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Die Gartenlaube (1886)/Heft 1

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

No. 1.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.



Zum neuen Jahr.

Von
Hermann Lingg.

Bring’, Neujahr, im Strauß gewunden,
Was dein holder Gruß verspricht:
Hoffnungslicht in bangen Stunden,
Trost den Thränen, Heilung Wunden,

5
Friedens frohe Zuversicht!

Liebenden mög’ deine Schwinge
Nicht so rasch vorüberweh’n,
Hast du Kränze, bringst du Ringe?
Laß auch Treue fortbesteh’n!

10
Augenblick an Sonnenzeigern

Wie kein andrer goldbeschwingt,
Woll’ auch keinen Wunsch verweigern
Seebefahrern, Bergbesteigern,
Deren Glas dir heut’ erklingt!

15
Einen Sommer wie vergang’nen

flicht in unser Erdenglück,
Den Entfloh’nen als Gefang’nen
Bring’ in Rosen uns zurück!



[2]

Was will das werden?

Erstes Buch
Sie entsetzten sich aber Alle, und wurden irre, und sprachen 0
Einer zu dem Andern: Was will das werden?  
Apostelgeschichte II, V. 12  

Ich habe es später stets als seltsam, aber auch als für mich charakteristisch angesehen, daß ein wirklicher Traum die Pforte war, durch welche ich aus der traumhaften Dämmerung der Kinderzeit in das hellere Licht getreten bin, welches das erwachende Bewußtsein über die Knabenjahre breitet.

Es mag da auch eine Täuschung unterlaufen: ich habe gewiß auch schon vorher die Menschen und die Dinge gesehen und mir meine kindischen Gedanken darüber gemacht; aber was ich, und was um mich her vor dem Traum war, und das Nachher – es sind doch für meine Erinnerung zwei scharf gesonderte Sphären, wie des Mondes beleuchteter Rand und sein übriges Rund, das sich nur kaum in matterem Blau von dem dunklen Azur des nächtlichen Himmels abhebt. Ja, ich habe die Empfindung, als ob jener Abend nur deßhalb nicht, wie alle, die vorhergingen, für mich in der Nacht der Vergessenheit versunken ist, sondern deutlich vor meinem inneren Auge steht, weil er gleichsam schon die Schwelle ist jener Traumespforte. Und selbst auf das Bild der goldenen Mondessichel mit der mattblauen Scheibe dahinter wäre ich schwerlich jetzt verfallen, nur daß gerade an jenem Frühlingsabend das himmlische Gestirn eben diesen Anblick bot, und ich, der ich das Wunder zum ersten Male bemerkte, meinen Kameraden Emil Israel darauf aufmerksam machte, mit dem ich in dem Gäßchen vor den Thüren unserer benachbarten elterlichen Wohnungen spielte. Aber Emil sagte, er könne das nicht sehen und auch nicht den Stern, der rechts unter der Mondsichel stand, und der Mond habe auch keine Messingränder, sondern Fransen nach allen Seiten rothe und gelbe wie seiner Mutter Umschlagetuch – und wir wollten lieber weiter spielen. Da ich keine Ahnung hatte, was das ist: kurzsichtig sein, wie es doch der gute Emil schon damals in hohem Grade war, so ärgerte ich mich ein wenig über ihn, und dann hatte ich den Mond und den Aerger vergessen, und wir spielten weiter.

Das Gäßchen hinauf und hinab – hinauf, bis es in den kleinen stillen Platz vor der Johanniskirche einmündete, und hinab, bis aus der ersten der drei oder vier Matrosenkneipen an dem anderen Ende nach dem Hafen Gesang und Lärm unsere lauschenden Ohren trafen. Weiter durfte Emil nicht: sein Papa hatte es ihm streng verboten, und es hätte des Verbotes wohl nicht einmal bedurft bei dem schüchternen Jungen, den ein Zittern befiel, wollte ich ihn einmal verführen, die geheiligte Grenze zu überschreiten. Dann sagte er: thu’s nicht, Lothar, es sind böse Menschen! und faßte mich bei der Hand. Und wir liefen die Gasse wieder hinauf und lachten über die ausgestandene Angst, an der ich, trotz meines gespielten Wagemuthes, doch wohl mein gemessenes Theil hatte; und waren glüklich, wie es eben nur Kinder sein können, zumal in solcher Stunde, wo in der hereinbrechenden Nacht ihre kleinen Lebensflammen aufleuchten wie die Sterne; die frischere Luft ihre zarten Busen wie mit himmlischem Athem und die feinen Gliederchen mit elastischer Kraft füllt, daß sie sich nicht wundern würden, wenn sie plötzlich von dem holprigen Pflaster sich heben und hinüber und herüber durch den Aether schweben könnten wie zwitschernde Schwalben.

Dann sitzen wir auf der Bank neben den Hausthürstufen unter dem Fenster von „Großmutters Stube“; aber Großmutter ist halb taub und macht ihr Fenster nie auf, so können wir uns ungestört unsere kleinen Geschichten erzählen. Vielmehr ich erzähle und Emil hört zu. Emil erlebt nie etwas; mir begegnet Merkwürdiges zu allen Zeiten. Ich habe freilich in diesem Augenblick eine Ahnung davon, daß ich den schwarzen Kater mit den feurigen Augen auf dem Schimmel in Nachbar Hopp’s Pferdestall weder gestern Abend, wie ich behaupte, noch jemals habe sitzen sehen; aber indem ich es erzähle, werde ich immer dreister; denn nun sehe ich ihn doch leibhaftig mit dem krummen Buckel und dem hochgestellten Schweif und er faucht mich an, und der alte Schimmel schnaubt vor Angst und schüttelt sich – da fällt der Kater herunter und fliegt als Fledermaus zum Stallfenster hinaus.

Emil drückt sich bei dieser grausigen Geschichte näher an mich, sagt aber doch: „Weiter, Lothar!“ wie jedesmal, ich mag nun erzählen, was ich will. Es fällt mir just nichts ein, und ich schlage vor, noch ein bischen zu spielen; da kommt der „Malle Heinrich“ und setzt sich zu uns auf die Bank, die wohl nur für zwei Personen ist. Aber Emil und ich brauchen zusammen nich’ viel Platz und der „Malle Heinrich“ nimmt auch keinen großen Raum ein: ein fadendürrer, schlottriger alter Mensch, der von der Stadt das Gnadenbrot empfängt, und den man frei umher laufen läßt, weil sein Blödsinn völlig harmlos ist.

