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Die Gartenlaube (1886)/Heft 48

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[837]

No. 48.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die beiden Schaumlöffel.

Eine Künstlergeschichte von Klara Biller.
(Fortsetzung.)

Ein gewisses Gefühl des Wohlbehagens, das selbst das Gespenst der Amerikaner nicht zu unterdrücken vermag, bemächtigt sich Oskar’s, als er nach der Unruhe der letzten Stunde sich wieder allein findet. Er streckt sich auf dem bequemen Divan, den eine Palmengruppe überragt, und läßt das Wiedersehen mit seinem Freunde noch einmal in der Erinnerung an sich vorüberziehen. Sein Gemüth ist besonders für solchen Hochgenuß geschaffen, während das Geräuschvolle der Wirklichkeit ihn mitunter verletzt. Er gesteht sich reumüthig, daß er nicht geglaubt, Paul so wiederzufinden; er fürchtete, der Erfolg würde den Künstler übermüthig gemacht haben – und wie treu, wie rücksichtsvoll und hilfreich war er geblieben! Nun er diesen einflußreichen Freund in der Vaterstadt neben sich hatte, faßte er wieder Hoffnung, daß noch etwas zu erreichen, und schämte sich fast, daß er so kleinmüthig gewesen. Wenn er Paul nur wenigstens bei den Amerikanern dienen könnte! So viel in seinen Kräften stand, wollte er schon versuchen, aber diese reichten ja nicht weit. Der gütige Paul, der trotz der Liebe zu dem blonden Mädchen und der neuen Bilderbestellung sein Interesse wahrgenommen und ihn diesen Menschen als Lehrer angepriesen hatte …

Ein Wagen rollt vor … kaum halb acht Uhr! Oskar greift nach seiner – vielmehr Paul’s neuester Kopfbedeckung. Er will hinaus, da reißt Fritz die Thür auf.

„Miß Dunby,“ sagt der eintretende Amerikaner, seine Tochter vorstellend, „hatte den Wunsch, heute schon einen Blick in das Atelier eines berühmten deutschen Künstlers zu werfen. Wir sind deßhalb etwas vor der verabredeten Stunde erschienen! Meine Frau fühlte sich angegriffen und hat uns daher nicht begleitet.“

Miß Dunby streckt ihm ihre kleine, schmalgefingerte Hand enthusiastisch entgegen. Ein bewundernder Blick ihrer klaren blauen Augen – die Begeisterung einer Siebzehnjährigen – trifft ihn. Sie ist über und über roth geworden aus Vergnügen, sich im Atelier des berühmten Schaumlöffel zu befinden. Es fehlt nicht viel, so erröthete Oskar auch; er ist der schüchternste Mensch Frauen gegenüber.

Lucie Dunby ist, wenn Bewunderung sie nicht stumm macht, ein etwas vorlautes, eigenwilliges, sehr verwöhntes, aber trotzdem sympathisches junges Mädchen. Sie ist noch ziemlich zart, in den Bewegungen mitunter noch etwas linkisch. Wenn Erregung ihr aber Farbe giebt, wie eben jetzt, sieht sie reizend aus.

Sie trägt ein Kostüm von sandfarbenem Wollstoff mit Seide in einer etwas dunkleren Nüance vermischt. Von der Schulter nach der Taille zu fällt ein Bouquett von Kornblumen. Der runde Strohhut ist ebenfalls mit Kornblumen garnirt und links etwas aufgeschlagen.

„Nun, Lucie, da sind wir, wo Du so sehr zu sein wünschtest – he? Sieh’ Dich um. Wie ist Dir zu Muthe?“

„Ich bin selig, Papa!“ entgegnet Lucie und wirft dem vermeintlichen Maler abermals einen strahlenden Blick zu.

„Aber wo sind die Bilder?“ fragt sie dann. „Man sieht so viel Porcellan, Vorhänge und alte Waffen, aber keine Bilder.“

Bessarabisches Mädchen. 0Nach dem Oelgemälde von Th. Kleehaas.

[838] „Liebes Kind,“ erklärt Mister Dunby, „wie kannst Du erwarten, daß das Atelier eines berühmten Malers eine Bildersammlung ist! Kaum sind sie fertig gemalt, so reißt man sich um Schaumlöffel’s Gemälde … Selbst das dort auf der Staffelei wird heute noch abgeholt.“

Lucie hat indeß die Skizze von der blonden Mietze entdeckt.

„Hier ist noch Etwas, und das scheint nicht verkauft, nach dem Rahmen von altem Zeug zu urtheilen. Ist das ein Portrait, das Sie für sich selbst gemalt haben?“ sagte sie, sich an Oskar wendend, mit einem leisen, ihr kaum selbst bewußten Gefühl der Eifersucht.

„Ich habe es gar nicht gemalt,“ antwortete Oskar etwas erstaunt; er meint nicht richtig gehört zu haben.

„Das kannst Du Dir doch denken,“ flüstert der Vater ihr zu, „hätte er es gemalt, wäre es sicher nicht hier.“

„Ist es eine Schwester oder eine – Verwandte?“

„Ich kenne die junge Dame nicht.“

Die Antwort befriedigt Lucie; sie ist so vertrauend, wie sie selbst wahrheitsliebend ist. Während die Männer sich zu unterhalten beginnen, hat sie sich auf einem Tigerfelle niedergelassen, welches über ein paar niedrige, orientalische Kissen geworfen ist, und sieht sich neugierig um. Diese Sammlung bizarrer, exotischer, ausfallender und doch in ihrer Zusammenstellung dem Auge schmeichelnder Gegenstände gefällt ihr. Die Harmonie von Farbe und Linie beginnt zum ersten Male wie eine angenehme Melodie auf ihre Sinne zu wirken.

Denn dieses junge Mädchen hat trotz der nüchternen Atmosphäre eines self-made man, in der sie geboren und erzogen ist, einen idealen Zug, ein Behagen am Schönen. Berühmt zu werden, ist ihr Ehrgeiz; es ist so langweilig angebetet zu werden, weil man eine Erbin ist. Während der Papa Bilder kauft, weil das zu den Verpflichtungen eines Millionärs gehört, hat Lucie sich vorgenommen, einen großen Künstler zum Freund zu gewinnen und auch eine Künstlerin zu werden. Mister Flat, welcher der Malklasse vorstand, die sie in New-York besuchte, hat ihr versichert, daß sie ein „eminentes“ Talent habe; sie ist selbst davon überzeugt. Für dieses Talent hofft sie den großen Schaumlöffel zu interessieren, dessen Namen sie seit drei Jahren mit Bewunderung nennen hört. Sie kennt Amerikanerinnen, die mit ähnlichen Wünschen einst nach Europa gingen und durchsetzten, was sie sich vornahmen. Alle amerikanischen Blätter sprechen jetzt voll Anerkennung von ihnen. Und Lucie weiß, daß sie einen ebenso starken Willen hat wie jene Amerikanerinnen. Sie wird Herrn Schaumlöffel schon dazu bringen, ihr zu sagen: das sind die Studien, die ich selbst gemacht habe; so viel Stunden habe ich jeden Tag gezeichnet, so viel Stunden gemalt; meine Farben habe ich von diesem Fabrikanten genommen, meine Leinwand von jenem. Ich fasse meinen Pinsel so an, trage die Farbe so auf und mische nach dem und dem Princip – das ist der Weg, der mich zum „Sommerabend im Hofbräu“ geführt hat!

Und wenn er ihr so den Weg gezeigt hat, so wird sie Schritt für Schritt in seine Fußtapfen treten und auch beim Ziel anlangen. Sie weiß, daß der Weg sehr mühsam ist und große Anstrengungen erfordert – eine Amerikanerin läßt sich dadurch nicht abschrecken. Papa wird Schaumlöffel’s Lektionen bezahlen, welchen Preis er auch fordert; Papa kauft ihr Alles, was sie haben will, und für sehr viel Geld kann man ja auch Alles haben.

Diese Gedanken beschäftigen Lucie so, daß sie ein paar recht zerstreute Antworten giebt, als man endlich nach dem Löwenbräu unterwegs ist. Auch dort, als sie mit Papa und dem großen Meister an einem der kleinen Tische auf der Terrasse sitzt, kann sie an nichts Anderes denken. Sie will nichts übereilen – den Maler heute nur sondiren; aber er wird ja nachgeben, und im Geist sieht sie sich schon als berühmte Malerin … Und darum lächelt sie auch manchmal so still selig in den lauen Frühlingsabend hinein zur Begleitung Straußischer Walzer und Wagner’scher Märsche.

Verschiedene Lorgnetten haben sich auf das reizende Mädchen gerichtet, deren jugendlicher Teint nicht verliert beim grellen Schein der elektrischen Beleuchtung. Sie bemerkt kaum, daß man sie ansieht.

Er ist nicht schön, dieser Künstler – denkt sie – aber wie seine Augen leuchten! Das ist das echte heilige Feuer!

Und wenn sie so andächtig zu ihm aufblickt, wie es sich für die Zukunftsschülerin schickt, ist es ihr sogar, als ob sie schon einem gewissen Verstehen begegne.

Sehr viel ist gewonnen, daß er mit Papa so prächtig auskommt. Sie hatte wahrhaftig Furcht, der große Maler werde auf ihren klugen, treuherzigen, aber dabei bürgerlich einfachen Papa vielleicht herabsehen – bewahre! Beide sind in eine sehr lebhafte Unterhaltung verwickelt, zu der Jeder das Seinige beiträgt. Freilich hört sie sonderbare Sätze, die mit der Kunst nichts zu schaffen haben, wie: rationelle Hygiene der Felder, Schwefel und Soda, die richtige Arznei … die Phylloxera ist eine der wichtigsten modernen Fragen etc.

Aber diese Vielseitigkeit ihres Ideals trägt nur dazu bei, es in der Schätzung zu erhöhen.

Auch Oskar ist ganz in seinem Element. Mister Dunby hat mit dem praktischen Sinn des Amerikaners das, was Oskar nur gegen die Reblaus aufgestellt, als ein Princip erfaßt, das auch in einem allgemeinen Sinn zu verwerthen sei.

„Die Hygiene des Feldes,“ ruft er, „ist eine großartige Idee, mein verehrter Schaumlöffel, von deren Bedeutung Sie wahrscheinlich selbst noch keine Ahnung haben. Die Sache ist wichtig für Jeden, ob er Hopfen oder Reben baut – ob er in Amerika oder Europa lebt!“

Und so ist es wohl natürlich, daß Straußische und Wagner’sche Melodien auch Oskar in einen Zukunftstraum wiegen! Wenn der Amerikaner sich für die Sache wirklich interessirte, den praktischen Theil vielleicht in die Hand nähme! Was das hübsche Mädchen nur will! Oskar ist frei von jeder faden Einbildung Frauen gegenüber, aber das muß er ja bemerken, daß die Augen der Amerikanerin mit einem ganz besonderen Interesse auf ihm verweilen. Zum ersten Male empfindet er einen geheimnißvollen Reiz in der Nähe eines jungen Mädchens; denn es kann Einer zehnmal Chemiker sein und den elektrischen Strom zu kennen meinen, aus welchem Liebe zusammengesetzt ist – kommt er einmal in die Kette, wird er auch mit fortgerissen.

Er hat ein unbestimmtes Gefühl, als wäre es besser gewesen, wenn er sich rasirt hätte, ehe die Amerikaner ihn abholten – er muß wirklich anfangen, mehr an sein Aeußeres zu denken … Was für ein anziehendes Geschöpf … wie unverschämt der Officier sie anstarrt!

Lucie, die gerade so scharfsinnig ist wie andere junge Mädchen auch, wenn es gilt, solche und ähnliche Gedanken aus der Physiognomie eines Mannes abzulesen, frohlockt schon. Sie meint, der Augenblick sei gekommen, einen kleinen Schritt nach der Ruhmeslaufbahn hin zu thun.

„Papa – ich bin sehr lange geduldig gewesen, aber jetzt wollen wir von anderen Dingen reden!“

„Das sind höchst wichtige Dinge, Liebling!“

„Aber man reist nicht von New-York nach München, um darüber zu sprechen. Jetzt kommt endlich die Malerei dran.“

Dunby stößt seine Tochter heimlich an.

„Ich fürchte, mein Vetter hat sehr übertrieben, als er Ihnen …“

„Durchaus nicht!“ fällt ihm der Amerikaner ins Wort. „Er hat mir gesagt, daß Sie über Hals und Kopf in der Chemie steckten, und soll ich es Ihnen ehrlich gestehen – das ist gerade auch mein Fall …“

„Jetzt fängst Du schon wieder an, Papa!“

„Lucie, sei doch vernünftig!“

„Nein, ich habe keine Lust länger vernünftig zu sein.“

„Ihr Fräulein Tochter hat ganz Recht, sich zu beklagen,“ pflichtet Oskar bei.

„Da hast Du’s! Sehen Sie einmal, Herr Schaumlöffel, die hübsche Gruppe dort. Der alte, bärtige Hausirer und das kleine Mädchen neben ihm mit dem Korb voll Blumen. Malen Sie da nicht gleich in Gedanken?“

Dunby stößt Lucie abermals an.

„Laß doch, Papa,“ ruft diese ungeduldig.

„Wo? – Was meinten Sie eben?“ fragt Oskar zerstreut, der mit seinen Gedanken ganz wo anders war.

„Eines wird nie genug beachtet,“ fährt der Amerikaner in seinem früheren Satze fort, „der Boden nimmt nichts von der Pflanze an, während die Pflanze sich stets nach dem Boden verändert …“

Aergerlich steht das verwöhnte Kind auf.

[839] „Es ist Zeit nach Hause zu gehen, und morgen früh,“ sprach sie mit absichtlicher Betonung, „wenn ich Herrn Schaumlöffel meine Zeichnungen zeige, nehme ich Dich zur Strafe nicht mit, weil Du Dich nicht über den ‚Boden‘ erheben kannst. Hörst Du das, alter Papa?“

Dunby fühlt sich schuldig und streichelt Lucie’s Hand. Auch Oskar stammelt ein paar höfliche Worte zu demselben Zweck. Lucie meint, daß der Künstler sich nur aus Rücksicht für ihren Vater in dieses Gespräch eingelassen hat, und ist ihm dankbar. Sie ist trotz allen Muthwillens eine zärtliche Tochter und freut sich, wenn man Papa respektirt.

Oskar fühlt sich, nachdem er die beiden Fremden verlassen hat, etwas beklommen, ohne indeß zu muthmaßen, worauf das Interesse beruht, das er Lucie eingeflößt hat. Der einfache, ehrliche Mensch würde schaudern, wenn er ahnte, was Paul sich erlaubt hat. Paul, denkt er, mag schön von meinem Lehrtalent aufgeschnitten haben, daß das arme Kind so darauf besteht, mir Zeichnungen vorzulegen! Aber ich will ihr morgen reinen Wein über mich einschenken! Hätte ich es nur heut schon gethan!

Er mag sich’s nicht gestehen, daß der Gedanke, sie werde ihn morgen besuchen, ihm gar so angenehm war. Wenn er nur die dumme Schüchternheit ablegen könnte!

Es ist bereits eine Karte von Paul angelangt. Ein Kamerad, den Paul in Tutzing traf, hat sie nach München mitgenommen. Es versteht sich, daß Fritz sie dreimal überlesen, ehe er sie abgiebt. Sie enthält die folgenden Worte:

„Stellung genommen – es läßt sich gut an. Erhalte Verbindung mit Amerika auf erwünschtem Fuß. Ziehe Fritz an den Ohren, wenn er nicht parirt.“

Oskar antwortete:

„Gelesen und begriffen. Amerika nach Vorschrift in Beschlag genommen. Fritz macht Deiner Erziehung noch Ehre.“

*               *
*

Die Amerikaner bewohnen ein paar hübsche, nach dem Promenadenplatz gelegene Zimmer in der zweiten Etage des „Bayerischen Hofs“.

In einfacher, aber eleganter Toilette, zwischen zwei Fauteuils ausgestreckt, ruht Frau Dunby und bewegt ihren riesigen Fächer langsam hin und her. Zuweilen greift sie in eine neben ihr stehende Bonbonnière, die mit überzuckerten Veilchen angefüllt ist, um eins zwischen die Lippen zu stecken.

