geheimnißvollen Fichten seine Kuppeln umfassen. Man bemerkt ihn nicht vom Wege aus, man bemerkt ihn nicht vom Jägersteige aus, man bemerkt ihn nicht, wenn man auf 20 Schritte Entfernung vor ihm steht. Auf der Suche nach diesem neuen Kleinode unter den Königsbauten im bayerischen Hochlande irrte ich wege- und rathlos im Walde. Da hallten Axtschläge durch das Tännicht, und dem Schalle folgend stand ich bald an der Baustelle. Allein mit einer geradezu verblüffenden Dienstbereitschaft geleitete mich im nächsten Augenblick einer der Arbeiter aus der Peripherie weg bis dicht an die erwähnte Sennhütte. Ich kehrte jedoch später zurück. Der Hubertuspavillon steht in Tirol, aber so unmittelbar an der deutsch-österreichischen Grenze, daß z. B. die Bauhütten sich auf deutschem Grund und Boden befinden.

Das nach seiner Ausdehnung sehr bescheidene Gebäude besteht aus einem kuppelgekrönten Mittelbau, dessen Innenraum einen einzigen kreisrunden Salon von mäßiger Größe bildet. Den Mittelbau flankiren zwei kleine, ebenfalls in Kuppeln gipfelnde Anbauten von Rechteckform. Diese enthalten je ein kleines, mit dem Salon verbundenes, kreisrundes Gemach. Das ist Alles. Da Stallungen nicht vorgesehen sind, so hat der Hubertuspavillon ohne Zweifel nur den Zweck eines ganz vorübergehenden Aufenthaltsortes. Das zur Aufführung des Rohbaues bestimmte Material sind gewöhnliche gebrannte Ziegel. Die Kuppeln bestehen aus Kupfer und werden wahrscheinlich vergoldet, wie denn überhaupt die Anwendung von Gold, wo irgend thunlich, eine besondere Liebhaberei des königlichen Bauherrn ist. Das Erdgeschoß enthält die Luftheizungsanlage und die Küche. Letztere befindet sich theilweise unter dem Salon. Eine Versenkung, ein „Tischchen-deck-dich“ wird die Speisen in den Salon heben, da der König auch bei Tische Niemand, nicht einmal einen servirenden Lakaien sehen will. Der Bau wurde im März vorigen Jahres in Angriff genommen und sollte im Rohbau im Oktober beendet sein. In diesem Jahre werden die Stuckateure, Maler und Dekorateure die innere Ausstattung vollenden, bei welcher der König dann stets eine ganz besondere Pracht zu entfalten pflegt. Farbige Seiden- und Sammtstoffe mit wahren Kunstwerken reichster Goldstickerei schmücken die Interieurs auch der äußerlich bescheidener aussehenden Bauten, und man erzählt sich beispielsweise von einem reich mit Gold gestickten Prachtbett, welches allein ein Vermögen gekostet haben soll. – –

Nach einem Marsche von drei kleinen Stunden im Thale der Ammer – einer der angenehmsten Waldpromenaden – erreicht man vom Hubertuspavillon aus den Linderhof. In einer Entfernung von etwa 600 Metern oberhalb desselben bietet ein leicht auffindbarer Punkt der Straße Gelegenheit, das vielbesprochene Schloß durch die von der Natur gerissene Schneise des Lindergriesbaches – die Ammer – wenigstens von Weitem zu betrachten. Läßt der Tourist diesen Punkt unbeachtet, so giebt es kein Mittel weiter, einen Einblick in das berühmte Tuskulum des Monarchen auf Bayerns Throne zu gewinnen. Ein dichtes Gehölz entzieht den Linderhof den Blicken des Fremden. Vor diesem liegt eine königliche Försterei, mit welcher eine Wirtschaft verbunden ist. Hier ist es noch dem Wanderer gestattet, sich zu erholen. Zwanzig Schritte hinter der Försterei beginnt das erwähnte Gehölz. Tafeln mit den ominösen Aufschriften „Verbotener Weg“ bezeichnen das Betreten schon des Gehölzes als unstatthaft. Hat man dasselbe dennoch passirt, so gelangt man an ein einfaches, schmiedeeisernes Gitterthor von der Breite der Zufahrtstraße, das diese sperrt. Das ist nun der Eingang zum Linderhofe. Unmittelbar hinter dem Eingang, zur Linken, befindet sich das Wachtlokal, und darin haust der Gendarmerieposten, welcher die Geheimnisse des Linderhofes mit Argusaugen hütet. Sollte der Fremdling auch bis hierher vorgedrungen sein, hier wird seine Energie sicher kläglich geknickt. Dieser Posten ist das verkörperte und uniformirte „Lasciate ogni speranza“. Schmeichelt dem Kriegsmanne mit Worten voll süßesten Wohllautes, versprecht ihm, der ein Einkommen von fünf Mark pro Tag sein eigen nennt, den Reichskriegsschatz, bietet ihm das Kommando eines bayerischen Armeekorps – er besteht auf seinem Schein: „Se. Majestät haben ’s streng verboten!“ – –

Die Schöpfung Linderhof hat ein Königswort auf der hinter dem erwähnten Gehölz bis an die fichtenbestandenen Felswände der Klammspitze und des Hennenkamms ziemlich steil ansteigenden grünen Bergwiese erstehen lassen. In sanfter Biegung nach rechts geleitet ein Promenadenweg von klassischem Gepräge vor das Schloß, einen mäßig-großen, in mattem Weiß gehaltenen Bau von Rechteckform. Derselbe besteht nur aus zwei Geschossen. Drei die Breite der Vorderseite einnehmende Eingänge mit schmiedeeisernen, schwer vergoldeten Thüren, wahre Wunderwerke der Schmiedekunst, führen in das Erdgeschoß, dessen Vorderraum eine marmorsäulengetragene Halle bildet. Ueber den erwähnten Eingängen erheben sich vier marmorne Riesengestalten, welche einen vergoldeten Balkon tragen, der einen seltenen Reichthum der Gliederung in reinsten Formen zeigt. Der nach vorn gerichtete dreieckige Giebel der Vorderseite des Schlosses ist gleichfalls von einer überraschenden Fülle feinstgegliederter Ornamente in Weiß und Gold, welche in einer goldenen Krone gipfeln. Auf der Rückseite des Schlosses ist man soeben beschäftigt, das innere eines neuen Anbaues zu dekoriren, das im Obergeschoß einen kreisrunden Saal bildet, der als Speisesaal benutzt werden soll.

Vom Balkon an der Vorderseite aus ruht der geradeaus gerichtete Blick auf einer prachtvollen gärtnerischen Schöpfung à la Versailles oder Schönbrunn. Schimmernde Leistungen der Teppichgärtnerei, Statuen, deren wundervolle Formen das Auge entzücken, stolze Schwäne auf dem Silberspiegel eines Bassins, aus dessen Mitte ein Springbrunnen aufrauscht, all’ das umrahmt und scharf gegliedert durch gepflegte Promenadenwege, die auf marmornen Treppenstufen allmählich zu einer kleinen Anhöhe hinanführen, auf deren Hintergrunde ein säulengetragener, statuengeschmückter Rundtempel sich erhebt. Hier thront unter den stillen Marmorsäulen die Idealfigur der Venus, der Göttin der Schönheit, aus feinstem karrarischen Marmor von einer Meisterhand gezaubert. Sinnend scheint sie hinabzuschauen zu der Welt von Statuen, die aus den mit Epheu und wildem Wein umrankten Laubgängen hervorleuchten – Welttheile, Jahreszeiten, Künste etc. darstellen, aus deren Gewirr auf einem andern Hügel sich die Bildsäule Ludwig’s XIV. erhebt. Für die Entstehungsgeschichte des Linderhofes ist diese Bildsäule des Franzosenkönigs bezeichnend genug. Fühlt man doch hier auf Schritt und Tritt den Einfluß des Geistes, der einst am Hofe desselben geherrscht hat.

In geringer Entfernung von dem Schlosse liegt im Tannengrün versteckt ein kleiner Kiosk „Marokko“, dessen Wände sich in einem künstlichen Seebecken widerspiegeln.