Es ist die zweite der Stunden, an denen der „Malle Heinrich“ umgeht: die neunte Abendstunde; die andere ist die sechste des Morgens. Was er in der Zwischenzeit vornimmt, weiß kein Mensch. Zu diesen Stunden aber schweift er durch die Gassen, immer still vor sich hin lächelnd und mit sich selbst halblaut schwatzend, glückselig, wenn ihn, was selten geschieht, einer des Wortes würdigt und er demselben aus der großen Zeit seines Lebens erzählen kann. Das war aber vor einem Lebensalter, als er die Stadtmusikanten, die von dem Thurm der Hauptkirche den Tag an- und abblasen mußten, regelmäßig begleitet hat zu ihrem luftigen Orchester oben, nachdem er ihnen unten die Thurmthür aufgeschlossen. Er ist schon damals blödsinnig gewesen; aber die Musikanten haben sich die Gesellschaft des kleinen Küsterjungen gern gefallen lassen, besonders des Winterabends, wenn er wie eine Katze mit der Laterne die steilen Treppen vor ihnen her hinauflief, plappernd und glückselig lachend, daß auch dem furchtsamsten Neuling die Angst darüber vergehen mußte.

Denn die Musik, die schöne Musik da oben auf dem Thurm hören zu dürfen, das ist seine Glückseligkeit. Er kennt keine andere, er verlangt nach keiner anderen, er denkt an keine andere, er träumt, er spricht von keiner anderen, heute wie vor dreißig Jahren. Nur daß heute in seinem armen wirren Kopfe Alles sich verändert hat – ganz verändert! Zum Beispiel die Nikolaikirche selbst. Seitdem die schöne Musik oben nicht mehr gemacht wird, ist der Thurm kaum größer als die anderen; damals hat er bis halb in den Himmel geragt. Und aus den Schallluken heraus hat man am hellen Sommermorgen die ganze Welt sehen können von einem Ende bis zum anderen, Alles im wunderschönsten Sonnenschein, während oben sich der blaue Himmel aufgethan hat. Den lieben Gott kann man nicht sehen; der sitzt auf der Sonne in lauter Glanz und Schimmer, daß man die Augen schließen muß. Aber die Engel hat er dann manchmal gesehen durch die geschlossenen Augen: sie haben rothe und grüne und blaue Flügel und tanzen Ringel-Ringel-Rosenkranz. Sobald man aber die Augen wieder aufmacht, sind sie gleich wieder im Himmel. Ein paarmal, als sie nicht schnell genug hinaufkonnten, haben sie sich in weiße Tauben verwandelt und sind mit den anderen Tauben geflogen – Konsul Riekelmann seinen Tauben – ein paarmal rund herum um den Thurm. Dann haben sie sich aufgeschwungen und husch! durch die blaue Luft wieder zurück in den Himmel. Es giebt aber nach böse Geister, die können sich verwandeln in schwarze Dohlen und glotzäugige Eulen. Sie kommen des Abends in der Dunkelheit und krächzen und schreien um den Thurm und klappern mit den Läden an den Luken und pfeifen und heulen aus Leibeskräften immer gegen die schöne Musik an. Denn die können sie für den Tod nicht leiden und möchten sie zerreißen, sobald sie aus den Luken herauskommt. Manchmal haben sie auch ganze Stücke abgerissen von der schönen Musik, und die Musikanten haben dann blasen müssen aus Leibeskräften gegen die bösen Teufel: Nun danket alle Gott! Da sind die Teufel gar wild geworden und haben an den Thurm geschlagen und ihn gerüttelt, daß er gewackelt hat; aber die Musik, die schöne Musik ist ihnen immer über gewesen, und am andern Morgen hat Gottes Sonnenthron noch einmal so herrlich geglänzt, und die Luft ist ganz voll von schönen Engeln gewesen, und haben Ringel-Ringel-Rosenkranz getanzt zu der Musik, der schönen Musik.

„Hast Du denn auch blasen können, maller Heinrich?“ frage ich

Ich weiß aber ganz genau, daß er das nur hören will, wenn er auch sehr verschämt thut und sich bitten läßt. „Blase einmal, maller Heinrich: ‚Wie schön leucht’ uns der Morgenstern!‘“

[3] „Das kann man mir am Morgen blasen,“ sagt der Malle Heinrich.

„Dann was Anderes!“

„Horch!“

Von der nahen Johanniskirche schlägt es neun. Der Malle Heinrich lauscht und zählt, und sobald der letzte Schlag verklungen, beginnt er auf der hohlen Hand zu blasen: Nun danket alle Gott! und wenn die Töne zu hoch oder zu tief werden, singt er den Text mit dünner meckernder Stimme, und dann bläst er wieder, und ich höre eifrig zu und blicke nach der Mondsichel hinauf, an der Wölkchen vorüberziehen mit gelben und röthlichen Rändern, die wie Flügel aussehen, und denke an die Engel, die des Morgens um Gottes Sonnenthron tanzen und manchmal sich in weiße Tauben verwandeln. Dabei mag ich wohl die Augen geschlossen haben – vielleicht in der Hoffnung, dann auch Engel zu sehen – als ich plötzlich einen Schritt neben uns höre und der Malle Heinrich jäh verstummt.

Vor uns aber steht mein Stiefbruder August, der Schlosserlehrling, die Mütze schief auf dem Krauskopf, die beiden Hände in den Taschen. Er kommt gewiß wieder aus einer von den Matrosenkneipen und ist berauscht. Nun schlägt er ein Gelächter auf, das mir häßlich durch die stille, mit Engelsträumen gefüllte Seele schrillt, und ruft: „Was thust Du hier auf unserer Bank, maller Heinrich?“ Und in demselben Augenblick hat er den alten Mann mit kräftigen Fäusten an den Schultern gepackt und von der Bank gerissen. Der arme Mensch taumelt ein paar Schritte seitwärts, stolpert und fällt, wobei er in ein klägliches Weinen ausbricht, wie ein kleines Kind. In dem Moment stürze ich mich auf August und schlage blindwüthend auf ihn los. Er ist so viel älter als ich, und ich könnte eben so gut hoffen, den Thurm der Johanniskirche umzuwerfen, als den Riesen niederzuringen. Es ist ein lächerlicher Kampf und ist doch ein Kampf, denn so oft er mich auch, halb lachend, halb ärgerlich, von sich abschüttelt: ich schnelle wieder empor, springe gegen ihn an, klammere mich an seine Beine, krampfe mich um seinen Hals, bis er mich wüthend von sich schleudert und ich mit der Stirn auf die scharfe Kante einer der Stufen der Hausthürtreppe schlage. Einen Schmerz fühle ich nicht, wohl aber ein fürchterliches Dröhnen durch den Kopf und raffe mich sofort wieder auf; aber die Häusergiebel tanzen um mich her, die Mondsichel fällt vom Himmel, mir gerade auf die Stirn; durch die Gasse vom Hafen saust und braust das Meer heran und schlägt über mir zusammen.