Mrs. Dunby ist eine vortreffliche, etwas originelle und noch recht wohlkonservirte Frau von ungefähr vierzig Jahren. Sie ist groß, hat klare Augen, eine etwas gebogene Nase, einen stolzen Mund und hübsche Zähne, die ihr noch nichts gekostet haben. Das etwas graue Haar paßt zu ihrer blühenden Gesichtsfarbe. Manchmal, wenn sie en beauté sein will (obgleich sie eben so wenig kokett ist wie ihre Tochter), streut sie etwas Puder darauf. Sie ist nicht gerade mißtrauisch, aber mitunter etwas skeptisch; vielleicht in Folge einer starken Dosis gesunden Menschenverstandes. Auf ihren Gatten, den sie mit Vorliebe auch im engern Kreis mit: Mister Dunby anredet, hält sie große Stücke, obwohl sie bemüht ist, ihm dies nicht zu zeigen. An Lucie hat sie Manches auszusetzen, besonders, daß sie nicht „respektvoll“ genug ist. Da der Vater sie „unsinnig verwöhnt“, hält sie es für ihre Pflicht, das „Kind“ mitunter strenger als nothwendig zu tadeln.

Die kleine Lucie ist eben beschäftigt, auf einem Spiritusapparat ein Brenneisen zu hitzen und ihre Haare zu kräuseln. Der Papa erscheint von Zeit zu Zeit an der offnen Thür, um an der Unterhaltung theilzunehmen, die ihn mehr zu interessiren scheint, als der „New-York-Herald“, den er in der Hand hält!

Die Unterhaltung dreht sich um den berühmten Schaumlöffel. Frau Dunby war gestern bereits eingeschlafen, als ihr Gatte und Lucie vom Löwenbräu zurückkehrten, und so holen sie das Versäumte nach.

„Ich bin enttäuscht,“ ruft Mrs. Dunby, „ich hatte ihn mir anders vorgestellt!“

„Aber Mama, Du hast ihn noch nicht einmal gesehen!“

„Es ist aber leicht, ihn nach Eurer Beschreibung zu beurtheilen: er ist nicht elegant, nicht extravagant, nicht einmal arrogant – also ein ganz gewöhnlicher Mensch und kein Künstler!“

„Er ist aber kein gewöhnlicher Mensch!“ ruft Lucie sehr erregt, indem sie die Flamme heraufschraubt.

„Du wirst ungewöhnliche Locken haben, wenn Du auf das Eisen nicht Acht giebst!“

„Stelle Dir vor, Karolinchen,“ berichtet Dunby, indem er mit dem zusammengerollten „Herald“ spielt, „daß dieser Schaumlöffel mich die ganze Zeit von einer neuen Diät des Bodens unterhalten hat. Ich sage Dir, der Mensch hat Kenntnisse – Kenntnisse!“

„Dann ist er kein Maler.“

„Ach, liebes Kind, diese Deutschen machen eben Alles möglich!“

„Das bildest Du Dir ein! Wo wird denn Einer, der solche Bilder malt, sich mit Dünger abgeben! Oder wo wird denn Einer, der sich mit Dünger abgiebt, diese Bilder malen!“

„Bitte, Mama, mache mich nicht nervös! Die Bilder sind doch da!“

„Vielleicht hat er sie von seinen Schülern malen lassen.“

„Aber um Schüler zu haben, muß man doch erst berühmt sein!“

„Das besorgen die Zeitungen, wenn man sie bezahlt – Du wirst Dich entschieden verbrennen, wenn Du nicht aufpaßt.“

„Man braucht nur seine Augen anzusehen, so weiß man, daß er ein Künstler ist!“ ruft Lucie, während sie das Eisen in einiger Entfernung von der Backe probirt, ehe sie es an die Haare bringt.

Frau Dunby, die Lucie jetzt ganz mit ihrer Frisur beschäftigt glaubt, winkt ihren Gatten neben sich:

„Wie findest Du das?“ flüstert sie.

„Schaumlöffel ist kein Kourmacher,“ beruhigt er.

„Sobald er ihre Mitgift kennt, kann er’s werden!“

Lucie hat selbstverständlich Alles gehört.

„Bist Du wenigstens sicher, Dunby, Dein Bild von ihm zu erhalten,“ fragt Frau Dunby jetzt laut, „oder wirst Du Dich mit Anweisungen begnügen, wie Du düngen mußt?“

„Ich sagte Dir doch, Karolinchen, daß ich vom Malen noch gar nicht mit ihm gesprochen habe. Sein Vetter machte mich glücklicher Weise vorher aufmerksam, daß er im Augenblick vom Malen nichts wissen wolle – eine Künstlerlaune.“

„Kennt man. Wahrscheinlich ein Manöver, um den Preis zu verdoppeln, wenn er sich doch dazu herbeiläßt. Du wirst mit diesem Schaumlöffel hereinfallen, Mr. Dunby!“

„Mama, bitte, willst Du mir den Gefallen thun, nichts mehr gegen Herrn Schaumlöffel zu sagen, bis Du ihn gesehen hast? Willst Du?“

„Da ich ihn in einer halben Stunde sehen werde …“

Lucie ist trotz der Abschweifung mit ihrer Frisur zu Stande gekommen; ihr Papa hat den „Herald“ fallen lassen, den Klemmer eingesteckt und betrachtet sie mit Bewunderung. Sie eilt auf ihn zu und umarmt ihn, um ihn als Verbündeten sich zu sichern, da sie im voraus weiß, daß die Wahl ihres Anzugs bei der Mama auf Widerspruch stoßen wird. Dann ruft sie durch eine kleine silberne Klingel ihre Jungfer herbei.

„Meinen Anzug von weißem Peking, Julie!“

„Lucie, was fällt Dir ein!“

„Du hast selbst gesagt, daß er mir am besten steht!“

„Aber doch nicht, um am Morgen durch die Stadt zu gehen!“

„Ich kann ja fahren.“

„Was wird der Maler denken, wenn er Dich so sieht!“

„Wahrscheinlich, daß ich mich mit Geschmack zu kleiden verstehe … Du weißt doch, daß ich ihm gefallen will, daß ich ihn gern erobern möchte.“

„Ich will aber nicht, daß Du mit ihm kokettirst!“

„Mama!“ ruft Lucie streng.

Julie breitet unterdeß den fraglichen Anzug auf dem Bett aus; sie weiß, wessen Wille schließlich durchgesetzt wird.

„Du machst mich wirklich ärgerlich, Lucie – ich will nicht.“

Die Ungehorsame stürzt auf ihre Mama zu und verschließt den zürnenden Mund mit einem Kuß.

„Du sollst Dich nicht aufregen, Mama!“ predigt sie. „Du weißt, es schadet Deinem Teint, und ich will heut Staat mit Dir machen! Auch den weißen Hut, Julie!“

„Nie hätte ich in Deinem Alter gewagt, meiner Mutter so entgegen zu handeln!“

„Ja, Mama, ich weiß, Du warst immer eine Heilige; ich bin leider mehr nach Papa gerathen.“

[840] „Hörst Du das, Dunby?“ ruft Mrs. Dunby in das nächste Zimmer.

„Ja,“ flüstert dieser leise; er fühlt sich fast geschmeichelt.

Lucie aber wirft ihr Morgenkleid ab und schlüpft in ihr „Taubenkostüm“, wie sie den Anzug von weißem Peking getauft hat.

Und man muß gestehen, daß der kostbare weiße Stoff vortrefflich zu ihrem Teint und dem kastanienbraunen Haar paßt, Papa Dunby, der wiederum an der offenen Thür erschienen ist, verschlingt sie fast mit seinen Blicken, als sie jetzt das kleine weiße Kapothütchen aus demselben Stoff aufsetzt. In der Mitte, ganz nach vorn, so daß der Kopf Luciens Haar berührt, ruht ein kleiner weißer Vogel, welcher Flügel und Schwanz zierlich nach oben hebt.

„Nehmen Sie dort meine Mappe und sehen Sie, daß der Wagen unten bereit ist,“ ruft Lucie ihrer Jungfer zu. Dann, ehe sie ihre Handschuhe anzieht, küßt sie der Mama noch mit demüthiger Gebärde die Hand …

„Pünktlich in einer Stunde erwarten wir Dich mit Herrn Schaumlöffel im Vestibül der Pinakothek, wie verabredet.“

„Es kommt darauf an, ob er sich bis dahin ergeben hat … still … bitte, denke an Deinen Teint, Mama!“

Sie wirft dem Papa noch eine Kußhand zu und fliegt zur Thür hinaus.

„Du solltest Lucie Deine Würde wirklich etwas mehr fühlen lassen, Mr. Dunby!“ ruft seine Gattin und bemüht sich, eine strenge Miene aufzusetzen.

„Sage, Karoline, möchtest Du sie denn anders haben, als sie ist? Das Bischen Uebermuth vergeht schnell genug, und können wir nicht, trotz des Uebermuths, vollkommen sicher sein, daß sie sich nichts vergiebt?“

*               *
*

Es versteht sich, daß Oskar nicht vergessen hat, sich zu rasiren, als er am folgenden Morgen Miß Dunby erwartet. Auch seine „Mähne“ (Paul’s Bezeichnung!) ist durch sorgfältige Behandlung in Haar verwandelt worden. Fritz, der ihm mit neugierigem Eifer zur Hand geht, leistet anerkennenswerthe Dienste bei der Auswahl von Shlips, Manschetten und Knöpfen.

Fritz hat leider das Unglück gehabt, eine japanische Fayence – einen durchbrochen gearbeiteten, blühenden Pfirsichzweig, auf den sein Herr große Stücke hielt – zu zerbrechen. Er umgiebt deßhalb Oskar mit raffinirter Aufmerksamkeit, um ihn als Fürsprecher zu gewinnen.

Das Frühstück erinnert an ein Stillleben im Arrangement, auch eins von Fritzens ausgebildeten Talenten. Es ist vortrefflich, oder vielmehr, es würde Oskar vortrefflich schmecken, wenn dieser Appetit hätte. Die Amerikaner haben ihn um den Appetit gebracht. Er sieht Miß Dunby heut in einem andern Licht als gestern.

… „Ich muß diese Amerikaner um Paul’s willen sehr artig behandeln“ – sagt er sich – „der Vater ist ja auch ganz charmant … Ich muß auch dem jungen Mädchen gegenüber die nöthigen Rücksichten nehmen … das ist mir peinlich. … Ach, wer weiß, sie wird vielleicht gar nicht kommen! Ich wette, daß sie eine rechte kleine Kokette ist! Sie langweilt sich wie alle Menschen, die nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit und mit ihrem Gelde anfangen sollen … Ja – das ist es! sie langweilt sich, und da ist ihr die Idee gekommen, so einen armen Teufel, wie mich, in sich verliebt zu machen … nur um zu sehen, wie er sich dabei anstellt! Aber ich werde mich hüten, in die Falle zu gehen!“

Mit solchen Gedanken hat Oskar von seinem Stillleben gekostet, mit solchen Gedanken hat er sich erhoben, um im Atelier auf- und abzugehen. Zuweilen wirft er einen Blick in einen venetianischen Spiegel, fährt sich durch die Haare oder zupft an seiner Kravatte. Er ist sichtlich aufgeregt, was er übrigens Jedem bestreiten würde, der ihn darauf aufmerksam machen wollte.

„Sie kommt ja nicht! Das wäre gar schön, wollte ich um ihretwillen den Vormittag mit Warten todtschlagen!“

Diesmal bespiegelt er sich nicht im Venetianer, als er, das Atelier verlassend, an dem Spiegel vorübergeht. Er läuft ungeduldig die Treppe hinauf und nimmt eine Broschüre: „Vom Aufschwung der Runkelrüben-Zuckerfabrikation oder das billige Leben für Alle,“ die er unterwegs gekauft, aus seinem Koffer, um damit wieder ins Atelier zurückzukehren. Kaum hat er zwei Seiten überflogen, springt er wieder auf und fahndet nach Fritz. Er ist noch nicht gewöhnt, einen Diener durch die Klingel herbei zu rufen. Endlich findet er ihn in der Speisekammer.

„Fritz, ich finde die Luft im Atelier etwas drückend – hat mein Vetter etwas dagegen, wenn ein Fenster geöffnet wird?“

Fritz, der Oskar ins Atelier gefolgt ist, hat mittlerweile die Fähigkeit wieder erlangt zu sprechen. Er zeigt auf ein Drahtgitter, das Oskar nicht bemerkt hatte.

„Wir haben stets frische Luft hier! Sehen Sie nicht, dort oben? Fortwährender Zug, keine Sonne und kein Staub!“

„Gut, Fritz, Sie können zu Ihrer Beschäftigung zurückkehren.“

Fritz entfernt sich höhnisch lächelnd. Seine Beschäftigung, als der arglose Oskar ihn überraschte, bestand darin, eine angebrochene Büchse mit schottischer Marmelade vollends zu leeren.

„Beinah’ elf Uhr! Sie kommt nicht …“ fährt Oskar in seinen Gedanken fort, in die das „billige Leben für Alle“ noch nicht eingedrungen. „Es ist auch am besten so! Was für eine unglückliche Figur ich als Lehrer neben ihr spielen würde! Freilich würde Mancher nach den Studien, die ich durchgemacht habe, sich für recht fähig halten, zu unterrichten –“

Fritz stürzt ungerufen herein. Er weiß besser, wie es mit Oskar steht, als dieser selbst.

„Sie kommt! Sie kommt! Sie kommt!“

„Wer kommt?“ heuchelt Oskar.

„Nun, die amerikanische Miß von gestern! Ich sah den Wagen um die Ecke –“

Wie ein Pfeil schießt er wieder fort, die Hausthür zu öffnen. Mister Dunby hat ihn gestern mit einem Zehnmarkstück begrüßt. Dieser amerikanische Gruß hat ihn sehr mobil gemacht.

Oskar macht kleine ängstliche Schritte nach der Thür und wünscht, daß seine Arme etwas kürzer und beim Verkehr mit Frauen etwas weniger im Wege wären.

„Sie können hier warten, Julie,“ sagt Lucie im Flur zu ihrer Jungfer, während sie ihr die Mappe abnimmt.

Auch Lucie fühlt sich diesen Morgen nicht ganz so sicher wie gestern. Gestern Abend während der Musik sah sie den Ruhmestempel offen vor sich liegen. Jetzt aber, wo sie mit den gesammelten Leistungen ihres Genies vor den großen Schaumlöffel treten soll, überkommen sie Zweifel, ob er die Ansicht Flat’s darüber auch theilen werde.

Oskar steht vor ihr. Als sie seinem verwunderten, fast erschreckten Blick begegnet, sinkt ihr vollends der Muth. Man merkt dem ehrlichen Oskar an, daß der auffallende Anzug ihn verletzt; er bestätigt ja seine Ansicht, daß das junge Mädchen nur ihr Spiel mit ihm treiben will. Das giebt ihm seine Fassung wieder. Er richtet sich auf und blickt sie fast streng an. Ein Kostüm, das Jemand, welcher Aufsehen machen will, für den ersten Rang eines Hoftheaters anlegt, eine Art Hochzeitstoilette – um mit einem Zeichenlehrer über den Unterricht zu verhandeln! Der Blick des Künstlers, auf den Lucie rechnete, auf den sie bei Paul auch, hätte rechnen können, geht Oskar ab.

Bei der schnellen Auffassung, die Lucie eigen, hat sie ihren Fehlgriff sofort erkannt. Sie möchte unter die Erde sinken! Mit einer heftigen Bewegung entfernt sie wenigstens ihren Hut, das Auffallendste ihres Putzes.

„Sie erlauben,“ sagt sie schüchtern, fast demüthig, „es ist mir so heiß geworden – die Wahrheit ist, ich ängstige mich vor Ihnen … Es ist ja auch natürlich … Sie sehen so streng aus und … und es hängt von dieser Stunde so viel für mich ab …“

„Mein Fräulein,“ sagt Oskar ruhig und bestimmt, „ich muß Ihnen vor Allem einen großen Irrthum benehmen. Mein Vetter, welcher Ihren Herrn Vater gestern hier empfing, hat aus parteiischer Freundschaft für mich jedenfalls meine Fähigkeiten sehr übertrieben … Sie halten mich für … sehr geschickt, fürchte ich.“

„Nicht ich allein, Herr Schaumlöffel!“ Sie sagt das mit einem reizenden Lächeln.