Ein ungeheurer Reichthum ist in diesem kleinen Raum aufgehäuft, ein wahrhaft orientalischer Prunk, der durch kunstvoll angebrachte Spiegel sich in den Augen des Beschauers verzehnfacht. Inmitten des Rundbaues glänzt ein Riesenpfau in schillernden Farben und spreizt sein kostbares Gefieder, das aus Edelsteinen, Türkisen und Smaragden auf des Königs Befehl die Künstlerhand gefertigt hat. Unwillkürlich schweifen bei seinem Anblick unsere Gedanken zurück in die Geschichte der Menschheit, zu dem fernen indischen Delhi, wo einst die Großmoguln residirten, zu jenem Prachtbau von Marmor und Gold, der auf schwarzem Marmorgrunde in silbernen Lettern die stolze Inschrift trug: „Giebt es ein Paradies auf Erden, so ist es hier, so ist es hier, so ist es hier.“ In diesem Wunderpalaste erhob sich einst der berühmte Pfauenthron aus dichtem Golde, reich mit Diamanten besetzt, dem zur Seite zwei Pfauen standen mit emporgehobenen Schweifen [107] aus kostbaren Edelsteinen. Ueber 150 Millionen Mark kostete dieser Thron; der Kiosk „Marokko“ ist somit nur ein schwacher Abglanz der orientalischen Pracht, des „Paradieses auf Erden“, das ein siegreicher Eroberer binnen wenigen Tagen in einen Trümmerhaufen verwandelte.

In einiger Entfernung rechts vom Kiosk befindet sich die Bauhütte mit den Wohnungen verschiedener Beamter und deren Familien, des Maschinenmeisters, der beiden Gendarmen, des Grottenwärters und einiger Anderer. Weiter oben in der Nähe der Bergwände liegen ein Gebäude für die ständigen Arbeiter und das Maschinenhaus mit Gasanstalt und den Apparaten zur Erzeugung von elektrischem Lichte. Das Maschinenhaus und seine Arbeiter stehen hauptsächlich im Dienste des Interessantesten, was der Linderhof birgt, im Dienste des Geheimnisses vom Linderhofe: der Grotte.

Du stehst vor einem unscheinbaren, rasenbedeckten Hügel, dessen eine Seite graues Felsgestein bildet. Nichts Außergewöhnliches läßt dich vermuthen, daß hier ein lichtschimmerndes, glanzsprühendes Wunder in die Erde gezaubert worden ist, daß hier die köstlichsten glanzdurchglühten Märchen volle, blendend-schöne, sinnbetäubende Verwirklichung gefunden haben.

In verzauberten Schlössern, in weltverlorenen alten Burgen berührt der Märchenprinz mit seinem Talisman den Felsen. Und sieh! von geheimnißvollen, wunderbaren Kräften bewegt, öffnet sich derselbe und, staunender Bewunderung voll, schaut sein Auge, erschreckt und verzückt zugleich, hinein in diese ungeahnte Welt voll Pracht und Glanz. So auch hier. In einer Nische des Felsens verborgen ruht ein Schlüssel. Und kaum berührt dieser das Gestein, so dreht sich ein gewaltiger Theil der Felswand geräuschlos und mit Leichtigkeit in verborgenen Angeln. Du trittst ein. Ein paar Schritte legst du zurück in einem hohen Gange zwischen den Felsen und – stehst geblendet, verwirrt. Eine hohe, weite Tropfsteinhöhle mit mannigfachen Nebenhöhlen, mit heimlichen Nischen und verborgenen Schlupfwinkeln ist es, vor welcher du stehst. Aus allen Winkeln, aus allen Ecken, aus allen Nischen und Spalten des Gesteins, aus zahlreichen mit farbigen Gläsern überdeckten Vertiefungen zur Rechten, zur Linken, über, unter, neben dir leuchtet, flackert, flammt, glüht, sprüht ein Meer von Lichtfluthen bald gelben, bald grünen, bald violetten, bald rosarothen, bald rothen, bald blauen Scheines in überraschendem, plötzlichem Wechsel durch den wunderbaren Raum, alle Theile desselben mit einer unsäglichen Fülle von Licht und Glanz übergießend. Hold und lieblich wölbt ein Regenbogen sein mildes Licht über all’ diese flammende Schönheit.

Allmählich lernt das Auge den ungewohnten Glanz ertragen. Du vermagst die Raumverhältnisse dieser wunderbaren Schöpfung zu schätzen, die einzelnen Theile derselben zu unterscheiden. Ein weißer, unter der Einwirkung des wunderbaren Lichtes blinkender fester Kalkstaub, die natürliche Absonderung des Tropfsteins, bedeckt Alles. Die Haupthöhle bildet einen Raum von etwa 15 Meter Durchmesser und 10 Meter Höhe. Aus dem Hintergrunde derselben rauscht, gleich flüssigem Silber, tausendfältig glitzernd und sprühend, in schäumenden Kaskaden die Felswand durchbrechend, ein Wasserfall herein in den Raum. Derselbe speist einen die Basis der Haupthöhle zu drei Viertheilen füllenden See, dessen klare Fläche die blendenden Lichter in zauberhafter Schönheit zurückstrahlt. Auf dem Spiegel des Sees wiegt sich ein goldener, von Rosengewinden umschlungener Kahn, dessen Rückseite zu einer Muschel sich erweitert. Auf dem Bug des Schiffleins stehend spannt Amor, unter schelmischem Lächeln das Ziel nehmend, den Bogen. Den Bord zur Rechten und Linken schmücken rothe Korallen. Ein Taubenpaar, dessen Schnäbel sich kosend im Kusse vereinigen, steht im Begriff, sich auf der linken Seite des Schiffleins niederzulassen. Zwei goldene Ruder harren der kundigen Führung des Schiffers. Mehr aber noch als auf die Fahrt mag dieser achthaben auf sein Herz. Dort drüben, auf dem Felsgestein ruht sie, Liebe heischend, in berückender Schönheit, die Unheil bringende Lorelei, und kämmt mit goldenem Kamme das golden schimmernde Haar. Horch! Vernimmst du es nicht, das lockende Lied der Sirene?

Dort, an der Felswand im Vordergrunde des Märchensees, der doch volle Wirklichkeit ist, Hackl’s herzbewegend-schönes Bild: Tannhäuser, schlummernd in Venus’ Schoße. Voll sinnigen Ernstes, mit einem Hauche von Trauer fast, ruht der Blick des dämonisch schönen Weibes auf dem entschlummerten Geliebten. Ist es eine Ahnung vom Weh des Scheidens, die ihm durch die Seele zieht? Genien der Liebe, Grazien und badende Nymphen umgeben beide, Rosengewinde um sie schlingend, Blumen streuend.

Der Wartburg- und Tannhäuserscene schrägüber führt eine Biegung in einem der Gänge in eine verlorene Ecke. Gestalten treten dir aus derselben entgegen. Betroffen willst[WS 1] du dich zurückziehen. Da bemerkst du, daß du selbst es bist, dem du begegnest. Du stehst vor dem Spiegel, einer riesigen Scheibe von etwa 3½ Meter Höhe und 2 Meter Breite. Drei derartige Scheiben sollen auf dem Transporte zerbrochen oder beschädigt worden sein, bis endlich die vierte unversehrt in das Gestein eingelassen werden konnte.

In der Nähe der Spiegelgrotte führt ein schmaler mit Holzgeländer versehener Steig, etwa 7 Meter am Felsen empor, hinauf nach dem Königssitz. Es ist ein Sitz in der Länge von etwa 2 Meter, auf der Rückseite von einer goldenen Riesenmuschel umrahmt. Rosengewinde umschlingen dieselbe und Schilfrohrblätter umgeben sie. Hier pflegt König Ludwig II. niederzusitzen und sich der Bilder des Lebens, der Liebe und der Schönheit, wie er sie in diesem seltenen Raume so wunderbar geschaffen, einsam zu freuen.