Als ich erwache, liege ich in meinem Bett und sehe beim matten Schein der Lampe, vor die irgend etwas gestellt ist, das Gesicht des Vaters, der an meinem Bett sitzt und gesenkten Hauptes bekümmert vor sich hinstarrt. Ich mag mich wohl geregt haben, denn er blickt schnell auf; ein freudiges Lächeln fliegt über das liebe blasse Gesicht, während er schnell in ein Waschbecken greift, das auf dem Stuhle bereit steht, die heiße Kompresse auf meiner Stirn mit einer frischen zu vertauschen. Das thut so wohl, und ich habe die Empfindung, daß keine andere Hand so leicht und zart sein könnte, wie des Vaters Hand, und will ihm danken und ihm sagen, daß ich gar nicht krank sei und er sich nicht ängstigen solle. Aber ich bringe es nicht über die Lippen. Plötzlich steht auch meine Mutter an dem Bett; sie mag wohl eben erst aus der Tiefe des Zimmers herangetreten sein oder hat auch zu meinen Häupten gesessen und sich just erhoben. Meine Blicke gehen von dem Vater, der dasitzt, zu der Mutter, die neben ihm steht, und ich bin sehr verwundert, denn der Vater bringt mich wohl oft zu Bett, aber die Mutter hat es schon lange, lange nicht mehr gethan, und ganz gewiß habe ich sie zusammen nie vor meinem Bette gesehen. Ich bin also wohl recht krank und will aus großem Mitleid mit mir anfangen zu weinen, bis mir plötzlich einfällt, daß, wenn ich sehr krank bin, ich gewiß morgen nicht zur Schule zu gehen brauche und den ganzen Tag spielen darf im Hof und in dem Wallgarten, oder beim Vater in der Werkstatt, während er hobelt und schneidet und leimt, und ich auch hoble und schneide und leime, aber keinen Sarg für Nachbar Hopp’s Gustav, sondern ein schönes großes Segelboot, das ich hinter dem Wall im Wasser schwimmen lassen kann.

So lächle ich denn dem guten Vater zu, ganz schon im Geist bei dem schönen Spiel morgen, und schlafe wieder ein und spiele weiter im Traum.

Aber nicht im Hof, im Wallgarten oder bei dem guten Vater in der Werkstatt, sondern in einem großen grünen Walde. Es kann aber auch eine Wiese sein, nur daß dann die Gräser so hoch wie Bäume sind, die sich geschmeidig aus einander thun, wenn ich hindurch will, die bunten Blumen zu pflücken, die unten wachsen. Manchmal aber sind die Blumen hoch über mir, daß ich nicht hinauflangen kann, und wiegen die großen Kelche hin und her, während bunte Vögel mit breiten weichen Flügeln um sie flattern. Ich weiß freilich, daß es keine Vögel, sondern Schmetterlinge sind, nur daß ich so große und bunte nie gesehen habe. Dann ist der Wald zu Ende, und vor mir breitet sich ein großes Wasser, das blitzt und blinkt im Sonnenschein, indem es an mir vorüberschießt. Oder ist es unter mir? Wohl unter mir, denn die großen Vögel, die unten auf dem Wasser schwimmen und, sich aus dem Wasser aufrichtend, mit den Flügeln nach mir schlagen und dazu die Schnäbel aufsperren und laut quaken, schießen unter meinen Füßen weg, und ich schwebe wie in der Luft und staune den mächtigen Wasserberg an, in dem sich immer etwas Dunkles klappernd dreht, und oben über dem klappernden Wasserberg hängt eine weiße Wolke, in der schimmert es bunt, und manchmal fliegt von der schimmernden Wolke etwas zu mir herüber und näßt mir das Gesicht und das Kleidchen. Es ist ein weißes Kleidchen, und ich wundere mich, wie ich in das weiße Kleidchen komme, das sich doch gar nicht für einen Quintaner schickt. Ich will das rothe Schälchen, das ich um den Leib habe, abknüpfen, um damit nach den Enten zu schlagen, und kniee auf dem Brückensteg, der auf einmal unter mir zittert, und dann hat mich ein Mann von dem Rande weggerissen und trägt mich von der Brücke und über den grünen Wald, in welchem ich vorhin gespielt habe, der aber nun, wie mich der Mann in seinen Armen trägt, tief unter mir liegt. Ich habe mich unterdessen von meinem Schrecken erholt, und weil die blauen Augen des Mannes so dicht über mir sind und so glänzen, fasse ich danach, so oft er den Kopf zurückbiegt, und ich nur noch bis an seinen Bart langen kann, an dem ich ihn zause. Er lacht und legt mich lachend einer Frau auf den Schoß, die mich mit Küssen bedeckt, während der Mann dabei steht und mit den glänzenden blauen Augen von seiner Höhe auf uns herabsieht.

Der Traum wandelt sich. Wieder schimmern die glänzenden Augen über mir, aber jetzt nicht in Güte, sondern in Zorn, und der Mann hebt sich aus einem Stuhle auf, vor dem meine Mutter auf den Knieen liegt und mich an sich zieht, und ich kniee neben ihr, wie des Abends in meinem Bettchen, wenn ich ihr das Gebet nachspreche. Ich weiß nicht, wie wir dahin gekommen sind; ich weiß auch, daß ich noch nie in dem Raum gewesen bin, der mir endlos scheint und in welchem ich mich verwundert umsehe, während ich so auf den Knieen liege mit gefalteten Händen. Auf dem Tisch steht eine Lampe, und der ungeheure Raum ist mit einem goldigen Halbdunkel gefüllt, aus dem hier und da Gesichter blicken, und in welchem seltsame Gestalten stehen, vor denen ich mich fürchte, so daß ich die Mutter am Kleid zupfe und sie bitte, daß wir wieder fort möchten. Die Mutter hört nicht auf mich, und ich fange an zu weinen, und die Mutter weint auch, während der Mann sie aufhebt und an sich zieht und auf die Stirn küßt. Dann ist es nicht mehr in dem goldschimmernden Raum mit den Gesichtern und Gestalten, die aus dem goldigen Halbdunkel quellen, sondern draußen im Freien, und die Mutter schluchzt immer leise vor sich hin, während sie mich durch die Nacht trägt und die Sterne oben flimmern. Zuletzt sind wir vor dem klappernden Wasserberg. Ich weiß es, obgleich es jetzt dunkel ist und ich den Wasserberg nicht sehe, sondern nur sein Klappern höre, und fühle, wie er mich mit seinem kalten Athem anhaucht. Die Mutter steht mit mir an dem Geländer des Stegs, und ich sehe unten im Wasser die Sterne tanzen. Sie biegt sich über das Geländer; ich fange an, mich zu ängstigen, ich weiß nicht, ob deßhalb, weil sie so weint, oder weil ich fürchte, sie wird mich fallen lassen, und ich klammere die Aermchen fest um ihren Nacken. Sie drückt und preßt mich an sich, und dann verschlingt sie und mich etwas Fürchterliches, das ganz schwarz und kalt ist und saust und braust.