„Also vielleicht auch Ihr Herr Vater? Aber Sie finden in Amerika Lehrer wie mich in Hülle und Fülle; ich will von München gar nicht reden, und ich rathe Ihnen ernstlich, sich hier an einen bessern zu wenden.“

[841]

Schloß Babelsberg.
Nach dem Oelgemälde von F. Thieme.

[842] „Sie wollen mir keinen Unterricht geben! – Sagen Sie es doch gleich heraus!“ ruft Lucie nun wirklich verletzt. „Wenn es Ihnen so unangenehm ist, so werde ich mich nicht aufdringen. Sie brauchen sich deßhalb wahrlich nicht herabzusetzen!“

Lucie hat dabei eine Thräne im Auge; sie sieht ja ihren Ruhmestempel versinken.

„Wünschen Sie es denn wirklich so sehr?“ fragt der erstaunte Oskar, der von der Verwechslung trotzdem keine Ahnung hat.

„Ich wünsche fast nichts so sehr!“ sagt Lucie mit einem Blick, der Oskar gar keinen Zweifel läßt, und dabei reicht sie ihm mit rührender Vertraulichkeit wieder ihre schmalen Händchen entgegen.

Er nimmt sie in die seinen und hält sie da einen Augenblick. Der Athem steht ihm still; ein sonderbares Gefühl ergreift ihn. Es ist ihm, als müsse er die kleine Hand an seine Lippen pressen.

Nein, er darf von einer augenblicklichen Erregung dieses naiven, warmherzigen Geschöpfs keinen Vortheil ziehen! Er hat die Kraft, sich zu fassen und sie mit leidlicher Ruhe zum Sitzen zu nöthigen. Sie läßt sich auf dem kleinen, von Palmen überragten Divan nieder. Er nimmt vor ihr auf einem niedern Tabouret Platz, die Mappe, die er ihr abgenommen, auf den Knieen haltend, ohne sie zu öffnen.

„Sie haben sich in Amerika also schon mit Malen abgegeben? Ein ganz artiger Zeitvertreib für eine junge Dame.“

„Ein artiger Zeitvertreib,“ spottet sie ihm etwas verletzt nach, „wenn man entschlossen ist, sich ganz der Kunst zu widmen!“

„Ist das auch der Wunsch Ihrer Eltern?“

„Natürlich nicht. Sie würden ebenfalls vorziehen, daß ich das Malen nur als angenehmen Zeitvertreib ansähe.“

„Trotzdem wollen Sie Ihren Entschluß ausführen?“

„Haben Sie nie etwas Verbotenes gethan?“ fragt sie, ihn scharf fixirend.

„O, ich … das ist etwas ganz Anderes!“

„Natürlich! Ich habe diese Antwort erwartet. Deutsche Männer denken ja, Frauen seien nur erschaffen, damit man sich in sie verliebt.“

Betroffen sieht Oskar sie an. Er hat auch in Amerika so wenig Verkehr mit jungen Mädchen gehabt, daß ihm der ungenirte Ton auffällt, in dem sie von solchen Dingen spricht.

„Verstehen Sie mich recht,“ sagt er mit leiser Verstimmung, die ihr nicht entgeht, „der Mann – das werden Sie mir zugeben – muß einem bestimmten Beruf nachgehen. Daß er diesen Beruf nach seiner Neigung und seinen Fähigkeiten wählt, selbst gegen den Willen seiner Eltern, ist natürlich. Für den Mann ist der Beruf, wenn er ihm wirklich anhängt, wie eine Art Religion; er muß ihm Alles opfern: Anerkennung, Bequemlichkeit, Wohlleben; er muß zum Märtyrer an ihm werden können!“ Oskar’s Augen leuchten.

„Die Frau nicht?“

„Nur selten. Da, wo die Naturanlage ein solches Opfer bei der Frau auch rechtfertigt.“

„Und Sie,“ sprach Lucie, während sie einen Blick nach der Mappe warf, „ohne nur von meinen ‚Naturanlagen‘ Kenntniß genommen zu haben, sind überzeugt, daß mir diese … Rechtfertigung abgeht.“

„Mein Fräulein!“

„Reden Sie nur! Ich sehe Ihnen ohnedies an, was Sie denken …“

„Ich meine, daß, wenn ein solches Opfer kein Verlornes sein soll, dazu mehr gehört als Talent – vor allem ein strenger Sinn, Selbstverleugnung! Ja, ich möchte sagen, eine starke Leidenschaft, die den Beruf auch um seiner selbst willen und nicht um des Erfolgs willen liebt.“

„Und dieser … starken Leidenschaft halten Sie mich nicht für fähig?“

„Kaum,“ sagt Oskar aufrichtig.

„Wollen Sie mir wenigstens erklären,“ Lucie’s Stimme bebt, „weßhalb Sie diese wenig vortheilhafte Meinung von mir gefaßt haben?“

Er schweigt.

„Ich denke doch, daß ich ein Recht habe, diese Frage zu stellen …“

Lucie’s Augen funkeln im Zorn; er hat sie beleidigt. „Sprechen Sie nur aus – ich vertrage Wahrheit!“

„Gerade an die glaubte ich Sie nicht gewöhnt.“

„Ich will sie hören …“

„Gut, wenn Sie befehlen. Ich meine, die ganze Art Ihres Auftretens verräth eine stärkere Vorliebe für den äußern Erfolg, als sie sich mit der echten Liebe für einen Beruf verträgt …“

Ihr Anzug! Sie glüht vor verlegener Scham.

„Sie halten mich für eitel, für kokett?“ Die Stimme klingt etwas weniger selbstbewußt.

Er zögert.

„O, bitte, vollenden Sie! Es scheint, für Zeichenstunden bin ich Ihnen zu gering – (von Neuem ereifert sie sich bei seinem ernsten Blick) – Sie ziehen es vor, mir eine andere Lektion zu geben … Ja, sprechen Sie es nur gleich aus, daß ich Ihnen zu nichts tauglich scheine, als einen einfältigen Mann glücklich zu machen – mit einem Wort, zu nichts gut, als zum Heirathen!“

„Ich glaube,“ sagt er, den ihre Erregung immer ruhiger macht, „daß es eben so verdienstlich ist, Andere glücklich zu machen, wie ein gutes Bild zu malen – vielleicht ist es auch eben so schwer, denn es erfordert eben so viel Selbstverleugnung.“

Glaubte er denn, sie ungestraft beleidigen zu können, weil er der große Künstler war?

„Es giebt Männer,“ ruft sie, in ihrer Erregung kaum wissend, was sie sagt, „die mich für sehr fähig hielten, sie glücklich zu machen, was Sie vielleicht auch bezweifeln? Wie diese Männer mich langweilten, wenn sie mir immer dasselbe vorsagten – wie elend ich mich dabei fühlte …“

Er sieht sie theilnahmsvoll an – er begreift das.

„Sie aber,“ fährt sie fort, „Sie dachten: da ist auch so ein unbedeutendes, eitles Ding, das glücklich ist, weil es viel Geld zum Fenster hinauswerfen kann, um sich zu putzen!“

„Nein – ich glaube Ihnen gern, daß Ueberfluß manchmal recht schwer zu tragen ist!“

„Aber das Glück, das Arbeit gewährt, das wollen Sie mir absprechen; selbst einen Andern glücklich zu machen, trauen Sie mir nicht zu!“

Ist er nicht doch zu streng mit ihr gewesen? Er greift nach der Mappe, die er neben sich gestellt, um sie zu öffnen.

„Nein, lassen Sie!“ ruft sie eifrig. „Die Lektion hat genügt. Ich bin nicht im Stande noch mehr zu hören …“

Und als ob sie fürchte, er werde die Mappe doch noch öffnen, hält sie mit ihren Händen die seinen fest.

Wieder empfindet er diese eigenthümliche Aufregung. Er sieht sie an. Es spiegelt sich ein Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit, etwas weiblich Demüthiges in ihrem lieblichen Gesichtchen.

„Sie zürnen mir?“

Lucie schüttelt den Kopf, blickt verwirrt nieder, will etwas erwidern und bringt keine Silbe hervor. Der Ruhmestempel ist versunken, aber daran denkt sie nicht einmal. Er hat ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß sie nichts sei, als ein eitles, kindisches Ding, selbst nicht glücklich, und nicht einmal fähig, einen Mann glücklich zu machen. Ein Gefühl, wie sie es nie gekannt, bewegt sie … Plötzlich schlägt sie die Hände vors Gesicht. Ein Paar Thränen werden zwischen den Fingern sichtbar.

„Um Gotteswillen – Sie weinen!“

„O nein!“ ruft sie schnell; wie hat sie sich nur hinreißen lassen, ihm ihre Schwäche zu zeigen! „Daß Sie mir keine Stunden geben wollen, hat mich natürlich gekränkt. Aber ich finde schon einen andern Lehrer. Es giebt ja genug Künstler in München,“ sagt sie möglichst ruhig. „Uebrigens,“ fügt sie hinzu, „Papa und Mama warten in der alten Pinakothek. Ist das weit?“

„Kaum zehn Minuten. Ich darf doch …“

„Sie werden mich natürlich nicht begleiten wollen, meines Anzugs wegen …“

„Wohin Sie nur wollen!“ ruft Oskar fast leidenschaftlich.

Sie bemerkt es nicht; sie setzt ihren Hut auf und findet nun auch, daß er sich für den Besuch einer Bildergalerie nicht recht eigne.

„Was für ein sonderbares Mädchen! Was für ein sonderbares Mädchen!“ muß Oskar immerfort bei sich wiederholen mit einem unbestimmten Empfinden, daß diese Worte ein süßes Räthsel enthielten, dessen Lösung ihn von nun an sehr viel beschäftigen werde. Als Lucie ihn bittet, der Jungfer ihre Mappe zu geben, [843] schließt er diese sofort – sehr zum Erstaunen der Eigenthümerin – in einem Wandschrank ein und steckt den Schlüssel zu sich. Im Augenblick, als er nach Hut und Handschuhen greifen will, steht Fritz diensteifrig mit diesen Gegenständen neben ihm. Er nimmt sie ihm mechanisch ab, verwechselt die Handschuhe, ohne es zu bemerken, verliert sogar einen, gelangt aber glücklicher Weise richtig an der alten Pinakothek mit Lucie an. Herr und Frau Dunby erscheinen bald nach ihnen. Nachdem Oskar Luciens Mutter vorgestellt worden ist, und diese ihm eben in ihrer Art etwas auf den Zahn fühlen will, macht Lucie den Vorschlag, man möchte doch einen Wagen nehmen und spazieren fahren, anstatt die Bilder anzusehen.

„Aber Herr Schaumlöffel, der uns auf alles Schöne aufmerksam gemacht hätte?“

„Verstelle Dich nicht, Papa! Du bist froh, wenn Dir der Spaziergang durch den Kunsttempel erspart bleibt,“ ruft Lucie, deren Uebermuth neben den Eltern schon wieder ein bischen zu erwachen anfängt, „und ich bin etwas angegriffen.“

„Von der ersten Lektion?“

„Schlagen Sie einen hübschen Ausflug vor, Herr Schaumlöffel,“ bittet Lucie, ohne die Frage der Mama zu beantworten.

„Ja,“ bekräftigt Herr Dunby, gut gelaunt, daß der Kelch, die Pinakothek absehen zu müssen, heut noch an ihm vorübergeht, „dieser Tag ist so recht geeignet, im Walde genossen zu werden, gute Verpflegung und Hofbräu natürlich vorausgesetzt! Schlagen Sie vor!“

Oskar ist verlegen; er ist in seiner Vaterstadt während der langen Abwesenheit fast fremd geworden.

„Großhesselohe,“ meint er, „oder auch Nymphenburg!“ Die Namen vergißt selbstverständlich kein Münchener Kind.

Man entscheidet sich für den ersten Ort. Lucie besteht darauf, vorher im Hôtel ihren Anzug zu wechseln.

„Ich will einen andern Hut aufsetzen,“ rechtfertigt sie sich vor der Mama, „in dem ich weniger von der Sonne geblendet werde. Du hättest mich darauf aufmerksam machen können, daß dieser für den hellen Tag nicht geeignet ist.“

Mama ist vollkommen sprachlos. Noch unerklärlicher wird ihr Lucie, als diese, nachdem man in den „Bayerischen Hof“ zurückgekehrt, ihr einfaches graues Reisekleid anlegt. Lucie findet natürlich nicht für nothwendig, der Mutter die nöthige Aufklärung zu geben, und wirft nur verstohlen einen Blick nach Oskar. Dieser hat die Veränderung in der Toilette zu seiner nicht geringen Befriedigung bemerkt. Sollte er wirklich Einfluß auf dieses sonderbare Mädchen haben? Er vergißt fast die Phylloxera bei diesem Gedanken … „welch sonderbares Mädchen!“ (Fortsetzung folgt.) 


Schloß Babelsberg.

Wenige Städte mag es geben, in denen Kunst und Natur so im edelsten Wettstreit um den Vorrang der Schönheit eifern, in deren Palast- und Parkschöpfungen sich der Geschmack der wechselnden Jahrhunderte, die Geschichte eines aufsteigenden Königshauses, so charakteristisch und fesselnd widerspiegeln, wie es in Potsdam geschieht. Jeder Schritt in der Sommerresidenz der preußischen Herrscher hallt wider von Erinnerungen und weckt Gestalten auf vor unseren Sinnen, die ihren Namen für immer in die Tafeln der Geschichte gruben. Die Perle aber, welche heute Potsdams Umgebung mit Stolz sein eigen nennt, das ist der kaiserliche Sommersitz Wilhelm’s I., Schloß Babelsberg. Zu seinen Füßen rauscht der breite Havelstrom vorüber mit dem königlichen Schmucke von tausenden stolz einherziehenden Schwänen, ein blauleuchtendes Ordensband, an das sich Schlösser, Villen und Tempel wie Sterne an einander reihen.

Noch im Anfang der dreißiger Jahre bildete der Babelsberg oder Babertsberg, wie er damals hieß, eine schroff abfallende sandige Höhe von Kiefern gekrönt und hier und da von alten Eichen durchsprengt. Prinz Wilhelm von Preußen, welcher 1829 mit der eben so geistreichen wie schönen Prinzessin Auguste von Sachsen-Weimar einen Herzensbund geschlossen hatte, entschloß sich 1835, angezogen von dem poetischen Reiz der natürlichen Lage dieses vernachlässigten Erdenwinkels, Schloß und Park für einen Sommersitz hier anzulegen. Und so geschah es. Nach Schinkel’s Entwürfen erhob sich hier bald unter Persius’ künstlerischer Leitung im altenglischen Stile mit Erkern, Thürmen und Altanen ein herrliches Schlößchen, welches 1848 dann noch bedeutend erweitert wurde. Poetisch innen und außen gestaltet, athmete es ganz die Romantik des Mittelalters, anmuthend wie eine zu Stein gewordene Schöpfung Walter Scott’s. Was aber diesem Tusculum noch erhöhten Reiz und eine Fülle stiller Schönheiten lieh, das war der weite, auf- und niedersteigende Park, welcher seitdem mit jedem Jahr an Ausdehnung, künstlerischer Vollendung, an Reichthum sinniger Erinnerungen, malerischer Fernsichten in fast unvergleichlicher Weise gewann. Nirgends verschnittene Taxushecken und verschnörkelte Blumenbeete; keine schlanken, marmornen Götterbilder schauen aus dem Gebüsch, noch hemmen Urnenpostamente oder zerbrochene Säulenstümpfe mit elegischen Strophen den Schritt des Wanderers: was uns hier entgegenschlägt, ist der Puls unverfälschter Natur, ist so warm und treu empfunden, wie es dem deutschen Gemüth nun einmal eigen ist. Der königliche Gartendirektor Lenné hatte die erste Umwandlung des melancholischen Fichtenwaldes in einen lachenden Waldpark vollzogen, dann aber kam der Altmeister der deutschen Gartenkunst, Fürst Pückler, der in seinem Muskau und Branitz unvergängliche Schöpfungen aus dürrem Sande erstehen ließ, und gab auch dem Hügelpark von Babelsberg eine Grundgestaltung, welche immer als ein Triumph deutscher Landschaftsgärtnerei dastehen wird.

