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Die Gartenlaube (1886)/Heft 52

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 52.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Unser Männe.
Von W. Heimburg.
(Schluß.)


Was wir nicht Alles zu thun hatten in der geheimnißvollen trauten Zeit vor Weihnachten! Abends, wenn die Kleine schlummerte, saß Gretchen in meinem Zimmer auf dem Sofa und nähte Kleider für ein Puppenbaby, das die Augen auf- und zumachen und schreien konnte und den Kopf voller Flachslöckchen hatte. Ich tapezierte eigenhändig eine Puppenstube, zu der meine Schwägerin die Bewohner ankleidete – einen Papa in Uniform, eine Mama im Spitzenschlafrocke und sechs Puppenkinder. Wir waren so eifrig, daß wir das Sprechen fast vergaßen.

„Wie sie sich freuen wird, Rudolf!“ meinte Gretchen endlich und besah entzückt das Hütchen, welches eben fertig geworden war, „es ist doch gut, daß wir ein Mädchen haben; für einen Jungen findet man so schwer Spielzeug.“


„Kinder, Ihr seid närrisch,“ behauptete meine Schwiegermutter, „das Würmchen ist ja noch viel zu klein für diese schönen Sachen, versteht nichts davon und wird sie ruiniren.“

Aber da kam sie schön an!

„Else ist ein außergewöhnlich kluges Kind,“ erklärte Gretchen ganz roth; „sie läuft und spielt mit ihren anderthalb Jahren und weiß ganz genau, was sie will!“

„Sie sagt doch schon: Haben! haben!“ bestätigte ich, „und schreit, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzt. Nein, die ist ein Pfiffikus, und das hat sie von ihrer Mutter.“

„Und im vorigen Jahre hat sie schon immer nach den Lichtern gegriffen und gelacht,“ bemerkte die kleine Schwägerin.

„Und sie wiegt ihre alte Puppe schon genau ebenso, wie es die Minna mit ihr selbst macht,“ begann Gretchen wieder; „hast Du das nicht gesehen, Mama?“

Mama nickte. „Wenn sie nur der Minna weiter nichts ablernt.“

„Wieso?“ fragten wir wie aus einem Munde.

„Ich weiß nicht, aber das Mädchen gefällt mir gar nicht.“

„Warum denn?“ fragten wir wieder, „sie spielt mit der Kleinen so nett.“

„Nun, ich kann mich ja auch irren; aber wenn mich nicht Alles täuscht, so hat sie einen Bräutigam,“ versetzte meine Schwiegermutter. „Ich sah sie verschiedentlich auf der Treppe neben einem Menschen stehen, – sie riß zwar immer aus, wenn ich kam –“

„Ja, du liebe Zeit, Mama, warum sollte sie nicht einen Schatz haben?“ entschuldigte Gretchen.

„Nein, das gehört sich nicht, liebes Kind,“ unterbrach ich sie, „ein Kindermädchen mit einem Schatz ist ein Unding, paßt sich nicht; sie denkt dann mehr an ihn als an unsere Maus, und kurz und gut, wenn dem so ist, wird ihr gekündigt.“

„Aber Rudolf!“

„Dabei bleibt’s, mein Herz.“

„Halte ich für sehr richtig,“ erklärte die Schwiegermama, „das wird sich Alles finden. Habt Ihr denn schon einen Baum?“

„Ach, eine herrliche Tanne, und prachtvolles Konfekt!“ rief Gretchen. „Mama, es wird der schönste Weihnachtsabend, den ich je erlebt habe!“

„Freilich! Freilich!“ nickte die stattliche Dame. „Es ist reizend, für ein Kind die Lichter anzuzünden. Habt Ihr Alles besorgt für die Leute?“

„Alles! Alles! Was denkst Du denn, Mamachen, übermorgen ist heiliger Abend!“ erklärte Gretchen. Und nun rechnete sie her: „Die Köchin – ein Kleid; das Kindermädchen – einen Mantel; der Bursche – eine Uhr.“ Dann lief sie hinüber zu der Mutter und wisperte ihr etwas ins Ohr. „Aber vergiß es nur nicht, Mamachen, und bitte, bitte, seid pünktlich um fünf Uhr hier; Kleinchen darf nicht so lange aufbleiben.“ –

Der heilige Abend war angebrochen. War das ein Tag! So viel strahlende Gesichter hatte ich lange nicht gesehen: die Anna lachte in der Küche, die Minna in der Kinderstube; meine Frau koste mit der Kleinen, wenn sie geschäftig an dem Bettchen [906] vorüber kam, und Fräulein Else lag darin, strampelte mit den Beinchen und erzählte sich selbst lange Geschichten. Durch die Fenster sah, ebenfalls lachend, die helle Wintersonne, und im ganzen Hause duftete es nach Tannenbaum, Wachskerzen und Kuchen.

Wie eilig und wichtig die junge Mama war! Sie wußte gar nicht, wo zuerst beginnen. Im Salon stand die Tafel zur Bescheerung bereit; wir hatten für so Viele aufzubauen, für Mamachen und Schwägerin und zwei Brüder meiner Frau, die auf Urlaub daheim waren; für die Dienerschaft und vor Allen für das Kind. Sie würden ja Alle nur das Kind ansehen, und die Brüder kannten das Gretchen noch nicht als Hausfrau und Mama.

Heute nun wollte sie sich zeigen; alles Silber war herausgegeben, der feinste Damast; für das Baby das weiße gestickte Kleidchen mit den himmelblauen Schleifen.

„Rudolf! Rudolf!“

„Ja, mein Kind!“

Sie kam athemlos herein mit einem Billet. „Denke Dir, die Mieze! die Mieze hat sich verlobt mit dem Assessor! Er kommt heut Abend natürlich mit – Rudolf, da steht’s!“

„Nun, das ist allerliebst!“

„Und da schreibt Mama; sie schickt Champagner für heute Abend. Rudolf, ich bitte Dich, Du mußt noch eine Kleinigkeit besorgen für den neugebackenen Bräutigam, eine Meerschaumspitze oder ein Bierseidel oder dergleichen; man kann ihn doch bei der Bescheeruug nicht umgehen.“

„Ja, mein Engel –“

„Aber rasch! Du mußt mir nachher noch helfen beim Anputzen des Baumes.“

„Sofort, Gretchen – das heißt, wenn ich hier fertig bin; ich habe auch meine Geheimnisse.“

So ungefähr drei Uhr Nachmittags machte ich mich auf den Weg, um den Auftrag meiner Frau auszuführen. Ich fand bald, was ich suchte, drängte mich durch die hastig treibende Menge auf den Weihnachtsmarkt, kaufte einen Veilchenstrauß für Grete, freute mich über die erwartungsvollen Gesichter von Alt und Jung, dachte an mein blondes Mäuschen zu Hause und fand, daß ich doch ein glücklicher, ein sehr glücklicher Mensch sei. Wie arm war ich einst, wie reich bin ich jetzt! Die Weihnachtsabende von früher fielen mir ein … wie kalt, wie düster, wie ungemüthlich! Das eine Mal trank ich mir einen Rausch in Punsch; das war die allerhäßlichste Weihnacht. Meistens aber saß ich allein, ganz allein; ich hatte nicht eininal Jemand, der mir eine Weihnachtskiste sandte, die ich auspacken durfte.

Auf einmal fiel mir die Weihnacht ein, an der ich Männe kaufte, Männe, den treuen Freund meiner Einsamkeit. Wie lange hatte ich nicht an den kleinen Kerl gedacht! Der Bursche hatte indessen gewechselt und Männe mitgenommen; aber siehe da! schon anderen Tages war der Hund wieder im Pferdestall. Der neue Bursche hatte es mir gemeldet und gefragt, ob das Thier bleiben solle? Ich hatte kurz genickt. Der Hund war ein Stachel in meinem Gewissen, der einzige wunde Punkt zwischen Gretchen und mir. „Behandle ihn gut!“ – „Zu Befehl, Herr Lieutenant.“

Seitdem hatte ich in der That mich nicht mehr um ihn gekümmert. Diese dumme Sentimentalität! Ich stand plötzlich im Schlächterladen und kaufte eine Wurst; ich wollte noch in den Pferdestall, bevor oben die Bescherung anfing. Im Stalle war weder Männe noch der Bursche; die Stubenthür zu des letzteren Quartier fand ich verschlossen: er half wohl oben in der Küche. Aber ein freudiges Schnuppern und Kratzen drinnen verrieth mir den Aufenthalt des Thieres. „Warte nur, alter Kerl, ich schicke Dir die Wurst nachher.“

Es war schon leichte Dämmerung, als ich die Flurthür öffnete und lautes Gespräch und Lachen mir entgegenscholl. Ich hatte mich natürlich verspätet – sie waren schon Alle da? Richtig, meine Stube voller Menschen; die Brüder, das Brautpaar, die Schwiegermama beim Kaffee.

„Wo ist meine Frau?“ erkundigte ich mich unter Händeschütteln und Glückwünschen.

„Im Salon beim Weihnachtsmann, und sie erwartet Dich. Genire Dich nicht, wir unterhalten uns hier schon.“

Im Salon war es still und feierlich; die Tritte der kleinen geschäftigen Füße hörte man kaum auf dem weichen Teppich; nur die Seide des Kleides raschelte leise, und wir sprachen mit gedämpfter Stimme; das Kind schlief noch.

„Rudolf,“ flüsterte sie, „ist es nicht süß, ist es nicht reizend?“ Und sie zog mich zu dem Plätzchen unter dem Tannenbaum, wo sie alle die bunten Spielsachen aufgebaut hatte. Wir standen Beide davor und sahen uns in die Augen; „Unser Kind! Unser liebes Kind!“ – Dann gaben wir uns einen Kuß, sie wischte sich eine Thräne ab, und wir versicherten uns gegenseitig, es sei zu schön auf der Welt, wir seien zu glücklich, sie und ich und das Kind –.

„Geht’s noch nicht bald los?“ rief draußen die Stimme von Gretchen’s jüngstem Bruder, dem Fähnrich.

Wir fuhren wie ertappte Liebesleute auseinander. Grete verschwand im Kinderzimmer, nachdem sie mich noch ermahnt hatte, nicht unter das Tuch zu sehen, das die für mich bestimmten Gaben verhüllte. Und während ich rasch das Etui mit dem heißersehnten Armbande und noch verschiedene Kleinigkeiten auf ihren Platz legte, hörte ich sie mit dem Kinde im Nebenzimmer plaudern: „Ei, ei, mein Mäuschen, jetzt – jetzt aber hübsch still halten, der Weihnachtsmann ist da.“

Dann brannte ich die Lichter an und klingelte, und das Freuen und Jubeln war genau so, wie Jeder meiner Leser es kennt, wenn er einmal im Kreise glücklicher Menschen einen Tannenbaum brennen sah. Grete und ich hatten nur Augen für die Kleine; Einer nahm sie dem Andern ab; für jeden Freudenlaut küßten wir sie. Großmama und Onkel und Tanten, sogar der neue Bräutigam legten der kleinen Prinzessin so viele Gaben zu Füßen, daß wir uns wie in einem Nürnberger Spielwarengeschäft befanden.

„Hier, laßt sie einmal Champagner kosten,“ rief der jüngste Onkel. „Wahrhaftig, die versteht’s – Grete, hast Du gesehen, wie Deine Tochter schlucken kann?“

„Macht mir das Kind nicht betrunken,“ bat meine Frau.

„Ei, das schadet ihm nichts.“

„Nein, das dulde ich nicht,“ erklärte die Großmama, „seht doch, sie hat schon ganz kleine Augen!“ Und sie entriß uns das Baby fast gewaltsam und verschwand mit ihm in die Kinderstube.

Um sechs Uhr gingen wir zu Tische; Gretchen hatte dem Brautpaar zu Ehren das Souper in ein Diner verwandelt; sie lief noch einmal eilig zu der Kleinen und nahm dann den Platz vor der dampfenden Suppenschüssel ein. „Sie schläft ihren Rausch aus,“ lachte sie, „Minna sitzt an ihrem Bettchen. Ihr habt ihr auch zuviel Champagner gegeben.“

So eine Stunde mochte vergangen sein in fröhlicher Unterhaltung, in Neckerei und Jugenderinnernngen; da stand die Großmama auf und öffnete das Fenster.

„Horcht, die Glocken!“

Wir waren Alle still. Einem Jeden von uns kam wohl ein feierlicher Gedanke. Das junge Brautpaar hatte sich verstohlen die Hände gereicht; Gretchen’s Kopf lag an meiner Schulter; der ältere Schwager dachte hinaus an das Mädchen, das er heimlich liebte, an künftige glückliche Weihnachten, der jüngere schaute ernsthaft in sein Glas. Am Fenster stand eine Frau und wischte sich heimlich die Thränen. „Sie denkt an Papa,“ flüsterte Gretchen mir zu.

Da auf einmal mischten sich in diese Glockenklänge Töne, die mich erschreckt zusammenfahren ließen; – es war das halberstickte Geheul eines Hundes, erbärmlich klagend, Hilfe heischend.

Ich sprang empor. „Männe! das ist Männe’s Stimme! Wo mag er sein?“

[907] „Der unnütze Störenfried! Wie ist er nur wieder heraufgekommen?“ hörte ich noch ärgerlich Gretchen rufen. Dann stand ich im Vorflur und horchte. Aber in diesem Augenblick war Alles still.

„Männe! Männe!“ rief ich und riß die Flurthür auf – Nichts zu sehen. Ich trat in die Küche; der Bursche und die Köchin in vollster Thätigkeit, die Letztere schob eben eine zischende rauchende Pfanne vom Feuer.

„Wo heult der Hund?“ rief ich.

Der biedere Pole stand mit offenem Munde, das Tuch und einen abgetrockneten Teller in den Händen. „Weiß ich nicht, Herr Lieutenant: war ich vorhin unten und gab ihm Wurst, meine ich, er ist im Pferdestall.“

Da – wieder das gedämpfte und doch so heftige Kratzen, das Heulen, Winseln! Im nächsten Augenblick war ich durch den schwach erhellten Salon geeilt und hatte die Thür der Kinderstube geöffnet.

Barmherziger Gott!

Eine Wolke erstickenden Qualmes zog mir entgegen, ein laut klagendes Geschöpf sprang an mir herauf, leckend, winselnd, und floh dann zurück in das raucherfüllte Zimmer. Halb sinnlos vor Angst drang ich nach; dort wußte ich das Bett des Lieblings – ich tastete, mühsam athmend, hinüber, griff in die Kissen und hob das Kiud heraus; schwer lag es in meinen Armen. Und nun eilte ich aus der tödlichen Luft nach dem Salon.

Der Bursche war mir nachgekommen, hatte gesehen und die Schreckenskunde an die festliche Tafel gebracht. Ich saß mit dem leblosen Kinde am Fenster, das ich instinktiv geöffnet, und vor mir lag zitternd, schreckensbleich, keines Wortes mächtig, meine Frau auf den Knieen.

„Mein Kind, Rudolf, mein Kind!“

Ich hörte Rufen und Schreien; ich fühlte, wie meine Schwiegermutter es mir vom Arme nahm, und sprang auf die Füße und richtete die arme kleine Frau empor.

„Komm, Grete, sei stark!“ rief meine Schwiegermutter, „Wasser – Eau de Cologne – einen Arzt!“ Und Gretchen eilte zitternd zu dem Tische, auf den man das Kind gelegt hatte; mit bebenden Händen entkleidete sie es, mit bebenden Händen und angstverzerrtem Gesichte. Das Zimmer hatte man rasch erhellt; sie waren Alle da bis auf meinen älteren Schwager und den Burschen, die den Arzt suchten. Man hörte nur das angstvolle Athmen, das unterdrückte Schluchzen meiner Frau.

„Bleib’ ruhig, Grete,“ tönte die Stimme meiner Schwiegermutter, „ruhig, mein Liebling! So, nun das Hemdchen herunter.“

Ich stand dabei und sah, wie das blasse Antlitz der alten Frau sich zu dem tief gerötheten Gesichtchen des Kindes hernieder beugte, wie sie die Fußsohlen rieb und die kleine Brust. Keiner von uns wagte zu athmen; eine lange Pause, und dann – „es lebt, mein gutes Kind, ich fühle das kleine Herz, wie es schlägt!“ Ein Paar große Tropfen perlten über die Wangen der Großmutter.

„Es lebt!“ rief Gretchen. „Großer Gott, habe Dank!“ Sie nahm es empor, hüllte es in die Decken und eilte wieder an das offene Fenster; frische reine Luft strömte ihr entgegen, und leise, leise begann das Kind zu weinen.

„Weine nur, mein Liebling, weine nur!“ – Es klang mir wie erlösend in diesem Augenblicke. Ich hielt sie Beide umfaßt, Mutter und Kind.

„Gretchen!“

„Rudolf, es wäre auch mein Tod gewesen.“

„Sprich nicht so, Gretchen.“

Sie waren Alle hinausgegangen. Wir standen da, noch immer den neu geschenkten Liebling im Arme, der jetzt blaß, aber mit großen offenen Augen uns anschaute. Ja, rasch kann sich Glück und Unglück wenden!