Ueber dem Fürchterlichen fahre ich mit einem Schrei aus meinem Fieberschlaf auf und starre um mich her. Es dauert einige Zeit, bis ich mich zurecht finde. Der Traum ist so sonderbar deutlich gewesen. Ich blicke nach den Gesichtern, die aus dem goldigen Halbdunkel hervorgeschimmert haben, und frage den Vater, wo sie geblieben sind? und der Mann mit den blitzenden Augen und der klappernde Wasserberg? Der Vater murmelt etwas von

[4]

Plauderei.0 Von Franz von Defregger.
Photographie im Verlage von Fr. Hanfstängl in München.

[5] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [6] Wiederschlafensollen, während er mir eine frische Kompresse auf die Stirn legt, in der ich jetzt arge Schmerzen habe. Wie er sich dabei über mich beugt mit seinem lieben guten blassen Gesicht, ist es mir, als ob ich ihn zum ersten Male sähe. Und ich sehe, daß er ein alter Mann ist und nicht der Mann mit den blitzenden blauen Augen gewesen sein kann, vor dem meine Mutter und ich auf den Knieen gelegen haben.

Ich richte mich auf dem Ellbogen auf und sehe mich nach der Mutter um, als ob ich ihr diese sonderbare Entdeckung mittheilen müßte. Aber die Mutter ist nicht mehr da. Der Vater fragt mich, ob ich trinken wolle? Ich sage: ja, und trinke gierig ein paar Schlucke aus dem Glas, das er mir an den Mund hält. Dann sinke ich auf das Kissen zurück und starre in das gute, blasse, bekümmerte Gesicht des alten Mannes, und denke an den schönen Mann mit den blitzenden Augen, bis ich, was wohl schon nach wenigen Sekunden geschehen sein mag, wieder in meinen Fieberschlaf verfalle.


2.

Ich weiß nicht, wie lange meine Krankheit gewährt hat, aber es mögen Wochen gewesen sein, und als ich wieder aufstehen und auf dem Wall hinter dem Gärtchen spielen durfte, war ich ein ganz Anderer, als der an jenem Abend mit Emil Israel in der dunklen Gasse gespielt hatte.

Auf dem Wall aber hinter dem Gärtchen brachte ich jetzt in der Zeit der Genesung manche Stunde zu, mit den durch die Krankheit und die Nachwirkung des Traumes verwandelten Sinnen in die Welt blickend, die ich jetzt zum ersten Mal wirklich gesehen haben kann, denn wie ich sie damals sah, so ist sie in meiner Erinnerung geblieben; und will ich sie mir in ihrem vollen Glanze zurückrufen, stehe ich sicherlich im Geist auf dem Walle hinter dem Gärtchen und blicke in die Zauberwelt hinein.

Ja, die Zauberwelt! Süßer können die Vögel im Paradiese nicht gesungen, heller kann der Himmel nicht geblaut, kann die Sonne nicht geglänzt haben! Die Vögel aber sangen in der Wildniß der Haselsträuche, mit denen der Wall überdeckt ist, hier dünner, dort dichter; und zwischen den Haselsträuchen nickte langes Gras, das niemals geschnitten wurde, und gelbe Butterblumen, über denen große weiße Schmetterlinge sich in der blauen Luft wiegten.

Der Wall mochte in der Befestigung der Stadt einmal eine Rolle gespielt haben – in den Schwedenzeiten vielleicht, als es galt, diese Seite des Hafens vor einem Angriff von der See her zu schützen. Jedenfalls hatte er seit urvordenklicher Zeit jede fortifikatorische Bedeutung verloren und war herrenloses Terrain geworden, auf dem die Anwohner der Hafengasse, als auf ihrem Eigenen, schalteten, mit ihren Gärtchen bis auf die Höhe hinaufkletternd und oben auf den sonnigen Stellen ihre Wäsche trocknend, ihr Leinen bleichend, während die Kinder in den Büschen Räuber und Gendarmen spielten oder auch an hellen Sommermorgen, während die anderen in der Schule saßen, ein kleiner Träumer wie ich das ganze Gebiet für sich allein hatte und ungestört nach allen Richtungen durchschweifen mochte.

Nach der Seeseite fiel der Wall steiler ab, so daß man nur auf einigen Stellen, wo das Erdreich über die Futtermauer unten bis an das Wasser gerutscht war, sicher hinab gelangen konnte. Das Wasser aber bildete hier eine Bucht, die früher wohl ein Stück vom Hafen gewesen, jetzt aber völlig versandet und verschlammt war, so daß die paar kümmerlichen, den Anwohnern gehörigen Boote nur wenn der Wind von Westen, von der See, kam, flott gemacht werden konnten. Hatte aber der Wind ein paar Tage vom Lande geweht, so staken die Boote halb oder ganz in dem schwarzen Schlamm, über den man auf Steinen, die nun hervortraten, bis zu den Booten und über dieselben hinaus auf reinlichen Sand gelangen konnte, um da alle möglichen merkwürdigen Dinge zu finden: todte Fische, Muscheln, die das Meer zurückgelassen; dazu Tauenden, zerbrochene Ruder, Korkstöpsel, zerfetzte Bastkörbe, zerbrochene Cigarrenkästen und der Himmel weiß, was noch sonst von dem eigentlichen Hafen herübergetrieben war. Der Hafen lag zur Linken vor der eigentlichen Stadt, durch ein Stück freies Wasser, das für das Kinderauge außerordentlich breit schien, von uns getrennt: mit seinen großen und kleinen Schiffen, von deren Masten die bunten Wimpel flatterten, und dem Gewimmel der Boote, die zwischen den Schiffen hin und her fuhren, während von der Werft, je nach dem Stand des Windes, das Klopfen der Hämmer und Schlägel und der Duft des Theeres mehr oder weniger deutlich und scharf herüberkam. Hinter dem Hafen die Stadt mit ihren Häusermassen und ragenden Thürmen, alles umflossen von goldigem Morgensonnenschein.