Verschwiegene, stille Laubgänge führen auf und ab durch den stetig mehr sich ausdehnenden Park, in dem alle Baumarten in prächtigsten Exemplaren ihre säuselnden Wipfel über weite sammetglänzende Rasenteppiche breiten. Tief unten zieht die blaue Havel vorüber und ihre Wellen plätschern geschwätzig mit den kaiserlichen Gondeln in der kleinen Hafenbucht, von der ein grünumwobener Gang emporleitet. Wer wollte den Reichthum schildern, welchen diese Parkanlage in ihrem Bannkreis faßt? Dichter umfängt uns das Laubgewirr, und dann blickt uns ein tief melancholischer See mit Insel und Uferröhricht wie ein Waldgeheimniß an; aber schon steigt der Weg wieder; lichter wird es um uns, schmetternder klingt der Jubelchor der gefiederten Sänger; eine Bank ladet noch einmal zum Weilen, und drüben springt ein umgitterter Altan hinaus über das flüsternde Blättermeer des Parkes, und trunken fliegt der Blick über den schimmernden Havelstrom und die stolz sich darüber schwingende Glinicker-Brücke, über Seen und Uferbuchten, über Schlösser, Villen und malerische Gotteshäuser längs der prächtig bewaldeten Ufer, zu den Doppelthürmen des hochragenden Pfingstberges, an dessen Füße sich die Dächer Potsdams schmiegen.

Tiefe Stille herrscht überall. Da erschallen anf dem einsamen Wege des Parkes Hufschlag und Wagengerassel; rasch eilt an unsern Blicken ein ergreifendes Bild vorüber, ein Bild innigster väterlicher und kindlicher Liebe! In dem offenen Wagen sitzen Kaiser Wilhelm und seine einzige Tochter, die Großherzogin von Baden. Alljährlich pflegt die Fürstin nach Berlin zu kommen, und der Kaiser verbringt alsdann in ihrer Gesellschaft die wenigen Erholungsstunden, welche ihm nach Erledigung der Regierungsgeschäfte übrig bleiben. Sie ist auch ein oft gesehener und lieber Gast in Schloß Babelsberg.

Immer neue Bilder, neue Fernsichten eröffnet uns die Wanderung durch den Park. Wo einst die abgebrannte Mühle des Babertsberges stand, erhebt sich heute der nach dem Muster des Eschenheimer Thorthurms in Frankfurt am Main erbaute Flatower Thurm, von dessen Zinnen sich ein Rundgemälde von bezauberndem Liebreize entrollt. An Kavalierhäusern, dem Dampfmaschinenhaus zum Betriebe der Fontaine, rosenumsponnenen Gärtneridyllen schreiten wir vorüber. Hier grüßen uns Büsten preußischer Feldherren; dort hemmen wir sinnend unseren Schritt vor einem altersgrauen Bildstöckl, das, aus dem Süden hierher gepflanzt, dem deutschen Kaiser stets ein Erlebniß aus dem badischen Feldzuge wachruft. Und jetzt nimmt uns ein freier Platz auf, und charakteristisch und ernst baut sich vor uns die einstige Berliner [844] Gerichtslaube auf, welcher der Kaiser, nachdem ihr Abbruch am Rathhausplatze der Reichshauptstadt beschlossen war, hier eine Zufluchtsstätte eröffnete. Was predigen diese Steine Alles! Unter ihnen saßen einst die würdigen Rathsmannen Berlins, Recht zu berathen. Es waren stolze Kernnaturen, diese seßhaften Altvordern der freien Stadt, und als der erste Hohenzoller an ihre Thore mit seinem Eisenhandschuh, Einlaß fordernd, dröhnend klopfte, da kostete es manchen Kampf und reiches Blutvergießen, ehe der Widerstand gebrochen und der Einlaß gewährt ward. Das liegt weit zurück. Heute klopft kein Hohenzoller mehr vergeblich an unsere Thore und Herzen; sie stehen ihnen längst weit offen.

Da liegt unter Bäumen halb versteckt, heiter und traulich, der Sommersitz des ersten deutschen Kaisers. Alles athmet den Hauch altenglischer Romantik, nur sonniger, üppiger vielleicht in graziösen und künstlerischen Einzelheiten. Ein dämmeriger, gewölbter Gang führt uns in die „Hall“. Eichene, kunstvoll geschnitzte Möbel, Waffen und Jagdtrophäen, Kamin und Ampel, nichts fehlt, den Eindruck des Mittelalterlichen noch zu erhöhen. Wir steigen empor. Aber auch was da auf den Wendeltreppen, Fluren an Bildern, Schnitzereien, merkwürdigen Erinnerungsstücken aufbewahrt ist, fesselt immer aufs Neue unsere Aufmerksamkeit. Auf einem Treppenabsatz befindet sich eine Stocksammlung, darunter ein schlichtes Weichselrohr, vom Kaiser selbst vor 46 Jahren geschnitten und seitdem sein treuer Begleiter auf allen Spaziergängen in diesem schönen Besitzthum. Im ersten Stock liegen die Gemächer der Kaiserin wie die daranstoßenden Repräsentationsräume: der große Gesellschaftssaal, die Bibliothek, der herrliche, durch zwei Stockwerke reichende Tanzsaal, wie der Eßsaal mit der mächtig gewölbten Decke und dem imposanten Kamin. Reiche Kunstschätze alter und neuer Zeit, Meisterwerke der Malerei und Plastik füllen diese eben so glanzvollen wie anmuthigen Räume. Ueberraschend wirkt der Blick aus den Fenstern des Speisesaals rückwärts in den Park auf den gothischen Gerhardsbrnnnen, ein unter Blumen Wassergarben speiendes Kunstwerk, geschenkt von den vereinigten Dombaumeistern Kölns, mit der Statue des Schöpfers des herrlichen Doms: Gerhard.

Kaiser Wilhelm und die Großherzogin von Baden im Park von Babelsberg.
Nach einer Moment-Photographie von M. Ziesler in Berlin.

Eine Treppe höher wohnt der Kaiser. Sein Arbeitszimmer, das oberste Geschoß eines starken achteckigen Thurmes, mit gewölbter Decke, blauen Wänden, seiner Lieblingsfarbe, ausgestattet mit weißen Ahornmöbeln, bildet ein wahres Museum von Erinnerungsstücken. Was Liebe und Verehrung dem greisen Monarchen huldigend darbrachten, vom unscheinbarsten bis zum stolzesten Geschenk, ist hier in diesem wunderbaren Raume wie dem bescheidenen Schlafzimmer nebenan, auf den Tischen, Stühlen, Lehnsesseln, an den Wänden und Thüren aufbewahrt worden. Die wohlwollende Herzensgüte, der dankbare, pietätvolle Sinn auch für die geringste Liebesbezeugung, diese Tugenden des Monarchen finden hier ihren rührendsten Ausdruck. Hier oben weilt der Monarch gern in strenger Pflichterfüllung, wenn er, von seinem Rundgang durch den Park heimkehrend, sich wieder an den Tisch setzt, die eingelaufenen Berichte durchzugehen und zu erledigen. Und wenn er dann das milde Auge von der gethanen Arbeit aufhebt und sein Blick durch das Spitzbogenfenster hinaus über die grünen Baumwipfel in die entzückendste Havellandschaft schweifen läßt, wenn das Roth der scheidenden Sonne Wald und Wasser sanft erglühen macht, die Schwäne langsam zu ihren Schilfnestern heimkehren: dann mag der Friede, welcher wie eine segnende Gotteshand auf der müden Erde liegt, ihm wie ein sanftes Echo des eigenen edlen Herzens scheinen, und das an der fernen dunkelnden Kiefernwand herauftauchende weiße Segel zum Bilde der erfüllten Hoffnung werden. A. Trinius.     


[845]

Deutsche Elemente in Paris.

Von Marie Calm.

Sie wollen nach Paris gehen?“ fragte mich ein Herr, als ich ihm meine Absicht, die französische Metropole zu besuchen, mittheilte. „Nach Paris, wo man jeden Fremden, der sich die Stadt ansieht, für einen verkleideten Officier und jeden Deutschen für einen Spion hält?!“

Ich lachte. „Für einen verkleideten Officier wird man mich wohl nicht halten,“ erwiderte ich, „und außerdem gilt der Deutschenhaß und die Deutschenverfolgung wohl mehr der Nation, als dem einzelnen, und besonders der einzelnen Deutschen. So hoffe ich unbehelligt durchzukommen.“

In der That sind die Franzosen immer noch, auch für uns Deutsche, ein höfliches Volk – das heißt, so lange man nicht auf den Krieg und was damit zusammenhängt, zu sprechen kommt.

Daß aber trotz der Höflichkeit die Deutschen in Paris ungern gesehen und gelegentlich verfolgt werden, ist bekannt; gerade diese Verfolgung hat jedoch das deutsche Element dort gekräftigt, hat den dort lebenden Deutschen das Gefühl ihres Deutschthums, ihrer Zusammengehörigkeit erst recht gegeben. Das zeigt sich in den einzelnen Familien wie in den von Deutschen ins Leben gerufenen Anstalten. Durch die Güte des Herrn Pastor von Seydlitz, des Geistlichen der deutschen Gemeinde in La Villette, erhielt ich Zutritt zu einer Anzahl von Familien; überall begrüßten mich nicht nur die Eltern, die oft nach dreißigjährigem Aufenthalt dort noch nicht französisch sprechen, sondern auch die Kinder in deutscher, nicht mit französischen Brocken untermischter Sprache; überall hörte ich die Hoffnung aussprechen, über kurz oder lang in die alte Heimat zurückkehren zu können, und nicht in der Fremde sterben zu müssen!

Das „Heim“ für deutsche Erzieherinnen und Dienstmädchen in Paris.

Was die Anstalten für Deutsche betrifft, so sind dieselben nicht zahlreich. Die Gemeinde ist arm, zum großen Theil auf die Mittel angewiesen, welche ihr vom Heimatlande aus zufließen. Deßhalb besitzt Paris auch nur eine deutsche Kirche (London hat deren sechs aufzuweisen!); der deutsche Gottesdienst wird meistens in französischen Kirchen abgehalten, die man zu dem Zweck für einige Stunden gemiethet hat. Jene eine Kirche aber, in dem Quartier La Villette auf einem mit Bäumen bestandenen Hügel gelegen, weßhalb sie allgemein „die Hügelkirche“ genannt wird, macht durch ihre versteckte Lage gleich den Eindruck, daß die Deutschen sich in Paris nicht breit machen dürfen. Verwundert las ich an einem kleinen Thor inmitten einer kahlen Mauer die mir angegebene Nummer, durchschritt dann einen langen, ziemlich wüsten Hof und erblickte nun erst das hinter den Bäumen verborgene, in leichtem Schweizerstile aufgeführte Gebäude, das indessen durch die beiden Thürmchen einen kirchlichen Charakter erhält. Nur der vordere Theil desselben ist dem Gottesdienst gewidmet; die übrigen Räume dienen der Schule, während die Wohnung des Pfarrers sich in einem Häuschen daneben befindet.

Es berührte mich eigenthümlich, als mir, da ich in Begleitung des Herrn Pastor Frisius an einem Wochentage mich dem Hause näherte, von dem eingefriedeten, mit Bäumen bestandenen Raum vor demselben ein deutsches Kinderlied entgegen schallte. Eine Schar von wohl dreißig Kindern, Knaben und Mädchen von vier bis sieben Jahren, tummelte sich dort unter der Aufsicht einer Kindergärtnerin, und alle die Kleinen eilten beim Anblick des beliebten Geistlichen auf uns zu, mit freundlichem „Tag!“ uns die Händchen zu reichen. Zu meinem Bedauern muß ich gestehen, daß diese Händchen meist recht schmutzig waren, wie auch die Kinder in der Schule zum großen Theil unsauber, blaß und kränklich aussahen. Besonders scheinen Augenkrankheiten unter diesen armen Kleinen zu herrschen; viele mußten sich des Lesens und Schreibens enthalten. Freilich wundert man sich darüber nicht, wenn man sie in ihren Wohnungen aufsucht. Die Eltern dieser Kinder, meist aus den ärmsten Dörfern von Ober-Hessen und -Bayern ausgewandert, bewohnen der Mehrzahl nach in der trostlosen, langen Rue d’Allemagne und den umliegenden Straßen licht- und lustlose, verräucherte Kammern, die, außer dem Geistlichen und dem Arzt, wohl selten der Fuß eines Meuschen aus den „höheren“ Gesellschaftskreisen betritt. Seit dem Kriege ist das Elend unter diesen Leuten noch größer geworden, da ihr Haupterwerb, das Straßenkehren, für welches sie seit 1840 ein Privilegium hatten, ihnen von der Regierung vielfach entzogen worden ist.

Die Hügelkirche in Paris.

Die Schule in der Hügelkirche ist schon 1858 von dem um die deutsche Gemeinde in Paris so hochverdienten Pastor von Bodelschwingh gegründet worden. In Folge des Krieges geschlossen, wurde sie 1876 wieder eröffnet und zählt jetzt etwa 350 Schüler und Schülerinnen, denn Knaben und Mädchen werden dort gemeinschaftlich von zwei Lehrern und einer Lehrerin unterrichtet. Die Anstalt ist keine Freischule; doch beträgt das Schulgeld nur einen halben Franken für den Monat, und auch dieses nur für die ersten drei Kinder einer Familie; die übrigen sind frei.

Daß die Schule ihren Zweck: deutsche Sprache und die Liebe zum Vaterlande unter den Zöglingen zu pflegen, wirklich erreicht, beweist die Gesinnung der Kinder und das verhältnißmäßig gute Deutsch, das dort gesprochen und geschrieben wird.

Vor sechs Jahren hat Herr Pastor Frisius auch eine Schule für die bemittelten Deutschen eröffnet (Rue Faubourg Poissonnière, dicht bei seiner eignen Wohnung). Ich fand dort in einem hübschen, luftigen Lokal eine Anzahl Knaben und Mädchen, die bis zum zwölften Jahre gemeinsam unterrichtet werden.

Neben dem Gründer der Anstalt, welcher den Hauptunterricht selbst ertheilt, unterrichten dort noch zwei Elsässer Danmn und eine Engländerin. Die Zahl der Zöglinge war allerdings sehr klein, da bei der vorgeschrittenen Jahreszeit – Anfang Juni – viele Familien schon auf das Land gezogen waren; auch ist ein zahlreicher Besuch [846] wohl kaum zu erwarten, da, während die armen deutschen Familien sich fast ausschließlich auf das Quartier La Villette koncentriren, die wohlhabenden über die ganze ungeheure Stadt zerstreut sind, und es oft unmöglich ist, die Kinder so weit zur Schule zu schicken.

„Wir haben nämlich,“ erklärte mir eine der Lehrerinnen, „noch keinen Wagen, der, wie das bei anderen Instituten der Fall, die Kinder von Hause abholt und Abends – das Frühstück mitten am Tage wird in der Schule eingenommen – zurückbringt.“

Vielleicht ist das ziemlich hohe Schulgeld: 200 bis 250 Franken für das Jahr, auch Manchem ein Hinderniß.

Die neueste deutsche Anstalt in Paris ist das im Februar dieses Jahres eröffnete und unter dem Protektorat unserer Kronprinzessin stehende „Heim für deutsche Erzieherinnen und Dienstmädchen“. Es war ein heißer Tag, als ich mich vom Louvre aus aufmachte, um nach Batignolles zu fahren. Die Gegend sei etwas abgelegen, hatte man mir gesagt; allein der Omnibus brachte mich in etwa 20 Minuten dorthin, und wie wohl that nach dem Lärm und Gedränge der westlichen Stadt hier die verhältnißmäßige Ruhe und Stille! Da konnte man doch den Straßendamm überschreiten, ohne vorher sein Leben zu versichern, und ganz in der Nähe winkten die grünen Bäume und duftigen Blumenbeete des Parks von Batignolles, zu dem Jedermann freien Eintritt hat. Wie nett, dachte ich, können die Damen des „Heims“ dort während der kühlen Morgenstunden lesen und arbeiten!