„Wie ist es doch gekommen, Rndolf?“

Da flog die Salonthür auf, und ein bleiches verstörtes Mädchen eilte herein und fiel Gretchen zu Füßen.

„Gnädige Frau – Verzeihung – barmherziger Gott, vergeben Sie mir!“

Meine Frau wandte den Kopf von ihr und winkte, sie solle sich entfernen.

„Herr Lieutenant,“ jammerte die Minna, und rutschte auf den Knieen zu mir herüber, „ich bin schlecht gewesen! Ich bin zu meinem Bräutigam gelaufen; ich hatte ihm ein Paar Pantoffeln gestickt, die ich ihm bringen wollte; Elschen schlief so schön, und ich habe vergessen, den Wachsstock auszulöschen – das Nachtlicht brannte so trübe, und ich fand keinen Leuchter und stellte ihn in den Nähkorb, und da ist er heruntergebrannt und hat die Wolle angezündet. Ich war aber nur in Angst wegen Männe, der sich in die Stube geschlichen hatte, und lief, so rasch ich konnte, wieder her, und nun – doch zu spät, Herr Lieutenant!“

„Gehen Sie!“ befahl ich, denn eben trat der Arzt ein. Wankend verließ das Mädchen das Zimmer.

„Es lebt, Herr Doktor!“ riefen wir ihm entgegen.

„Was sind das für Sachen!“ sagte er kopfschüttelnd und beugte sich über die kleine Patientin. Er kannte die ganze Unglücksgeschichte bereits von meinem Schwager. „Ein paar Augenblicke später, Herr Lieutenant, dann – welcher glückliche Zufall hat Sie noch rechtzeitig hingeführt?“

„Ja, ein glücklicher Zufall, Herr Doktor!“ und meine Augen sahen ernst in die von Gretchen, die sich langsam senkten.

„Ist das Kind außer Gefahr?“ fragte sie hastig, und ihr blasses Gesicht färbte sich auf einmal dunkelroth.

„Ich sollte es denken, gnädige Frau. Legen Sie die Kleine schlafen in einem andern, frisch gelüfteten Zimmer. Morgen früh sehe ich wieder nach, und – sorgen auch Sie, daß Sie ruhig werden.“

Bald herrschte tiefe Stille in unserer Wohnung. Sie gingen Alle und drückten uns nun ganz besonders fest die Hand. Im Salon neben dem Weihnachtstisch stand jetzt das Bettchen mit dem schlummernden Kinde. Leise schluchzend kniete die Mutter daneben, die Hände gefaltet, den Kopf in die Kissen geborgen.

Dann erhob sie sich. „Komm mit, Rndolf!“

„Wohin?“

„Komm mit!“ Sie zog mich an der Hand hinaus, durch den Korridor, die Treppe hinunter. „Der Hund, Rudolf, der gute Hund!“ flüsterte sie auf der Schwelle des Pferdestalles. „Rufe Du ihn, denn mir wird er nicht gehorchen.“

„Männe!“ rief ich in den dunstig-warmen dunklen Stall hinein; da raschelte es im Stroh und kam zu mir herüber, winselnd und bellend vor Freude.

„Komm, Männe!“ sagte Gretchen und hob ihn auf den Arm, „komm!“ Und als wir Beide wieder über den Hof schritten, da sah ich im Sternenlichte der heiligen Nacht das schwarze Fellchen des Hundes an der zarten Wange der blonden Frau, und sah die großen Thränentropfen, die aus ihren Augen fielen, und die Hand, die das Thierchen streichelte. So stieg sie rasch und stumm die Treppe empor.

„Setz ihn nieder, Gretchen; er kommt schon mit,“ bat ich. Aber sie schüttelte nur den Kopf, und oben verschwand sie rasch im Eßzimmer mit dem Hunde.

Ich folgte ihr nicht; ich stand im Salon am Fenster und dachte der letzten Stunden.

O furchtbar!

Nun im Eßzimmer leise Tritte, Klappern von Tellern; „Komm, Männe!“ sprach Gretchen weich. „Komm!“

Nach einer Weile trat sie an meine Seite und faßte meine Hand. „Vergieb mir, Rudolf!“

„Was denn, Gretchen?“

[908] „Der Hund – der Männe, unser Männe –! Ich weiß es! Es hat Dich jahrelang geschmerzt, daß ich ...“

Ich strich ihr über das weiche Haar. „Laß gut sein, Gretchen, es ist Alles vergessen in – dieser Stunde!“

Eben drängte er sich durch den schmalen Spalt der Thür und lief herüber zu mir. „Guter braver Kerl, sei bedankt!“

Er stand wedelnd vor uns und sah uns abwechselnd an, als wollte er sagen: „Was habt Ihr närrischen Menschen: ich that einfach nur meine Hundepflicht.“

So saßen wir schweigend am Bettchen des Kindes, lange; der Männe lag auf meinem Schoß, wie in vergangenen Tagen.

Fröhliche selige Christnacht senkte sich über die Erde und redete zu uns von Liebe und Frieden. Fest umschlungen hielten sich unsere Hände in echter Weihnachtsdankbarkeit. Ja, Liebe und Frieden über der weiten großen Welt, Liebe und Frieden in der engen Welt unseres Hauses.

Merkst du, wie süß sie walten? Wann haben wir uns je so treu in die Augen gesehen, mein Gretchen und ich? So sonder Schatten, sonder Bitterkeit?

Und auch du, kleiner schwarzer Gesell, auch du hast theil an diesem Frieden. Du wirst nicht mehr frierend und hungernd auf der Schwelle sitzen und mich anschauen mit dem rührenden fragenden Blick der stummen mißhandelten Kreatur – nie mehr!

Leise tickt die Uhr, leise rauscht die Goldfahne des Tannenbaumes: und leise athmet unser geliebtes Kind. Bleibt bei uns, Liebe und Frieden immerdar!


In der Sylvesternacht.

Nichts wissen die Gestirne droben von dem irdischen Jahre, von den Merkzeichen, welche der Mensch ihnen abgelernt hat ... wir richten den Blick empor zu den Milchstraßen, zu den fernen Sonnen, für deren langsame Fortbewegung in unbekannte Regionen des Himmels Jahrhunderte und Jahrtausende ein allzu kleines Zeitmaß sind. Und doch kehrt der Blick, vom Schwindel der Unendlichkeit befangen, wieder zur Erde zurück; denn dort oben mag das Fernrohr des Astronomen lange Nächte hindurch verweilen, um die Wunder des Himmels zu ergründen: das unbewaffnete Auge muß, vom Glanze des Himmels geblendet, bald wieder auf den Gestalten der Erde ausruhen, die unser heimathlicher Boden ist und uns festhält, mit unserem ganzen Sein, Denken und Fühlen! Und da ist die Jahreswende ein wichtiger Zeitabschnitt. Mit jeder Sekunde zwar schließt eine Vergangenheit, beginnt eine Zukunft; aber das geschieht unmerklich im Fluß der alltäglichen Dinge; nur einmal wird die Grenze zwischen dem einen und andern Tag, welche zugleich die Grenze zwischen dem scheidenden und dem kommenden Jahr ist, von Allen erwartet, von Allen gefeiert, und ein banger freudiger Herzschlag harrt dem Schlag der Mitternachtsglocke entgegen.

Dort durch den Schneenebel schimmern die Laternen … nicht bloß an diese und jene feste Stelle ist der helle Schein gebannt; hin und her wie Irrlichtertanz bewegen sich die schimmernden Punkte; es sind die Laternen der Equipagen, welche zu den festlich erleuchteten Villen und Prunkgebäuden fahren, um die geladenen Gäste zur Heimfahrt abzuholen. Da rauscht die Ballmusik, da wird in das Neue Jahr hineingetanzt und gejubelt; und über dem wilden Galopp, über den Touren des Kontretanzes, über den Knixen der Quadrille à la cour vergißt man, daß diese Nacht von anderen Ballnächten sich unterscheidet. Da … ein Wink, ein plötzlicher Halt … der Minutenzeiger der Stadtuhr nähert sich der mitternächtigen Ziffer; die Bowlen leeren sich … die Gläser füllen sich! Athemlose Stille … die schadenfrohen Geisterchen der Sylvesternacht kichern in allen Winkeln: denn die Schönen, welche dem Neuen Jahr ihre Huldigung darbringen wollen, haben wenig von dem feierlichen Ernst, den der Augenblick verlangt! Sie sind vom Tanz erschöpft, athemlos … hier und dort ist ein Löckchen aufgegangen, eine Schleife zerknittert, ein Sträußchen zerdrückt! Da tönt der Glockenschlag … die Gläser klingen zusammen! Man wünscht sich Glück … wandelt es hier nicht leibhaft umher in luftigen Gewändern? Vielsagende Blicke werden getauscht – und im Spiegel glaubt jedes schöne Kind, wenn es sich selber erblickt, eine Braut zu sehen. Und nicht Unrecht hat der ahnungsvolle Engel, wenn ihn ein goldner Fittich von Millionen trägt. Es werben um sie die Freier des vergangenen Jahres; das künftige lockt neue herbei, die schon jetzt mit sehnsüchtigen Augen ihre Beute verschlingen. Die arme Magd draußen in der Küche sucht aus dem Bleiguß die Gestalt des künftigen Bräutigams herbeizuzaubern: hier steht der Bräutigam von Fleisch und Blut … nicht einer, sondern einer neben dem andern! Dort aber, der junge Kavalier, der an die Säule lehnt … er harrt so stolz und selbstgewiß, bis die thörichten Jungfrauen ihr Lämpchen angesteckt haben, um ihn zu schauen … denn er ist ein junger Krösus, und bald raschelt’s um ihn von knitternden Gewändern, von Grazien, welche ein süßes Lächeln auf ihre Lippen heften, um ihm ein glückliches neues Jahr zu wünschen, und nicht wie Faust braucht er hinabzusteigen ins ewige Dunkel, um die Mütter aufzusuchen; denn die Mütter kommen hinter den Töchtern, um mit ihm anzustoßen, und sie haben dabei etwas Ahnungsvolles und Geheimnißvolles, als wollten sie mit dem Zauber des klingenden Glases den jungen Millionär in einen Schwiegersohn verwandeln. Dort aber im Schatten der Epheulaube stößt ein junges Paar an mit heimlichem Einverständniß, in seliger Liebe, von der noch „Niemand nichts weiß“. Hier wird angestoßen aufs Steigen der Papiere, dort auf den Ordensstern, der bereits am Horizont aufleuchtet. Und nun wieder rauschende Mnsik, welche alle diese Wünsche in ihrem Schoße begräbt. Das Alte Jahr hat seine Arbeit gethan, das Alte Jahr kann gehen; aber das Neue beginnt mit demselben Taumel, mit welchem das Alte schied!

So geht’s bei den Glücklichen zu … die Unglücklichen aber hören im entlegenen Häuschen, an wegloser, schneeverschütteter Stätte, den dumpfen Klang, der durch die Lüfte zittert. Zwölf Uhr … sie falten die Hände! In der Wiege liegt ein krankes Kind … das Neue Jahr soll ihm die segnende Hand aufs Haupt legen. Sie falten die Hände ... sie haben noch mehr auf dem Herzen. Arbeitslos ist der Mann; o, geb’s ihm ein freundlich Geschick, daß er sich wieder rühren darf, um den Seinen Brot zu schaffen. Sie haben das Fenster geöffnet, um den fernen Schlag zu vernehmen: doch draußen ist’s kalt und unheimlich; ein Schneewind weht und mit seinen Eisnadeln stickt er Blumen an die Fensterscheiben. Sie schließen wieder das Fenster; sie betten sich zur Ruh, ohne einen Schimmer des Trostes, der Hoffnung … und wenn sie aufwachen, da ist das Zimmer düsterer als sonst … von den Eisblumen, den einzigen, die ihrem lenzlosen Leben blühen.

Ein anderes, aber freundliches Bild gewährt uns die glückliche Mitte zwischen den Reichen und Armen! Da sitzt der schlichte Bürger, sicher seiner Arbeit und seines Erwerbes, am Familientisch mitten unter den Seinen. Der älteste Sohn, die Stütze seiner gewerblichen Thätigkeit, auf dem das Auge der Mutter mit stiller Freude ruht, das Töchterchen, dem eine schüchterne Liebeshoffnung die Poesie im Herzen geweckt hat und das ein herziges Liedlein zum Neuen Jahr mit etwas lahmen Versen aufs Papier wirft, der jüngste Sprößling, der, mit dem Köpfchen auf den Armen, eingeschlummert ist, da das Neue Jahr zu lange

[909]

Zutraulich.
Oelgemälde von R. Beyschlag.
Nach einem Lichtdruck im Verlag von F. A. Ackermann in München.

[910] auf sich warten läßt: sie bilden die um den Tisch versammelte Gruppe, während zwei Knaben am Fenster lauschen und in höchster Spannung den ersten Glockenschlag und den ausbrechenden Jubel in den Straßen erwarten. Und der Glockenschlag ertönt: und mit Thränen der Rührung umarmen sich Alle und heiße Wünsche des Glückes gehen von Mund zu Munde, von Herz zu Herzen.

Was aber sinnt der einsame Mann, der gegenüber bei der Studirlampe sitzt und den nicht der mahnende Glockenton oben, nicht der Lärm der Menge unten rührt? Es ist ein Denker, der über das Schicksal der Menschheit brütet. Von Jahr zu Jahr, von Jahrhundert zu Jahrhundert rastloses Streben und Ringen: doch wird das ersehnte Ziel näher gerückt und giebt es ein solches Ziel, welches das Streben und Ringen verlohnt? Die Zeiten ändern sich; aber in ihrem Wandel und Wechsel geht so viel verloren, was bleiben sollte, und bleibt so viel, was zu verlieren ein Glück wäre. Ist’s nicht ein Traum, daß die Menschheit sich fortbewegt in fortschreitender Entwickelung? Ist die Geschichte nicht ein bloßer Kreislauf und ihr einziges Symbol die sich in den Schwanz beißende Schlange? Verbirgt sie nicht unter dem wechselnden Kostüm nur die Eintönigkeit ihrer Wiederholungen? Und hat dies erfinderische Jahrhundert, das der Schnelligkeit und Bequemlichkeit des Verkehrs neue Wege gebahnt, auch das Telephon entdeckt, das von Herzen zu Herzen spricht, oder den unterseeischen Kabel, der nicht bloß die Börsen, sondern auch die Geister diesseit und jenseit des Oceans im Dienste edler Menschlichkeit, der Wahrheit, Freiheit und Schönheit verbindet? Und während draußen ein bunter Farbenschein an den Häusern heraufleuchtet und eine freudige Helle sich über die Straßen verbreitet, verdüstert sich das Gemüth des zweifelnden Denkers und immer tiefere Schleier verhüllen ihm die Zukunft.

Nicht über das Ferne, über das Nächste sinnt der Staatsmann, der sich in sein Kabinet zurückgezogen und die neuesten Depeschen mustert. Was wird das kommende Jahr uns bringen, Krieg oder Frieden? Es ist dieselbe Frage, die viele tausend Herzen bewegt: steht des deutschen Reiches Macht und Ehre auf dem Spiele? Werden sich die Besiegten von Sedan mit den Siegern von Plewna verbinden? Werden uns von Westen die Volksheere bedrohen mit dem dreifarbigen Banner, das sie vielleicht im letzten Augenblicke mit der rothen Fahne vertauschen, und im Osten die Völkerschaften Asiens und Halbasiens, die vielnamigen Reiterscharen aus den unbegrenzten Landen des Moskowiterreichs? Ist der Haß gegen uns größer im Westen, wo bald offen, bald verhüllt die Revanche ihre Orgien feiert, oder im Osten, wo das alte Rußland die Führerschaft der stammverwandten Völker übernehmen will, nach den offenen Meeren, nach der Kuppel der heiligen Sophia begehrliche Blicke richtet und Europas Staaten an seinen Siegeswagen spannen möchte, wie die Tatarenreiche der Steppen und die alten Märchenstädte des innern Asiens?

Alle Herzen ersehnen den Frieden; ihn zu wahren ist das eifrige Streben der deutschen Staatslenker … und doch leuchtet etwas wie Kriegsfackel hinter den Gewölken der Sylvesternacht. Immer schwerer und mächtiger wird die Kriegsrüstung auch bei uns; denn das Reich der Mitte darf nicht zurückbleiben hinter den feindlichen Staaten jenseit des Rheins und des Niemens. Ein Staat belastet den andern, ein Krieg erzeugt den andern, und ein unheimliches Gesetz der Folgerung läßt die Menschheit nicht zu Athem kommen. Und der Hineinblick in die Flammen und Schrecken des Weltbrandes erfüllt die Herzen mit Zagen und Bangen: nicht die Furcht vor dem Kampfe ist’s, sondern der Gedanke an den Verlust der Lieben, die uns jetzt in der Blüthe der Jahre und der Hoffnungen zur Seite stehen und die vielleicht die schwarze Todesnummer ziehen, wenn der Gott des Krieges seine Urne schüttelt.

Frieden … Frieden! Auf den Straßen drunten ist’s still geworden, die Wolken droben haben sich ganz verzogen, tausend Sterne blitzen am Firmament. Wie trostreich der Blick auf diese Zeichenschrift der Ewigkeit, die uns lehrt, daß auch unsere Erde nichts ist als ein kleiner Punkt unter jenen Millionen, welche Funken in der Ferne sind und Welten in der Nähe … wie klein erscheint da auch das große Leid der Sterblichen!