Ueber die technische Seite der komplicirten Einrichtungen zur Erzielung der wunderbaren Wirkungen nur einiges Wenige. Die Gasanstalt und die Apparate zur Erzeugung des elektrischen Lichtes befinden sich, wie bereits erwähnt, in dem Maschinenhause. Hunderte von Leitungsdrähten kommuniciren von diesem aus mit einer technischen Abtheilung in der Grotte. Telegraphie und Telephonie vermitteln den Verkehr zwischen Maschinenhaus und Grotte. Ein Wink und anstatt z. B. in rothem flammt alles in blauem Lichte. Elektrisches Licht, Gas und Glas sind die einfachen Mittel, durch welche die unbeschreiblich-großartigen magischen Lichtwirkungen erzielt werden. Die zur Anwendung gelangende telegraphische Chiffreschrift, wie sie an den Apparaten selbst bemerkt ist, ist die folgende:

bedeutet: Achtung.
– – " Drehen.
– – – " Wechsel.
. . . – " Veränderte Reihenfolge.
. " Gelb.
. . " Grün.
. . . " Violett.
. . . . " Rosa.
. . . . . " Roth.
. . . . . . " Blau.
. . . . . . . . . . " Irrungszeichen.
– . – . " Nachsehen.
. – " Aus.

Wie Beklemmung fast liegt es dir beim Scheiden aus dem wunderbaren Raum auf dem Gemüth. Die Seele ist bewegt, verwirrt. Aufathmend grüßest du wieder den goldenen Tag. Aber unauslöschlich werden die Eindrücke dir vor der Seele stehen, welche du in der Grotte empfingst, dem Märchen des Linderhofes.

*               *
*

Wir fürchten unsere Leser zu ermüden, wenn wir ihnen noch von den weiteren einsam im Gebirge liegenden zum Theil unvollendeten Prachtbauten des Königs erzählen wollten, so von der großartigen Nachahmung des Versailler Schlosses auf der Herreninsel im Chiemsee, von welcher bis jetzt der imposante Mittelbau und ein Seitenflügel fertig steht und die theilweise auch im Innern mit einer alles Andere überbietenden Pracht ausgestattet ist; von dem neuen Schloß bei Hohenschwangau, der sogenannten Gralsburg, deren Grundmauern allein Hunderttausende verschlangen. Was wird das Schicksal all’ dieser Bauten werden? Die Beantwortung dieser Frage kann nur tief traurig stimmen, besonders wenn man dabei bedenkt, wie viel Mühe und Geld in den Ruinen dieser zum Theil halb fertigen Schlösser begraben liegen wird, und selbst der Gedanke, daß diese Schöpfungen zur Hebung des Kunstgewerbes mit beigetragen und eine Zeitlang vielen Menschen Arbeit gegeben haben, vermag an dieser Stimmung nicht viel zu ändern.


[108]

Ueber das Klima von Kamerun.

Von Max Buchner.

Ueber das Klima von Kamerun hat die öffentliche Meinung in letzter Zeit manchen lustigen Bocksprung gemacht, bis sie endlich anfing zu weinen. Vor einem Jahre ungefähr wurde dem Publikum zugemuthet, im Kamerungebiet geradezu einen klimatischen Kurort allerersten Ranges zu verehren. Jetzt ist es eine Pesthöhle, aus der Niemand lebend zurückkommt.

Ja selbst die gangbarsten Aussprüche berühmter Reisender über das afrikanische Klima bewegen sich in zwei Extremen, von denen das eine sinnloser ist als das andere. Zuerst heißt es, an der Küste falle die Hälfte der Neuangekommenen dem Fieber zum Opfer, und gleich darauf, daß das Innere gesund sei. Eine richtige Statistik existirt für keine von beiden Behauptungen. Sie entsprangen beide demselben so oft begangenen Fehler des falschen Generalisirens, jenem so häufigen Mangel an Kritik, der sich hauptsächlich in der Neigung kundgiebt, zufällig beobachtete extreme Vorkommnisse als die Regel zu betrachten. Wenn wir irgendwo vom Fieber verschont bleiben, dürfen wir beileibe nicht sagen: hier giebt es kein Fieber, und ebenso unrichtig wäre es, zu meinen, daß da, wo man einmal viele Krankheiten antraf, es immer so sein müsse. Die Epidemien und Endemien schwanken nicht bloß in Bezug auf die Zahl der Fälle, sondern auch in Bezug auf die Schwere der einzelnen Fälle. Der oben erwähnte gräßliche Procentsatz der vom Fieber hingerafften Opfer würde, wenn er Thatsache wäre, schon längst so abschreckend gewirkt haben, daß es an der Küste gar keinen Kaufmann mehr gäbe. Dieser Pessimismus schadet aber wenigstens nicht. Schaden stiften könnte dagegen eine allzu große Hoffnung auf die höher gelegenen Gebiete des Inneren.

Wahrscheinlich sind die Fieber- und sonstigen Miasmen auf dem Plateau Central-Afrikas an sich minder zahlreich, energisch und wirksam. Zugleich aber nimmt der Komfort, die Möglichkeit besserer Nahrung und deßhalb auch die Widerstandskraft des Weißen stetig ab mit der Entfernung vom Meere, so daß das Endergebniß beider Faktoren sich schließlich ausgleichen wird. Und ganz ohne Fiebermiasma giebt es wohl kein einziges Quadratkilometer des tropischen Afrika.

Die gesundheitlichen resp. krankheitlichen Verhältnisse irgend eines Platzes setzen sich überhaupt stets zusammen aus zwei Faktoren: 1) aus der Menge und Kraft der vorhandenen Schädlichkeiten, 2) aus der Wirksamkeit der vorhandenen Schutzmittel gegen dieselben. Von diesem Gesichtspunkte aus läßt sich über das Klima von Kamerun Folgendes sagen.

Kamerun gehört zu den ungesünderen Plätzen der Erde. Es ist aber durchaus kein Grund vorhanden anzunehmen, daß es ungesünder sei als Brasilien oder Ostindien zur Zeit der ersten Entdecker es waren, ehe die Europäer dort seßhafter wurden und ihre Existenzbedingungen immer mehr verbesserten.

Das Hauptleiden, neben dem die anderen Gesundheitsstörungen kaum in Betracht kommen, ist das Fieber in seinen verschiedenen Formen. Es ist dieselbe Krankheit, die wir als Malaria oder Wechselfieber in Rom, in Pola, in Germersheim, in Wilhelmshafen, in allen Marschgegenden an der Nordsee von Hamburg bis Antwerpen, in Kleinasien, Ost- und Westindien, in den Vereinigten Staaten, kurz eigentlich überall auf der ganzen Erde haben. Allerdings zeichnet sich das Fieber in Afrika dadurch aus, daß es seltener die bei uns gewöhnlichen drei Stadien: Frost, Hitze, Schweiß durchläuft, sondern mehr kontinuirlich auftritt. Hier und da, etwa einmal in tausend Fällen, nimmt es den sogenannten perniciösen Charakter an: die Temperatur bleibt länger auf einer Höhe von 40 bis 42 Graden, die Haut wird gelb, in den Ausleerungen sind reichliche Blutergüsse. Mindestens die Hälfte der davon Betroffenen stirbt nach zwei bis drei Tagen.

Daß das Fiebergift der afrikanischen Westküste an sich wesentlich stärker sei als in Europa, erscheint mir zweifelhaft. Denn man braucht in Afrika zur Unterdrückung eines gewöhnlichen Fiebers nicht mehr Chinin zu verabreichen als bei uns. Ein bis zwei Gramm genügen fast immer. Nur in der größeren Anzahl perniciöser Fälle, die übrigens auch in Europa nicht gänzlich fehlen, dürfte ein Unterschied liegen, und zum Zustandekommen dieser gehören vielleicht noch andere unerforschte Verhältnisse.

Das Fiebergift ist zweifellos ein mikroskopischer Pilz, den wir allerdings noch nicht persönlich, sondern nur aus seinen Wirkungen kennen. Er entwickelt sich in stagnirenden Wässern oder in feuchten Oertlichkeiten des Bodens, der Vegetation, der Wohnstätten. Durch Austrocknung wird er frei, gelangt in die Luft und durch sie in unseren Körper, zunächst in die Lungen. Daß wir ihn auch trinken, ist nicht wahrscheinlich.