Einen wahrhaft anheimelnden Eindruck aber macht das Haus – Ecke der Rue Brochant und Rue Nollet. Ein Ueberbleibsel aus früherer Zeit, wo dieser Stadttheil außerhalb Paris lag und gewissermaßen als Landaufenthalt betrachtet wurde, zeichnet es sich mit seiner mäßigen Höhe, seinem von einem hübschen Gitter eingefaßten und von Ulmen beschatteten Vorhof und seinen grünen, Kühlung verheißenden Jalousien vortheilhaft von den himmelhohen, kahlen, kasernenartigen Gebäuden der Straße ab. Lebhaft konnte ich mir denken, mit welchem Wohlgefühl eine arme abgehetzte, stellensuchende Deutsche, von den heißen, staubigen, lärm- und menschengefüllten Boulevards kommend, diesen schattigen Vorplatz, diese stillen, kühlen, zierlich eingerichteten Zimmer betreten muß, wie freundlich das „Guten Morgen“ des Dienstmädchens, welches uns die Thür öffnete, ihr Ohr berührt, wie sie unter den Genossinnen ihr Herz ausschütten kann und Trost, vielleicht Hilfe erwarten darf. Ja, ein Heim ist es wirklich, mit seiner Sauberkeit und Ordnung, mit seinem Versammlungssaal, den Blumen und deutsche Sprüche schmücken, den behaglichen, netten Schlafzimmern und der treuen Fürsorge seiner Leiterin. In der kurzen Zeit seines Bestehens haben schon über 40 Deutsche von hier aus Stellen gefunden; allerdings mehr Dienstmädchen (Bonnen) als Erzieherinnen. Für diese letzteren, sagte mir die Vorsteherin, seien gute Empfehlungen nützlicher, als das abgelegte Lehrerin-Examen.

Die Lage des Hauses an einer Straßenecke ist sehr günstig für den doppelten Zweck desselben, indem dadurch das Heim für die Dienstmädchen von dem der Erzieherinnen getrennt ist. Natürlich sind auch die Aufnahmebedingungen verschieden. Die Erzieherinnen und Lehrerinnen, die sich durch ihre Papiere ausweisen müssen, haben für Kost und Logis 76 bis 90 Franken monatlich, 22½ bis 25 Franken wöchentlich zu zahlen, je nach den Zimmern; während der Preis für die Dienstmädchen für Wohnung und Kost wöchentlich 10 Franken beträgt, wenn sie ein Bett im Schlafsaal einnehmen, 14 Franken, wenn sie ein kleines Zimmer zu zweit bewohnen. Auch deutsche Damen anderer Stände, welche sich eine Zeitlang in Paris aufzuhalten wünschen, können dort Aufnahme finden gegen ein Kostgeld von 6 Franken für den Tag oder 150 Franken für den Monat.

Seit Kurzem hat eine Elsässerin die Leitung des Heims übernommen, welche, obwohl der deutschen Sprache mächtig, mit den Pensionärinnen des Hauses doch stets französisch spricht und auf Wunsch ihnen auch Unterricht in der Sprache ertheilt. Diese Einrichtung ist gewiß sehr zweckmäßig, da das Erlernen der französischen Sprache meist das Hauptziel der nach Paris gehenden Damen ist, dieselben aber, sobald sie eine Stelle angenommen, dazu nicht immer Gelegenheit finden, da sie dann mit ihren Zöglingen meist deutsch sprechen müssen. In allen diesen Beziehungen wird also die mit so großen Opfern und so vieler Mühe ins Leben gerufene Anstalt ein Segen sein für die deutschen Mädchen, welche das französische Babel aufsuchen, das bisher so Mancher, die sich fremd und schutzlos hineingewagt, den Untergang bereitet hat.

Schließlich möchte ich noch einer deutschen Aufführung gedenken, der ich in Paris beiwohnte. Die Veranstalterin war eine an einen Franzosen verheirathete Deutsche, die seit dem Kriege dort Unterricht in der deutschen Sprache und Litteratur ertheilt. Um den Eltern eine Probe von den Leistungen ihrer zahlreichen Schüler und Schülerinnen zu geben, ließ sie dieselben in einem festlich geschmückten Saal deutsche Dichtungen vortragen, die zum Theil recht hübsch gesprochen, besonders aber gut gespielt wurden. Wirklich reizend war die Aufführung des „Schulmeisters mit dem Alphabet“ (von Julie Thiele), durch 25 kostümirte Kinder dargestellt, deren jedes einen Stand darstellte und demselben entsprechende Verse sprach. Dieser Schulmeister im Sammethabit mit Atlasaufschlägen, in Kniehosen und Schnallenschuhen, mit Allongeperücke und Dreimaster, dieser fünfjährige Amor, dieser allerliebste Bergmann, dieser Conditor mit dem Kuchenkorb auf dem Kopf bis herab zur Winzerin und Zigeunerin: sie alle waren mit einer Zierlichkeit und Eleganz gekleidet, von einer Gewandtheit in ihren Bewegungen und in der Verbeugung, mit der sie an- und abtraten, die man bei unseren Kindern nicht immer finden dürfte. Den Haupteffekt der Aufführung aber bildete der erste Akt aus Kotzebue’s „Kleinstädtern“, durch Knaben und Mädchen von 12 bis 15 Jahren dargestellt; und bewundernswerth wirklich war die Zungenfertigkeit, mit der sie die „Frau Ober-Floß- und Fischmeisterin“, die „Stadt-Accise-Kassaschreiberin“, den „Bau-, Berg- und Weginspektors-Substitut“ hervorsprudelten. Auch hier waren die Kostüme, bei aller Komik, doch immer zierlich und kleidsam und das Spiel fast durchweg gut. Lieb aber war es mir, daß die meisten der anwesenden Papas und Mamas kein Deutsch verstanden: sie möchten sonst die geschilderten antediluvianischen Zustände als die jetzt bei uns herrschenden aufgefaßt und darin Nahrung für ihren Hang, uns lächerlich zu machen, gefunden haben. Es fiel mir auf, daß die Mehrzahl der Zöglinge der sehr beliebten Lehrerin dem männlichen Geschlechte angehörten. „Freilich,“ sagte mir mit blitzenden Augen ein kleiner Bursche, „wir lernen jetzt deutsch – pour notre revanche!“


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Professor Wehlau traf in dem vor dem Schlafgemache der Gräfin liegenden Zimmer ganz unerwartet mit Gerlinde zusammen, die es wie eine Erlösnng begrüßt hatte, daß die Gräfin nach ihr verlangte, und schleunigst diesem Wunsche nachgekommen war. Das entzog sie wenigstens vorläufig den Zornausbrüchen ihres Vaters, und Hertha hatte es übernommen, diesen einigermaßen zu beruhigen.

Wehlau erblickte das junge Mädchen kaum, als er wie ein Stoßvogel auf sie zuschoß.

„Fräulein von Eberstein, ich möchte Sie auf eine Minute allein sprechen. Wollen Sie mir einige Fragen erlauben?“

„Gewiß, Herr Professor,“ versetzte Gerlinde, fast bestürzt über diese Anrede. Sie hegte eine unbesiegbare Scheu vor dem Professor, der bisher nie Notiz von ihr genommen hatte, und seine kurze herrische Art, selbst am Krankenbett, war vollends nicht geeignet, ihr Vertrauen einzuflößen. Es überkam sie eine tiefe Bangigkeit bei dem Gedanken, daß gerade dieser Mann der Vater ihres Hans sei, und jetzt rückte er ihr nun vollends dicht auf den Leib und begann allerlei seltsame Fragen an sie zu richten, die sie gar nicht begriff. Dabei fixirte er sie so starr und unaufhörlich, daß sie sich zu fürchten begann. Das arme Kind ahnte ja nicht, daß es auf seinen gesunden Verstand hin geprüft werden sollte, und gab in der Angst und Verwirrung ganz verkehrte Antworten, was Wehlau natürlich nur in seiner vorgefaßten Meinung bestärkte.

Er ging endlich auf die Familientradition der Eberstein über, bei der die fixe Idee des alten Freiherrn zum Vorschein gekommen war. Gerlinde hatte sich während ihres Aufenthaltes in der Stadt und in Berkheim den Chronikstil ziemlich abgewöhnt: die Gräfin und Hertha hatten in dieser Hinsicht einen sehr heilsamen Einfluß ausgeübt; hier aber vergaß sie das vollständig. Jener starre Blick bannte sie förmlich, wie das Auge der Schlange ein zitterndes Vögelchen. Sie war nur bestrebt, den unheimlichen Frager zufrieden zu stellen, und als er sich unglücklicherweise beikommen ließ, zu fragen: „Sie führen ja wohl den Doppelnamen Eberstein-Ortenau?“ da faltete sie wieder die Hände und begann:

„Im Jahre des Heils dreizehnhundertundsiebzig war eine Fehde ausgebrochen zwischen Kunrad von Eberstein und Balduin von Ortenau, dieweil –“ und nun war kein Haltens mehr! Sie erzählte die ganze endlose Geschichte von Kunrad und Hildegard, von Burgverließ und Hochzeit von Anfang bis zu Ende, ohne ein einziges Mal zu stocken oder Athem zu schöpfen, und verfiel dabei wieder rettungslos in den alten Plapperton. Sie bemerkte es nicht einmal, daß die Thür sich öffnete und Hans, von einer unheilvollen Ahnung getrieben, auf der Schwelle erschien. Er kam gerade recht, um noch den Schluß der Geschichte zu hören, die ihm nun allerdings nicht mehr neu war.

„Da haben wir es!“ rief der Professor triumphirend. Er stürzte auf seinen Sohn zu, zog ihn in eine Ecke des Zimmers und raunte ihm dort leise, aber energisch zu:

„Ich sagte es Dir ja! Sie ist auch schon angesteckt, der unselige Keim ist vollständig entwickelt und wird sich weiter vererben. Wenn Du jetzt noch auf Deinem unsinnigen Vorhaben [847] bestehst, so machst Du Dich und Deine Familie und Deine ganze Nachkommenschaft unglücklich. Dagegen’^ protestire ich als Arzt und Vater! Ich lasse Dich unter Kuratel stellen und verbiete es Dir im Namen der Menschheit, der man eine verrückte Generation nicht aufhalsen darf.“

„Papa, ich glaube, Du bist selbst angesteckt!“ rief Hans ärgerlich, indem er sich losmachte und zu Gerlinde eilte, um die er schützend den Arm legte. „Ich leide es nicht, daß meine Braut so gequält wird! Ich sehe es überhaupt nicht ein, was die Geschichte die Väter eigentlich angeht. Das Heirathen ist lediglich unsere Sache, und wir werden das auch allein besorgen!“


Es war Sommer geworden. Man befand sich bereits in den ersten Tagen des Juli, aber das Familienfest, welches man im Steinrück’schen Hause zu feiern gedachte, hatte auf unbestimmte Zeit verschoben werden müssen. Wenn auch Professor Wehlau bei seiner Anwesenheit im Schlosse der Tochter die trostlose Wahrheit verschwieg und ihr noch wochenlang eine trügerische Hoffnung ließ, so wußten der General und die Seinigen doch, daß der Familie ein Trauerfall bevorstand. Hertha, so sagten sie sich, würde durch den Tod der Mutter nur fester an die Familie geknüpft werden, und sobald die Trauerzeit vorüber, sollte sofort die Vermählungsfeier stattfinden.

Graf Steinrück ahnte nicht, daß das Schicksal schon längst das stolze Gebäude seiner Hoffnungen zertrümmert hatte. Er wußte nichts von jener verhängnißvollen Sturmnacht, von der Anwesenheit des Hauptmanns Rodenberg in Sankt Michael, und war hinsichtlich der Nachrichten aus Schloß Steinrück auf Hertha’s Briefe und den Bericht des Arztes angewiesen.

Michael hatte damals die junge Gräfin auf ihren dringenden Wunsch nur bis zu der Stelle geleitet, wo die Bergstraße in das Thal mündete, da auf dem weiteren Wege jede Gefahr ausgeschlossen war. Sie langte mit den Dienern allein im Schlosse an, und dort verbot der bedenkliche Zustand, in dem sie die Mutter fand, jede Erklärung des Geschehenen. Die Aerzte hatten befohlen, von der Kranken jede, auch die geringste Aufregung fern zu halten, und so mußte die Sache denn vorläufig Geheimniß bleiben, bis zur Genesung der Gräfin – wie Hertha noch immer hoffte. Michael kannte durch den Professor Wehlau allerdings die volle Wahrheit; aber er fühlte sich nur um so mehr verpflichtet, die Frau zu schonen, Von der er nur Güte und Freundlichkeit empfangen hatte. Wenn der Kampf beginnen mußte, sn mochte es nach ihrem Tode sein.

Dieser Fall war nun eingetreten. Der Arzt hatte dem General soeben die Nachricht gesandt, daß die Kranke in der letzten Nacht sanft entschlafen sei. Steinrück war, wie die ganze Familie, darauf vorbereitet. Die letzten Nachrichten hatten schon völlig hoffnungslos gelautet. Dennoch ging ihm der Tod der sanften liebenswürdigen Frau, die sich stets unbedingt seiner Leitung gefügt batte, recht nahe, und er konnte ihr nicht einmal den letzten Freundschaftsdienst erweisen und sie zu Grabe geleiten!

Es war eine verhängnißvolle, gewitterschwüle Zeit in diesen Julitagen, und wenn man auch im Publikum noch wenig davon ahnte, so waren die militärischen Kreise um so besser unterrichtet. General Steinrück wußte, daß er sich jetzt nicht entfernen durfte, selbst nicht auf wenige Tage, daß er sich jeden Augenblick zur Verfügung bereit halten mußte. Die Pflichten des Familienhauptes mußten zurückstehen hinter denen des Soldaten. Raoul sollte allerdings sofort abreisen; ihm, dem jungen, leicht entbehrlichen Beamten im Ministeriums konnte man einen kurzen Urlaub nicht versagen, am wenigsten bei dieser Gelegenheit, wo er seinen Großvater zu vertreten hatte.

Steinrück saß mit tiefernster Miene in seinem Arbeitszimmer und las noch einmal das Telegramm, als ihm ein Officier vom Generalstabe gemeldet wurde. Es blieb dem Grafen nicht viel Zeit für seine Familienangelegenheiten; sogar in diesem Augenblick wurde er gestört; die Meldungen, Depeschen und Berichte jagten sich ja jetzt. Er winkte, den Gemeldeten eintreten zu lassen, und gleich darauf stand Hauptmann Rodenberg vor ihm.

Der General war doch peinlich überrascht von dieser Begegnung, obgleich er darauf gefaßt sein mußte. Er hatte Michael seit jener Stunde, wo er zwischen ihn und Raoul getreten war, wohl einige Male bei dienstlichen Veranlassungen gesehen, aber nicht gesprochen; jetzt, zum ersten Male, waren sie gezwungen, wieder mit einander zu verkehren, und der junge Officier mußte es empfinden, es war ihm nicht verziehen worden, daß er das Entgegenkommen von jener Seite zurückgewiesen hatte. Er fand, in der That nur den Vorgesetzten, der kalt, mit völlig unbewegter Miene ihm entgegentrat.

„Sie bringen mir eine Meldung von Seiten Ihres Chefs?“

„Nein, Excellenz, ich komme diesmal in eigener Sache und bitte um ein kurzes Gehör.“

Steinrück sah betroffen auf. In eigener Sache? Das mußte etwas ganz Ungewöhnliches sein. Er winkte mit der Hand und sagte kurz:

„So sprechen Sie!“ .