Doch fest, wie die Wölbung des Himmels über uns, stehen Kraft und Muth in unserer Brust, Kraft, das Schicksal selber zu schaffen, und Ergebenheit in das über uns verhängte. Das sei der Segen, den die fliehenden Schatten der Mitternacht uns zurücklassen, und so wollen wir dem neuen Tag und dem neuen Jahre vertrauensvoll ins helle Auge sehen!†      


Die Bastille.

Von Rudolf von Gottschall.
II.

Wir haben das Aussehen und die Einrichtung dieser düstern Zwingburg kennen gelernt, deren Wiederherstellung die neue Republik plant: werfen wir jetzt auch einen Blick auf die hervorragenden Gäste, welche sie im Laufe der Zeiten beherbergt hat.

Da begegnet uns zuerst der größte Schriftsteller Frankreichs im 18. Jahrhundert, Voltaire, der in jüngeren Lebensjahren zweimal hier gefangen saß. Damals trug er noch den Namen François Marie Arouet; er hatte auf den Regenten, den Herzog von Orleans, und seine Tochter, die Frau Herzogin von Berry, die frechsten Spottverse gemacht. Freilich war der Stoff sehr dankbar und ganz dazu geeignet, einen jungen Martial, der in die Fußtapfen des römischen Epigrammendichters trat, zu reizen. Die wüsten Feste der Regentschaft sind ja bekannt. Vom Mai 1717 bis zum April 1718 fand er hinlänglich Muße sich darüber zu freuen, daß seine dichterischen Versuche nicht wirkungslos geblieben waren. Im März 1726 wurde er zum zweiten Male in der Bastille eingekerkert, doch schon nach einem Monat wieder entlassen. Herr von Rohan-Chabot hatte sich die Freude bereitet, den frechen Burschen, der damals noch kein großer Dichter war, durch seine Bedienten durchprügeln zu lassen. Da Arouet auf Rache sann, um, wie er schrieb, nicht seiner Ehre, sondern der des Herrn von Rohan wieder aufzuhelfen, brachte man ihn auf einige Zeit in sicheren Verwahrsam.

Wenn Voltaire wegen des ihm angeborenen Spottteufels in der Bastille schmachten mußte, so führten den verwegensten Don Juan des französischen Hofes, den Herzog Jean François Armand Duplessis von Richelieu, seine Liebesabenteuer mehrfach in dies Gefängniß; einmal sein Verhältniß zur Herzogin von Burgund, ein anderes Mal seine Beziehungen zur dritten Tochter des Regenten, Fräulein von Valois, welche von heißer Liebe für ihn entbrannt war; außerdem saß er dort wegen eines Zweikampfes mit Herrn von Matignon, dessen Frau er durch üble Nachrede gekränkt hatte. Herzog von Richelieu behielt stets eine gewisse Pietät für das alternde Gemäuer, in welchem er in seiner Jugend, in den Jahren 1711, 1716 und 1719 Buße gethan. Denn noch in seinem höchsten Alter, im Jahre 1786, stattete er ihm einen Besuch ab und bestieg sogar die Thürme. Er war damals über neunzig Jahre alt: der jugendliche Wüstling hatte es zu hohen Jahren gebracht.

Nicht gering ist die Zahl der Gefangenen, welche wegen politischer Verbrechen in die Bastille eingekerkert wurden; einige davon verließen sie nur, um das Schafott zu besteigen. Zu ihnen gehört Chevalier de Rohan, der mit den Holländern einen Vertrag geschlossen und ihnen mehrere Plätze in der Normandie überliefern wollte. Die Verschwörung wurde nach der Schlacht bei Senef entdeckt und Rohan 1674 verhaftet. Besonders betheiligt war ein normännischer Edelmann Latréaumont, der das ganze Geheimniß der Verschwörung in Händen hatte und, da es sonst an Beweisen, Zeugen und Schriftstücken fehlte, allein in der Lage war, Rohan zu belasten. Dieser Latréaumont schoß auf den Major, der ihn verhaften ließ, es war ein guter Freund von ihm; der Schuß ging fehl. Der Major aber rief, als Latréaumont auf ihn anlegte, um zu zeigen, daß er keine Furcht habe: „Schießt!“ Einer der Gardisten sah darin einen Befehl zum Feuern und drückte seine Muskete auf den Gefangenen ab; dieser starb am nächsten Tage an der Verwundung. Nun wäre Rohan sicher gewesen: auch umkreisten allnächtlich Leute das Schloß, welche [911] ihm durch Sprachrohre zuriefen: Latréaumont ist todt und hat nichts ausgesagt! Doch er verstand sie nicht und ließ sich durch einen der Untersuchungsrichter bestimmen, unter dem Versprechen, der König werde ihn begnadigen, das Geheimniß auszuplaudern. Doch der König erfüllte das Versprechen nicht, das Bezons in seinem Namen gegeben: Rohan wurde hingerichtet, mit ihm mehrere Mitschuldige, auch eine Frau de Villars, die Tochter eines Pariser Parlamentsrathes.

Ein bedauernswerthes Opfer der Kriminaljustiz, das ebenfalls aus der Bastille auf das Schafott stieg, war Graf Arthur de Lally, Generallieutenant, am 1. November 1762 zu Fontainebleau verhaftet: er wurde der Regierung als die einzige Ursache des Verlustes sämmtlicher französischer Niederlassungen in Ostindien geschildert. Lally war gegen die Habsucht der französischen Beamten in Ostindien mit Energie eingeschritten, ein edler Mann, der in Folge schändlicher Kabalen gestürzt wurde. Die Scenen, die seiner Hinrichtung im Jahre 1766 vorausgingen, gaben ein Vorspiel der Grausamkeiten, deren sich später die französische Revolution schuldig machte: sie zeigten, daß die Monarchie den Schreckensmännern vorgearbeitet hatte. Lally mußte niederknieen, als ihm der Gerichtssekretär das Todesurtheil las. Gleich darauf versuchte er sich zu tödten, indem er einen unter seinem Rockärmel versteckten eisernen Zirkel hervorzog und sich denselben unterhalb des Herzens in die Seite stieß. Die Anwesenden stürzten herbei und hielten ihm den Arm fest, den er bereits zu einem zweiten Stoße erhoben hatte. Er wurde dann auf einem Schubkarren auf den Richtplatz gefahren, und da man verhüten wollte, daß er sich, wie die Neger, mit der Zunge erwürgte, legte man ihm einen Knebel an. Bei der Hinrichtung verfehlte der junge Samson den Hals und hieb dem Delinquenten bloß den Schädel ab. Der geschicktere Vater des Sohnes stieß diesen bei Seite und trennte mit einen wuchtigen Hiebe das Haupt vom Rumpfe. Die englische Presse sprach ihre Entrüstung über diese Rohheiten und Grausamkeiten unverhohlen aus; das Beispiel aber, welches das Königthum durch die Hinrichtung unglücklicher Generale gegeben, war für die Republik nicht verloren: wie viele derselben traf später das Messer der Guillotine!

Lange Zeit bewohnte die Bastille auch Fouqnet, Generalintendant der Finanzen und Staatsminister, der am 5. September 1661 in Nantes von d’Artignan und einer großen Zahl von Musketieren verhaftet worden war. Diese begleiteten ihn 1663 auch in die Bastille und bezogen täglich die Wachen des Schlosses. Fouquet gehörte nicht zu denen, die ohne Grund und Recht eingekerkert wurden: er hatte jahrelange Verhöre zu bestehen, die sich auf die großartige Veruntreuung anvertrauter Staatsgelder bezogen. Binnen zwei Jahren hatte er achtzehn Millionen für seinen Haushalt bezahlt: er war ein galanter Herr und unter seinen Briefschaften fanden sich Billets-doux sehr angesehener Damen, unter denen selbst Frau Scarron, die spätere fromme Madame Maintenon, nicht fehlte.

Studirt man das Verzeichniß der Gefangenen der Bastille, so sieht man, daß die große Mehrzahl derselben wie Voltaire wegen der Beleidigung hochgestellter Personen, wegen unverschämter Reden, Abfassung oder Verbreitung staats- und sittengefährlicher Bücher, besonders aber der Religion wegen dort eingesperrt worden war: man brauchte nicht gerade sich frivoler Angriffe auf den Glauben schuldig gemacht zu haben; es genügte, wenn man Jansenist oder des Jansenismus verdächtig war. Wegen des Antheils am Druck, ja selbst wegen der Broschirung ketzerischer oder unsittlicher Schriften wurden Männer und Mädchen in die Bastille gesteckt. Neben den meist harmlosen Kolporteusen und Broschirerinnen wurden dort freilich auch recht boshafte Pasquillschreiberinnen eine Zeit lang unschädlich gemacht: eine der verrufensten war Madame Gotteville, die im Jahre 1780 dort gefangen saß. Sie war die Frau eines Marineofficiers, wegen ihres Geistes und Wissens sehr gesucht in den Kreisen der Hauptstadt und eine Vertraute des Polizeidirektors Le Noir, der von ihr Manches erfuhr, was ihm für sein Amt von Wichtigkeit war. Doch Frau Gotteville war von einer unglaublichen Sorglosigkeit in ihren Angelegenheiten. Heute bewohnte sie ein prächtiges Hôtel, morgen eine elende Spelunke; heute hatte sie vier Bediente zu ihrer Verfügung, morgen nicht einmal eine Kammerfrau. Wenn die Gläubiger ihr auf den Fersen waren, machte ihr Arzt für sie als Bettelbruder eine Runde bei der Polizei und ihren Freunden und kam in der Regel mit einigen fünfzig Louisd’or zurück. Als alle diese Hilfsquellen erschöpft waren, zog sie Beaumarchais, einen ihrer Freunde, ins Geheimniß und entfloh mit seiner Hilfe nach Holland. Madame Gotteville ließ sich im Haag nieder, nachdem ihr Beaumarchais von Seiten ihrer Verwandten eine Pension ausgewirkt hatte. Sie schaffte sich dort eine Druckerpresse an, um ungenirt boshafte Pasquille veröffentlichen zu können. Alle Unterstützungen reichten nicht aus für ihre Bedürfnisse und Le Noir mußte ihr sechstausend Livres schicken, die er aus der Polizeikasse nahm. Nochmals konnte sie sich an diesen freigebigen Beschützer nicht wenden; so schrieb sie an einen anderen Freund, den Herzog von Richelieu: ihr fehle es an Existenzmitteln und es bliebe ihr nichts mehr übrig, als die „neunundsiebzig Abenteuer Methusalem’s“ zu drucken, ein Werk, das sehr geeignet sei, das Publikum zu ergötzen und ihr Geld einzutragen. Der Herzog wußte sehr wohl, daß er selbst dieser Methusalem sei, und ließ der Dame durch Beaumarchais fünfundzwanzig Louisd’or schenken; sie schrieb ihm dafür eine Quittung, in welcher sie ihm den richtigen Empfang der fünfundzwanzig Louisd’or meldete und zugleich die ganze Verachtung, mit der sie seine ergebene Dienerin sei. Madame Gotteville ist also eine Vorgängerin jener verwerflichen Revolverlitteraten, welche noch heutigen Tages durch Skandalartikel, mit denen sie Privatpersonen bedrohen, schmähliche Erpressungen ausüben. Beaumarchais wollte sie entführen lassen, da sie im Haag zu viele Händel erregte; doch die französische Regierung kam ihm zuvor. Madame Gotteville hatte sich mit einer Frau entzweit, die bei dem französischen Gesandten in Gunst stand, und ein besonderes Pamphlet auf dieselbe veröffentlicht. Der Gesandte beklagte sich in Paris, und mit Zustimmung der holländischen Generalstaaten wurde sie aus dem Haag nach der Bastille geschleppt. Sie hatte gleich eine Zusammenkunft mit Le Noir, und der Polizeidirektor und sein Opfer amüsirten sich aufs Beste durch das munterste Witzgeplänkel. Als aber am nächsten Tage der Polizeisekretär Boucher ihre Papiere und Briefe durchsehen wollte, widersetzte sie sich diesem Vorhaben und verbot ihm, die Korrespondenzen, die sie mit großen Herren geführt, anzurühren. Es kam zu einem lebhaften Streit; Boucher griff trotz ihres Widerspruchs nach einem Briefe: da springt Madame Gotteville von ihrem Sitze auf, stürzt blitzschnell auf ihn los, schlägt ihm die Perücke vom Kopf, versetzt ihm einige zwanzig Fußtritte und eben so viele Faustschläge, rafft ihre Briefe zusammen und wirft sie ins Feuer.

Ein ähnliches Attentat auf die Beamten des Gefängnisses übte Dumouriez aus, der spätere ruhmvolle General der Republik, der Sieger bei Jemappes, der in seinen Memoiren die in der Bastille erlebten Abenteuer erzählt. Sein Schließer war ein riesiger, brutaler Mensch, der keine Gelegenheit versäumte, dem Gefangenen Grobheiten zu sagen. Der kommandirende Major hatte ihm versprochen, die beiden oberen Felder des hohen Fensters mit Papier verkleben zu lassen, da das Zimmer in der regnerischen kalten Jahreszeit ein wahrer Eiskeller war; doch der Glaser kam nicht. Dumouriez fragte den Schließer ganz bescheiden, warum jener ausbleibe. „Ei zum Henker,“ antwortete der Gefragte im brutalsten Ton, „man ist hier noch viel zu milde gegen Dich.“ Dumouriez sieht ihn an, ob er betrunken sei; er überzeugt sich, daß er das nicht ist, und erklärt ihm, er werde sich beklagen. Darauf entgegnet ihm dieser mit Rohheiten und geht auf ihn los; Dumouriez war jenem Koloß nicht gewachsen; doch in seinem Zorn stürzt er nach dem Feuer, ergreift ein brennendes Scheit und versetzt dem Schließer damit einen Schlag vor die Brust. Geschrei und Ringen; die Wache eilt herbei; der Vorfall wird untersucht; der thörichte Schließer gesteht ein, daß er den Gefangenen mit Du angeredet, und soll dafür kassirt werden, wird aber auf Dumouriez’ Fürsprache begnadigt. Ein anderes Mal demolirte dieser seine Zelle, weil er derselben überdrüssig geworden war und man sich weigerte, ihm eine andere zu geben. Die Mauern waren zu dick, um sie einzureißen; die Thüren mit eisernen Bändern und Platten beschlagen; überdies wollte er den Anschein erwecken, als habe er einen Fluchtversuch gemacht. Nun hatte er bemerkt, daß der Boden seines Kamins, auf dem das Feuer ruhte, ein wenig eingesunken war. Dieser Boden bestand aus zwei dicken Steinplatten, die sich in der Mitte des Kamins über einem in Folge der großen Hitze verkohlten Balken zusammenschlossen; er nahm an, daß in dem eingesunkenen [912] Theil eine Höhlung vorhanden sein müsse: er hob die in dem Kaminboden stehenden Fliesen des Fußbodens auf, und der Anblick des Balkens bestätigte seine Vermuthung. Er schob das Feuer bei Seite, benutzte ein Scheit als Hebel, entfernte die Mittelschicht, auf der die beiden dicken Steinplatten ruhten, arbeitete dann mit den Händen ein Loch in den Boden, und durch wiederholte Stöße gelang es ihm schließlich, die Decke des unter ihm befindlichen Zimmers einzuschlagen. Nach dieser mehrstündigen Arbeit wurde ihm als Belohnung ein schauerlicher Anblick zu Theil; er sah einen völlig nackten Mann von etwa fünfzig Jahren, mit ungemein langem, grauem Barte und gesträubtem Haar, der ihm die Mörtelstücke zurückschleuderte, die er hinabgeworfen hatte. Es war das, wie er später erfuhr, ein Wahnsinniger, Hauptmann Eustache Farey, der schon 22 Jahre in der Bastille saß. Doch Dumouriez hatte seinen Zweck erreicht: man wies ihm nun eine andere Zelle an.

Der merkwürdigste Gast des düstern Staatsgefängnisses war nicht der Magier Cagliostro, der auf seinen irren Lebensbahnen auch einmal hierher gerathen war, sondern der Mann mit der eisernen Maske, das weltgeschichtliche Räthsel, welches zu so vielen und so verschiedenen Lösungen Anlaß gegeben hat. Es ist eine durch die Tagebücher des damaligen Kommandanten der Bastille, du Junca, bezeugte Thatsache, daß am 18. September 1698 ein mit einer schwarzen Sammtmaske versehener Gefangener von dem Gouverneur von Saint-Marguerite, Saint-Mars, von dort, wo dieser ihn schon lange in Gewahrsam hatte, in die Bastille gebracht wurde. Der Name desselben wurde nie genannt; am 19. Nov. 1703 starb er in dem Gefängniß. Dieser räthselhaften Erscheinung bemächtigte sich die Romandichtung, Wahres und Falsches vermischend, und so wurde aus der Sammtmaske alsbald eine eiserne Maske, deren Mechanismus aufs Genaueste beschrieben wurde. Sie sollte hinten mit einem versiegelten und so kunstvoll gefertigten Vorlegeschloß versehen gewesen sein, daß der Gefangene sie nicht öffnen konnte, ohne sich das Leben zu nehmen. Den Schlüssel zu diesem Schlosse besaß der Gouverneur. Von außen mit schwarzem Sammt belegt, war sie so eingerichtet, daß ihr oberer Theil unbeweglich festsaß, die untere Partie aber der Bewegung der Kinnladen freien Spielraum gestattete, so daß sie beim Essen, Trinken und Sprechen nicht beschwerlich fiel.