Immunität oder Gewöhnung an das Fiebergift kommt vielleicht vor, ist aber jedenfalls ungemein selten und niemals sicher. Hier und da trifft man nämlich einen Europäer, welcher behauptet, schon sechs oder mehr Jahre an der Küste zu leben, ohne jemals ein Fieber gehabt zu haben. Auch die Neger stehen oft im Rufe einer gewissen Immunität. Gar nirgends aber kursiren über derlei Dinge mehr schlechte Beobachtungen und leichtfertige Behauptungen, als in Westafrika. Was ich selber erfahren, flößt mir gar kein Vertrauen zu derlei herkömmlichen Berichten ein.

Man kann nicht einmal ohne Weiteres sagen, daß der Neger das afrikanische Klima immer und überall besser verträgt, als der Europäer. Es giebt da Unterschiede, über die sich keine Regel konstruiren läßt. Auffallend wenig leiden am Fieber die Kameruner[.] Aber die eingeführten Kru-Jungen haben Fieber fast ebenso oft und heftig wie die Weißen. Diese Erscheinung möchte sich vielleicht erklären aus der Thatsache, daß es eben auch für die Neger bloß eine örtliche Akklimatisirung giebt. Allein die Kru-Jungen sollen in ihrer eigenen Heimath ebenso stark vom Fieber zu leiden haben, und auf dem Hochplateau von Angola und Lunda habe ich drei Jahre lang die Erfahrung gemacht, daß die jeweiligen Eingeborenen ebenso häufig vom Fieber befallen werden wie fremde Neger und schließlich vielleicht sogar wie die Weißen.

Außer dem Fieber und einigen Hautausschlägen sind in Kamerun keine besonderen specifischen Krankheiten heimisch. Während und in Folge der kriegerischen Zeitläufte des vorigen Jahres kam auch Dysenterie vor, aber bloß aus den nämlichen Ursachen, Mangel geregelter Nahrung und schlechter Lebensweise überhaupt, wie im Jahr 1870 unter unseren Truppen in Frankreich.

Große Hoffnungen für eine Gesundheitsstation hat man auf den Kamerunberg gesetzt. Aber ich fürchte, daß es bei den Hoffnungen bleiben und daß auch hier die schöne Idee wieder einmal an der rauhen Wirklichkeit scheitern wird. Es ist kaum zu bezweifeln, daß oben auf dem Gipfel des Berges, wo überhaupt nichts mehr wächst und zuweilen Schnee liegt, auch der Fieberpilz nicht mehr gedeiht. Von unten an aber wird er bis in eine ganz bedeutende Höhe hinauf wohl nirgends fehlen. Die Grenze seines Vorkommens wäre nur durch ein ziemlich umständliches und kostspieliges Verfahren sicher festzustellen. Mit einem Luftballon müßte man den Gipfel direkt von Europa aus zu erreichen suchen, sich gut verproviantiren und dann allmählich einige Jahre hindurch abwärts steigen. Denn würde man erst unten in der fiebergiftigen Niederung landen und dann oben das Fieber bekommen, so könnte kein Mensch mit Bestimmtheit sagen, ob es von oben oder von unten stammt, da zwischen Aufnahme und Wirkung des Giftes gewöhnlich mindestens sieben Tage vergehen.

Doch sehen wir ab von der vollen Strenge des Experimentes. Mancher denkt, es wäre vielleicht schon ein Vortheil, wenn wir in einer mittleren Höhe der Berghänge ein Sanatorium hätten. Das müßte, wenn es seinem Namen und Zweck entsprechen sollte, doch mindestens ein komfortables Hôtel sein, nicht allzu schlecht ausgerüstet mit Küche und Keller und Apotheke und womöglich sogar mit einem Arzt versehen. Wer aber soll die bedeutenden Kosten eines solchen Institutes tragen? Derjenige, dem es am meisten zu Gute käme, der kärglich besoldete Faktorist, doch ganz gewiß nicht. Und dann, wer bürgt uns dafür, daß der vom Fiebersiechthum erschöpfte Patient dort oben sofort gesund wird? Es ist eine eigene Sache um den Wechsel von Lebensgewohnheit und Klima. Jede plötzliche Aenderung der Leibesökonomie, und wäre sie auch zum Besseren, scheint eine Schädlichkeit zu sein. Fast alle Afrikareisenden, die aus dem hungerreichen Inneren herauskommen [109] an die Küste, wo sie wieder in die langentbehrte europäisch üppige Verpflegung eintreten, müssen die Erfahrung machen, daß dann das Fieber schlimmer auftritt als je.

Soviel über den ersteren Faktor der Sterblichkeit, welchen wir „Menge und Kraft der vorhandenen Schädlichkeiten“ genannt haben. Wie verhält es sich nun mit dem zweiten, „den vorhandenen Schutzmitteln gegen dieselben und deren Wirksamkeit“?

Diesbezüglich herrschen in Kamerun so traurige Zustände, daß wir aus ihnen die schönsten Hoffnungen schöpfen können. Hygienischen Verbesserungen ist der allergrößte Spielraum geöffnet. Namentlich die Wohnräume, die doch als jene Oertlichkeiten zu betrachten sind, in denen wir die längste Zeit unseres Lebens, Gutes und Böses einathmend, zubringen, sind dort so gelegen und so beschaffen, daß sie den Grundsätzen der Hygiene geradezu spotten.

Man merkt es Kamerun an, hier konnte der Europäer sich niemals freier bewegen, hier herrschte zu lange der Neger. Die meisten Kaufleute wohnen noch immer auf sogenannten Hulks, alten abgetakelten Segelschiffen, die im Fluß solide verankert wurden mit der Bestimmung, nun, da sie nicht mehr seetüchtig sind, als schwimmende Faktoreien den Rest ihrer Tage abzuverdienen. Daß auch solche halb verfaulte Fahrzeuge manches zu wünschen übrig lassen, ist selbstverständlich, aber immerhin scheinen sie zum Wohnen gesünder zu sein als die festen Faktoreien am Land. Da jedoch die Hulks allmählich leck und unbrauchbar werden, und da zugleich die öffentliche Sicherheit zunimmt, so herrscht seit längerer Zeit eine Tendenz, den Handel allgemein aufs Trockene zu verlegen. Aber mit welchen schrecklichen Bauplätzen mußten die Kaufleute hierzu vorlieb nehmen! Oben auf dem 15 Meter hohen Plateau liegen dicht an einander die Dörfer. Eine einzige Ausnahme abgerechnet, sahen sich deßhalb die Kaufleute genöthigt, unterhalb des Plateau-Steilrandes, zum Theil auf künstlichen Plattformen im Bereich von Ebbe und Fluth, sich anzusiedeln. Diese Plattformen sind naturgemäß schlecht konstruirt, die Abspülung der Hochwasser nagt täglich zweimal an ihnen und richtet häufig Zerstörungen an. Nach drei Seiten sind sie von Schlick- und Sandflächen umgeben, die zur Ebbezeit den Bevölkerungen der Dörfer als allgemeiner Abtritt und dem Strom als Ablagerungsstätte seines Kehrichtes faulender Pflanzen dienen.

Eines der ersten Erfordernisse zur Besserung wird deßhalb darin bestehen, daß die Europäer ihre Wohnhäuser durch Ankauf geeigneter Plätze nach oben auf die Kante des Steilrandes verlegen, während die Magazine und Einkaufsräume unten verbleiben können. Zugleich wird in Bezug auf die Art und das Material der Wohnhäuser alle Vorsicht und Ueberlegung zu verwenden sein.