„Die Gräfin Marianne Steinrück ist im Laufe dieser Nacht gestorben –“

„Das wissen Sie bereits?“ unterbrach ihn der General befremdet. „Woher? Seit wann?“

„Seit zwei Stunden.“

„Wie ist das möglich? Ich habe soeben erst die Depesche erhalten, noch kennt Niemand den Inhalt, nicht einmal mein Enkel. Wie können Sie bereits davon unterrichtet sein?“

„Mein alter Lehrer und Freund, der Pfarrer von Sankt Michael, der auf Wunsch der Gräfin an ihr Sterbebett berufen wurde, sandte mir telegraphisch die Nachricht.“

Die Auskunft schien den Grafen noch mehr zu befremden. Er sagte in scharfem Tone:

„Das ist in der That – seltsam! Welchen Grund hätte denn der Herr Pfarrer, Ihnen eine Nachsicht, die Sie doch unmöglich interessiren konnte, früher zu senden, als selbst der Familie? Die Sache ist mir so unbegreiflich, daß ich Sie schon um Erklärung ersuchen muß.“

„Eben deßhalb kam ich. Das Telegramm wurde im Auftrag der Gräfin Hertha abgesendet.“

„An Sie?“

„An mich!“

Der General erbleichte. Jetzt endlich schien ihm eine Ahnung der Wahrheit aufzusteigen. Er richtete sich drohend empor.

„Was soll das heißen? Wie kommen Sie zu einer solchen Vertraulichkeit mit der Braut des Grafen Steinrück?“

„Ich habe in ihrem Namen das Wort zurückzufordern, das sie dem Grafen gegeben hat,“ erklärte Michael, den drohenden Blick fest erwidernd. „Es wäre dies längst geschehen, wenn die schwere Erkrankung der Mutter es nicht unmöglich gemacht hätte. An ihrem Sterbebette mußte jeder Kampf und jeder persönliche Wunsch schweigen. Ich weiß, daß es herzlos erscheint, solche Dinge zur Sprache zu bringen in einer Stunde, wo Hertha noch an der Leiche ihrer Mutter weint; aber sie selbst fordert es; denn Graf Raoul wird voraussichtlich auf die Todesnachricht hin zu ihr eilen, und sie kann und will ihn nicht mehr als ihren Verlobten empfangen. Das habe ich Euer Excellenz zu melden; alle anderen Erklärungen mögen später stattfinden. Jetzt ist es wohl nicht an der Zeit –“

„Was ist nicht an der Zeit?“ fiel ihm Steinrück heftig in das Wort. „Ich dächte, Sie hätten das Aeußerste schon gesagt. Reden Sie aus!“

„Nun wohl, Hertha hat mir das Recht gegeben, sie ihrer ganzen Familie gegenüber zu vertreten. Ich spreche im Namen meiner Braut!“

Das war deutlich genug und übertraf noch die schlimmsten Befürchtungen des Generals. Er hatte an die Möglichkeit einer Gefahr geglaubt und versucht, die Beiden zu trennen, und nun hatten sie sich bereits gefunden. Sein stolzer Plan lag in Trümmern – der Preis, den er seinem Erben zugedacht hatte, sollte noch in der letzten Stunde einem Andern zufallen! Steinrück hätte doch nun aufflammen müssen in Zorn und Entrüstung über den Verwegenen; statt dessen sah er ihn an, mit einem langen, seltsam düsteren Blicke und schwieg. Erst als Michael, der sich dies Schweigen nicht zu deuten wußte, ihn befremdet anschaute, schien er sich zu besinnen, und nun allerdings hrach er in voller Gereiztheit aus:

„In der That, Sie sagen mir da mit der ruhigsten Miene die unerhörtesten Dinge! Sie scheinen es ganz selbstverständlich zu finden, daß die verlobte Braut meines Enkels die Ihrige wird, nur weil Sie tollkühn genug sind, die Hand nach ihr [848] auszustrecken. Ueber diese Zumuthung wird Raoul mit Ihnen rechten; ich möchte Ihnen nur zu bedenken geben, daß ein solcher Preis denn doch zu hoch steht für einen – Rodenberg!“

„Mir steht nichts zu hoch, was sich überhaupt erringen läßt, und Hertha’s Liebe habe ich errungen,“ sagte Michael kalt. „Sie hat sich einem Familienbeschluß gefügt, der über ihre Hand entschied, als sie noch ein Kind war, und kann das übereilte Jawort nicht mit dem Unglück eines ganzen Lebens büßen. Von dem Grafen Raoul ist schwerlich ein Widerstand zu erwarten! In jedem Falle hat er das Recht verloren, um seine einstige Braut zu kämpfen.“

„Was heißt das? Was meinen Sie damit?“ fuhr der General auf.

„Danach bitte ich den Grafen selbst zu fragen. Da Eure Excellenz, wie ich sehe, noch keine Ahnung von der Sache haben, so widerstrebt es mir, den Angeber zu machen.“

„Ich will aber keine halben Worte und Andeutungen! Ich will wissen, um was es sich handelt. Wovon sprechen Sie?“

„Von dem Verhältuiß des Grafen zu Heloise von Nérac.“

Steinrück zuckte zusammen. Das also war die Gefahr, die er dunkel geahnt hatte, ohne sie zu kennen!

„Heloise von Nérac?“ wiederholte er halblaut.

„Die Schwester des Herrn von Clermont! Ich habe diese Kenntniß nicht gesucht. Mein Ehrenwort darauf! Nur der Zufall hat sie mir gegeben. Hertha fordert von dem Grafen nur ein Wort zurück, das er längst schon gebrochen hat, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn ihm die Auflösung seiner Verlobung nicht erwünscht wäre. Es war wohl nur die Furcht vor dem Einspruche des Großvaters, welche ihn abhielt, sie selbst zu lösen.“

Es folgte eine Pause. Der Schlag kam so jäh und unerwartet, daß der General einige Sekunden brauchte, um sich zu fassen. Man sah es doch, wie schwer ihn diese Enthüllung traf.

„Ich werde Raoul zur Rede stellen,“ sagte er endlich. „Giebt er die Thatsache zu, so hat Hertha allerdings das Recht, zurückzutreten; Ihnen aber giebt das keine Hoffnung, denn ich kann und werde es nicht gestatten, daß mein Mündel –“

„Einem Rodenberg folgt!“ ergänzte Michael herb. „Ich weiß das, Excellenz, aber ich muß Sie daran erinnern, daß Ihre vvrmundschaftliche Gewalt in wenig Monaten zu Ende ist.“

Steinrück trat dicht an ihn heran. Jetzt blitzten seine Augen wieder in dem alten Feuer, und seine Stimme klang in dem gewohnten Gebietertone: „Die Gewalt des Vormundes, ja! Aber dann tritt die Gewalt des Familienhauptes in ihre Rechte, und der wirst Du Dich beugen.“

„Nein!“ klang es eisig zurück.

„Michael!“

„Nein, Graf Steinrück! Ich gehöre nicht zu Ihrer Familie, davon haben Sie mir soeben wieder den Beweis gegeben. Raoul mag sich seiner Braut unwürdig zeigen, mag sie verrathen; er bleibt Ihnen doch der Träger der Grafenkrone, wie ich Ihnen der Sohn des Abenteurers bleibe, der seine Augen nicht zu einem Glied Ihrer Familie erheben darf, selbst wenn er geliebt wird. Hertha denkt glücklicherweise anders. Sie weiß Alles und ist dennoch freudig bereit, meinen Namen zu tragen.“

„Und ich sage Dir, Du wirst diesen Namen noch bei ihr büßen müssen! Du kennst das stolze Mädchen nicht, steh’ ab von ihr!“

„So feig bin ich nicht,“ sagte Michael mit einem halb verächtlichen Lächeln. „Ich kenne meine Hertha besser. Wir haben ja mondenlang mit einander gekämpft wie die bittersten Feinde und wußten es doch Beide, daß wir nicht von einander lassen konnten. Ich habe es mir schwer genug erobern müssen, mein schönes stolzes Glück, aber nun ist es auch unwiderruflich mein. Im Sturmestoben, aus den Klüften der Adlerwand habe ich mir meine Braut geholt – versucht es, sie mir wieder zu entreißen!“

Der kalte, ernste Mann war wie verwandelt; das volle leidenschaftliche Glück leuchtete aus seinen Augen, klang aus seinen Worten, und die letzte Herausforderung schleuderte er fast triumphirend dem Grafen entgegen, der ihn wieder ansah mit jenem seltsamen Blick, in welchem mehr Schmerz als Zorn lag.

„Genug!“ sagte er, sich zusammenraffend. „Ich habe zunächst mit Raoul zu rechten. Du wirst noch Weiteres von mir hören – jetzt geh’!“

Michael verneigte sich und ging; der General blickte ihm lange und düster nach. Es war doch seltsam, daß sie nie den fremden Ton festhalten konnten, der doch von beiden Seiten so sehr erstrebt wurde. Im Anfange stand immer der Vorgesetzte dem Untergebenen gegenüber, so fremd, als hätten sie sich nie gesehen, und schließlich sprach doch immer der Großvater zu seinem Enkel, wenn sie sich auch im vollsten Kampfe befanden. Auch heute schieden sie mit einer gegenseitigen Kriegserklärung, und doch murmelte der Graf, als er allein war:

„Was gäbe ich drum, wenn Du Raoul Steinrück hießest!“

Der junge Graf kehrte eine halbe Stunde später von seinem Morgenritt zurück. Bei seinem Eintritt wurde ihm gemeldet, daß der General nach ihm gesandt habe und ihn unverzüglich zu sprechen verlange, und wenige Minuten später trat er in das Arbeitszimmer.

„Du ließest mich rufen, Großpapa?“ fragte Raoul, in das Arbeitszimmer des Generals tretend. „Hast Du Nachrichten aus Steinrück erhalten?“

Der Großvater reichte ihm statt aller Antwort die Depesche.

„Lies selbst!“

Raoul durchflog das Telegramm und legte es dann wieder auf den Tisch.

„Eine traurige, aber leider nicht unerwartete Nachricht. Nach dem letzten Briefe mußten wir stündlich darauf gefaßt sein. Du äußertest gestern, daß Du selbst in diesem Falle die Stadt nicht verlassen könntest; so werde ich also allein abreisen, mit der Mama?“

„Wenn Du kannst, ja!“

„Mein Urlaub macht keine Schwierigkeit,“ sagte Raoul unbefangen. „Der Minister hat ihn mir selbst angeboten, als er hörte, wie es in Steinrück stand. Ich kann ihn jede Stunde in Anspruch nehmen, um –“

„Deine Braut zu trösten!“ ergänzte der General.

„Gewiß, ich habe doch wohl das erste Recht dazu.“

„Hast Du es wirklich noch? Das wird sich zeigen!“

Der junge Graf stutzte bei dem Tone; aber der Großvater ließ ihm nicht Zeit, zu errathen, um was es sich handle, sondern fragte kurz und scharf:

„In welchem Verhältniß stehst Du zu Heloise von Nérac?“

Die Frage kam so unerwartet, daß Raool auf einen Augenblick die Fassung verlor. Im nächsten aber hatte er sie zurückgewonnen und entgegnete:

„Nun, sie ist die Schwester meines Freundes Clermont.“

„Das weiß ich! Es scheint aber, daß sie Dir noch mehr ist. Keine Ausflüchte! Ich verlange volle, rückhaltlose Wahrheit!Kannst Du dies Verhältniß vor Deiner Braut verantworten? Ja oder nein!“

Raoul schwieg. Ein Lügner war er trotz alledem nicht, und er konnte auch nicht lügen diesen drohenden Augen gegenüber, die ihm bis auf den Grund der Seele zu dringen schienen und die Wahrheit zu erzwingen wußten, wie sehr man sie auch verschleierte.

„Also doch!“ sagte Steinrück dumpf. „Ich konnte und wollte es nicht glauben!“

„Großvater –“

„Genug, ich bedarf keiner Antwort mehr! Dein Verstummen sprach zu deutlich. Ist es denn möglich? Eine Braut wie Hertha zu opfern und wem zu opfern! Hast Du die Augen oder den Verstand verloren? Die Sache ist eben so unbegreiflich wie sie schmachvoll ist.“

Raoul stand finster mit fest zusammengepreßten Lippen da. Er ertrug es nicht, in solcher Weise ausgescholten zu werden, und der herrische Ton reizte ihn nun vollends, seine Antwort klang mehr trotzig als beschämt.

„Du häufst alle Vorwürfe auf mich, Großvater, und doch trägt Hertha mit ihrer verletzenden Kälte, ihrer eisigen Zurückhaltung die erste Schuld an unserer Entfremdung. Sie hat mich nie geliebt: sie kann überhaupt nicht lieben.“

„Da irrst Du sehr!“ sagte der General mit tiefer Bitterkeit. „Du hast es allerdings nicht vermocht, ihre Liebe zu gewinnen, aber ein Anderer verstand das besser als Du. Dem gegenüber

[849]

Der Bauernphilosoph.
Nach dem Oelgemälde von Koloman Dery.

[850] kennt sie keinen Stolz und keine Kälte, dem opfert sie willig ihre Grafenkrone, der darf es wagen, ihr einen bürgerlichen, einen einst befleckten Namen zu bieten – Michael Rodenberg!“

Der junge Graf stand da, als sei der Blitz vor ihm niedergefahren, und blickte wie betäubt seinen Großvater an. Dann aber schien sich sein ganzes Wesen aufzubäumen. Er hatte sie trotz alledem einst geliebt, die schöne, eisige Braut, und erst ihre unbesiegbare Kälte hatte ihn hineingetrieben in die Leidenschaft für eine Andere. Der Gedanke, daß sie einem Anderen, daß sie dem tiefgehaßten Michael gehören sollte, raubte ihm fast die Besinnung, und mit der wildesten Heftigkeit brach er aus:

„Rodenberg? Er wagt es, um eine Gräfin Steinrück zu werben, sie heimlich zu bethören, während sie mir noch anverlobt ist? Der ehrlose Bube –“

„Schweig’!“ herrschte ihn der General an. „Du hast ehrlos gehandelt, nicht Michael. Er war soeben bei mir, um in Hertha’s Namen ihr Wort von Dir zurückzufordern und mir Alles zu enthüllen. Du schwiegst – und verriethest Deine Braut!“

„Durfte ich denn reden? Du hättest mich zermalmt mit Deinem Zorne, wenn ich Dir meine Liebe zu Heloise gestanden hätte.“

Die Lippen Steinrück’s zuckten verächtlich.

„Also aus Furcht vor mir! Glaubst Du, daß ich einen Gehorsam will, der sich auf Lüge und Verrath gründet? Ich fürchte freilich, auch ohne diesen Treubruch war Hertha Dir verloren, sobald Michael mit Dir in die Schranken trat.“

„Großvater, das geht zu weit!“ Die Stimme Raoul’s erstickte fast vor Grimm. „Willst Du mich, Deinen Erben, den letzten Sprossen Deines Hauses, einem Menschen nachsetzen, der noch an der Schande seines Vaters zu tragen hat?“

„Und der trotzdem emporsteigen wird zu einer Höhe, die Du nie erreichst. Der schreitet zum Ziele, und wenn sich eine Welt von Hindernissen vor ihm aufthürmt, während Du, mit all dem Glanze Deines Namens und Deiner Abkunft, mit all Deiner reichen Begabung, nur einer von den Tausenden sein wirst, die sich in der Menge verlieren. Beide seid Ihr von meinem Stamme, aber nur Einer hat mein Blut geerbt. Du bist das Ebenbild Deiner Mutter; vom Vater hast Du nur die Charakterschwäche. Michael ist mein Sproß, und wenn er zehnmal Rodenberg heißt – ich erkenne ihn als einen Steinrück an!“

Da war sie endlich, die Anerkennung, die der Stolz des alten Grafen so lange seinem Enkel verweigert hatte, die er ihm Auge in Auge nie zugestanden. Jetzt brach sie fast wider seinen Willen hervor.

(Fortsetzung folgt.)

Etwas vom Sparen.
Ein Blatt für die Hausfrauen.0 Von Emil Peschkau.