Und der Träger dieser Maske? Es ist, als blätterten wir ein geschichtliches Album mit den verschiedensten Portraits durch, wenn wir alle die Muthmaßungen und Behauptungen der Chronik- und Memoirenschreiber lesen, die sich auf diesen räthselhaften Gast der Bastille beziehen. War doch der Phantasie und dem Scharfsinn selten so viel Gelegenheit geboten, sich geltend zu machen. Nach der einen Annahme war der Träger der Maske Ludwig’s XIV. Sohn von der Lavallière, der Graf von Vermandois. Zwar war bekannt, daß der Graf 1683 im Lager von Courtroy am Nervenfieber gestorben; gleichwohl fand jene Meinung Glauben, weil man durchaus wissen wollte, daß ein Königssohn in der Bastille gesessen: man wollte doch dem alten Bauwerk auch diese Ehre zukommen lassen. So erklärt es sich auch, daß man einen echten Königssohn, einen Zwillingsbruder Ludwig’s XIV., in dem Mann mit der Maske sah, der dem König selbst zum Verwechseln ähnlich gewesen sein soll und von ihm insgeheim gefangen gehalten wurde, weil Mißvergnügte, die von der Existenz desselben erfuhren, leicht zu seinen Gunsten einen Aufstand erregen konnten. Diese durch nichts näher begründete Fabel ist indeß vielfach von Geschichtschreibern wiederholt worden; vor Allem aber war sie den Romanschriftstellern und Dramatikern willkommen; ein Zschokke und Alexander Dumas legten sie ihren Erfindungen zu Grunde. Außerdem wurde der Mann mit der Maske für einen natürlichen Sohn der Anna von Oesterreich gehalten, von Einigen dem Herzog von Buckingham die Vaterschaft zugeschrieben. Nach anderer Ansicht war der Maskirte der Herzog von Beaufort, wegen seiner Beliebtheit bei dem niedern Volke der „König der Hallen“ genannt: er war früher an den Unruhen der „Fronde“ als Hauptanführer betheiligt gewesen, hatte sich aber 1659 dem König unterworfen und als Admiral die französische Flotte kommandirt. Bei einem Zug nach Kandia fiel er angeblich im Gefecht; doch ist seine Leiche nie gefunden worden. Sollte er indeß jener Unbekannte gewesen sein, so müßte er ein Alter von 92 Jahren erreicht haben.

Nach einer Lesart war der Mann mit der Maske Niemand anders, als der Herzog von Monmouth, der zwar am 15. Juli 1685 in London auf offenem Platze enthauptet worden war als Rebell gegen König Jakob II., der aber doch ohne Bedenken von einigen Geschichtschreibern wieder ins Leben gerufen wurde. Der hingerichtete Herzog Monmouth soll nicht der echte gewesen sein, sondern ein Doppelgänger, der an seine Stelle gesetzt wurde; auch soll jener Gefangene das Französisch mit fremdem Accent gesprochen haben. Die Vermuthungen wurden immer abenteuerlicher: jener räthselhafte Mann mit der Maske soll gar ein armenischer Patriarch Avedik gewesen sein, der die Katholiken verfolgte und deßhalb von den Jesuiten aufgehoben, nach Frankreich und in ein Gefängniß gebracht wurde, aus dem es kein Entrinnen mehr gab; dann wieder wollte man in ihm einen Sekretär und einen Minister des Herzogs von Mantua sehen, der gegen Ludwig XIV. intriguirt hatte und in dessen Gewalt gerathen war; oder den erwähnten Intendanten Fouquet, der in Pignerolles nicht gestorben sein soll, oder einen Marineofficier des Herzogs von Beaufort, der diesen in die Hände der Türken gerathenen Admiral auslösen wollte, während man in Paris froh war, den König der Hallen los zu sein, oder einen Abenteurer, Chevalier von Armoises, welcher zu den gefährlichsten Spionen und Verschwörern gehörte, ein Attentat gegen Ludwig XIV. im Einverständniß mit hochgestellten Personen ausführen wollte und deßhalb ohne Urtheil und Recht in geheimer Haft gehalten wurde. Diese letztere Vermuthung hat noch das Meiste für sich und beruht auf genauen Nachforschungen in den Registern der verschiedensten Gefängnisse, in denen der geheimnißvolle Verbrecher gefangen gehalten wurde.

Gleichviel, wer dieser Mann mit der eisernen Maske gewesen: es war kein bedeutungsloser Zufall, daß er in der Bastille sein Schicksal erfüllte; denn was war die Bastille selbst, als eine eiserne Maske, welche der Despotismus seinen Opfern anlegte? In dem ebenso altersgrauen Gefängniß des Temple büßte später ein König für die Gewaltthaten seiner Vorgänger, deren steinerne Chronik der Sturm des Volkes vom Erdboden fortgefegt hatte.


Erfrieren.

Von Geheimrath von Nußbaum in München.
(Schluß.)

Manche Leute glauben, daß die Finger und Zehen und die Nasenspitzen nur deßhalb so leicht erfrieren, weil sie so weit vom Herzen entfernt sind und darum vielleicht weniger gut mit warmem Blute versorgt werden. Obwohl ich dem nicht ganz widersprechen will, so scheint doch der Hauptgrund hierfür darin zu liegen, daß diese Theile sehr dünn und klein und der Luft recht frei ausgesetzt sind.

Werden solch kleine Theile großer Kälte preisgegeben, so ziehen sich die Adern zusammen und treiben das Blut gegen das Centrum. Die Rückflächen der Finger und Zehen erfrieren zuerst, werden blaß, gefühllos, die Glieder selbst starr und bewegungslos.

Nach einiger Dauer gefriert das Blut in den Adern zu Eis; alle Gewebsfasern werden spröde und brechen sehr leicht. Erfrorene Glieder sind aber nicht todt; langsam erwärmt, genesen sie wieder vollkommen. Werden sie aber großer Kälte ausgesetzt und dann rasch erwärmt, so giebt es eine heftige entzündliche Reaktion, gerade so, als wenn man normal warme Theile der Siedhitze aussetzen würde.

Erkältung allein kann wohl eine Erstarrung, eine Brüchigkeit und Gefühllosigkeit bewirken, aber eine entzündliche Reaktion entsteht nur nach unvorsichtiger rascher Erwärmung. Nur solch unpassendes Verhalten bringt alle die Uebel, welche wir als erfrorene Glieder, Frostschäden oder Frostbeulen bezeichnen.

Frostbeulen, wobei die Haut und das unterhäutige Zellgewebe entzündet ist und wuchert, verursachen bei warmer Witterung oft unerträgliches Jucken.

[913] Der erste Grad dieser Entzündung macht die Glieder blauroth, violett, geschwollen und glänzend gespannt.

Erfrorene Glieder sind anfangs kalt und schwer beweglich, machen stechende Schmerzen, gerade wie ein eingeschlafenes Glied, namentlich Abends bei naßkaltem Wetter. Im Frühjahr und Sommer verschwindet oft das ganze Uebel, manchmal tritt es aber auch mitten im Sommer wieder auf. Im ersten Winter sind die Schmerzen heftiger als in den folgenden.

Ein zweiter und höherer Grad der örtlichen Erfrierung entsteht, wenn höhere Kältegrade eingewirkt haben oder die Erwärmung noch ungeschickt rascher geschah.

Alle Symptome sind dann heftiger. Die Oberhaut der Finger berstet, und es entstehen schmerzhafte Risse, Blasen und Geschwüre.

Als dritten Grad bezeichnet man jene Erfrierungen, wo das erfrorne Glied entweder sofort brandig wird oder, wenn es sich vorher heftig entzündet hat, in Brand übergeht. Jedoch geht der Brand selten tief, sondern er beschränkt sich meist nur auf die Oberhaut, welche grau, schwarz und trocken wird. Unter diesem oberflächlichen Brand findet man gewöhnlich ein gutartiges heilbares Geschwür.

Thaut ein erfrorenes Glied auf und wird das gefrorene Blut wieder flüssig, so kann das Blut eine Zeit lang in die offenen Gefäße hinein, und es kommt darauf an, ob die Gefäße und Gewebe den Stoffwechsel bewerkstelligen können, oder ob, wie bereits weiter oben angedeutet wurde, das aufgethaute lackartige Blut wie Gift wirkt, Blutgerinsel und Blutstauung begünstigt und durch diesen lokalen Schaden eine mangelhafte Ernährung oder eine Art allgemeiner lebensgefährlicher Vergiftung bringt. Das ist zweifellos der Hauptgrund, warum sich eine rasche Erwärmung erfrorener Individuen wie erfrorener Glieder so gefährlich erweist.

Vor Allem dürfte der beste Rath sein, sich vor Erfrierungen zu bewahren. Wenn man das bisher Erwähnte überblickt, so ist das beste Präservativmittel ein kräftiger, gesunder, gutgenährter Körper mit einem gesunden Herzen.

Ferner wird bei großer Kälte eine vernünftige warme Kleidung zu empfehlen sein, welche nirgends enge ist und die Blutcirkulation nicht beschränkt.

Hellgefärbte Kleider sind wärmer als dunkelgefärbte.

Weiße Kleider sind bekanntlich im Winter am wärmsten und im Sommer am kühlsten; schwarze Kleider hingegen im Winter am kühlsten, im Sommer am heißesten.

Ansicht von Merseburg mit einem Blick auf den Dom.
Nach einer photographischen Aufnahme.

Wollkleider sind natürlich wärmer als Leinen und Seide, welch’ letztere viel bessere Wärmeleiter sind.

Bei recht großer Kälte, namentlich, wenn trockner Wind geht, dürften wollene Handschuhe nicht ganz werthlos sein.

Eine gewisse Abhärtung und das Vermeiden jeder Verweichlichung ist recht zu empfehlen. Gesunde Kinder soll man bei jedem Wetter ausgehen lassen und die Haut derselben durch tägliche kalte Waschungen abhärten.

Werden Kleider und Schuhe bei naßkalter Witterung feucht, so soll man sich, sobald man nach Hause gekommen, umkleiden.

Hat man aber thatsächlich das Unglück gehabt, sich ein Glied zu erfrieren, so daß es blaß, steif, kalt, gefühl- und bewegungslos wird, so vergesse man ja den Hauptgrundsatz nicht und erwärme den erfrornen Theil nicht zu rasch; man reibe das erfrorne Glied in einem ungeheizten Zimmer mit Schnee oder Eis, bis einige Empfindung zurückkehrt; dann reibe man dasselbe mit kaltem Wasser und wickle es zuletzt in feine Leinwandläppchen, welche mit einer Mischung von fünf Theilen Goulardischem Wasser und einem Theil Kamphergeist befeuchtet sind und mit Guttaperchapapier oder Wachstaffet umwickelt und eingebunden werden.

Recht nützlich erweist sich auch, wenn einmal wieder etwas Empfindung zurückgekehrt ist, ein Handbad oder Fußbad mit Chlorkalk, wobei etwa in einem Waschbecken kalten Wassers ein gehäufter Eßlöffel Chlorkalk aufgelöst wird.

Will man die Sache recht gründlich machen, so lege man sich Abends in das Bett, hülle die erfrornen Glieder in Flanell und trinke etwas Schweißtreibendes: ein paar Tassen warmen Flieder-, Minzenthee oder Punsch.

Wird eine Hand oder ein Fuß, der Nachmittags ganz erfroren und pelzig war und bald nachher bis zur Rückkehr der Empfindung mit Schnee tüchtig gerieben wurde, Abends im Bette in Schweiß gebracht, so ist die Erfrierung meist gründlich kurirt und kaum ein Rückfall zu befürchten.

Manche Frau bereut es nach zwei und drei Jahren, wenn sie oft im Jahre ihr dicker, krebsrother Finger recht juckt, daß sie nicht gleich bei den ersten Erfrierungssymptomen recht gründlich zu Werke gegangen ist.

Das wenige hier Gesagte reicht bei sorgfältiger Anwendung aus. Es giebt aber ein ungeheures Heer von Heilverfahren und Heilmitteln, welche gegen erfrorene Glieder empfohlen sind. Diese passen aber alle erst dann, wenn durch unvorsichtige Behandlung Schäden zurückblieben, Frostbeulen und Geschwüre entstanden sind. Das häufige Vorkommen solcher Leiden beweist in der That, wie selten es ist, daß ein erfrorenes Glied sofort gut und energisch behandelt und wieder ganz gesund gemacht wird.

Selbst Aerzte giebt es, welche meinen, es sei unmöglich, Frostbeulen zu verhindern, wenn ein Glied erfroren sei. Allerdings giebt es ausgedehnte und hochgradige Erfrierungen, wo die beste Behandlung nicht mehr im Stande ist, einen Frostschaden, ja sogar das Absterben eines kleinen Theiles der erfrorenen Glieder zu hindern.

Im Allgemeinen aber kann man sagen, daß sich Frostschäden durch sorgfältige Behandlung gleich nach der Erfrierung vermeiden lassen und daß auch jene Frostschäden, welche durch zu rasches Erwärmen und unpassende Behandlung erzeugt wurden, durch eine fleißige und zweckmäßige Pflege sehr gebessert werden können.

Zur Beseitigung der rothen Flecke, welche besonders auf den Nasen sich einstellen und oft recht häßlich werden können, gebrauchte man bis jetzt heiße Wasserdämpfe und darauffolgende Waschungen mit sechsfach verdünnter Salzsäure oder Chlorkalklösung von einem gehäuften Kaffeelöffel Chlorkalk in einem halben Schoppen reinen Wassers.

In neuester Zeit lasse ich aber mit viel besserem Erfolge täglich mehrmals heiße Wasserdämpfe anwenden und Nachts eine Salbe einpinseln, in welcher 1 Theil Ichthyol auf 8 Theile Vaselin enthalten ist.

Leider hat das Ichthyol eine braune Farbe, läßt sich aber Morgens mit warmem Seifenwasser sehr leicht wegwaschen. Mag sich Jemand seiner rothen Nase wegen den Augen der Welt [914] entziehen, so kann er die Bepinselung mit Ichthyol am Morgen nach gebrauchtem Wasserdampf wiederholen, und das Heilmittel also in 24 Stunden zweimal einwirken lassen, was den guten Erfolg vergrößern und beschleunigen wird.

Von der großen Anzahl empfohlener Mittel hat doch fast jedes seine Eigenthümlichkeit; der einen Natur wird dieses, der andern jenes mehr nützen, weßhalb es recht klug ist, die Wahl jenem Arzte zu überlassen, der die Natur des Beschädigten kennt; denn alle Mittel, die kräftig und nützlich wirken, können bei unpassendem Gebrauche auch recht schaden. Leider treten aber gerade derartige Unglücksfälle oft in Situationen und an Orten auf, wo Aerzte nicht zu Gebote stehen, und deßhalb ist es vielleicht recht gut, wenn von diesen Verhältnissen auch Laien etwas wissen.


Sankt Michael.

Roman von E. Merner.
(Schluß.)


Es war zwei Tage später, im Hauptquartier des Generals Steinrück. Im Vorzimmer waren die Officiere versammelt, um die Befehle ihres Chefs für den Vormarsch zu empfangen, aber die Gesichter Aller waren ernst, und sie sprachen nur halblaut mit einander. Sie wußten ja schon, welcher schwere Schlag den Führer getroffen hatte. Sein Enkel, der schöne, ritterliche, lebensvolle Graf Raoul, war verunglückt, war bei einem Fehltritt in der Dunkelheit in den Fluß gestürzt und ertrunken.

Es war ein furchtbares Schicksal für den Greis, noch am Abend seines Lebens den Letzten seines Stammes und Namens in der Jugendblüthe dahinsinken zu sehen, und er konnte nicht einmal an seinem Sarge stehen, ihn nicht zur Gruft seiner Väter geleiten. Die Pflicht hielt ihn an der Spitze seines Korps fest; er hatte in der That seit vorgestern, wo die Nachricht eintraf, keine einzige dieser Pflichten vernachlässigt; empfing er doch eben wieder den Hauptmann Rodenberg, der mit wichtigen Depeschen eingetroffen war. Es ahnte keiner von den Officieren, welches Familiendrama dort hinter der geschlossenen Thür seinen letzten Abschluß fand. Neben dem General stand Michael, der soeben berichtete:

„Beim ersten Tagesgrauen hat man ihn gefunden, ganz in der Nähe des Hauses, wo wir weilten. Ich fand noch Zeit, die ersten und nothwendigsten Anordnungen zu treffen, dann mußte ich fort. Alles Uebrige habe ich in die Hände meines alten Lehrers gelegt, der auch die schwere Pflicht übernommen hat, der Mutter die Todesnachricht zu bringen und die Leiche nach Steinrück zu geleiten.“

Der General hatte schweigend zugehört, jetzt fragte er tonlos:

„Und es weiß Niemand –?“

„Niemand, außer uns Beiden! Clermont und seine Schwester werden schweigen, müssen es, um ihrer selbst willen. Sobald auch nur ein Wort von dem Geschehenen verlautet, sind sie unmöglich, wohin sie sich auch wenden mögen. Hier sind die Papiere. Ich lege sie in die Hände meines Generals zurück, und die Ehre des Namens Steinrück ist gerettet.“

Steinrück nahm die Papiere an sich; dann reichte er seinem Enkel die Hand.