Denn im Morgensonnenschein sehe ich, was ich hier zu schildern versuche, nur im goldigsten Morgensonnenschein, als hätten die bösen Geister des Mallen Heinrich gestern Abend gar schlimm gegen den Nikolaithurm und die schöne Musik gewüthet, und der liebe Gott lächle über die gerettete Erde mit seinem gütigsten Lächeln. Ueber die Erde und das Meer! Ueber das noch besonders! Wie blaut es in seiner stolzen Breite, zwischen dem Festlande und der Insel drüben sich westwärts in das Endlose dehnend! Wie glitzert und blinkt es in der Nähe, übersäet von Millionen hüpfender goldener Sternchen! So, daß es die ganze Schärfe des Kinderauges erfordert, um die Möve wiederzufinden, deren schneeweiße Fittige eben noch durch die blaue Luft schwingten, und die sich jetzt, die Fittige zusammenlegend, niedergelassen hat in dem Meer von goldnen Sternchen, Und von des Mallen Heinrich schöner Musik ist noch ein gutes Stück übrig geblieben; ja, das ganze wonnige Erden- und Meeresrund ist von ihr erfüllt. Ist es nicht Musik, das dumpfe taktmäßige Geräusch der zwischen den Pricken sich reibenden Ruder von dem Boot, das da durch das glitzernde Wasser gleitet? Die Entfernung ist nicht gering – ich kann nur eben noch unterscheiden, daß ein Mann rudert und im Stern eine Frau mit einer hohen Kiepe sitzt, die sie vor sich gestellt hat; aber die Stille ringsumher ist so groß – ich kann hören, wenn sie von Zeit zu Zeit mit einander sprechen. Ist es nicht Musik, das leise Plätschern der Wellchen unten an der Futtermauer? Denn es ist heute Hochwasser, obgleich das Meer ganz ruhig ist; und ich habe nicht hinabgekonnt, sondern bin oben auf dem Wall und kaure da auf meinem Lieblingsplatz im Schatten von ein paar besonders hohen und dichten Haselsträuchen, in denen zu meinen Häupten auf schwankem Zweig ein Vögelchen sitzt und, ohne sich durch meine kleine, stille Gegenwart stören zu lassen, sein Liedchen singt; wenn es schweigt, antwortet sofort ein zweites aus einem etwas hinter mir stehenden Gebüsch. Das ist gewiß Musik. Aber für mein empfängliches Kinderohr ist es auch das Gezwitscher der Spatzen, die sich durch die Büsche jagen; und ganz gewiß auch das Gackern des Huhns, das eben, häufig den Kopf mit dem gerötheten Kamm wendend, durch das nickende Gras herankommt. Es ist eines von Nachbar Hopp’s schwarzen Hühnern (wir haben keine) und will gewiß ein Ei legen und hat sich dazu vermuthlich meine Büsche ausgesucht, denn, wie es meiner gewahr wird (trotzdem ich mich ducke und den Athem anhalte), kräht es ordentlich vor Schrecken und Aerger, macht Kehrt und läuft in der Richtung, aus der es gekommen, zurück, lauter und ängstlicher als zuvor gackernd. Ich folge ihn, und sehe nur noch eben, wie es von dem Wall hinab in den Hopp’schen Hof fliegt zum Schrecken der andern Hühner, die auseinanderrennen und, des Hahns, der einen durchdringenden Warnruf erschallen läßt und, als er sieht, daß die Sache nichts zu bedeuten hat, sich aufrichtend, mit den Flügeln schlägt und dazu mächtig kräht.

Aber meine Aufmerksamkeit ist bereits von den Hühnern weg nach dem Leichenwagen gerichtet, der aus dem Schuppen gezogen ist und von Karl Brinkmann, dem Fuhrknecht, abgewaschen wird. Die schwarzen Tücher, die sonst von dem Verdeck herab gardinenmäßig nach den Seiten zusammengenommen sind, hat Karl Brinkmann, um sie nicht naß zu machen, über das Verdeck hinauf geschlagen, so daß man nur die nackten vier Säulen sieht. Dazu pfeift Karl Brinkmann, während er mit dem leeren Eimer nach der nahen Pumpe geht, den kreischenden Schwengel schwingt, mit dem gefüllten nach dem Wagen zurückkehrt und das Wasser durch die Räder gießt, daß es klatscht. Ich wundere mich, ob das wirklich derselbe Wagen ist, in welchem sie vor meiner Krankheit meinen Freund Gustav, eines der vielen Kinder des Fuhrherrn, auf den St. Johanniskirchhof gefahren haben; und Karl Brinkmann selbst hat ihn gefahren, und hinterher kamen sämmtliche vier Hopp’sche Kutschen mit Vater und Mutter Hopp in der ersten, und die Verwandten und Befreundeten, zu denen auch mein Vater gehörte, in den anderen. Und Karl Brinkmann, der jetzt in bloßem Kopf und in Hemdärmeln ist, hatte einen großen Dreispitz auf, von dessen Ecken Trauerflore herabhingen, und einen großen schwarzen Mantel mit vielen Kragen an und hatte ein so feierliches Gesicht gemacht! Denn Gustav war sein großer Liebling gewesen, und unter seiner Anleitung schon fast ein richtiger [7] Kutscher geworden, der die Pferde an- und abspannen konnte und mit ihm zu dem Schmiede Papendiek unten in der Hafengasse oder in die Schwemme draußen vor dem Schwedenthore ritt. Das ist alles so kurze Zeit her – als wenn es gestern gewesen – und Karl Brinkmann ist in Hemdärmeln und kann pfeifen, während er den Wagen wäscht, auf dem er Gustav Hopp nach dem Kirchhof gefahren vor dem Schwedenthore!

Was dem kleinen Träumer da oben durch den Kopf geht? Er bringt es nicht recht zusammen, aber eine Ahnung der Vergänglichkeit des Irdischen mag es doch gewesen sein, wohl erklärlich und begreiflich bei dem Zehnjährigen, der eben erst aus einer schweren Krankheit erstanden ist, in welcher er so wunderliche Dinge geträumt, und dem die Großmutter in ihrer häßlichen Weise erst gestern gesagt hat, der kleine gelbe Sarg, der eben fertig in der Ecke von Vaters Werkstatt stand, sei für mich gewesen, und es sei schade, daß er nun leer bleiben sollte.

Ich habe dem Vater die bösen Worte der Großmutter weinend wiedererzählt, und er hat mich in seiner milden Weise beruhigt: die Großmutter meine es nicht so schlimm; sie meine überhaupt gar nichts, denn sie habe einen schwachen Kopf und rede nur, um zu reden. Den kleinen gelben Sarg aber habe er auf Vorrath gearbeitet, und leer werde derselbe wohl nicht lange bleiben: es stürben heuer gar viele Kinder.