Für die westafrikanische Küste taugt am besten ein hölzernes Wohnhaus auf hohen Backsteinpfeilern. Die Backsteinpfeiler sollten so hoch sein, daß sie, durch Gitterwände und Gitterthüren unter einander verbunden, ein geräumiges luftiges Erdgeschoß bilden, das zu Vorrathskammern und Wohnungen für die bediensteten Neger abgetheilt werden kann. Auf das erste Stockwerk läßt sich nöthigen Falles ein zweites setzen; um jedes ist ringsum eine breite Veranda zu ziehen. Das Dach wird am besten aus Asphaltpappe hergestellt und das Ganze mit weißer Kalkfarbe angestrichen. Für Küche und Klosett sind eigene mit dem Haupthaus nur durch gedeckte Gänge verbundene Hütten aufzustellen. Das Klosett ist im Abfuhrsystem einzurichten. Die Abfuhr hat jede Nacht zu geschehen.

Gänzlich zu verwerfen sind die wegen ihrer größeren Billigkeit und Einfachheit so beliebten eisernen Wellblechhäuser. Als Magazine thun sie ganz gute Dienste, zum Aufenthalt für kränkliche Europäer sind sie absolut nicht geeignet. Sie erhitzen sich unter der Sonne zu schnell und erschweren die Ventilation in hohem Maße.

Für den Wohnplatz ist eine möglichst freie Lage zu wählen. Alle in unmittelbarer Nähe befindlichen Bäume sind als Feuchtigkeitsträger umzuhauen. Auch das hohe schilfartige Gras ist in der nächsten Umgebung auszurotten und durch reinlichen Kies oder durch kurzen Rasen zu ersetzen. Ein kurzer Rasen, wie wir ihn in Europa haben, wäre überhaupt die idealste Bodenbedeckung, weil er gleichmäßig ebensowohl die Staubentwickelung als auch eine übergroße Anhäufung von Feuchtigkeit verhindert. Es wächst in Kamerun auf Wegen und an den viel betretenen Kanten des Steilrandes eine kleine niedliche Lolium-Art, die hierzu vielleicht zu brauchen wäre. Außerdem müßte man mit südeuropäischen, amerikanischen und indischen Gräsern Versuche machen.

Sehr mißlich sind auch die Trinkwasserverhältnisse in Kamerun. Das Wasser des Flusses ist ekelhaft schmutzig, hier und da treiben auf ihm weithin die Luft verpestende Menschenleichen herab, zur Zeit der Fluth wird es ziemlich stark salzig. Die Eingeborenen trinken von einigen nicht sehr sauberen Quellen, die aus dem rothen Laterit-Plateau, aus dem vielfach verunreinigten Boden der Dorfschaften, hervorrieseln. Die Kaufleute haben sich innerhalb der Faktoreien, also unterhalb des Plateaus, ungemein dürftige Brunnen gegraben, die meistens nur aus einem in die Erde gesenkten Faß bestehen und noch verdächtiger sind, da sie ganz unten und bereits im Schwemmgebiete des Flusses liegen.

Ordentliche, tiefe Brunnen oben auf dem Plateau, in weiterem Umfang geschützt vor Verunreinigungen, wären deßhalb ein nächstes Erforderniß. Zum Pumpen und Füllen der Reservoirs für Haus und Garten wären amerikanische Windmühlen hier geeignet wie nirgends. Der regelmäßige, starke Südwestwind würde sie nur in den Morgenstunden und sonst fast niemals rasten lassen.

Kurz, für hygienische Maßregeln ist noch ungemein viel zu thun. Mit der Durchführung derselben wird ein von der Regierung bestellter Arzt zu betrauen sein. Wenn auch Kamerun im December und Januar 1884 und 1885 in der glücklichen Lage war, an geprüften Doktoren der Medicin nicht weniger als zehn zu beherbergen, nämlich außer den fünf Marine-Aerzten des Geschwaders noch fünf Kollegen des Civilstandes, die Herren Nachtigal, Passavant, Pauli, einen dem Trunke ergebenen Engländer und meine Wenigkeit, so daß schon auf jeden fünften ansässigen Europäer eine vollberechtigte Heilperson kam, so ist das jetzt anders geworden. Von den fünf genannten Civilisten ist keiner mehr draußen in Kamerun, und der einzige übrig gebliebene Schiffsarzt des „Habicht“ hat weder Zeit noch Befugniß, sich auch der Privatpraxis hinreichend anzunehmen.

Wie sehr indessen ein Arzt in Kamerun nothwendig ist, und zwar nicht bloß unter den europäischen Kaufleuten, sondern auch unter den Eingeborenen, habe ich an mir selbst erfahren während jener unangenehmen kriegsschifflosen vier Monate, in denen ich Vertreter der Flagge war, ohne irgend welche Exekutivorgane außer mir selbst zu besitzen. Der Vortheil, daß ich mich der immer rebellischer werdenden Bevölkerung als Arzt nützlich und interessant machen konnte, ist mir damals sehr zu statten gekommen.

Allein schon die vielen großen, tief fressenden Geschwüre, an denen der Kameruner so häufig leidet und die er als „Pola“ bezeichnet, wären eine überaus günstige Gelegenheit, Gutes zu wirken. Mit Jodoform kann man da wahre Wunder verrichten, umsomehr als die landesüblichen Heilmittel gegen Pola gänzlich erfolglos sind, wie denn überhaupt der Neger an Arzneien, die nicht bloß auf Hokuspokus beruhen, ungemein arm ist. Die Pola-Geschwüre haben mir mehrmals ausgezeichnete Dienste gethan, das unverschämte Gebahren der Kameruner zu bändigen. Krankheiten und deren liebevolle Behandlung, das ist der Punkt, bei diesen verzogenen und verdorbenen Menschen den Hebel einzusetzen, nicht nur zum Zweck der modern gewordenen Neger-Beglückung, sondern auch zur ersprießlichen Neger-Erziehung.

Da wir sparen müssen, so darf uns auch der Regierungsarzt nicht allzuviel kosten, was sich leicht erreichen läßt. An reiselustigen tüchtigen Medicinern haben wir keinen Mangel. Gegen 3000 Mark Gehalt und freie Hin- und Rückfahrt, sowie in Anbetracht einer lohnenden Privatpraxis unter den Europäern würde sich der richtige Mann schon finden. Derselbe müßte sich auf drei Jahre verpflichten. Mit den Faktoreien würde er am besten ein privates Abkommen treffen, gegen eine fixe jährliche oder monatliche Pauschalsumme jeden Krankheitsfall der betreffenden Europäer gewissenhaft zu behandeln. Der oben erwähnte englische Kollege bezog noch in der allerletzten Zeit, als er sich bereits ganz unmöglich gemacht hatte, von zwei oder drei der englischen Hulks seinen Unterhalt und, wenn ich nicht irre, sogar auch ein fixes Gehalt. Ebenso müßten die regelmäßigen Dampfer, alle Monate vier, zwei ausgehende und zwei zurückkehrende, sowie gelegentlich andere einlaufende Schiffe einer sanitären Beaufsichtigung unterstellt und gehalten sein, dafür dem Arzte ihren Tribut zu leisten. Auch die Eingeborenen müßten allmählich daran gewöhnt werden, den Arzt zu bezahlen, zuerst vielleicht in Naturalien, Ziegen, Hühnern, Eiern, Bananen etc.

[110] Neben den angeführten praktischen Zwecken käme schließlich auch noch in Betracht, daß von einem Mediciner, der wissenschaftlicher Beschäftigung nicht abgeneigt wäre, noch gar Manches erforscht werden könnte. Die tropische Pathologie liegt noch in den Windeln, und namentlich von Hautkrankheiten dürfte an der westafrikanischen Küste noch manches Neue zu entdecken sein.

Fassen wir unser Urtheil über das Vorgebrachte nochmal zusammen, so müssen wir sagen: Kamerun ist wirthschaftlich gut und leistungsfähig, vorausgesetzt, daß gründliche Reformen eingeleitet werden. Seine geographische Lage macht diesen innersten Winkel des Guinea-Golfes zu einem vorzüglichen Ausgangspunkt der Erschließung des Kontinents, der zweifellos bessere Bedingungen bietet als der Kongo. Der Hauptvorwurf, den man unserm neuen Besitzthum entgegenhalten kann, ist sein Klima. Aber auch das ist sicherlich der Verbesserung zugänglich, und zugleich ist die große Möglichkeit gegeben, in dem noch gar nicht vorhandenen Komfort des Lebens eine wirksame Schutzwehr gegen dasselbe zu schaffen.