„Ich danke Dir, Michael!“

Der junge Officier blickte ihn besorgt an; ihn täuschte diese starre, finstere Ruhe nicht; er wußte, was sich dahinter barg.

„Großvater,“ sagte er leise. „Jetzt könntest Du doch um ihn weinen!“

Der General schüttelte heftig den Kopf.

„Ich habe jetzt keine Zeit zum Weinen, und Thränen hat man nur für einen geliebten Todten. Daß er mir das anthat, anthun konnte – genug davon, laß ihn ruhen!“

Er schritt voran nach dem Vorgemach, wo sich die Officiere befanden, und wo er mit jener schweigenden Ehrfurcht empfangen wurde, die Jeder dem Unglücke zollt. Einer aus dem Kreise trat vor und sprach im Namen Aller dem greisen Führer die Theilnahme aus an dem schweren Verluste, der ihn getroffen hatte. Steinrück hörte das starr und scheinbar unbewegt an; er neigte nur zum Danke das Haupt gegen Alle.

„Ich danke Ihnen, meine Herren! Der Schlag, der in der nächsten Zeit Tausende treffen wird, er hat mich zuerst getroffen; aber der Himmel hat mir bereits einen Trost dafür gesandt, denn hier,“ jetzt brach es durch seine unheimliche Ruhe wie ein Aufflammen der alten Kraft, und die mächtige Greisengestalt richtete sich hoch empor, „hier an meiner Seite steht der Sohn meiner früh verstorbenen Tochter, mein Enkel, Michael Rodenberg!“


Ein Jahr war vergangen, ein Jahr voll schwerer Kämpfe und mächtiger Erfolge, voll Siegesjubel und Todtenklage, und als der Sommer wieder die Erde grüßte, grüßte er dort ein neu erstandenes Reich.

Auf der Bergstraße, die von Tannberg nach Schloß Steinrück führte, rollte ein offener Wagen dahin, in dem sich zwei Officiere befanden. In dem Hauptmann, der zur Rechten saß, hätte man auch ohne die Uniform den Soldaten erkannt; sein Gefährte dagegen, der die Abzeichen eines Reservelieutenants trug, hatte ein mehr künstlerisches als kriegerisches Aussehen, trotzdem auch er von Luft und Sonne tief gebräunt war.

„Du kannst von Glück sagen, Michael!“ sagte er mit dem alten Uebermuthe. „Du kehrst als gefeierter Kriegsheld zurück, in die Arme Deiner Braut. Mir wird es nicht so gut, ich habe noch eine heiße Schlacht zu schlagen. Mein kleines Dornröschen freilich hat sich tapfer und muthig gezeigt, aber die Dornenhecke starrt mir noch immer entgegen mit der ganzen Energie des zehnten Jahrhunderts. Eigentlich ist mir die Uniform hier auf der Reise sehr unbequem, aber ich hoffe, ihm damit zu imponiren, meinem Schwiegervater nämlich. Vielleicht macht es doch Eindruck auf ihn, wenn das neunzehnte Jahrhundert in seiner ganzen kriegerischen Pracht vor ihm erscheint.“

„Du nimmst die Sache wie gewöhnlich von der komischen Seite,“ entgegnete Michael. „Du solltest aber bedenken, daß nicht allein der alte Freiherr, sondern auch Dein Vater seine Einwilligung verweigert.“

„Ja, man hat seine Noth mit den Vätern; sie sind gar nicht mehr zu regieren!“ stimmte Hans bei. „Ich habe meinen Papa nun endlich durch Gerlindens Briefe, die ich ihm zu lesen gab, überzeugt, daß sie ganz vernünftig ist; aber er bleibt hartnäckig dabei, daß die Anlage zur Verrücktheit in der Eberstein’schen Familie erblich sei, und verlangt durchaus, daß ich auf künftige Generationen Rücksicht nehmen soll. Der Freiherr dagegen behauptet wieder, daß die Gottlosigkeit erblich ist. Uebrigens muß er eine Ahnung davon haben, daß ich jetzt, wo die Truppen entlassen werden, schleunigst auf der Bildfläche erscheine; denn er hat Gerlinde sogar verboten, nach Steinrück zu fahren. Als ob das uns hinderte! Ich berenne die Ebersburg als Ritter vom Forschungstein in aller Form, und vorläufig klettere ich noch einmal über die Burgmauer und finde auf der Terrasse mein Dornröschen, das schon ganz genau unterrichtet ist.“

Michael hörte etwas zerstreut zu, seine Aufmerksamkeit wandte sich Schloß Steinrück zu, das schon eine ganze Weile sichtbar gewesen war und jetzt dicht vor ihnen lag; er sagte nur flüchtig: „Ihr scheint ja in sehr lebhaftem Verkehr zu stehen. Der Briefwechsel wurde Euch ja wohl verboten?“

„Natürlich, von beiden Vätern. Deßhalb schrieben wir uns so oft während des Krieges. Wir müssen in unserem künftigen Hause zunächst ein Archiv anlegen, für all’ die Feldpostbriefe, in denen unsere Liebes- und Leidensgeschichte ruht. Aber nun hat sie lange genug gedauert, und wenn der Alte gar keine Vernunft annehmen will, so setzen wir ihn in das Burgverließ, wie den seligen Balduin von Ortenau vor sechshundert Jahren, der auch so lange darin sitzen mußte, bis er in die Heirath Kunrad’s von Eberstein und Hildegard’s von Ortenau willigte. O, ich bin schon sehr bewandert in der Geschichte meiner Verwandtschaft. Ich verwechsele nicht einmal die Namen mehr.“

Michael gab keine Antwort; jetzt, wo der Wagen den Schloßberg hinauffuhr, spähte er nur ungeduldig nach den Fenstern der Burg; Hans folgte der Richtung seines Blickes.

[915] „Also Dein Großvater ist auch dort?“

„Seit acht Tagen. Er hat einen längeren Urlaub nehmen müssen, denn die Strapazen des Feldzuges haben ihn doch sehr angegriffen. Ich setze meine ganze Hoffnung auf die stärkende Bergluft.“

Der junge Künstler schüttelte den Kopf und sagte plötzlich ernst werdend:

„Der General ist sehr verändert. Ich erschrak förmlich, als ich ihn wiedersah. Freilich, ein schwerer Feldzug in solchem Alter und dann noch der jähe schreckliche Tod seines Enkels – es läßt sich begreifen! Aber ich glaube, Du stehst seinem Herzen trotz alledem näher, als Graf Raoul je gestanden hat.“

„Vielleicht! Aber in solchem Alter überwinden sich Schicksalsschläge schwer,“ sagte Michael ausweichend. Er wußte, was sein Großvater nicht überwinden konnte, aber das blieb ein Geheimniß zwischen ihnen Beiden.

Hans plauderte weiter, erhielt aber immer kürzere und zerstreutere Antworten; sein Freund schien gar nicht mehr auf ihn zu hören; er schaute immer nur nach dem Schlosse, und plötzlich fuhr er auf und zog sein Taschentuch hervor, das er hoch in der Luft flattern ließ.

„Was hast Du denn?“ fragte Hans. „Ah so, da oben flattert ein anderes Tuch, und wahrhaftig, da steht auch Gräfin Hertha auf dem Altan! Ja, schön ist sie freilich, Deine goldhaarige Märchenfee da oben in der leuchtenden Mittagssonne! Mit ihr kann sich mein Dornröschen nicht messen, und meine Braut hat auch nicht verschiedene Millionen, nur einen obstinaten Papa. Aber dafür ist ihr Geschlecht volle zweihundert Jahre älter als das der Steinrück. Vergiß das nicht, Michael! Im Mittelalter hat meine künftige Frau ganz entschieden den Vortritt vor der Deinigen.“

Der Wagen fuhr endlich in den Schloßhof, viel zu langsam für die Ungeduld des jungen Officiers, der jetzt den Schlag aufriß, hinaussprang und die Außentreppe hinaufstürmte. Hertha erschien oben auf den Stufen, und in Gegenwart der Diener küßte Michael seine Braut. Es war das erste Mal, daß er sie öffentlich so begrüßte.

„Und das muß man nun mit ansehen und kann es nicht nachmachen, nur weil man einen unvernünftigen Papa und dito Schwiegerpapa hat!“ grollte Hans, indem er langsamer ausstieg.

„Aber wartet, meine Herren Väter! Ich spiele Euch einen Streich, daß Ihr Euch auf Gnade und Ungnade ergeben sollt.“

In dem getäfelten Gemach, mit dem breiten Erkerfenster, wo die Ahnenbilder von den Wänden blickten und das Wappen der Steinrück über dem Kamin prangte, befand sich Graf Michael mit seinem Enkel, den er hier an dieser Stelle zum ersten Mal gesehen und dem er auch hier die furchtbare Beschuldigung des Diebstahls zugeschleudert hatte. Das Schicksal hatte die Vergeltung dafür übernommen, und man sah es, wie schwer der General daran trug.

Er hatte sich in der That sehr verändert und schien in den zwölf Monden um eben so viele Jahre gealtert zu sein. So lange der Feldzug währte, hielt ihn die Pflicht des Soldaten, des Führers, dem eine so schwerwiegende Verantwortung zufiel, noch aufrecht, und er zwang Geist und Körper mit der alten Willenskraft. Aber mit der Pflicht ging auch seine Kraft zu Ende. Die Züge des einst so schönen Greisenantlitzes waren hohl und tief geworden; aus den Augen war das Feuer geschwunden, selbst die Haltung erschien müde und gebeugt. In diesem Augenblick freilich ruhte sein Auge mit dem Ausdruck der tiefsten, innersten Genugthuung auf seinem Enkel, dessen Hand er noch in der seinigen hielt.

„Ich denke, Du kannst zufrieden sein mit Deinen Erfolgen,“ sagte er. „Es ist selten, daß man einen so jungen Officier mit solchen Auszeichnungen überschüttet, wie sie Dir zu Theil geworden sind, aber ich gebe Dir das Zeugniß, daß sie verdient sind. Was Du im Felde geleistet hast, das übertraf selbst meine Erwartungen, und ich habe viel erwartet von meinem Michael!“

„Vielleicht wäre die Anerkennung nicht so überschwenglich gewesen, wenn sie nicht gerade dem Enkel des kommandirenden Generals gegolten hätte,“ entgegnete Michael mit einem flüchtigen Lächeln. „Von dem Augenblick an, wo Du mich als Deinen Blutsverwandten einführtest, umgab man mich mit ganz besonderer Aufmerksamkeit; ich habe es nur zu gut gefühlt.“

„Gleichviel, die Anerkennung ist errungen, nicht bloß gegeben, und Hertha hat allen Grund, auf ihren Kriegshelden stolz zu sein. Seid Ihr über den Zeitpunkt der Vermählung schon einig geworden?“

„Noch nicht! Hertha läßt sich da von Rücksichten bestimmen, denen ich mich vielleicht auch beugen muß, so schwer es mir wird. Vor der Welt ist ihre Verlobung mit Raoul ja nie gelöst worden, und das Trauerjahr ist soeben erst zu Ende gegangen. Wir wollten Dir die Entscheidung überlassen, Großvater. Wenn Du meinst, daß wir noch einige Monate warten sollen –“

„Nein!“ erklärte Steinrück mit Bestimmtheit. „Es ist ja bereits beschlossen, daß die Trauung in aller Stille stattfinden soll, und ich möchte gern selbst noch Eure Hände in einander legen. In einigen Monaten – dürfte es zu spät sein.“

„Großvater!“ sagte Michael halb bittend, halb vorwurfsvoll.

„Soll ich nicht einmal zu Dir davon sprechen? Du bist ja doch ein Mann und mußt dem Unvermeidlichen ins Auge sehen.“

„Es ist aber nicht unvermeidlich. Wenn Du Dich nur aus dieser Schwermuth emporraffen wolltest, die an Deinem Leben zehrt. Hat denn Raoul alle Lebensfreude mit in das Grab genommen? Ich bin Dir doch zur Seite mit meiner Hertha, und wir helfen Dir, die Vergangenheit zu überwinden.“

Der General schüttelte langsam verneinend den Kopf.

„Du weißt am besten, was Du mir bist, Michael; aber meine Kraft ist nun einmal gebrochen, und Du kennst auch die Stunde, in der sie brach. Der Axthieb ging dem alten Baume an die Lebenswurzel; er kann nicht mehr gesunden!“

Michael schwieg; er mochte die Wahrheit dieser Worte fühlen, Wenn die schließliche Aufklärung auch das Furchtbarste gemildert hatte: es blieb noch genug bestehen, um den Stolz und die Ehre des Grafen von Steinrück, der von jeher mit ganzer Seele seinem Vaterlande angehört hatte, bis auf den Tod zu verwunden. Und er war ein Greis; ihm stand keine Jugendkraft mehr zur Seite, die solchen Schlägen Stand hält.

„Also Gräfin Hortense ist wieder bei ihrem Bruder – mit Deiner Einwilligung?“ fragte Rodenberg, nach einer kurzen Pause ablenkend.

„Ja. So lange der Krieg währte, konnte und durfte ich nicht zugeben, daß die Wittwe meines Sohnes in Frankreich weilte. Jetzt fällt diese Rücksicht für uns Beide fort; sie kehrt zu Montigny zurück. Hier ist sie ja doch stets eine Fremde gewesen, und mit dem Tode Raoul’s ist das einzige Band, das uns noch verknüpfte, zerrissen. Ich habe ihr die Unabhängigkeit gesichert, so weit das in meinen Kräften stand. Du kennst ja die Bestimmungen meines jetzt geänderten Testaments. Das Majorat geht nach meinem Tode in andere Hände über, es haftet an der männlichen Linie unseres Hauses. Schloß Steinrück fällt Dir als meinem einzigen Erben zu, und mit Hertha’s Hand wird auch der ganze große Familienbesitz Dein, den ich um jeden Preis meinem Enkel sichern wollte. Das ist geschehen, wenn auch auf andere Weise, als ich dachte, und es ist besser so! Du wirst ihn wahren und schirmen und wirst auch Hertha schirmen mit Deinem starken Arm, ich weiß es – Gott segne Euch Beide!“ –


Es war kein bloßer Zufall gewesen, daß Hans Wehlau seinen Freund begleitete. Er verband mit diesem Besuche den etwas egoistischen Zweck, die Braut Michael’s als Bundesgenossin für den letzten entscheidenden Sturm auf Vater und Schwiegervater zu gewinnen. Dieser Sturm konnte nur in Steinrück versucht werden; denn es war der einzige Ort, wo Gerlinden’s Vater, der alte menschenscheue Sonderling, noch bisweilen verkehrte, und wo die Möglichkeit gegeben war, ihn mit dem Professor Wehlau zusammenzubringen, der sich augenblicklich wieder zum Besuche bei den Verwandten in Tannberg befand.

Hertha hatte allerdings von Anfang an auf Seiten der Jugendfreundin gestanden und alles Mögliche gethan, um den alten Freiherrn umzustimmen; aber es war vergebens gewesen, eben so wie die erneute Werbung, die Hans wenige Tage nach seiner Ankunft unternahm. Er hatte umsonst die Uniform angezogen, die kriegerische Pracht des neunzehnten Jahrhunderts machte gar keinen Eindruck auf das zehnte. Udo von Eberstein war nun einmal entschlossen, den ganz reinen Stammbaum seines [916] Geschlechtes zu wahren, und drohte, seine Tochter eher in ein Kloster zu schicken, als zuzugeben, daß sie einen Menschen ohne Namen und Familie heirathe. Er blieb unerschütterlich und trotz der Beharrlichkeit des Freiers und der Thränen Gerlinde’s endigte auch diese zweite Werbung mit einem entschiedenen Nein.

Es war nicht besonders schwierig, den Professor Wehlau nach Steinrück zu bringen. Er folgte bereitwillig einer Einladung Michael’s; „zufälligerweise“ hatte Hertha an demselben Tage die Bewohner der Ebersburg eingeladen, aber das glückte nur zur Hälfte. Der Freiherr kam allerdings, um den General nach dem Kriege wiederzusehen, aber er ließ weislich seine Tochter zu Hause.

Die Möglichkeit, in Steinrück dem Menschen zu begegnen, der durchaus sein Schwiegersohn werden wollte und von Gerlinde leider in dieser frevelhaften Absicht unterstützt wurde, veranlaßte ihn zu dieser Vorsichtsmaßregel. Indessen schien der Besuch ohne Störung vorüberzugehen; der Feind, der das Geschlecht derer von Eberstein mit einem bürgerlichen Namen bedrohte, ließ sich nirgends blicken, und der Freiherr, der mit dem General viel von alten Zeiten geplaudert hatte, wo sie Beide noch Waffengefährten waren, befand sich in der vortrefflichsten Stimmung.