Ist es der Gedanke an den immer Gütigen und Liebevollen, den ich in der Werkstatt zu finden sicher bin; oder bin ich des Umherschweifens oben auf dem sonnigen Wall müde – ich gehe den schmalen abschüssigen Pfad durch unser Gärtchen, in welchem es süß nach Reseda duftet, hinab in den Hof, mich der schattigen Kühle freuend, die mich da umfängt. Es ist in meiner Erinnerung immer schattig und kühl in dem schmalen Hof, denn auf der einen Seite ragt die kahle hohe Hinterwand von Nachbar Hopp’s Wagenremise mit dem steilen Dache darüber, und auf der andern steigt über des Vaters Werkstatt und dem Holzschuppen die Mauer von Nachbar Israel’s Kornspeicher noch viel höher, kahler und steiler empor. In Wirklichkeit ist der so eingeschlossene Raum wohl etwas dumpf und feucht gewesen und erfüllt von einem leichten Modergeruch, der aus dem mit Gras und Lattich hier und da übersponnenen Pflaster, den frisch geschnittenen Brettern, den verrottenden Spähnen und den Oelfarbetöpfen aufstieg. Aber ich weiß nichts davon, vielmehr athme ich den Duft mit Behagen ein, und ich brauche nur die Augen zu schließen und mir den Duft zurückzurufen, um mich im Geiste an den Ort zu versetzen und in die wohlige Empfindung, mit der ich an jenem Morgen aus der Sonnenhelle oben in den kühlen Schatten des Hofes trete.


3.

Der Vater ist in der Werkstatt und ich sehe ihn durch die jetzt im Sommer stets offene Thür ein Brett hobeln. Er ist allein; mein ältester Bruder Otto, den er sich zum Gehilfen und Gesellen heranzieht, wird eine Kommission in der Stadt haben. Das Brett, an welchem der Vater hobelt, ist die Rück- oder Vorderwand eines Sarges. Der Vater arbeitet fast nur Särge; er hat in der Stadt dafür das Monopol, welches er, wie er mir selbst gesagt, der Nachbarschaft des Fuhrherrn Hopp verdankt. Denn weil man nothwendig den Leichenwagen von Herrn Hopp nehmen muß, da es kein anderes Geschäft der Art in der Stadt giebt, bestellt man gleich den Sarg nebenan bei Tischler Lorenz: es ist dann nur ein Weg. Auch fragt es sich, ob Nachbar Hopp die Leiche fahren würde außer in einem Sarge von Nachbar Lorenz. Die Särge aber sind unweigerlich gelb, während sie, bevor mein Vater in die Stadt kam, ausnahmslos schwarz Waren. Er hat die Mode eingeführt. Er meint, der Tod sei ohnedies, wenn auch nicht für den Todten, so doch für die Zurückbleibenden traurig genug und das Grab dunkel genug; so möge der Todte über und unter der Erde ein freundliches Haus haben. Deßhalb ist auch jeder Sarg, der aus seiner Werkstatt kommt, ein kleines Kunstwerk mit zierlichen Hohlkehlen, Knäufen und sonstigen schmuckhaften Zuthaten, die man nicht bestellt hat und auch nicht bezahlt, und die er deßhalb mit Vorliebe gerade an den Särgen der armen Leute anbringt.

Ich gehe nicht direkt in die Werkstatt, sondern sehe erst nach meinen Kaninchen, denen ich an der Ecke des Hofes (da, wo die Werkstatt an das hölzerne Gartengitter stößt) eine Wohnung bereitet habe, in welcher meine Augen den Triumph der Erfindsamkeit erblicken. Der Haupttheil besteht aus einer großen umgestülpten Kiste, deren Vorderwand sich in der oberen Hälfte aufklappen läßt, so daß man einen vollen Einblick in den Familiensaal hat, ohne daß doch die Bewohner ohne Weiteres heraus können. In der Hinterwand aber ist unten auf jeder Seite je eine viereckige Thür, durch welche man, das heißt die Kaninchenfamilie, in die eigentlichen Wohnräume gelangen kann, die sich in einer zweiten, aber flacheren Kiste befinden. Das Ganze ist mit Erde und Rasen bedeckt, so daß es als ein kleiner grüner Berg erscheint, auf welchem auch Blumen wachsen; dazu sind die Pflastersteine unten entfernt und so der minirenden Thätigkeit der Bewohner keine Schranke gesetzt, was sie sich denn auch durchaus zu Nutz und geheimnißvolle Hinter- und Ausfallspforten in das Wallgärtchen gemacht haben, durch die sie aber nur des Abends und mit großer Diskretion schlüpfen, zu meiner größten Verwunderung und zum Ergötzen des Vaters, der mit mir seine Freude an den Thierchen hat, wenn sie im Halbdunkel zwischen den Büschen herumhuschen. Daß er sie während meiner Krankheit gemeinschaftlich mit meinem Freunde Emil Israel treulich gepflegt und abgewartet hat, versteht sich für mich von selbst.

Ich habe ihnen jetzt das vom Walle mitgebrachte frische Futter gegeben und gehe zum Vater in die Werkstatt. Er nickt mir freundlich zu und fährt in seiner Arbeit fort; ich setze mich ermüdet still hin und blicke unverwandt in sein liebes Gesicht, als ob ich es noch nie gesehen hätte, und ich glaube, ich habe es an diesem Morgen im eigentlichen Sinne wirklich zum ersten Male gesehen. Denn, wenn ich jetzt des guten Mannes denke, erscheint mir sein Bild sicherlich stets, wie ich es zu jener Stunde sah, während ein schräger Sonnenstreifen, in welchem Millionen Staubatome tanzen, über dem Dache von Nachbar Hopp’s Wagenremise durch die beiden oberen, in allen Farben schillernden Scheiben des verstäubten Fensters in der Werkstatt fiel und, wenn er sich gelegentlich von seiner Arbeit aufrichtete, um die Kante des Brettes, an welchem er hobelte, zu prüfen, seinen Kopf streifte. Der Kopf erglänzte dann aber in dem Sonnenlichte, denn er war ganz kahl bis auf einen schmalen Kranz grauen krausen Haares, von dem ich jetzt, wo er mir das Gesicht zuwandte, nichts sah, als je einen Tupfen über den Ohren. Das schmale blasse, in der unteren Hälfte von einem grauen krausen Bart bedeckte Gesicht hatte stets einen ernsten, aber keineswegs wehmüthigen oder kummervollen, vielmehr eigentlich heiteren Ausdruck, besonders wenn er, was sehr oft, aber immer nur für Momente, geschah, lächelte, wobei sich dann um die Ecken der hellblauen Augen, die fast keine Brauen hatten, kleine freundliche Fältchen zogen, welche mit dem Lächeln gleich wieder verschwanden. Die Augen waren groß, aber für gewöhnlich halb von den Lidern bedeckt, was mit daher kommen mochte, daß sie so viele Stunden auf die Arbeit gesenkt blieben. Wenn er sie aufschlug, hatten sie einen zugleich träumerischen und erstaunt fragenden Ausdruck, wie ich ihn später nur noch in Kinderaugen beobachtet habe. Kein Wunder freilich, da keines Kindes Seele reiner und harmloser sein konnte, als dieses guten Mannes, der so viel erduldet hatte und erduldete, ohne daß die Fülle seiner Liebe auch nur durch einen Gran von Menschenhaß abgemindert, oder die Taubenfrommheit seiner Seele durch ein Minimum von Schlangenklugheit getrübt worden wäre.