Thierbilder aus dem Berliner Aquarium.

Wasserwarneidechse und Krustenechse.
Mit Illustrationen von G. Mützel.

Wasserwarneidechse.

Die Rinde unserer Mutter Erde erzählt von einer längst vergangenen Zeit, wo räthselhafte Ungeheuer, die Mitte zwischen Walfisch und Vogel, Krokodil und Schlange haltend, die „rauschenden Schachtelhalme“ belebten. Hier schwamm, wie Scheffel in dem petrefaktischen Lied seines „Gaudeamus“ berichtet, „mit Thränen im Auge ein Ichthyosaurus daher“, Plesiosaurus, der Alte, er jubelte in Saus und Braus, Pterodaktylus kam in einem bedenklich schwankenden Zustande nach Hause geflogen, während der Iguanodon angeklagt wird, am hellen Tage die Ichthyosaura geküßt zu haben. Diese vorsündfluthlichen Geschöpfe sind ausgestorben, indeß dürfen die heute noch lebenden Saurier als ziemlich nahe Verwandte derselben gelten. Zwei interessante und weniger bekannte Exemplare derselben leben gegenwärtig im Berliner Aquarium und verdienen, unsern Lesern vorgeführt zu werden.

Das erste, die „Warneidechse“[1] (Hydrosaurus salvator), durch den ausgeprägten Schlangenkopf charakteristisch, erreicht eine Länge von zwei Meter und zeigt auf der Oberseite in Reihen geordnete gelbe Flecke; längs der Weichen verläuft ein schwarzes Band, am Halse befindet sich ein gelblich-weißer Streifen. Obgleich die weit von einander stehenden spitzen Zähne kein Raubthiergebiß im naturwissenschaftlichen Sinne bilden, so zeigt die Warneidechse in ihren Lebensgewohnheiten alle Merkmale eines echten Räubers. In stark schlängelnder Bewegung holt sie mit Blitzesschnelle ihre Beute (kleine Säugethiere, Vögel, Frösche etc.) ein, klettert vermöge der scharf bekrallten, langen Zehen vorzüglich, schwimmt und taucht trotz mangelnder Schwimmhäute gewandt und ausdauernd.

Der Waran des Berliner Aquariums verschlingt in wenigen Minuten Dutzende lebender Frösche und Eidechsen und kommt erst zur Ruhe, wenn das letzte der sich in seinem Käfig bewegenden Wesen vertilgt ist. Für den Menschen hat das Reptil in seiner Heimath (Malayische Inseln, Sunda-Eilande, Philippinen, Molukken, Ceylon, Ostindien) wegen des wohlschmeckenden Fleisches und der nahrhaften Eier eine große Bedeutung.

Um die als Leckerbissen hochgeschätzte Eidechse zu erjagen, fällt der sonst träge Birmane einen Baum, in welchem sich der Saurier verborgen hält. Waraneier, deren Weiß beim Kochen nicht gerinnt, sind auf den Märkten hinterindischer Städte theurer und gesuchter als Hühnereier. Eine merkwürdige Rolle spielt der Waran bei Bereitung der Gifte, welche die Singhalesen leider noch häufig genug anwenden. Nachdem man mehrere Giftschlangen mit wundgemachten Köpfen am Schwanze aufgehängt, werden einige Warans in die Nähe des aus einem Menschenschädel bestehenden Hexenkessels mit dem Kopfe gegen das Feuer gesetzt, festgebunden und so lange gereizt, bis sie zischen, die Flamme anfachen und das Gift dadurch verstärken. Nichts desto weniger ist die Eidechse ein harmloses Thier, und ihre Mitwirkung bei dem Giftbräu (Kabartel), dessen Hauptbestandtheil Arsenik ist, eitel thierquälerische Komödie. Eine dem Hydrosaurus salvator sehr ähnliche Eidechse (Varanus niloticus) ist als Vertilger der Krolodileier auf den Denkmälern der alten Aegypter dargestellt. –

Die Krustenechse (Heloderma horridum) ist ein aus Südamerika (westlich der Cordilleren) stammender, in Deutschland selten gesehener Saurier; er beansprucht unser volles Interesse, da er die einzige giftige Eidechse ist. Das Reptil ist ein echtes Nachtthier, verbirgt sich bei Tage in Schlupfwinkeln und jagt seine Beute (Frösche, Kerfe etc.) bei eintretender Dunkelheit. Mit großer Geschicklichkeit leckt das Exemplar des Aquariums aus einer Schale den Inhalt einiger Hühnereier. Recht bemerkenswerth in mehrfacher Beziehung ist ein von dem Thier ausgehender widerlicher Geruch. Wegen ihrer angeblichen Schädlichkeit wird die Echse von den Eingebornen sehr gefürchtet und gemieden. Erst in neuester Zeit ist festgestellt worden, daß dieses Thier wirkliche Giftdrüsen besitzt. Nach Mitchell’s und Reichert’s Beobachtungen, die mit den Untersuchungen des Dr. Hermes im Berliner Aquarium übereinstimmen, ist „der Biß für den Menschen ungefährlich, das alkalisch reagirende Gift tödtet aber Frösche, Tauben und Kaninchen in wenigen Minuten. Es wirkt anders als Schlangengift, nämlich durch Lähmung der Herzthätigkeit.“ G. S.     

Krustenechse.


[111]

Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers „Samoa“.

I. Astrolabe-Bai bis Festungs-Kap.
(Schluß.)
Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen).
Archipel der zufriedenen Menschen. – Insel Grager. – Friedrich Wilhelms-Hafen. – Bewohner. – Dampier-Insel. – Bismarck-Gebirge. – Küstenfahrt ostwärts. – Terrassenland. – Festungskap.

Nördlich von Bilibili erstreckt sich fast 15 Seemeilen lang der „Archipel der zufriedenen Menschen“, ein Labyrinth von Inseln und Wasserstraßen, von dessen Charakter man erst bei näherer Untersuchung Kunde erhält. Gleich hinter der ersten etwas vorspringenden Ecke, die ich später Kap Kusserow nannte, öffnet sich eine solche Wasserstraße, die uns sehr der Untersuchung werth schien. Das Whaleboot wurde daher rasch klar gemacht, und wir ruderten, vorsichtig das Loth werfend, hinein. Bald zeigte es sich, daß das rechte Ufer nicht Festland, sondern eine Insel war, Grager genannt, deren Bewohner in nicht geringe Aufregung geriethen. Die großen, Barun genannten Holztrommeln ließen bald ihren dumpfen Klang ertönen, dazwischen schmetterte die Muscheltrompete, die Krieger zum Kampfe herbeirufend, und bald nahten sich bewaffnete Canus. Obwohl hier bereits eine ganz andere Sprache gesprochen wird, als bei Port Constantin, machte ich den Leuten unsere friedlichen Zwecke bald klar, und mittelst einiger Geschenke hatte ich mir auch hier schnell neue Freunde erworben. Wir fanden an der Westseite von Grager (später von den deutschen Kriegsschiffen Fischel-Insel benannt) eine hübsche Bucht, weit besser und geschützter als Port Constantin, in welcher wir zunächst mit der „Samoa“ ankerten, um von hier dieses Inselreich weiter zu erforschen.

Orientirungsskizze der Astrolabe-Bai.

Unsere Bemühungen wurden auf das Glänzendste durch Entdeckung eines vortrefflichen Hafens belohnt, den wir Friedrich Wilhelms-Hafen benannten. Er liegt unter 5° 14 südlicher Breite, ist ganz von Land umschlossen, hat allenthalben gute Tiefe und Ankergrund, eine gute Einfahrt, die Dallmann-Passage, und ist ohne Zweifel der beste Hafen an der ganzen Nordostküste von Neu-Guinea. Durch eine schmale Bootspassage der Insel Bilia schließt sich ein zweites Hafenbassin an, welches später von den deutschen Kriegsschiffen näher aufgenommen und Prinz Heinrich-Hafen genannt wurde. Beide Häfen sind von dichtem Urwald umgeben, in welchem verschiedenartige Vogelstimmen, namentlich das Kreischen weißer Kakadus widerhallte. Sonst herrschte erhabene Ruhe in diesem majestätischen Waldhafen, dessen Ufer unbewohnt sind. Die Eingeborenen siedeln nämlich auf den Inseln, die ziemlich bewohnt zu sein scheinen, denn es wurden mir die Namen von nahezu 40 Dörfern genannt, die aber meist nur aus wenigen Häusern bestehen.