Er war augenblicklich allein in dem Erkerzimmer und wandte sich beim Oeffnen der Thür um, in der Meinung, Graf Steinrück, den man für einige Minuten abgerufen hatte, kehre zurück, fuhr aber plötzlich in die Höhe, denn vor ihm stand in Lebensgröße – Professor Wehlau.

Auch dieser stutzte; er wußte offenbar nichts von dem Hiersein seines Gegners und schien in Zweifel, ob er ihn eben so grob behandeln sollte wie bei der letzten Zusammenkunft vor einem Jahr. Für diesmal aber behielt eine menschlichere Regung die Oberhand, und er brummte: „Guten Tag, Herr von Eberstein!“

„Herr Professor Wehlau, Sie hier?“ fragte Eberstein, den Gruß mit einem sehr steifen Kopfnicken erwidernd. „Ich hoffe, Sie haben Ihren Sohn nicht mitgebracht.“

„Nein, der ist drüben in Tannberg.“

„Das freut mich! Meine Tochter ist in der Ebersburg.“

Wehlau zuckte nur die Achseln bei dieser Ankündigung.

„Darüber brauchen Sie sich gar nicht zu freuen. Ich wette darauf, die Beiden stecken doch wieder zusammen, sobald wir den Rücken gewandt haben.“

„Das würde ich mir verbitten,“ sagte Eberstein mit Nachdruck. „Ich habe Gerlinde streng verboten, Herrn Wehlau zu sehen oder zu sprechen.“

„Jawohl, Sie haben ihr auch verboten, an ihn zu schreiben, und mein Hans hat eine ganze Wagenladung von Briefen aus dem Feldzuge mitgebracht. Fräulein Gerlinde wird wohl die gleiche Anzahl besitzen.“

„Das ist ja empörend!“ rief der alte Herr, der zum ersten Male von diesem Ungehorsam Kunde erhielt. „Warum brauchen Sie da nicht Ihre väterliche Autorität? Warum haben Sie Ihrem Sohne überhaupt gestattet, hierherzukommen?“

„Weil er sechsundzwanzig Jahre alt und somit kein Kind mehr ist,“ entgegnete Wehlau trocken. „Da geht es nicht mehr mit dem Einsperren. Sie halten Ihre Tochter freilich unter Schloß und Riegel; ich wollte, ich könnte es mit meinem widerspenstigen Buben eben so machen; aber, freilich, bei dem würde das nichts helfen; der klettert zum Fenster heraus und ist plötzlich mitten in der Ebersburg, und wenn er zum Schornstein hineinkommen sollte. So geht die Geschichte nicht länger, wir müssen ernstliche Maßregeln ergreifen.“

„Ja, das müssen wir!“ stimmte Eberstein bei, indem er mit seinem Stocke energisch auf den Boden stampfte. „Ich werde Gerlinde in ein Kloster schicken, vorläufig als Pensionärin. Da wollen wir doch sehen, ob es dem jungen Herrn gelingt, durch den Schornstein hineinzukommen!“

„Das ist ein sehr vernünftiger Gedanke!“ rief der Professor, der beinahe in Versuchung kam, seinem Gegner freundschaftlich die Hand zu schütteln. „Bleiben Sie fest, Herr von Eberstein! Ich freue mich wirklich, daß Sie bei Ihrem Zustande noch solche Energie besitzen.“

Der alte Herr, der keine Ahnung von der beleidigenden Voraussetzung des Professors hatte, und glaubte, dieser meine sein Gichtleiden, seufzte tief.

„Ja, mein Zustand! Der wird leider alle Tage schlimmer!“

„Sehen Sie das selbst ein?“ fragte Wehlau, indem er einen Stuhl heranzog und sich ganz friedlich niederließ. „An welcher Krankheit ist denn eigentlich Ihr Vater gestorben, Herr Baron?“

„Mein Vater, Oberst Kuno von Eberstein-Ortenau, fiel in der Schlacht bei Leipzig, an der Spitze seines Regiments,“ lautete die mit feierlicher Würde gegebene Antwort.

Wehlau sah etwas erstaunt aus; er schien eine andere Auskunft erwartet zu haben und begann nunmehr ein förmliches Kreuzverhör anzustellen. Er erkundigte sich nach Großvater und Urgroßvater, nach der ersten und zweiten Gemahlin, nach allen Basen und Vettern, sogar nach den Seitenverwandten. Ein Anderer wäre dabei wahrscheinlich ungeduldig geworden, aber Eberstein fand, daß der Professor sich sehr zu seinem Vortheile verändert habe; es that ihm wohl, daß dieser mit so rührender Theilnahme jetzt nach all den Udo’s und Kuno’s und Knnrad’s fragte, die er ihm einst mit so rücksichtsloser Grobheit an den Kopf geworfen hatte. Er ließ seinen Stammbaum nach allen Richtungen hin glänzen und gab bereitwillig Rede und Antwort.

„Merkwürdig!“ sagte Wehlau endlich kopfschüttelnd. „Also in Ihrer ganzen Familie ist kein einziger Fall von Gehirnkrankheit vorgekommen?“

„Gehirnkrankheit?“ wiederholte Eberstein beleidigt. „Was fällt Ihnen denn ein? Das ist wohl Ihr specielles Fach, daß Sie fortwährend danach suchen? Nein, die Eberstein sind an allen möglichen Krankheiten gestorben, aber mit Gehirnleiden haben sie nie etwas zu thun gehabt.“

„Das scheint wirklich so – sollte ich mich doch am Ende geirrt haben?“ murmelte der Professor. Er brachte jetzt das Gespräch auf die Familienchronik, auf die Abstammung der Eberstein aus dem zehnten Jahrhundert, aber vergebens; der Freiherr antwortete vollkommen klar und vernünftig, und zuletzt faltete er die Hände und sagte in schmerzvoll bewegtem Tone:

„Ja wohl, mein altes, edles Geschlecht, das neun Jahrhunderte lang in der Geschichte genannt worden ist, und mit Ehren genannt – es geht mit mir zu Grabe! Ob Gerlinde nun unvermählt bleiben oder einem Gatten folgen mag; mit mir stirbt der Name, und er wird bald sterben, wie meine alte Ebersburg auch bald in Trümmer fällt. Das heutige Geschlecht weiß ja nichts mehr, will ja nichts mehr wissen von dem Ruhm und Glanz der alten Zeiten, und ich habe keinen Sohn, der die Erinnerung daran wahren könnte. Ueber meinem Sarge wird man das Wappen meines Hauses zerbrechen und mir in die Gruft nachwerfen mit dem letzten düsteren Ruf: Freiherr von Eberstein-Ortenau – heute noch und nimmer mehr!“

Es sprach ein so tiefer, bitterer Schmerz aus diesen Worten, daß Wehlau plötzlich ernst wurde und mit einer Bewegung, deren er nicht Herr werden konnte, auf den Greis blickte, dem ein paar Thränen über die eingefallenen Wangen rollten. Der Mann der Wissenschaft, der Gegenwart hatte den Stolz des Adligen auf seine Vorfahren nie verstanden und nie gelten lassen; aber er verstand den Schmerz des alten Mannes, der um den Untergang seines Geschlechtes klagte, der trotz all seines Sträubens doch den ehernen Schritt der Neuzeit fühlte, welche hundertjährige Spuren zertrat und verwischte für immer. In diesem Augenblick fiel alles Lächerliche ab von Udo von Eberstein; es wurde ausgelöscht von dem tragischen Ernst einer untergehenden Welt- und Lebensanschauung, der das Urtheil gesprochen war mit diesem: „Heute noch – und nimmer mehr!“

Einige Sekunden lang herrschte tiefes Schweigen; dann bot der Professor plötzlich seinem bisherigen Gegner die Hand.

„Herr von Eberstein, ich habe Ihnen Unrecht gethan! Unsereins kann ja auch einmal irren, und es lag wirklich sehr viel Sonderbares in Ihrer – genug, ich leiste Abbitte!“

Der alte Herr war weit entfernt, zu ahnen, worauf sich diese Abbitte eigentlich bezog; er glaubte, sie gelte der bisher an den Tag gelegten Mißachtung des Eberstein’schen Geschlechtes, und es that seinem Herzen wohl, daß der eigensinnige rücksichtslose Gelehrte sich jetzt so rückhaltlos bekehrt zu haben schien. Er ergriff daher die dargebotene Hand und drückte sie herzlich.

Da kam Michael in größter Eile und Bestürzung. Man hatte jetzt erst in Erfahrung gebracht, daß die beiden alten Herren, die man mit der größten Vorsicht einander nähern wollte, sich allein im Zimmer des Generals befanden. Wahrscheinlich geriethen sie wieder an einander, und Hauptmann Rodenberg kam

[917]

In harter Winterszeit.
Nach dem Oelgemälde von H. Werner.
Photographie-Verlag von Franz Hanfstaengl in München.

[918] nun schleunigst, um einem Unheil vorzubeugen. Zu seinem größten Erstaunen fand er die Beiden ganz friedlich und freundschaftlich bei einander; der Professor hielt sogar die Hand des Freiherrn in der seinigen, und dieser schien den Händedruck zu erwidern.

„Ich bedaure sehr, zu stören,“ sagte Michael, der seinen Augen nicht traute. „Hertha läßt die Herren um ihre Gegenwart bitten, aber wenn wir Sie in einem ernsten Gespräch unterbrechen –“

„Nein, wir sind zu Ende,“ erklärte Wehlau, indem er den alten Baron, der sich mühsam erhob und nach seinem Stocke griff, kräftig unterstützte. So traten sie in das Empfangszimmer, wo ihnen Hertha entgegenkam; aber an ihrer Seite befand sich noch ein Anderer, bei dessen Anblick die elegische Stimmung Eberstein’s sofort in eine gereizte umschlug.

„Herr Hans Wehlau – ich denke, Sie sind in Tannberg!“ rief er ärgerlich.

„Ja, als ich abfuhr, war er noch dort,“ fiel der Professor ein. „Wo kommst Du her, Junge? Bist Du durch die Luft geflogen?“

„Nein, Papa, ich bin Dir nur schleunigst nachgefahren,“ erklärte Hans. „Ich mußte den Herrn von Eberstein nothwendig sprechen und ihn in einer dringenden Angelegenheit um Gehör ersuchen –“

„Ich will nichts hören!“ protestirte der alte Herr. „Ich weiß schon, worauf die Geschichte wieder hinausläuft; aber ich bin soeben mit Ihrem Vater übereingekommen, daß wir ernstliche Maßregeln gegen Ihre Heirathspläne ergreifen, höchst energische Maßregeln!“

„Ja wohl, höchst energische Maßregeln!“ bestätigte der Professor. „Das haben wir allerdings abgemacht, aber – warum wollen Sie eigentlich Ihre Tochter meinem Sohne nicht zur Frau geben?“

Eberstein schaute ihn ganz verblüfft an. Die Frage war doch höchst sonderbar, nachdem man soeben erst ein Bündniß gegen diese geplante Heirath geschlossen hatte; aber die Antwort wurde ihm erspart, denn in diesem Augenblicke nahm ihn Hertha in Beschlag, und Wehlau benutzte das, um seinen Sohn bei Seite zu ziehen.

„Ich habe mich geirrt,“ sagte er kurz und bündig. „Du hattest diesmal Recht. Der alte Freiherr ist ganz vernünftig bis auf einige abnorme Gehirnerscheinungen, und die muß man dem zehnten Jahrhundert zu Gute halten, solch ein Stammbaum ist ja überhaupt nicht normal! Gefährlich und erblich aber sind diese Marotten nicht, also – wenn es durchaus nicht anders geht, so heirathe Deine Gerlinde!“

„Gott sei Dank, daß Du zur Einsicht gekommen bist, Papa!“ sagte Hans mit einem Seufzer der Erleichterung. „Du hast mir Noth genug gemacht mit Deiner Sorge für die Generationen, die vorläufig noch gar nicht da sind.“

„Das war meine Pflicht. Aber wie gesagt, ich bin jetzt über das Schicksal Deiner Nachkommenschaft beruhigt. Nun sieh zu, wie Du mit dem Alten und seinem Stammbaume fertig wirst.“

„Ich nehme sie alle Beide im Sturme!“ rief der junge Künstler triumphirend. „Ich erobere mir trotz alledem mein Dornröschen!“

Hertha hatte inzwischen diesen Sturm vorbereitet; sie hatte das Gespräch auf ihre eigene Verlobung gebracht und dem Freiherrn zu Gemüthe geführt, daß sie ja auch der letzte Sproß eines alten Geschlechtes sei, wie Gerlinde, und daß auch ihr Name in einem anderen erlöschen werde, der kein Adelswappen trage; aber Eberstein widersprach mit Heftigkeit.

„Das ist etwas ganz Anderes. Ihr Verlobter ist immer der Enkel des Grafen, der Sohn einer Steinrück; er gehört wenigstens mütterlicherseits Ihrem Geschlechte an. Ueberdies,“ hier wandte er sich verbindlich zu Michael, dessen männlich kriegerische Erscheinung ganz nach seinem Geschmacke war, „überdies hat sich Hauptmann Rodenberg im Kriege ausgezeichnet. Schon zu Zeiten unserer glorreichen Vorfahren galten tapfere Kriegsthaten als ein Adelsbrief und errangen den Ritterschlag. Aber ein Schwiegersohn, dessen Waffe der Pinsel und dessen Schild die Palette ist – nimmermehr!“

„Nun, er kann mit Pinsel und Palette wenigstens den Kriegsruhm verewigen,“ sagte Michael lächelnd. „Sie wissen vielleicht noch nicht, daß mein Freund soeben in einer Preisbewerbung den Sieg davongetragen hat. Sein Name geht jetzt durch die ganze Presse und wird einstimmig –“

„Bleiben Sie mir mit der Presse vom Leibe!“ rief Eberstein erbost. „Das ist auch so eine Erfindung der Neuzeit, und das ist die schlimmste von allen! Diese voreilige, indiskrete, verleumderische Presse, die Alles in den Staub zieht, der nichts heilig ist, ist ein rechtes Satanswerk!“

„Sie haben ganz Recht, Herr Baron, die Presse ist sehr schlimm!“ bestätigte Hans, der soeben herantrat und die letzten Worte hörte. „Aber nun erlauben Sie mir wohl, mein Gesuch auszusprechen – bitte, halten Sie sich nicht die Ohren zu; es betrifft diesmal wirklich nicht Gerlinde und mich, sondern einzig die Preisbewerbung, von der Michael soeben sprach. Ich habe mich schon vor dem Kriege daran betheiligt und erhielt noch während des Feldzuges die Nachricht, daß meine Skizze mit dem Preise gekrönt und zur Ausführung bestimmt ist. Dazu bedarf ich aber Ihrer Erlaubniß.“

„Meiner Erlaubniß?“ fragte Eberstein befremdet. „Was habe ich denn mit Ihren Bildern zu thun?“

„Das wird Ihnen klar werden, sobald Sie sich herbeilassen, einen Blick darauf zu werfen. Es ist ein historisches Gemälde, für den Hauptsaal des neuen Rathhauses in B. bestimmt und an diesem hervorragenden Platze wird es natürlich viel gesehen werden. Eben deßhalb muß ich Ihre Erlaubniß erbitten; wird sie versagt, so muß ich eben den Entwurf ändern. Entscheiden Sie darüber – hier ist er.“

Er öffnete die Thür des Nebenzimmers. Der alte Freiherr, zeigte sich glücklicherweise nicht so hartnäckig wie Professor Wehlau, als es sich um die Verachtung Sankt Michael’s handelte; halb neugierig, halb mißtrauisch trat er ein, und die Anderen folgten ihm.

Dort an der Wand war in der That das besprochene Bild aufgestellt, vorläufig nur ein Karton, in Kreide ausgeführt, aber doch ein getreues Abbild des künftigen Gemäldes. Der junge Maler hatte es verstanden, den gegebenen historischen Stoff, eine Scene aus den Kämpfen des Mittelalters unter den Hohenstaufen, lebendig und wirkungsvoll zu gestalten. Zur Rechten des Bildes erblickte man den Kaiser, eine machtvolle, ernste Erscheinung, von Fürsten und Prälaten umgeben; zur Linken zeigte sich das herandrängende Volk, während die siegreich heimkehrenden Krieger, die ihrem Fürsten die eroberten Trophäen zu Füßen legten, die Mitte einnahmen. Es war eine charakteristische, reich bewegte Gruppe, aus der vor Allem eine Gestalt aufragte, offenbar der Held und Führer des ganzen Siegeszuges. Eine prächtige Erscheinung, mit dunklen Haaren und Augen und edlen, regelmäßigen Zügen, in voller Rüstung und voller Manneskraft. Hochaufgerichtet, mit der Rechten auf die Trophäen deutend, schien er dem Kaiser den Siegesbericht zu erstatten. Der einzelne Ritter war die Hauptgestalt des Gemäldes, auf die sich der ganze Vorgang und auch das Interesse des Beschauers koncentrirte; aber Helm und Rüstung trugen die Abzeichen derer von Eberstein, und der Schild trug das Wappen, das verwittert und halb zerfallen über dem Thore der Ebersburg stand – es feierte hier seine Auferstehung.