Und diese guten Augen mit dem träumerisch erstaunt fragenden Blick richtet er nun auf mich.

„Wo bist Du gewesen, Kind?“

Er nennt mich immer „Kind“, im Gegensatz zu meinen Geschwistern, die so viel älter sind als ich und die er stets bei ihren Vornamen nennt.

Ich fange an, meine kleinen Erlebnisse zu erzählen, und unterbreche mich, weil ich bemerke, daß der Sarg, welcher nach Aussage der Großmutter für mich bestimmt gewesen ist, sich nicht mehr in der Werkstatt befindet.

„Ich sagte Dir ja, er würde nicht lange leer bleiben,“ erwidert der Vater auf meine Frage, „und es ist ein recht trauriger Fall, aus dem Du auch lernen kannst, Kind; denn Dir hätte dasselbe schon hundertmal passiren können.“

Ich höre mit gespanntester Theilnahme, was nun der Vater berichtet.

(Fortsetzung folgt.)

[8]

Altdeutsches Edelfräulein.
Originalzeichnung von Alexander Gierymski.

[9]

Die Andere.

Von W. Heimburg.

An die gnädige Frau!“ sagte das Stubenmädchen und überreichte meiner Großmutter, der Frau von Werthern, einen Brief. Die alte Dame fuhr aus ihren strickenden und nickenden Träumen empor, ließ die Arbeit sinken, zog die über die Stirn hinaufgeschobene Brille vor die Augen und studirte die Aufschrift.

Es war still im Zimmer, so unheimlich still, wie es nur sein kann nach Tagen des lautesten Schmerzes, nach den Stürmen trauriger Schicksale; seit zwei Wochen war wohl kaum ein Wort gesprochen, das nicht gerade zu den allernothwendigsten gehört hätte. Nun erschrak ich beinahe, als die Stimme der alten Frau so energisch zu mir sagte:

„Tone!“

„Liebe Großmama?“

„Rufe die Lotte!“

Ich erhob mich und ging in das Nebenzimmer. Es war unser sogenanntes Boudoir; die Meubel meiner verstorbenen Mutter standen darin, meine Blumen, Lottens Klavier und Staffelei, und den Boden deckte ein weicher Teppich.

„Lotte?“ fragte ich, als ich sie nicht gleich erblickte; da richtete sie sich vom Sofa empor und sah mich mit verweinten Augen an, deren Glanz doch alle Thränen nicht hatten verdunkeln können.

„Was soll ich denn?“ fragte sie mit ihrem hellen, eigenthümlich klangreichen Organ und schüttelte die langen Zöpfe in den Nacken zurück. „Ist Besuch gekommen?“

„Nein, Lotte; Großmama will mit uns reden.“

Sie seufzte und folgte mir; wir kamen zusammen zu der alten Dame. Sie betrachtete uns erst ein Weilchen kummervoll über die Brillengläser hinweg, dann reichte sie mir das Schreiben. „Vorlesen, Tone!“ sagte sie kurz.

„Von wem?“ fragte Lotte.

„Abwarten, Prinzeßchen!“ lautete die Antwort. „Hierher setzen, Kind!“ scholl es gleich darauf. Lotte hatte eine fluchtartige Bewegung gemacht; nun sank sie aber gehorsam auf den nächsten Stuhl, senkte den Kopf und hielt die Hände gefaltet auf dem Trauerkleide. Es sah sehr ergebungsvoll aus, aber ich kannte das verrätherische Zucken um die feinen Nasenflügel nur allzu gut. Nun las ich:

 „Meine beste Frau von Werthern!

Ihr lieber Brief hat mich recht aufgeregt und erschreckt. Was ist der Mensch – mußte ich mich fragen – daß er den Kopf so hoch trägt und sich so groß dünkt? Ein kleiner Zufall – und vorbei ist’s mit aller Pracht und Herrlichkeit! Ach, gute Werthern, es ist schwer, einen Menschen sterben zu sehen, aber das Allerschwerste, wenn es ein Kind ist, das Gott zu sich fordert. Und, darum drücke ich Ihnen im Geiste die Hand und sage, daß ich mit Ihnen fühle und mit Ihnen traure um Ihren Sohn. Ich habe auch Drei hergeben müssen, drei große prächtige Jungen – aber, still davon, liebe Werthern. Sie sind auch noch schlimmer daran; er war Ihr Einziger!

Was Sie nun sonst noch an mich geschrieben, will ich gleich beantworten, Leben läßt sich’s hier bei uns, theuer ist’s nicht, Wohnungen sind da; zwar keine Berliner Etagen im Geheimrathsviertel, aber gemüthlich und traulich. Mein Fritz hat ausgerechnet, mit dem, was Sie zu verzehren haben, leben Sie hier wie die Frau Fürstin selbst. Na, das heißt, besser jedenfalls wie in der Großstadt. Es sind doch fünfhundert Thaler ganz nett für drei Damen, und wenn die jungen Mädchen thätig im Hanse, und Sie begnügen sich mit einer Bedienung, so können Sie sich aller Ihrer Sorgen entschlagen. Was uns anbetrifft, so stehen wir Ihnen mit Rath und That gern zur Verfügung. Ich weiß auch ein nettes Quartier in unserer Nähe, und wenn Sie kommen mit den Enkelinnen, so wohnen Sie zuerst bei uns.

Es ist lange her, seit wir uns zuletzt gesehen! Da waren Sie noch die Seele, der Mittelpunkt unserer Geselligkeit, und ich eine junge lebenslustige Frau; da lebte mein guter Mann noch, und die Jungen waren klein, und in Borsfelde tanzten wir auf der Tenne beim Erntefest. Nun sind die Blätter von den Bäumen gefallen, gute Frau von Werthern, und die Schwalben fortgezogen; Borsfelde ist in fremden Händen und der junge lebenslustige Officier, der so tapfer mit uns tanzte dazumal – todt, und seine Töchter stehen als Waisen vor Ihnen, Aber –“

Hier brach der Brief ab, und eine Thränenspur zog sich bis zur Unterschrift:

„Fritz und ich grüßen herzlich. Unverändert Ihre treu ergebene Friederike R.“ 

Dann kam noch ein Postskriptum: „Die Wohnung, die ich meine, kostet jährlich sechszig Thaler.“

„Das wäre recht,“ nickte die Großmutter nach einer langen Pause, „Setze Dich hin, Tone, und schreibe, sie soll das Quartier miethen und ich lasse für freundliche Auskunft danken.“

„An wen?“ stammelte ich erschreckt, und wir sahen Beide verständnißlos das alte Frauengesicht an, das so ruhig wieder auf ihr leise klapperndes Strickzeug blickte,

„An die Amtsräthin Roden.“

„In?“

„In Rotenberg.“

„Wir wollen dahin ziehen, Großmama?“ forschte ich.