Die meisten Menschen sind nicht so bemittelt, daß sie nicht nöthig hätten, zu sparen. Aber sie sparen in der Mehrzahl der Fälle an den nöthigen Ausgaben, sie sparen an der Nahrung, der Wohnung, der Wäsche, sie sparen an Allem, was für die Seele eben so nöthig ist, wie für den Körper Fleisch und Brot. Daß sich aber dieselbe Summe, die sie ihrem Leib und ihrem Geiste abschachern, erübrigen ließe, wenn sie immer ihr Augenmerk auf jene tausend kleinen Dinge richteten, die man unbeachtet zum Fenster hinausfliegen läßt, daran denken sie nicht. Und es ist ganz merkwürdig, daß sich dieser echte Sparsinn, der so selten ist, viel häufiger unter den Reichen als im Mittelstand findet, und daß er am seltensten unter den Armen ist. Ich kenne Millionäre, die keinen Brief bei Seite legen, ohne das unbeschriebene Rückblatt entfernt zu haben, das sie dann für ihre Koncepte und manchmal sogar wieder für Briefe benutzen, und in vielen Fällen wird wohl dieser sich natürlich auch im Geschäfte äußernde Sparsinn die Quelle des Reichthums sein. Dagegen habe ich beobachtet, daß dieses Sparen am Kleinen umsomehr als „lächerlich“ betrachtet wird, je tiefer man geht. Vor Kurzem fragte ich eine arme Arbeiterfrau, warum sie das Stückchen Land neben ihrem Häuschen nicht bepflanze.

„Ach Gott,“ war die Antwort, „das Gemüse ist ja so billig, wozu soll man sich da plagen!“

Diese Beobachtung kann übrigens Jeder an seinen Dienstboten machen, die in der Regel die ärgsten Verschwenderinnen sind, nicht bloß mit der Habe ihrer Herrschaft, sondern auch mit ihrer eigenen. Wer aber auch das Letztere nicht beachtet, wird doch zugeben müssen, daß der angeborene Sparsinn sich auch bei der Erledigung der Geschäfte verrathen muß und daß andererseits das Mädchen, das während ihrer Dienstzeit verschwenderisch zu Werke geht, sich das auch kaum mehr abgewöhnen kann, wenn sie einmal selbst Frau ist. Dann wird sie maschinenmäßig Abfälle, die noch zu verwenden sind, in den Kehricht werfen, wird tagtäglich ihr Päckchen Zündhölzchen auf dem Herd liegen lassen, bis es in Flammen aufgeht, und ganz ebenso wie einst bei ihrer Herrschaft wird ihr auch jetzt immer die Milch überlaufen. Wenn sie aber ihr Mann daran erinnert, daß all das Verschwendung sei, dann wird sie ein hochrothes Gesicht bekommen und ihm verächtlich zurufen: „Mach’ Dich nicht lächerlich!“

Und lächerlich erscheint es auch den meisten Frauen aus dem Mittelstande, wenn man sie darauf aufmerksam macht, daß sie viel behaglicher und sorgenfreier leben könnten, wenn sie richtig sparen würden. Ich habe es mir einmal mit einer Frau aus meiner Bekanntschaft gründlich verdorben, weil ich ihr – zunächst nur im Scherze – sagte, sie lasse alljährlich mindestens hundert Mark durch den Schornstein fliegen. Man hatte ein paarmal in meiner Gegenwart Feuer gemacht; ich hatte wiederholt das Dienstmädchen und einmal die Frau selbst beobachtet und stets bemerkt, daß von dem Kohlengries, den man in den Ofen schüttete, die Hälfte durch den Rost in den Aschenbehälter fiel. Das erzählte ich nun, und die Frau meinte sofort: es sei lächerlich, von den paar Kohlenstäubchen zu reden, während der Mann ganz erfreut ausrief: „Jetzt hab’ ich’s! Ich wundere mich immer, daß wir so schrecklich viel Geld für das Heizmaterial ausgeben, und doch brennen wir die billigsten Kohlen. Siehst Du, Marie, ich habe doch Recht – da siehst Du’s jetzt.“

Aber Mariechen blieb hart und kalt und behauptete noch einmal, es sei lächerlich, so mit dem Pfennig zu knickern. Nun entwickelte sich eine Debatte, in deren Verlauf sämmtliche Aschenbehälter der Wohnung herbeigeschleppt wurden. Ueberall fand sich die Asche reichlich mit Kohlengries gemengt, und eine flüchtige Berechnung ergab, daß ich mit meinen hundert Mark nicht zu hoch gegriffen hatte. Nichts desto weniger beharrte Mariechen bei ihrer Meinung und schloß endlich die Debatte kurz und bündig mit den Worten: „Ueberhaupt ist das eine Sache, von der Büchermenschen nichts verstehen, und es ist lächerlich, sich darum zu kümmern.“

Mariechen ist aber nicht bloß eine Frau aus meiner Bekanntschaft, sie ist ein weiblicher Typus. Sie wird nie den Kindern ein kleines Stück Brot und dann, wenn sie Hunger haben, noch ein zweites geben, obwohl sie Tag für Tag sieht, daß die Kleinen die Reste wegwerfen und diese dann, nachdem sie beschmutzt und zertreten sind, in den Kehrichtkasten kommen. Sie macht nie die Entdeckung, daß die Seife sich vermindert, wenn man sie im Wasser liegen läßt, und daß Thee und Kaffee die Hälfte ihres Werthes verlieren, wenn man die Büchsen nicht ordentlich schließt; daß man auch verschwendet, wenn man die Thüren geheizter Zimmer offen stehen läßt, wenn die Kleider, statt in den Schrank zu kommen, auf den Stühlen umherliegen, wenn man die Papierabfälle wegwirft und zum Feueranzünden die schönen, großen Zeitungsbogen benutzt, die man dem Tapezierer verkaufen kann. Und dabei ist Mariechen sonst eine ganz wackere Frau, die in anderem Sinne sehr sparsam ist, ja mitunter ist sie sogar ein ganz vollendeter Geizhals, der den Pfennig zehn Mal in der Hand umdreht, ehe er ihn auf den Ladentisch legt. Und was für schöne Hüte könnte sie sich kaufen, was für gemüthliche Punschbowlen könnte sie arrangiren, wie viel erquickende Schriften könnte sie in den Bücherschrank stellen, dieses Luxusmöbel, das unbegreiflicher Weise nie bei Heirathsausstattungen fehlt, und das Mariechen mit grünen Vorhängen versehen hat, um es als eine Art Rumpelkammer benutzen zu können. All das wäre ihr vergönnt, wenn sie weniger zum Schornstein und zu den Fenstern hinausflattern ließe!

Gar häufig hat nun Mariechen auch die Besonderheit, daß sie sich für eine Hausfrau par excellence hält, für eine Musterhausfrau, wie es keine zweite giebt. Der oberflächliche Beobachter muß ihr auch Recht geben, denn es ist in der That bewundernswerth, wie rührig und fleißig sie ist. Sie steht mit den Hühnern auf, sie gönnt sich keine Ruhe, ist den ganzen Tag auf den Beinen und arbeitet mehr als ein halbes Dutzend Dienstmägde. Wenn sie bei guter Laune ist, klopft sie ihren Mann auf die Schultern und sagt: „Du hast eine Frau! Was ich Dir erspare!“ Und doch ist Mariechen in einer argen Täuschung befangen. Sie erspart nicht – sie verschwendet. Sie verschwendet in erster Linie ihre Arbeit, ihre Kraft, ihre Gesundheit. Ihr ganzes Sinnen und Trachten ist nichts als Putzen und wieder Putzen. Nach ihrer Meinung ist die Wohnung nicht für den Menschen, sondern der Mensch für die Wohnung da, und die Bestimmung der Frau ist es, diese Wohnung sauber zu halten. Ihre Kraft und Ausdauer, mit der sie zehn Männer beschämt, wird an eine Arbeit verschwendet, die nicht nur ganz überflüssig ist, die nicht selten den anderen Mitgliedern der Familie das Haus zur Hölle macht, und ihre Gesundheit schlägt sie tollkühn in die Schanze, wenn es ihr einfällt, daß nun schon acht Tage lang die Fenster nicht gereinigt wurden. Sie, die sonst still, friedlich, furchtsam ist, wird muthig, unternehmend, rücksichtslos, wenn sie ihren Feind wittert – den Staub, den Schmutz. Meist ist dieser Feind nur eingebildet; die Fenster sind spiegelblank, die Thüren weiß wie Schnee, das Küchengeschirr zeigt kein Stäubchen. Aber die Frist ist abgelaufen – es muß rein gemacht werden – der Feind ist da, wenn ihn auch die Andern nicht sehen!

Manchmal geht Mariechen weniger in diesem Reinigungswerk auf, ihr Ehrgeiz ist mehr auf das billige Einkaufen gerichtet. Da fährt sie wohl mit einer Droschke für eine Mark in die Markthalle, um dort für fünfzig Pfennig Gemüse zu kaufen, das beim Händler sechzig Pfennig kosten würde. Thut sie’s aber zu Fuße, dann zieht sie ihren Pelzmantel an und drängt sich mit diesem sorglos zwischen schmierigen Säcken und reißlustigen Körben, zwischen ungeschlachten Knechten und Mägden hindurch. [851] Ihre Specialität sind die Ausverkäufe, Versteigerungen und die sogenannten „Gelegenheitskäufe“. Liest oder hört sie von einem solchen, dann wirkt das auf sie wie ein paar Flaschen feurigen Weines. Sie ist berauscht, sie ist toll, sie kauft Schundwaare für theures Geld, glücklich so billig gekauft zu haben, oder sie erwirbt alles mögliche unnütze Zeug und geht dann ganz selig nach Hause.

Das Sparen ist eine Kunst, zu der man ein gewisses Talent mitbringen muß, die man aber auch mit einer sehr bescheidenen Begabung erlernen kann, wenn man den guten Willen dazu hat und sich nicht thöricht die Augen selber blendet. Sparen heißt nicht billig kaufen und seine Bedürfnisse einschränken, sparen heißt Augen und Ohren offen halten, sich jeden Wink, jede Lehre, jede Neuerung zu Nutze machen, nur das anschaffen, was nöthig ist, und dabei weniger auf das „billig“ als auf das „gut“ achten, vor allem aber heißt sparen: Alles was man besitzt oder erwirbt bedächtig bis aufs Aeußerste ausnützen und nichts zum Schornstein und zu den Fenstern hinausfliegen lassen. Wenn Männer und Frauen in diesem Sinne sparen, dann wird die sociale Frage, die gegenwärtig so schwer durch alle Lande wankt, gleich um ein Stück leichter werden, und das Stück wird um so mehr in Betracht kommen, als es sich bei dieser socialen Frage zur Zeit auch schon um einen Theil des Mittelstandes handelt. Dieser aber kann sich sehr leicht selber helfen – durch vernünftiges Sparen!


Blätter und Blüthen.

Eine vergessene Jugendschriftstellerin. Auch auf dem Gebiete der Jugendlitteratur wechselt die Mode, und es lösen sich die Herren und Damen ab, welche die Kleinen zu sich kommen lassen. Es gab eine Zeit, wo Agnes Franz auf diesem Gebiete so vielgenannt und beliebt war, wie etwa jetzt Ottilie Wildermuth. Doch obwohl Agnes Franz, die auch als Dichterin und Romanschriftstellerin auf dem Büchermarkte erschien, erst im Jahre 1843 starb, so sind doch ihre einst so beliebten Jugend- und Kinderschriften jetzt durch einen zahlreichen Nachwuchs verdrängt worden. Glücklicherweise traf es sich, daß sie in Breslau längere Zeit mit Gustav Freytag, der damals Privatdocent war, in einem Hause wohnte, und dieser berühmte Autor hat in den „Erinnerungen aus seinem Leben“ seiner Hausgenossin einige der anziehendsten Seiten seiner Selbstbiographie gewidmet.

„Von Aussehen war sie ein ältliches, verwachsenes Fräulein mit einem etwas großen Kopf und etwas kurzem Hals; sie trug eine schwarzseidene Mantille mit Krausen, welche leise und geisterhaft raschelte, wenn sie in Bewegung gerieth. Eine Schwester hatte ihr auf dem Todtenbett vier kleine Waisen vermacht, welche ihre Familie bildeten; sie bewohnte daher drei Treppen hoch eine Kinderstube und eine gute Stube, die als Salon betrachtet wurde. Ein großes Mansardenfenster mit Epheu umzogen, ein altes Fortepiano, ein Bücherschrank und ein kleiner Schreibtisch gaben dem bescheidenen Raum ein wohnliches und poetisches Aussehen. In der Stube erzog sie die Kinder und empfing ihre Freunde beim Thee. Mochte sie aber thun, was sie wollte: es lag sehr viel Frieden, Freude und Seligkeit auf ihrem gar nicht hübschen Gesichte. Auch wenn sie weinte, sah sie zufrieden und glücklich aus. Und was merkwürdig war, wer in ihre Nähe kam, gerieth in eine ähnliche zufriedene Stimmung. In der Stube roch es durch das ganze Jahr nach Wachsstock und Tanne; die Bretzeln auf dem Teller hatten ein so schlaues Aussehen, eine Zauberbrille, die man nur auf die Nase zu setzen braucht, um Elfen tanzen zu sehen, und man mußte sich sorgfältig hüten, irgend etwas, das an irgend einem Orte lag, anzusehen, weil man zu befürchten hatte, daß es ein kleines Geschenk sei, welches die Freundin bis zum rechten Augenblick versteckt hielt.

„Ich untersuchte auch gern ihren Büchertisch, auf dem um Weihnachten die neuen Kinderbücher aufgethürmt standen, welche ihr gefällige Freunde und Buchhandlungen zugesandt hatten. Noch fehlte sehr der Bilderreichthum und die schöne Kunst, woran sich unsere Kinder freuen sollen; aber die Erzählungen und spielenden Nachbildungen echter Märchen waren nicht viel anders, als sie jetzt in der Mehrzahl sind. Doch alle kritischen Bedenken mußten schweigen gegenüber der frohen Wärme, mit welcher die Freundin ihre Schätze vorzeigte, vornehme Kinderschriften von starkem Leibchen mit schönem bemalten Mantel und arme dünne Bettelmannsbüchel mit grauem Papier und undeutlichen Holzschnitten. Noch gab es in ihrem Bücherhaufen rothkämmige Hähne, welche Groschen auskrähten; unartige Jungen fuhren auf Kähnen oder kletterten auf Bäume oder neckten böse Hunde, bis sie zum warnenden Beispiel für ihr Jahrhundert ins Wasser fielen, Beine brachen und gebissen wurden; artige Mädchen spielten mit ihren Puppen, während sich rothe Bänder in kühnen Windungen um die weißen Kleider schlängelten; schwarze Köhler verwandelten sich in gute Berggeister, welche hungernden Eltern goldene Aepfel bescherten: unbegreiflich und höchst überraschend wurde die allerverborgenste Tugend an das hellste Licht gebracht und das kleinste Unrecht auf das Allergenaueste bestraft. Und wie verständig und wohlwollend benahmen sich selbst die Thiere jeder Art! Was der Hund sagte und der Frosch erzählte, was das Rothkehlchen erlebte, und das Pferd gegen das Zebra äußerte, es war Alles unglaublich verständig und gebildet. Sogar die Figuren ihrer Märchenwelt! Viele Prinzen in rothen Sammethosen bestanden Abenteuer, in denen jeder Andere stecken bliebe; ihnen aber war die Sache Kleinigkeit, weil sie unermeßlich tapfer waren und vortreffliche Zauberhilfe hatten. Was konnte uns der gräuliche Drache mit seinem feurigen Maul ängstigen oder der schändliche Oger, welcher sich bemüßigt sah, kleine Kinder zu fressen! Wir wußten recht gut, daß diesen Bösewichtern zuletzt von unseren Lieblingen der Kopf abgeschlagen wurde. Vollends die kleinen braunen Männchen und die Feen und die guten Zauberer! Wie freundlich sie hin- und hertrappelten, wie sie mir gerade zur rechten Zeit erschienen, welche nützliche Geschenke sie zu geben wußten, kleine Nüsse, in denen ungeheure Zelte steckten, und wandelnde Stecknadeln, welche selbständig den Feind in die Beine stachen. Eine solche Fee war die Fränzel selbst, die gute Frau Holle in ihrer kleinen verkrausten Geisterwelt.“