Weiter im Nordosten erhebt sich hinter dem dichten Urwaldsgürtel eine an 1500 Fuß hohe hübsche Bergreihe, deren höchste Spitze Hansemannberg genannt wurde und die eine gute Landmarke zur Einsegelung des Hafens bietet. Diese Bergkette scheint nach den vielen und ausgedehnten Kulturflecken, die wir später hier bemerkten, ebenfalls ziemlich bewohnt, wie die Umgebung des Hafens selbst schönen fruchtbaren Boden aufweist. Hier liegen auch die Plantagen der Inselbewohner, mit denen wir bald im besten Einvernehmen lebten. Ihre Canus umlagerten uns von früh bis Abends, um Tauschhandel zu treiben, und wir besuchten sie auf unseren verschiedenen Boot-Fahrten auf ihren Inseln und in ihren Dörfern. Die letzteren ähnelten bis auf geringe Abweichungen ganz denen auf Bilibili, wir sahen aber keine so großen Bauten als dort. Schnitzereien als Verzierung gewisser Häuser und Plätze waren nicht selten, meist Darstellungen von Fischen in kennbarer Naturwahrheit. Solche aus Holz geschnitzte Kolossalfische, bunt bemalt und an langen Bambu befestigt, entdeckten wir auf einem freien Platze der Insel Tiar, welchen man uns nur ungern betreten ließ. Jedenfalls stehen solche Plätze unter einem gewissen mit Fischerei verbundenen Tabu, wie diese Insulaner überhaupt geschickte Fischer sind. In Leibesgestalt, Ausputz, Waffen und Lebensweise unterschieden sich die hiesigen Eingeborenen nicht von ihren Nachbarn, z. B. den Bilibiliten, mit denen sie aber zum Theil in Unfrieden leben, denn wir wurden sehr vor diesen gewarnt. Aber das gegenseitige Anschwärzen kommt bei diesen Naturvölkern überall vor: hatten uns doch kurz vorher die Bilibiliten vor den „zufriedenen Menschen“ gewarnt.

Zum großen Leidwesen der Eingeborenen verließen wir Friedrich Wilhelms-Hafen, wohl eine unserer wichtigsten Entdeckungen, in welchem gerade einen Monat später die deutschen Kriegsschiffe (S. M. Schiff „Elisabeth“, Kommandant Kapitän z. S. Schering, und S. M. Kanonenboot „Hyäne“) die Flagge hißten und für Deutschland Besitz ergriffen.

Wir dampften zuerst nach Norden und umschifften die Dampier-Insel, bei den Eingeborenen Kar-kar genannt. Sie besteht im Wesentlichen aus einem an 5000 Fuß hohen stumpfkegeligen Berge, einem erloschenen Vulkan, der mit so dichtem Baumwuchs bedeckt ist, daß man anscheinend nur über die Wipfel auf den Gipfel gelangen kann.

Da wir keinen Ankerplatz fanden, steuerten wir wieder in südlichem Kurs nach Astrolabe-Bai hinunter, um von hier aus die Küste nach Osten abzulaufen. Noch einmal sahen wir Bilibili und die malerischen Ufer von Astrolabe-Bai, die sich diesmal viel großartiger als früher zeigte, denn die frühe Morgenstunde brachte uns die Kammlinie der Gebirge wolkenfrei. So klar ist es hier selten, und so bemerkten wir denn weit, weit im Südwesten eine gewaltige Gebirgskette, die wir vorher nicht gesehen hatten und die wahrscheinlich nur sehr Wenige gesehen haben. Sie liegt jedenfalls ziemlich tief im Innern und ist nach oberflächlicher Schätzung an 16 000 Fuß hoch, jedenfalls das höchste Gebirge an der ganzen Nordostküste, welches ich deßhalb Bismarck-Gebirge benannte. Leider lassen sich Landschaften nicht gut beschreiben, um ein einigermaßen klares Bild zu geben. So verzichte ich daher auf die imposanten Ansichten des Finisterre-Gebirges und der [112] übrigen Küstengebirge einzugehen und kann mich mit der weiteren Küstenfahrt bis Festungs-Kap (Fortification Point der englischen Karten) kurz fassen. Oestlich von Kap Rigny nimmt die Gegend einen gänzlich veränderten Charakter an: „Sanfte Buchten, mit niedrigen von Baumgürteln begrenzten Ufern, ausgedehnte Grasflächen oder sanft ansteigende Grasberge; eine Landschaft von ganz europäischem Gepräge, der nur Dörfer, Wege, Viehherden u. dergl. fehlen, um uns in Gebirgsländer unserer Heimath zu versetzen“, lauten die Aufzeichnungen in meinem Tagebuche. Und weiter hin nach Osten tritt wieder ein eigenthümlicher Charakter auf: das Terrassenland, welches sich bis nach Fortification-Spitze erstreckt. Viele Meilen weit steigt die Küste in 3 bis 4 gleichmäßigen Absätzen, gleich mächtigen Stufen, an, die auf ihrem Scheitel ausgedehnte Wiesenflächen tragen, während der Kamm des 3000 bis 4000 Fuß hohen Küstengebirges mit dichtem Urwalde bedeckt ist. Dieses Terrassenland, von zahlreichen zum Theil sehr malerischen Schluchten, in welchen Wasserläufe herabbrausen, unterbrochen, besteht, wie meine Untersuchungen zeigten, aus gehobenem Meeresboden, dichtem Korallfels. Kein Zweifel, daß sich diese ganze Küste mit ihrem guten Boden und den weiten Grasflächen trefflich für Kultur und Viehzucht eignet, denn vor Allem besitzt sie eins, was Australien so sehr mangelt: Wasserreichthum. Dagegen blieben unsere Bemühungen, einen Hafen zu finden, erfolglos: überall fällt das Meer steil vom Ufer in große Tiefen. Wir kamen übrigens nur wenige Male mit Eingeborenen in Berührung, da diese Küste nur spärlich bewohnt ist. Auf einer Strecke von nahezu 130 Seemeilen zählte ich nur 24 zum Theil sehr kleine Siedelungen. Aber namentlich gegen Fortification-Spitze sieht man ausgedehnte Kultivationen der Eingeborenen; ihre Dörfer entdeckten wir erst später; sie liegen in Schluchten versteckt.

Vergeblich hatten wir uns bemüht, Cape King William, von Dampier 1700 so benannt, auszumachen, konnten aber mit Fortification Point von Moresby nicht im Zweifel sein. Der spitze grüne Berg mit seinen horizontalen Gallerien sieht in der That einem mit Festungswerken besetzten täuschend ähnlich. Oft glaubt man in regelrecht abgelagerten Korallmauern und Felsen Wälle und Geschütze zu erkennen.

Da unser Kohlenvorrath zu Ende ging, wandten wir uns ostwärts und trafen nach einer langweiligen und nicht gefahrlosen Fahrt längs der riffreichen Südküste Neu-Britanniens in den letzten Tagen des Oktober wieder in Mioko ein. Wie armselig erschien uns die Insel mit der einförmig grünen Küste von Neu-Irland und Neu-Britannien gegen das, was wir soeben in Neu-Guinea gesehen hatten! Unser Wunsch nach mehr war daher ein berechtigter. Er sollte bald erfüllt werden.

(Weitere Artikel folgen.)

Blätter und Blüthen.


Das Abbringen der Fahnen zum kaiserlichen Palais in Berlin. (Mit Illustration S. 97.) Wie die großen Paraden auf dem Tempelhofer Felde ein Ereigniß, ja ein Festtag sind, der halb Berlin in Bewegung setzt, so ist ein nicht minder interessantes militärisches Nachspiel das Abbringen der Fahnen zum kaiserlichen Palais nach Beendigung der Paraden.