Der alte Freiherr war an das Gemälde herangetreten, um es genau zu betrachten; Plötzlich aber zuckte er zusammen, die trüben Augen gewannen Leben; die gebeugte Gestalt richtete sich auf und mit einer fast stürmischen Bewegung, wandte er sich zu dem jungen Künstler, der hinter ihm stand.

„Was haben Sie gethan? Das ist ja –“

„Die Wiedergabe eines Portraits, das ich bei meinem ersten Besuche in der Ebersburg entdeckte,“ ergänzte Hans. „Sie erinnern sich wohl noch unseres Gespräches darüber und begreifen nun, weßhalb ich Ihre Erlaubniß erbitte.“

Eberstein gab keine Antwort; er blickte starr und unverwandt auf das Bild, auf sein Bild, aus der Zeit, wo er noch jung und gesund und glücklich war, wo auch er noch die Waffen zu führen wußte, und ihm wurden die Augen feucht bei der Erinnerung.

„Was soll denn das eigentlich heißen?“ fragte der Professor, der zwar das Gemälde kannte, den man aber über die geheime Bedeutung desselben noch in Unkenntniß gelassen hatte. Der alte Freiherr wandte sich zu ihm und sagte in einem Tone, der halb wehmüthig, halb selbstbewußt klang:

„Das sind meine Züge. So hat einst Udo von Eberstein ausgesehen – vor mehr als dreißig Jahren!“

[919] „Da haben Sie sich aber sehr verändert!“ brach Wehlau in seiner derben Weise los; doch Hans fiel rasch ein:

„Nicht doch, Papa! Sieh den Freiherrn nur genau an! Du findest die Züge wieder. Das Bild soll in Freskomalerei ausgeführt werden, Herr Baron; es wird voraussichtlich so lange bestehen wie das Rathhaus selbst – mindestens einige hundert Jahre.“

„Einige hundert Jahre!“ lispelte Eberstein wie verklärt. „Freilich, das Wappen wird Niemand kennen.“

Hans trat dicht an seine Seite.

„Man kennt es leider bereits. Die schlimme Presse – Sie wissen ja, ich theile Ihre Abneigung dagegen – hat sich schon der Sache bemächtigt und bringt den vollen Namen. Ein Artikel in dem ersten Blatte unserer neuen Reichshauptstadt – Sie gestatten wohl, daß ich Ihnen den Schluß vorlese.“

Er zog eine Zeitung hervor, dieselbe, welche damals die Kritik über Sankt Michael gebracht hatte, und las:

„‚Nach dieser ausführlichen Besprechung wollen wir unseren Lesern auch die Mittheilung nicht vorenthalten, daß die Hauptgestalt des Bildes, der Ritter mit dem prächtigen, vielbewunderten Charakterkopfe‘ – hier steht es schwarz auf weiß, Herr Baron, mit dem prächtigen vielbewunderten Charakterkopfe – ‚ein nur wenig idealisirtes Portrait ist und zwar das Portrait des Freiherrn Udo von Eberstein-Ortenau, auf Ebersburg, des letzten Sprossen eines einst weitberühmten Geschlechtes, das seinen Stammbaum bis in das zehnte Jahrhundert zurückführt; auch das Wappen der Eberstein ist auf dem Bilde verewigt.‘ – Ich kann wahrhaftig nicht dafür – ein paar harmlose Aeußerungen, die ich zu Bekannten that – wünschen Sie, daß der Artikel dementirt wird? Sonst macht er die Runde durch alle Zeitungen Deutschlands.“

„Nein, mein junger Freund,“ sagte Eberstein würdevoll. „Ich erlasse Ihnen das Dementi; ich finde überhaupt, daß die Presse in diesem Falle weder indiskret noch voreilig gehandelt hat. Sie erfüllt nur eine Ehrenpflicht, wenn sie Thatsachen, die dem Gedächtniß der Mitlebenden leider entschwunden sind, wieder zur Geltung bringt; sie hat sich wirklich höchst verständig benommen. Lassen Sie den Artikel die Runde machen, durch alle Zeitungen Deutschlands!“

„Der Junge hat ja ein wahrhaft haarsträubendes Talent zur Intrigue!“ murmelte Professor Wehlau. „Jetzt hat er den Alten an der Angel.“

Hans drehte mit gutgespielter Verlegenheit die Zeitung in der Hand.

„Ja, Herr Baron – es ist aber noch ein Schlußsatz da, und den müssen Sie doch auch hören – darf ich ihn lesen?“

„Lesen Sie!“ sagte Eberstein feierlich und wohlwollend, und Hans las:

„‚Und nun zum Schluß noch eine Mittheilung, die besonders unsere Leserinnen interessiren wird. Es ist dem jungen Künstler wohl Herzenssache gewesen, als er dem Ritter mit dem Eberwappen gerade diese Züge lieh, da er im Begriff steht, sich mit der einzigen Tochter des genannten Freiherrn zu verehelichen‘ –“

„Halt – das lassen Sie nicht abdrucken – das dementiren Sie!“ rief der alte Herr erschrocken; aber Hans drückte ihm ohne Umstände die Zeitung in die Hand und zog hinter dem Bilde etwas hervor, das sich bei näherer Betrachtung als Fräulein Gerlinde von Eberstein erwies. Da stand es, das kleine Dornröschen, nicht mehr so ganz kindlich wie vor zwei Jahren, aber in seiner ganzen Lieblichkeit, und hob bittend Augen und Hände zu dem Vater empor.

„O Papa, sei doch nicht so grausam – ich habe meinen Hans so lieb!“

„Habe ich es nicht gesagt, da stecken sie wieder beisammen!“ rief der Professor vortretend. „Herr von Eberstein, es wird uns wohl nichts Anderes übrig bleiben, als Ja zu sagen. Mein Hans setzt doch seinen Willen durch, das sehen Sie nun wohl, und das zarte kleine Ding, Ihre Tochter, ist im Stande, sich über die Trennung zu Tode zu grämen. Dann ist sie hin, und Sie sitzen allein da mit Ihrem ganz reinen Stammbaum.“

„Das wäre schrecklich!“ sagte Eberstein mit einem entsetzten Blick auf sein einziges Kind.

„Also – machen wir die Geschichte ab!“ Damit umfaßte Wehlau die junge Dame und gab ihr einen väterlichen Kuß; für ihn war die Sache damit wirklich abgemacht.

Der alte Freiherr wußte nicht, wie ihm geschah; er wurde im vollsten Sinne des Wortes überrumpelt. Urplötzlich hatte er Tochter und Schwiegersohn in den Armen; Gerlinde schluchzte an seiner Brust, und Hans umarmte herzhaft seinen „lieben Schwiegervater“. Ein Widerstand war gar nicht möglich; es blieb wirklich nichts weiter übrig, als die Beiden an sich zu drücken, und das geschah denn auch. Udo von Eberstein willigte ein. Der künftige Sohn wahrte trotz alledem die Erinnerung an das alte Geschlecht, wenn auch mit Pinsel und Palette. –

In den letzten Tagen des Juli fand in der Wallfahrtskirche zu Sankt Michael eine Trauung statt, eine äußerlich stille und ernste Feier: die Vermählung des Hauptmanns Michael Rodenberg mit der Gräfin Hertha Steinrück. Da Michael protestantisch war, wie sein Großvater und seine Mutter, so hatte die evangelische Trauung bereits in Schloß Steinrück stattgefunden. Jetzt sollte in Gegenwart eines kleinen Familienkreises, unter welchem sich auch das junge glückstrahlende Brautpaar Hans und Gerlinde befand, der greise Pfarrer des kleinen Alpendorfes auch vor dem Altar seiner Kirche die Hände der Beiden in einander legen, nach ihrem ausdrücklichen Wunsche.

Die Adlerwand stand noch umschleiert vom Morgenduft, der sich jetzt zu lichten begann und sich als weißer Wolkenschleier zu ihren Füßen legte: da hallte der Glockenklang des alten Gotteshauses weit hinaus in die Berge, und auf Michael und sein junges Weib, die jetzt vereint waren für das Leben, blickte das Altarbild nieder, der mächtige, kriegerische Erzengel mit den Adlerflügeln und den Flammenaugen, der siegreiche Heerführer des Himmels – Sankt Michael!


Blätter und Blüthen.

Frauenleben in Konstantinopel. Der geistreiche italienische Schriftsteller Edmondo de Amicis hat eine lebendige Schilderung der türkischen Hauptstadt veröffentlicht und ein Kapitel auch den Frauen gewidmet, welche ja von den türkischen Dichtern als „Herzenseroberinnen“, „Mannaquellen“, „kleine Rosenblätter“, „frühreife Trauben“, „strahlende Monde“, „Lebenserweckerinnen“, überhaupt in einer Fülle von Bildern gepriesen werden, wie sie die reiche Phantasie des Orients liebt. Amicis findet die Beschränkungen, welche den Frauen auferlegt sind, in Konstantinopel nicht so übertrieben groß: zwar müssen sie verschleiert gehen, aber man befolgt die Vorschriften des Koran, ohne es gerade zu genau damit zu nehmen: je schöner und jünger die Türkin, desto luftiger und durchsichtiger der Schleier. Gleichwohl ist das Haremsleben traurig und langweilig, und das Bild, welches der italienische Reisende von ihm entwirft, würde für die Frauen des Abendlandes wenig Verlockendes haben. Auf Polstern oder Teppichen mit ihren Sklavinnen sitzend, säumen die Damen von Konstantinopel zahlreiche Taschentücher zum Geschenk für ihre Freundinnen, sticken Schlafkappen oder Tabaksbeutel für Gatten, Väter, Brüder, lassen die Perlen des türkischen Rosenkranzes durch ihre Finger gleiten, zählen bis zur höchsten Zahl, die sie kennen, folgen mit dem Auge den Schiffen, die auf dem Bosporus oder dem Marmorameer dahinsegeln, beschwören Phantasiebilder des Reichthums, der Liebe und Freiheit herauf, indem sie gedankenlos den bläulichen Rauchkreisen ihrer Cigarrette folgen. Sind sie der Cigarrette überdrüssig, rauchen sie einen Tschibuk; dann schlürfen sie eine Tasse aromatischen Kaffee, naschen Obst und Süßigkeiten, brauchen eine halbe Stunde, um ein Glas Gelée zu leeren, genießen durch Nergilehs parfümirtes Rosenwasser, saugen ein wenig Mastix, um den Geschmack des Rauchens zu dämpfen, und trinken Limonade, um den des Mastix los zu werden. Sie machen Toilette, kleiden sich wiederholt um, probiren alle Gewänder ihres Schrankes an, versuchen verschiedene Schminken, Schönpflästerchen, stellen ein Dutzend große und kleine Spiegel so zusammen, daß sie sich selbst von allen Seiten betrachten können, bis sie sich nicht mehr sehen mögen. Stundenlang sitzen die gelangweilten Damen an den vergitterten Fenstern, zählen die vorübergehenden Leute und Hunde, lehren den Papagei ein neues Wort, oder sie schaukeln sich im Garten, verrichten ihre Gebete, strecken sich auf dem Divan aus, um Karten zu spielen – müdes Lachen, lautes Gähnen – so ist das Leben in den Harems. †      

Meyer’s Konversations-Lexikon. Wenn von der neuen Auflage eines Werkes fast ein Drittheil des Ganzen der Oeffentlichkeit übergeben ist, so besitzt die Kritik genügende Vorlage zu einem begründeten Urtheil. Schon die dritte Auflage dieses Konversationslexikons wurde von der „Gartenlaube“ als das Werk redlichen deutschen Fleißes anerkannt. Es waren derselben Vorbereitungen und redaktionelle Einrichtungen zu Gute gekommen, welche ihr wesentliche Vorzüge vor ihren drei Vorgängern sicherten; denn zu diesen muß auch das von Joseph Meyer, dem Gründer des Bibliographischen Instituts, im August 1839 begonnene und am 28. März 1855 mit seinem „Schlußwort“ beendete „große Konversations-Lexikon für die gebildeten Stände“ gezählt werden, welches, ursprünglich auf 21 Bände berechnet, auf 52 durchschnittlich je 80 Druckbogen starke Bände sich ausdehnte. Aus diesem Werke ging das „neue Konversations-Lexikon“ [920] hervor, von welchem nunmehr schon die vierte Auflage nothwendig geworden und das als „Encyklopädie des allgemeinen Wissens“ bezeichnet ist. Die neue Auflage kommt dem höchsten Ziel, welches Herausgeber und Redakteure auf diesem Gebiete litterarischer Thätigkeit überhaupt erreichen können, wieder um einen Schritt näher. Dieses höchste Ziel besteht nicht etwa nur in möglichst zahlreichen und gut geschriebenen Artikeln, – für solche Leistungen bietet unsere Schriftstellerwelt gute Kräfte genug, – sondern es besteht in der Planfestigkeit, im Ebenmaß und in der Gerechtigkeit der Wahl, Zahl, Ausdehnung und Behandlung der einzelnen Theile des, so weit unser menschliches Vermögen dies gestattet, allumfassenden Inhalts.

Werfen wir einen Blick auf die künstlerische Ausschmückung des Werkes. Sie besteht in Holzschnittabbildungen im Text und in besonders beigelegten Illustrationsblättern. Die Holzschnitte im Text entsprechen ihrem Zweck; denn sie verbinden mit möglichster Klarheit so viel Schönheit als ihre hauptsächlich belehrende Aufgabe wünschen läßt.

Die Illustrationsbeilagen zeichnen sich vorzugsweise durch sorgfältige Ausführung und Behandlung aus. Neben den Landkarten und Städteplänen finden sich eine große Zahl naturwissenschaftlicher Holzschnittblätter und eine Reihe mit größtem Fleiß ausgeführter Aquarelldrucktafeln. Wir wollen nur auf Einiges aufmerksam machen. Im 1. Band: die afrikanischen, amerikanischen und asiatischen Völker und die Aktinien- und Algen-Tafeln. Im 2. Band: zwei Tafeln Autographen berühmter Personen, eine Tafel: das Bauernhaus, 12 Tafeln für Baukunst und 10 Tafeln für Bildhauerkunstgeschichte. Im 3. Band: neben 5 Landkarten und 6 Städteplänen, treffliche Tafeln über Blattpflanzen u. dergl., vor Allem das meisterhafte Faksimile von Gutenberg’s 42zeiliger Bibel. Im 4. Band: die Tafeln und Karten zu Allem, was mit „Dampf“ und „Deutschland“ zusammenhängt. Im 5. Band sind ganz besonders hervorzuheben die Aquarelldrucktafeln der Edelsteine und der Eier; von den Städteplänen der von Dresden und Elberfeld-Barmen. – Die deutsche Presse hat mit seltener Uebereinstimmung sich für dieses Werk ausgesprochen, und das deutsche Volk scheint seine Theilnahme in der gedeihlichsten Weise zu bethätigen. Daß aber auch das Ausland, daß unsere stolzen Stammverwandten jenseit des Kanals sich darüber aussprechen, wie Dr. Webster in der „Encyclopaedia Britannica“, das gereicht dem Buch und uns zur Freude und Ehre. Fr. Hofmann.     

Zutraulich. (Mit Illustration auf S. 909.) Ein Rokoko-Idyll – sagen wir: aus der Werther-Zeit. Aus der Zeit des jungen Goethe, wo es so viele Lotten gab wie heut Elsen. Der Sommerhimmel blaut, das Korn duftet, und die bunten Falter fliegen: das ist der Hintergrund für das Idyll. Und auf diesem Grunde eine „Lotte“, höchstens achtzehnjährig, ein Körbchen voll Rosen am Arm – ein Geschöpf, welchem kein Schmetterling Bedenken tragen darf, völlig zu vertrauen. Da sitzt die schillernde Psyche auf dem lichten Mädchenfinger, der so fein glitzert in der Hitze des Sommertags und so warmduftig ausströmt: ein Sitz wie in einem Blumenkelche. Die Wahrheit zu sagen: ein Schmetterling hat immer Durst, und unsere Psyche nippt ein Perlchen Schweiß von diesem Finger so gut wie den Honigtropfen aus einer Rose. Aber man denkt nicht so prosaisch, wenn man ein achtzehnjähriges Mädchen ist, dem ein Schmetterling auf den Finger flog. Man sagt nur in Gedanken: „Wie reizend!“ und „Still!“ Lange währt die Freude nicht – man muß alles thun, um sie voll zu genießen; im Umsehen huscht sie davon – ein Schmetterling.