Und nach dieser schalkhaft anmuthigen Plauderei mit dem eigenartigen Gepräge der Freytag’schen Muse widmet der Dichter seiner Hausgenossin noch einen rührenden Nachruf: „Gute Freundin! Deine Bücher für Kinder sind von vielen vergessen, Du selbst schläfst seit Jahren den ewigen Schlaf, doch wie auch die Gegenwart unsere Seele in Anspruch nimmt, wenn Weihnacht herankommt, der Schnee an den Fenstern hängt und die Klingel die Gegenwart des Christkindes meldet, dann wenigstens werden die Alten, die Dich geliebt haben, Deiner gedenken!“ †      

Prinzessin Andiguilla. Wer sollte es glauben, daß es auch im Lande der Menschenfresser politische Damen giebt? Darüber berichtet Alexander Freiherr von Hübner in seinem eben erschienenen Reisewerk „Durch das Britische Reich“ (Leipzig, F. A. Brockhaus). Wir begleiten ihn auf seinen Weltwanderungen auch auf die Fidschi-Inseln, auf die sehr kleine Insel Mbao, wo der einst so mächtige, jetzt entthronte Häuptling Takumbau bis zu seinem Tode 1882 seinen Wohnsitz hatte: er galt fast für den König dieser Inseln, zur Zeit, als die Menschenfresserei hier im Schwange war. Seine Tochter, die Prinzessin Andiguilla, war seine Vertraute und Rathgeberin; sie galt für eine politische Frau voll Verstand und Witz und ist noch jetzt sehr beliebt im Lande. Unser Reisender machte ihre Bekanntschaft, als sie gerade eine Kunstleistung producirte, die sonst bei Fürstlichkeiten nicht üblich zu sein pflegt: sie wirkte in einem von den vornehmen Damen des Stammes ausgeführten Hof- und Staatstanz mit, und sie fiel dem Reisenden in den Reihen dieser Tänzerinnen alsbald auf durch ihren hohen Wuchs, ihre stattlichen Formen, die gebieterische Haltung und den angenehmen und geistreichen Ausdruck ihrer Physiognomie. In Europa hätte man das ganze Schauspiel eine Galavorstellung genannt: tiefes Schweigen herrschte in diesem Parterre von kleinen mediatisirten Königen, von Häuptlingen, die zu Präfekten umgewandelt wurden, von Höflingen, welchen der Kammerherrnschlüssel sehr gut passen würde, könnte man ihn an ihrer glatten, wohlgeölten Haut befestigen. Ihre Bravorufe erschallen in der Regel nur in Augenblicken, wo die Habitués unserer Opernhäuser, Terpsichorens feine Kenner und Verehrer, Beifall klatschen würden. Die vornehmen Tänzerinnen tragen das vorschriftsmäßige Hemd, welches bis über das Knie herabfällt, und darüber die alte Tracht: einen Streifen von buntem Kaliko um die Lenden und als Gürtel, und um den Hals Kränze und Gehänge von Blumen, Blättern und Wurzelfasern.

Die Reisenden machten einen Besuch bei der Prinzessin Andiguilla, durchschritten die Stadt, kletterten über die Hecken, wandelten im Schatten hundertjähriger Mangroven, indischer Feigenbäume, des Brotfruchtbaumes; die Büsche, durch die sie oft den Weg sich bahnen müssen, prunken mit ihren vielfarbigen Sammetblättern, im Schmucke ihrer Blumen: scharlach, rosa, blaßgelb, lila, himmelblau. Mitten in dieser Pracht der Tropenvegetation fehlen aber nicht die unheimlichen Erinnerungen an die erst vor Kurzem abgeschlossene Epoche der Menschenschlächterei. Im Schatten eines ungeheuren indischen Feigenbaumes stehen zwei große Felsplatten senkrecht neben einander. An diesen Steinblöcken wurden die Opfer zerschmettert, ehe ihr Fleisch auf der Tafel des ehrbaren Takumbau erschien. Zwei Männer faßten den Unglücklichen je bei einem Arme und Beine, versetzten ihn in Schwingungen und schleuderten ihn sodann, den Kopf voran, gegen die Blöcke. Dieser so idyllische Ort war nichts Anderes als die Menschenfleischbank.

Der Palast oder vielmehr die Kabane der Prinzessin Andiguilla, die sich früher an den Festmahlen ihres Vaters betheiligt hat, unterscheidet sich von den Hütten der gewöhnlichen Fidschier nur durch etwas mehr Höhe und durch einen Zierat von weißen Muscheln am Ende des nach außen vorragenden großen Dachbalkens. „Es ist dies,“ sagt Freiherr von Hübner, „ein Privilegium der Mitglieder der königlichen Familie. Bei unserer Ankunft waren einige Mägde, wahrscheinlich unserem Besuche zu Ehren, mit Klopfen und Reinigen der Matten des Hauses beschäftigt. Die Prinzessin kauerte am Boden, das Kinn auf ihre Kniee gestützt, den Rücken an einem Mittelpfeiler gelehnt. Sie war in traulichem Zwiegespräch mit einem alten Kuli begriffen und begrüßte uns, ohne übrigens ihre bequeme Stellung zu ändern, mit zahllosen Händedrücken und einem wiehernden Gelächter. Aber obgleich sie nichts trug als ein blaues Hemd, und ein solches Négligé einer außergewöhnlich beleibten Dame nicht vortheilhaft sein konnte, sah sie doch entschieden vornehm und beinahe schön aus. Besonders gefiel mir ihr lebhafter durchdringender Blick. Sie ist Wittwe und Mutter einiger Kinder. Ich sagte ihr, der Wahrheit gemäß, daß ich sie am Ballplatze, ohne sie früher gesehen zu haben, an ihrem fürstlichen Aeußeren erkannte. Dies Kompliment schmeichelte ihr über die Maßen, und Mr. Longham mußte es ihr mehrmals wiederholen. Am Ende des Besuchs kletterte auf ihr Geheiß ihr Sohn, ein hübscher, etwa zehnjähriger Knabe, in den Dachraum, um Orangen zu holen, welche sie uns hierauf, unter einem neuen Lachanfall, zuwarf. Sie fand es offenbar entweder sehr unterhaltend oder sehr lächerlich.“ †      

Der Bauernphilosoph. (Mit Illustration S. 849.) Kein kühleres Plätzchen giebt’s an einem heißen Sommertage, als die Stube im Dorfwirthshaus; dort liegt auch ein Faß auf der Schenkbank, und aus diesem Fasse zapft der Wirth so klaren, frischen Trunk heraus, daß man seine Freude daran haben muß. Man darf nicht glauben, es seien lauter Schlemmer zur ungewohnten Zeit hier beisammen; es hat der Reiterbauer heute ein kleines Geschäft mit dem Löb Meier gehabt, und zum Abschlusse des kleinen Geschäftes gehört auch ein kleines Glas; der Bauer trinkt’s, weil das Geschäft ihm den Anlaß dazu giebt, der Andere, weil’s der [852] Profit erlaubt; zufälligerweise geschieht dies aber gerade um die Vesperzeit, und nun hat sich der Maurer Xaveri auch zu der Gesellschaft geschlagen, die endlich noch vom alten Vater, der im Wirthshaus auf dem Austrag lebt, vervollständigt wird. Der Löb weiß gar viel Neues zu erzählen und nimmt es in manchen Dingen nicht genau, denn er denkt: „Was weiß so ein Bauer von Dem und Dem!“ Aber da kommt er beim Xaveri zum Unrechten – der weiß Alles, gerad’ wie ein G’studirter! Der kann dir sagen, wie der Blitz gemacht ist, und weiß die G’schichten vom Telegraphen und von der Eisenbahn; er kennt die G’setzer alle und sagt’s ganz genau, warum der Benedeck die Schlacht damals verloren hat; er hat eine Menge g’studirte Schriften daheim, und da liest er alles dies heraus.

Eben hat ihm der Löb eine harte Nuß zu knacken gegeben und hört begierig auf das, was der Xaveri darüber zu sagen weiß. Den bringt man aber nicht in Verlegenheit; wie ein Professor entwickelt er seine Ansicht, so klar und bündig, daß der Reiterbauer, die ewig brennende Pfeife im Mund, ganz ehrfurchtsvoll an den Worten des Dorfphilosophen hängt, während der alte Vater seine helle Freude an der Friedfertigkeit des Sprechers hat und freundlich lächelnd auf den Stolz der Gemeinde blickt. Die dralle, blonde Resi, die zur Schenke gekommen ist, um einen Liter zum „Untern“ (Vespermahlzeit) zu holen, versteht zwar nicht das Geringste von dem, was da gesprochen wird, aber das merkt sie doch, daß der Xaveri wieder einmal Einem ordentlich heimleuchtet, und das freut unser Dorfkind ganz außerordentlich, so daß die schöne Maid ganz gerne wartet, bis der Wirth Zeit hat, ihr Begehren zu erfüllen. Den darf man jetzt nicht stören, denn der erzählt dem fremden Bauern, der im Vorbeigehen eingekehrt ist, eben alles Mögliche von dem Xaveri, so daß der Gast in lauter Verwunderung und im halben Zweifel über das Wunder von einem Menschenkind gar nichts Anderes erwidern kann, als etwa: „Ja, war’s mögli!?“ Eine solche Dorfstubenscene hat K. Dery in seinem Bilde „Der Bauernphilosoph“ vortrefflich zur Anschauung gebracht; die scharfe Charakteristik der Figuren, die naturwahre Auffassung und die ungezwungene realistische Behandlung verleihen der hübschen Kulturskizze einen ganz eigenthümlichen Reiz.

Schriften von Daniel Sanders! Der berühmte Sprachforscher ist unablässig bemüht, die Resultate seiner Forschung den weitesten Kreisen zugänglich zu machen. So hat er jetzt ein „Deutsches Stil-Musterbuch mit Erläuterungen und Anmerkungen“ (Berlin, H. W. Müller) herausgegeben, eine Anleitung zum tiefereindringenden und verständnißvollen Lesen und zur Aneignung des richtigen guten und schönen Ausdrucks in der deutschen Sprache. Die Schrift enthält Aufsätze unserer klassischen Schriftsteller oder Abschnitte aus ihren Werken mit einem kurzen Kommentar, der bisweilen das Sachliche erläutert, meistens aber das Sprachliche und Stilistische zu lehrreicher Nutzanwendung für die Nachstrebenden ins Auge faßt. Eine andere von Sanders veröffentlichte Sammluug: „Fürs deutsche Haus“ (Berlin, S. Rosenbaum) bringt eine Blüthenlese aus der Bibel und den mustergültigen griechischen und römischen Schriftstellern, in denen Sanders die Grundlage unserer Volks- und gelehrten Bildung sieht. Er war, wie er im Vorwort sagt, bemüht, nicht nur überall schöne, glänzende und duftige Blumen auszuwählen, sondern auch, sie zu einem in sich geschlossenen Kranze zusammenzuwinden. Bei wirklichen Bruchstücken fehlt nie der Hinweis auf den Zusammenhang mit dem Ganzen, wozu sie gehören. Die besten Uebersetzungen sind für diese Blüthenlese benutzt. †      


Allerlei Kurzweil.


Skataufgabe Nr. 8.
Von Ernst Kaltschmidt.

Die Vorhand verliert auf folgende Karte:

(tr.As) (tr.Z) (tr.K) (p.As) (p.Z.) (p.K.) (c.As) (c. Z.) (car.As) (car.Z.)

bei fehlerfreier Spielführung ein Grand, während die Mittelhand, obwohl sie nur 8 Angen in der Hand hat, Grand mit 62 Augen gewonnen hätte.

Wie sitzen die Karten und wie ist der Verlauf des Spieles?

Auflösung der Skataufgabe Nr. 7 auf Seite 772.

Der Spieler hat gZ, gO (+ 13) gedrückt, und die Karten sitzen so:
  Mittelhand: gW, sW, rZ, eO, e8, e7, sK, sO, g8, g7
  Hinterhand: eW, rK, r8, r7, eD, gD, gK, g9, s8, s7.
Der Gang des Spieles würde so sein:

1. r9 ! rZ, rK (– 41)
2. g7, eD, rD (+ 22)
3. sD, sO, s7 (+ 14)
4. sZ, sK. s8 (+ 14)

womit Spieler gewinnt. Dürften aber die Gegner g7 und g8 mit s7, s8 vertauschen, so würde der Spieler bei folgender Spielführung schwarz werden:

1. r9, rZ, rK
2. e7, eD, e9
3. gD, rD, sW,
4. sK[1], r8 !, s9
5. gK, rO, gW !!
6. sO, r7, sZ
7. eW !! rW, sO

und Hinterhand bekommt die übrigen Stiche, so daß der Spieler schwarz wird.


  1. Auch auf eO oder e8 würde Hinterhand einstechen und der Spieler schwarz werden.
Briefkasten.

D. G. in Wien. Vergleichen Sie gefl. die „Allgemeine Deutsche Skatordnung, angenommen vom ersten Deutschen Skatkongreß zu Altenburg“ (Leipzig, 1886), welche Sie durch jede Buchhandlung beziehen können. Als ein gutes Lehrbuch ist das „Illustrirte Lehrbuch des Skatspiels“ von K. Buhle (Leipzig, 1885) zu empfehlen.


Inhalt: Die beiden Schaumlöffel. Eine Künstlergeschichte von Klara Biller (Fortsetzung). S. 837. – Bessarabisches Mädchen. Illustration. S. 837. – Schloß Babelsberg. Von A. Trinius. S. 843. Mit Illustrationen S. 841 und 844. – Deutsche Elemente in Paris. Von Marie Calm. Mit Illustrationen S. 845. – Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 846. – Etwas vom Sparen. Ein Blatt für die Hausfrauen. Von Emil Peschkau. S. 850. – Blätter und Blüthen: Eine vergessene Jugendschriftstellerin. S. 851. – Prinzessin Andiguilla. S. 851. – Der Bauernphilosoph. S. 851. Mit Illustration S. 849. – Schriften von Daniel Sanders. S. 852. – Allerlei Kurzweil: Skataufgabe Nr. 8. Von Ernst Kaltschmidt. S. 852. – Auflösung der Stataufgabe Nr. 7 auf S. 772. S. 852.


Empfehlenswerthe Festgeschenke für das deutsche Haus.
Bock’s Buch
vom gesunden und kranken Menschen.
Dreizehte verbesserte und vielfach vermehrte Auflage.
Mit vielen Abbildungen in Holzschnitt, einer anatomischen Tafel in Buntdruck und dem Portrait des Verfassers in Stahlstich.
herausgegeben von
Dr. Max Julius Zimmermann
2 Bände elegant gebunden 14 M. 50 Pf.

Dieses eminente Familienbuch, welches seit seinem ersten Erscheinen überall als belehrender und helfender Hausfreund anerkannt und geradezu unentbehrlich geworden ist, wurde bisher durch die erschienenen zwölf Auflagen in 185,000 Exemplaren verbreitet.
Die neue Auflage ist von dem durch seine populär-medicinischen Arbeiten bekannten Herausgeber Dr. med. Zimmermann, einem Schüler Bock’s, auf das Sorgfältigste durchgesehen und den Fortschritten der stetig und rastlos sich entwickelnden Wissenschaft entsprechend mit zahlreichen Zusätzen, Berichtigungen und Ergänzungen versehen worden.
Für Familien, welche Bock’s Buch noch nicht besitzen, dürfte es kaum ein werthvolleres und nützlicheres Weihnachtsgeschenk geben.


Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
Zweite bedeutend vermehrte Auflage.
Elegant gebunden 5 Mark.

Das Buch zeigt der deutschen Frau, wie sie das Leben auffassen muß, um sich für alle Pflichten desselben die gleiche Geistesfrische und Ausdauer zu erhalten. Ueber alle Lebenslagen weiß die Verfasserin ein treffliches Wort zu sagen; sie ist das Muster einer deutschen Hausfrau.
Die „Vernünftigen Gedanken einer Hausmutter“ verdienen, als sinnigstes Geschenk für Frauen und Jungfrauen bestens empfohlen zu werden.

Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.