Dichtgedrängt und in musterhafter Ordnung gruppirt harrt schon die Menge dem Anmarsch der Fahnen-Kompagnie, welche, mit der Regimentsmusik an der Spitze, gewöhnlich die Fahnen sämmtlicher in der Parade gestandenen Infanterie-Regimenter (die Kavallerie bringt ihre Standarten besonders) abzubringen kommandiert ist.

Lautlos sind Aller Augen auf das bekannte historische Eckfenster gerichtet. Ist doch die Gelegenheit geboten, dort die ehrwürdige Gestalt des geliebten Monarchen zu erblicken, sobald der Aufmarsch der Truppen erfolgt. Denn in der Regel ist der oberste Kriegsherr schon vor diesem militärischen Schauspiel in sein Palais zurückgekehrt.

Diesen Moment des Fahnen-Abbringens zeigt das vorliegende Bild. Mit klingendem Spiel ist das Fahnenkommando aufmarschirt und die Fahnenträger, geführt von einem Officier, treten vor die Front. Hüte und Tücher werden geschwenkt. Der greise Monarch ist ans Fenster getreten. Freundlich lächelnd und huldvoll grüßend erwidert er die enthusiastischen Zurufe der Menge. Hier entfaltet sich ein schönes Bild, hier zeigt sich so recht die Liebe und Verehrung, die dem Heldenkaiser aus allen Schichten der Bevölkerung entgegen getragen wird. Nicht genug, daß Erwachsene die Freude haben sollen, den allverehrten Herrscher von Angesicht zu Angesicht zu schauen, nein, Väter und Mütter heben ihre Kinder hoch empor, damit auch sie des Kaisers Antlitz sehen und in die Händchen klatschen können!

Jetzt ertönt das Kommando: „Achtung! Präsentirt das Gewehr!“ und unter den Klängen des Präsentirmarsches werden die Fahnen, die meist Spuren berühmter Schlachten tragen und mitunter nur noch aus Fetzen bestehen, in des Kaisers Palais gebracht. Dort, in unmittelbarer Verbindung mit den Gemächern des Herrschers, befindet sich das Fahnenzimmer, wo diese Ruhmeszeichen preußischer Waffen ihre Aufstellung finden.

Nun verläßt das Fahnenkommando das Palais wieder, marschiert die Rampe herunter und tritt zu seinem Truppentheil zurück. Dann ertönen die Kommandos, die Tambours schlagen an und in strammer Haltung wird abmarschirt.

Das Eckfenster des Kaisers ist längst wieder leer und mit dem Abmarsch der Truppen zerstreut sich auch die größere Menge. Aber dem Palais gegenüber, unter der Reiterstatue Friedrich’s des Großen, wird es trotzdem nicht leer. Hier sammeln sich immer wieder Gruppen Neugieriger und schauen hinüber zum historischen Eckfenster in der Hoffnung, das greise Haupt ihres Kaisers abermals erblicken zu können. H. Heiberg.     


„Was schreibt er?“ (Mit Illustration S. 105.) Er schreibt: „Mein herzlieber Schatz! Recht schön ist die Residenz und Mädle giebt’s so viel als Bäume, aber keine wie Du. Und nirgends ein Bergle und kein Wasser nicht, so weit ich schau, Alles eben und sandig, die Straßen schön gepflastert. Ich wär’ schon gern Soldat, wenn ich kein Schatz daheim hätt’ und mir’s nicht wie ein Mühlrad im Kopf ’rum ging, daß Dein Vater nicht will und meiner au nicht. Aber hab’ keine Sorg’, denn die Hauptsach’ ist eins: Mir wolle! und drum bin ich fidel. Sechs Vätter und zwölf Mütter können nichts gegen eine rechte Lieb’, so eine thut Wunder, drum sei nicht verzaget –“

So liest das Minele und lächelt und glaubt’s und sieht die Wunder schon vor sich erstehen. Die Aeltere, die weiß – „so fescht und so treu halt mei Hansel a zu mer.“

Die dritte Kameradin hat noch keinen Schatz gefunden, sie guckt in den Brief, damit ihr ja kein Wort entgehe – „Ach,“ denkt sie, „wenn i au emal so a Schreibbriefle krieg’!“ H. Billinger.     


Ein Ferienheim für Lehrerinnen. Da in Folge der anstrengenden Berufstätigkeit bei Lehrerinnen häufig Leiden der Lunge oder der Halsorgane eintreten, deren Beseitigung durch eine geeignete Badekur allzu oft der bedeutenden Kosten wegen unterbleiben muß, ist in Lehrerinnenkreisen der östlichen Provinzen Preußens und des Königreichs Sachsen die Idee angeregt, durch Schaffung eines eigenen Heims den Gebrauch einer Kur möglichst zu erleichtern, und zwar zunächst in Salzbrunn in Schlesien. Dort nun ein entsprechendes Haus zu bauen, in welchem Lehrerinnen für einen möglichst niedrigen Preis billige und gesunde Wohnung und Verpflegung und die Annehmlichkeiten des Anschlusses an Kolleginnen finden sollen, ist die Aufgabe, für welche ein eben zusammengetretenes Komité das Interesse weitester Kreise erbittet. Wesentlich erleichtert ist die Erreichung des angestrebten Zieles bereits dadurch, daß der Fürst von Pleß die Hergabe eines geeigneten Bauplatzes in Salzbrunn in sichere Aussicht gestellt hat, wenn auch das Unternehmen in seinem vollen Umfange nur ausführbar ist bei hochsinniger Mithilfe Aller, welchen an der Verwirklichung desselben gelegen ist. Von Herzen wünschen wir dem segensreichen Unternehmen kräftigen Fortgang, gilt’s doch, unseren allzeit so pflichttreuen Lehrerinnen ein Zeichen dankbarer Anerkennung zu geben. **     


Europäische Pflanzen in Amerika. Es ist eine bekannte Thatsache, daß unter den von Amerika nach Europa eingeführten Pflanzen die sogenannte Wasserpest binnen wenigen Jahrzehnten eine so außerordentliche Verbreitung fand, daß sie zu einier wahren Plage wurde. Gleichfalls zu einer Last sind in Amerika einige von Europa aus eingewanderte Pflanzenarten geworden, so außer dem im Anfang dieses Jahrhunderts über das Meer dorthin gekommenen Leinkraut namentlich der gemeine Natterkopf, auch „blauer Heinrich“ genannt. Derselbe hat sich in den Ebenen von Virginien so massenhaft angesiedelt, daß zur Zeit seiner Blüthe das Land weit und breit wie von einem lebhaft gefärbten himmelblauen Teppich überspannt erscheint. Die Gesammtzahl der in Nordamerika heimisch gewordenen europäische Pflanzenarten beträgt gegen 260. **     




Kleiner Briefkasten.

Wildermuth-Denkmal. In einer Anzahl von Exemplaren der Nr. 5 der „Gartenlaube“ ist ein Satzfehler stehen geblieben: Herr Banquier Jäger, welcher zur Annahme von Beiträgen für das Wildermuth-Denkmal bereit ist, wohnt nicht in Stuttgart, sondern in Tübingen, Uhlandstraße 2.

G.H. in Tr. Lesen Sie einmal die geistvollen Plaudereien „Aus meinem Wiener Winkel“ von Ferdinand Groß, so werden Sie sich bei dem Kapitel „Eine Sängerin wider Willen“ bald überzeugen, daß übermusikalische Familien nicht bloß in Ihrem idyllischen Bergstädtchen eine kleine Plage bilden. Auch an den übrigen Plaudereien dürften Sie Gefallen finden.


Inhalt: [ Inhalt der Nr. 6 des Jahrgangs 1886, hier nicht wiedergegeben.]


  1. Durch Verdrehung des arabischen Wortes Waran, d. h. Eidechse, ist das Thier zu dem Namen Warner (Salvator, Monitor) gekommen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: millst