Hamlet in Paris. Der träumerische Dänenprinz Shakespeare’s ist jetzt auch in Paris erschienen und zwar im Theâtre der Porte-Saint-Martin, wo Sarah Bernhard, die gefeiertste Künstlerin Frankreichs, die Ophelia spielte, und jetzt im Herbst an der Stätte der klassischen französischen Muse, im Theâtre Français. Und der Eindruck dieser Aufführungen? Man hat einzelne Scenen lebhaft beklatscht, wie die Scene zwischen Hamlet und Ophelia, welche von dem Darsteller der Titelrolle in höchst stürmischer Weise gespielt wurde; doch galt dieser Beifall mehr dem Schauspieler. Im Ganzen hat man sich gelangweilt – daraus macht die erste Zeitschrift Frankreichs, das vornehme Weltblatt, die „Revue des deux mondes“, kein Hehl. Die Zerfahrenheit der Handlung in den beiden letzten Akten widerspricht zu sehr den Ueberlieferungen des französischen Theaters, und der Humor, der in einzelnen Auftritten herrscht, hat zu wenig mit dem französischen Esprit gemein. Abgesehen von dem sehr sympathischen Darsteller der Titelrolle wurde auch nicht besonders gespielt: die Ophelia schien aus der Operette herzukommen; Polonius war nichts als ein Komiker, und der Geist hatte nichts Unheimliches; er flößte so wenig Grauen ein, daß er im Gegentheil von der Geisterfurcht kuriren konnte. Und doch hat das Theâtre français dem Schauspiel Shakespeare’s die größten Zugeständnisse gemacht. Während die Verwandlungen an dieser Bühne sonst in Acht erklärt sind, wurde der „Hamlet“ in elf Abtheilungen gegeben; doch der Geist Shakespeare’s wird wohl nicht sobald zum zweiten Male in den Pariser Schauspielhäusern spuken; der Dichter, welchen Voltaire und Friedrich der Große einen betrunkenen Wilden nannten, ist für den französischen Volksgeschmack verloren. †      

Der Dom zu Merseburg. (Mit Illustration S. 913.) In seiner alten ehrwürdigen Schönheit ist der Dom zu Merseburg, eines der Baudenkmäler aus Sachsens Vorzeit, neuerdings restaurirt und in Gegenwart des deutschen Kronprinzen am 7. November eingeweiht worden. Große geschichtliche Erinnerungen knüpfen sich an den alten Dom. Das Bisthum Merseburg wurde von Otto dem Großen in Folge eines Gelöbnisses gegründet, das er 955 bei einem Ritt in die Hunnenschlacht auf dem Lechfelde gethan. Im Jahre 1015, wo Kaiser Heinrich II. in Merseburg seinen ersten Reichstag hielt, beschloß er das neue Gotteshaus an Stelle des alten Kirchleins zu gründen, und im Jahre 1021 wurde der neue Dom eingeweiht[WS 1]. Als der Gegenkönig Heinrich’s IV., Rudolf von Schwaben, 1080 vor den Thoren von Merseburg geschlagen worden und an seinen Wunden gestorben war, wurde er im Chore der Stiftskirche beigesetzt, und die noch heute erhaltene Erzplatte, womit die Höhlung bedeckt ist, hat ein hohes kunstgeschichtliches Interesse. Das Langhaus des Doms wurde im Jahre 1517 gebaut. Drei Jahre darauf las Dr. Eck von der Kanzel des Doms die Bannbulle gegen Dr. Luther, und dreimal hat dieser selbst im Dom gepredigt.

Das Streben, alte Baudenkmäler, denen die Zeit manche ehrwürdige Schönheit, manche charakteristische Eigenheit abgestreift hat, in ihrer ursprünglichen Gestalt zu restauriren, geht aus der geläuterten Kunstbildung der Gegenwart hervor. Um die Restauration des Merseburger Doms, dessen stilvolle Gruft mit ihren blanken, allegorisch reich verzierten Metallsärgen der Ungunst der Zeiten getrotzt, hat sich in erster Linie Kultusminister von Goßler verdient gemacht. Die rühmenswerthen Restaurationsarbeiten wurden von Oberbaurath Adler und Regierungsbaumeister Weber geleitet und in vier Jahren vollendet. Der Dom besitzt eine Riesenorgel, nächst der von Ulm die größte in Deutschland: sie hat 81 Register und 5607 klingende Stimmen.

Der Kronprinz begab sich vom Bahnhofe sofort nach dem Dom; ihm voraus zog die Fleischerinnung, vermöge eines alten Privilegs. Die Geistlichkeit erwartete den Kronprinzen mit Büchern und Kirchengeräthen vor dem Dom und schritt ihm voraus, als er vom Schlosse kam, begleitet von den Spitzen der Behörden der Provinz Sachsen. Der Generalsuperintendent derselben, Dr. Möller, hielt die Weihrede, die erste Predigt Konsistorialrath Leuscher. Dann besichtigte der Kronprinz das Innere der Kirche und nahm draußen die Kirchenparade über das in Merseburg garnisonirende Husarenregiment ab.

So ist das alterthümliche Gebäude, von Künstlerhand restaurirt, dem Gottesdienst der Gegenwart zurückgegeben worden. †      

Amerikanische Dynamitkreuzer. Die Werkzeuge der Zerstörung zu kriegerischen Zwecken mehren sich von Tag zu Tag; ja es werden auf diesem Gebiete so mörderische Erfindungen gemacht, daß man daran zweifelt, ob das den Krieg und seine Bedingungen regelnde Völkerrecht seine Zustimmung zur Anwendung derselben geben dürfte. Giebt es doch Vertreter der Humanität und Apostel des Friedens, welche ihre Hoffnung auf diese sich gegenseitig überbietenden Erfindungen setzen; denn wenn die zerstörenden Kräfte in einer Weise entfesselt würden, daß große Truppenmassen ihnen gar nicht mehr Stand halten könnten, daß ganze Regimenter vom Erdboden rasirt würden, so würde ja der Krieg von selbst eine Unmöglichkeit werden.

Zunächst beschäftigt sich die Marine mit solchen vernichtenden Kampfmitteln. Die Amerikaner lassen jetzt einen Dynamitkreuzer bauen, der 230 Fuß lang, 26 Fuß breit und 7½ Fuß tief ist, dessen Maschinenstärke 3200 Pferdekräfte beträgt. Dies Schiff führt 3 Dynamitkanonen. Um die furchtbare und für die Mannschaften lebensgefährliche Erschütterung zu vermeiden, welche unfehlbar eintritt, wenn mit Dynamit geladene Geschosse durch das gewöhnliche Schießpulver herausgeschleudert werden, bedient man sich bei diesen Geschützen der zusammengepreßten Luft, und zwar ist die Luft bis auf 1000 Pfund für den Quadratzoll[WS 2] komprimirt. Die Geschütze von Stahl haben die große Länge von 65 Fuß; die Geschosse bestehen aus Kupferhülsen vom Durchmesser des Geschützes und enthalten 200 Pfund Sprenggelatine.

Mit diesen neuen Zerstörungswerkzeugen haben die Amerikaner auf dem Potomakfluß Experimente gemacht. Die Treffsicherheit dieser Geschütze erstreckt sich auf drei englische Meilen, und ihre Wirkung ist eine so gewaltige, daß ein einziger Treffer das stärkste Panzerschiff vernichten würde.

Wie wird sich bei solchen Erfindungen der Seekrieg der Zukunft gestalten? Welcher Marine-Etat der Welt könnte den Verlust von Panzerschiffen ersten Ranges ertragen, die mit so enormem Kostenaufwand gebaut sind, wenn ein einziger Kanonenschuß sie zerstören und eine solche Bresche in den Etat schießen könnte? Vielleicht sind die ersten Berichte unter dem Eindruck einer Erfindung von immerhin erschreckender Wirkung etwas übertrieben; jedenfalls ist der erste Schritt, die Waffe der Anarchisten, das Dynamit, als Kriegswaffe zu gebrauchen, sehr beachtenswerth. †      

Auflösung der Skataufgabe Nr. 8 auf Seite 852.

Die Vorhand verliert ihr Grand, obwohl sie 92 Augen in der Hand hat, während die Mittelhand mit nur 8 Augen in der Hand Grand bei richtiger Spielführung gewinnen muß, wenn die Karten so vertheilt sind:

Mittelhand: eW, gW, rW, sW, r9, r8, r7, s9, s8, s7.
Hinterhand: eO, e9, e8, e7, gO, g9, g8, g7, rO, sO.

Skat: rK, sK. Der Verlauf des Spiels wird etwa folgender sein:

1. eD, sW, eO. (−16)
2. s7, sO, sD (+14)
3. gD, rW, gO (−16)
4. s8, e7, sZ (+10)
5. eZ, gW, e9 (−12)
6. r7, rO, rD (+14)
7. gK, r8, g7, (+4)
8. gZ, eW, g9 (−12)
9. s9, g8, eK (−4)
10. r9, e8, rZ (+10).

Daß Mittelhand Grand gewonnen hätte, bedarf, da der Gang des Spieles in der Hauptsache derselbe sein wird, keines weiteren Beweises.

Auflösung der Schachaufgabe auf Seite 884.
Weiß:   Schwarz:
1.0 L d 8 – a 5! T a 6 – a 5 ;
2.0 D d 2 – d 6 beliebig (ev. L d 5)
3.0 S S, ev. D g 6 setzt matt

Auf 1. ... f 3 – e 2 : folgt 2. D d 2 – e 2 : † nebst 3. D e 2 – c 4 matt. Die Drohung ist 2. D d 2 – d 3 † nebst 3. S e 2 – c 3 (zieht ab) matt. Es scheitert 1. D d 6 an L d 5! Gegen 1. S [?] 4 folgt S c 3 †, 2. D : S, e 5 : S; ohne L h 8 wäre 3. D d 4 matt möglich. Der Versuch 1. S g 1 oder S c 3 † wird durch S c 3 (:) †. 2. D : S, L b 5! widerlegt. Eine kunstreiche Arbeit!


Inhalt: Unser Männe. Von W. Heimburg (Schluß). S. 905. Mit Illustrationen S. 905, 906, 907 und 908. – In der Sylvesternacht. S. 908. – Die Bastille. Von Rudolf von Gottschall. II. S. 910. – Erfrieren. Von Geheimrath von Nußbaum in München (Schluß). S. 912. – Sankt Michael. Roman von E. Werner (Schluß). S. 914. – In harter Winterszeit. Illustration. S. 917. – Blätter und Blüthen: Frauenleben in Konstantinopel. S. 919. – Meyer’s Konversationslexikon. Von Fr. Hofmann. S. 919. – Zutraulich. S. 920. Mit Illustration S. 909. – Hamlet in Paris. S. 920. – Der Dom zu Merseburg. S. 920. Mit Illustration S. 913. – Amerikanische Dynamitkreuzer. S. 920. – Auflösung der Skataufgabe Nr. 8 auf Seite 852. S. 920. – Auflösung der Schachaufgabe auf Seite 884. S. 920.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.
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☙ An unsere Leser! ❧

Mit dieser Nummer schließt der vierunddreißigste Jahrgang unserer Zeitschrift. – Wir dürfen von dem alten Jahre mit der erfreulichen Wahrnehmung scheiden, daß unsere redlichen Bestrebungen, ohne Rücksicht auf pekuniäre Opfer das Bestmögliche unseren Lesern zu bieten, den Beifall derselben gefunden haben, und werden demgemäß das alte, bewährte Programm auch im nächsten Jahre mit Nachdruck verfolgen:

Spannende Erzählungen unserer besten und beliebtesten Autoren sollen anregende Unterhaltung bringen, die Meisterwerke unserer besten Künstler in trefflichen Holzschnitten unser Blatt schmücken; ernste Aufsätze über Völker- und Menschenschicksale sollen mit heiteren Plaudereien abwechseln, und auf dem Gebiete der Heilkunde und Hauswirthschaft werden wir mit Hilfe bewährter Mitarbeiter dem Familienvater eben so wie der Hausfrau praktische, im täglichen Leben zu verwerthende Rathschläge ertheilen.

Dabei soll die alte Losung der „Gartenlaube“: „Deutsch und volksthümlich,“ durch welche sie seit Jahren schon zum Lieblingsblatt des deutschen Hauses geworden ist, auch in Zukunft unsere Richtung bestimmen. Die Kräftigung des nationalen Gedankens innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen, die Fördernng aller gemeinnützigen Bestrebungen und jeder werkthätigen Humanität bleiben nach wie vor das Ziel, welches wir unverrückt im Auge behalten.


Den am 1. Januar 1887 beginnenden fünfunddreißigsten Jahrgang der „Gartenlaube“ werden folgende Erzählungen eröffnen:

Herzenskrisen.   Speranza.      
Roman von W. Heimburg.   Novelle von A. Schneegans.
Den vielen Verehrern und Freunden von E. Marlitt können wir ferner die erfreuliche Mittheilung machen, daß die allbeliebte Verfasserin an der Vollendung eines neuen Werkes arbeitet, welches unter dem Titel:
Das Eulenhaus. Roman von E. Marlitt

voraussichtlich schon im zweiten Quartal des nächsten Jahrgangs zum Abdruck gelangen wird.

Außerdem sind noch folgende Erzählungen in Aussicht genommen:

Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.

Ein verhängnißvolles Blatt. Oberbayerische Erzählung von Anton v. Perfall.

Die Einsame. Erzählung von S. K y n.

Um den Namen. Roman von A. Baron v. Roberts.

Der lange Holländer. Novelle von Rudolf Lindau.

Ein geheilter Othello. Erzählung von F. Schifkorn.

Das Milchmädchen von Trianon. Lieder-Erzählung von Ernst Pasqué.

Die Herrgottskinder. Erzählung von H. Villinger.

Aus unserem reichen Schatze unterhaltender und belehrender Artikel' führen wir nur die folgenden auf:
Das Originalmanuskript der „Wacht am Ahein“ nebst einem Faksimile desselben. Von Ed. Spieß. – Die Nervenschwäche. Von Prof. Dr. H. Kisch. – Verhütung der Schlaflosigkeit. Von Dr. A. Kühner. – Gesundheit und Städte-Erweiterung. Von Dr. F. Dornblüth. – Aus den Zeiten des Fehderechts. Von F. Helbig. – Von der Kamorra. Von I. Kurz. – Der Nekromant. Von Dr. Rudolf Kleinpaul. – Die Frau eines Thronfolgers. Von Dr. A. Kleinschmidt. – Auferstehung aus dem Wassergrabe. Von Dr. H. Noé. – Aus dem litterarischen Nachlaß von A. E. Brehm: Adlerjagden des Kronprinzen Rudolf. – Zwischen den Stromschnellen des Nil. – Lapplands Vogelberge. – Unter den kalifornischen Riesenbäumen. Im Yosemitethal. Durch Arizona. Von Rudolf Cronau. – Original-Charaktere aus dem 18. Jahrhundert. Von R. v. Gottschall. – Wie härten wir unsere Kinder ab! Von Sanitätsrath Dr. L. Fürst. – Opfer der Justiz. Von Karl Helldorf. – Thiercharaktere. Von Gebrüder Karl und Adolf Müller. – Gelehrte Thiere. Von Dr. Karl Ruß. – Jagdleben im Hochlande. Von Ludwig Ganghofer. – Was ist ein Kind werth! Von Friedrich Hofmann. – Ein Stück Fächerlitteratur. Von W. Goldbaum. – Ein amerikanischer Hochverrathsproceß. Von Hans Blum. – Ursprung des Kegelspiels. Von M. Zeisiger. – Der Rudersport. Von Dr. G. van Muyden. – Die Geschichte der Lichtputze. Eine humoristische Grabrede. Von Dr. Karl Braun-Wiesbaden. – Ein Schiffer von altem Schrot und Korn. Von C. Mehl. – Studien nach dem Leben. Von H. Heiberg. – Die Edelkoralle. Von Prof. Dr. Karl Vogt. – Eine Sängerfahrt nach Amerika. Von Hermann Mohr.

An hauswirthschaftlichen Artikeln nennen wir:
Das erste Jahr im neuen Haushalt. Briefe an eine junge Frau. Von R. Artaria. – Verwendung der Abfallstoffe im Haushalte. Von M. Ernst. – Die Küchenphysiologie des Fleisches und die Gefahren des Kleischgenusses. Von Dr. A. Schmidt-Mühlheim. – Buttersäure – Magensäure.Mehr Licht. Betrachtungen über die Hauslampe. Yon den Feinden der Speisevorräthe und ihrer BeKämpfung. Licht- und Schattenseiten unserer Fenster. Von der Kunst des Heizens. Von C. Falkenhorst.

Des Weiteren werden die bekannten Rubriken der „Gartenlaube“: „Blätter und Blüthen“„Kleine Bilder aus der Gegenwart“„Sprechsaal“„Allerlei Kurzweil“„Schach- und Skatsplel“ u. s. w., reichlichen Unterhaltungsstoff bieten.


 manicula Die „Gartenlaube“ hat in ihrem letzten Jahrgang die Zahl ihrer Druckbogen und damit die Fülle des gebotenen Lesestoffes, sowie die Zahl ihrer Illustrationen bedentend vermehrt, und auch der kommende Jahrgang wird gegen früher einen nach allen Richtungen hin wesentlich erweiterten Umfang erhalten. Trotzdem wird sie ihrem Grundsatz, das Beste zu billigstem Preise zu bieten, treu bleiben.

So dürfen wir denn hoffen, daß auch unsere Leser der „Gartenlaube“ treu bleiben werden, und ihnen getrost zurufen:
Auf Wiedersehen im nächsten Jahre!

Leipzig, Ende Dezember 1886. Die Redaktion und Verlagshandlung der „Gartenlaube“. 

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eiugeweiht
  2. Vorlage: Ouadratzoll