„Ja wohl, zum Oktober.“ Sie ließ das Strickzeug wieder sinken und sah von mir zu Lotte hinüber. Das schöne Mädchen war dunkel erröthet, und ihre Lippen bissen auf den Zipfel des feuchten Taschentuches, das sie zusammengeballt in der Hand hielt.

„Hier bleiben können wir nicht,“ sprach die alte Frau sanft, „diese Etage kostet genau so viel, als wir fortan jährlich zu verzehren haben. Mit Eurem Vater verlort Ihr auch das sorgenfreie Leben, und den letzten Rest seines Vermögens nahm der Hans in Gestalt mühsam bezahlter Wechsel und Rechnungen mit nach Amerika. Ihr wißt Euch aber zu schicken und zu fügen, hoffe ich, und werdet mir das tragen helfen, was mich am Rande des Grabes noch so hart getroffen. Auch Du, Prinzeßchen – wie? Gieb mir die Hand.“

Das Mädchen hatte sich erhoben, legte einen Moment seine Hand in die verwelkte Rechte der Sprechenden, riß sich dann hastig los und schritt hinaus. Vom Nebenzimmer drang ein kurzer Laut herüber, es war halb wie Lachen, halb wie Schluchzen, dann ward es still. Ich saß am Schreibtisch und hielt die zitternde Feder über dem Papier; es wollte mir gar nicht gelingen zu schreiben an diese unbekannte Frau Amtsräthin, nach diesem unbekannten Orte, wohin das Schicksal uns werfen wollte und von dem ich weiter nichts wußte, als daß in seiner Nähe Borsfelde liegt, das ehemalige Werthern’sche Familiengut, welches schon vor vielen Jahren unglückliche Verhältnisse uns genommen hatten.

Als ich endlich fertig war und das Schreiben der Großmutter zur Durchsicht brachte, sah die alte Frau bekümmert zu mir empor. Ich habe nie wieder ein Paar so kluge alte Frauenaugen gesehen; – freilich fehlte ihnen für gewöhnlich jede Spur von Milde, und einen feuchten Schimmer erblickte ich nie darin. Selbst am Begräbnißtage meines Vaters, ihres einzigen Sohnes, war keine Thräne aus ihnen geflossen. Und dennoch sah ich gern in diese hellen Augen; man mußte Vertrauen zu ihnen fassen, es spiegelte sich in ihnen ein ganzes Menschenleben, vergangen in peinlichster Pflichterfüllung und Ehrenhaftigkeit. Streng, klar, bewußt war ihr Ausdruck, wie die Frauen ihn bekommen, die in ihrem Gatten nur ein großes Kind besitzen und, statt einen Halt zu finden, in ewiger Sorge und Unruhe über ihn zu wachen genöthigt sind, damit Alles seine Ordnung behält, das Haus, die Wirthschaft, die Kinder. Mein Großvater war ein solches Kind gewesen, leichtsinnig, heftig bis zum Jähzorn und herzensgut. Es lag so in der Werthern’schen Art.

„Es ist gut, Tone. Jetzt sage mir, wie denkst Du über unseren Plan?“

„Mir ist Alles recht,“ gab ich zurück, völlig verwundert; ich war so selten im Leben um meine Meinung befragt worden.

„Gut; Du bist ja auch vernünftiger als die Lotte, Sie kann freilich nichts dafür, daß sie gegen Alles revoltirt; sie hat’s von ihrer Mutter, die war so ein Tollkopf.“

Lotte war meine Stiefschwester; Hans, um zwei Jahre älter als sie, ihr rechter Bruder. Ich, die älteste der Schwestern, hatte meine Mutter nicht gekannt, sie starb schon bei meiner Geburt. [10] Und kaum anderthalb Jahre später verheirathete sich mein Vater zum zweiten Male.

„Sie ist erst achtzehn Jahre, Großmutter,“ entschuldigte ich das Mädchen.

„Und Du bist schon eine Greisin, nicht?“ fragte die alte Dame. „Zweiundzwanzig Jahre sind allerdings ein Alter.“

„Aber ich kenne die Welt, die Lotte jetzt verlassen muß, jetzt, wo sie gerade so verlockend vor ihr liegt.“

„Freilich, es ist hart!“ bestätigte die Großmutter und sah in die stille vornehme Straße hinab, in der unsere Wohnung lag. „Aber,“ setzte sie wie verloren hinzu, „es ist das schlimmste noch nicht. Es ist weit schlimmer, hier zu sitzen und unter den Augen Derjenigen zu darben, die uns einst in besseren Tagen gesehen; es giebt überhaupt noch tausendmal Schlimmeres. Wenn man so alt geworden wie ich, weiß man das.“ Und sie nickte still vor sich hin. „Wer muß, hat keine Wahl,“ fuhr sie fort. „Morgen wollen wir überlegen, welche Meubel wir mitnehmen dürfen und können; das andere wird verkauft.“

Jetzt war es doch, als schwanke ihre Stimme. Ach, ob es nicht auch wehmüthig genug ist, auf die alten Tage noch in das Elend zu gehen, wenn man ein langes Leben ohne zu darben verbrachte? Der Hans, er war an allem schuld. Schuld, daß wir mittellos dastanden, schuld, daß der Vater todt, schuld, daß sich zwei unversorgte Mädchen wie Kletten an eine alte Frau hingen, die sonst, allein für sich, ohne Noth ihre Tage hätte beschließen können. Mit Gewalt stürmte der Gedanke auf mich ein: Das darfst Du nicht! Du mußt Dir selbst helfen!

„Großmama,“ begann ich rasch, „ich gehe nicht mit nach Rotenberg; ich werde – ich will irgend eine Stelle annehmen; Du weißt, ich habe auch hier den Haushalt geführt.“

Sie schüttelte den grauen Kopf. „Nein, Tone, Dich kann ich nicht entbehren, Du mußt bei mir bleiben. Und Lotte – die ist noch lange nicht reif dazu, und überhaupt – so lange ich sorgen kann, sorge ich; Gott wird weiter helfen. Ihr bleibt Beide bei mir. Geh’ nur jetzt und sieh, daß sich Lotte nicht aus einander weint, der Kindskopf.“

Ich fand sie aber nicht weinend. Sie hatte mit fieberhaft rothen Wangen einen Band von Meyer’s Konversationslexikon vor sich, und mich erblickend rief sie: „Da, Tone, höre, staune! ‚Rotenberg, Kreis X, Regierungsbezirk Y, Landstädtchen von fünftausend Einwohnern‘ – Tone, fassest Du es, fünftausend Einwohner ‚Treibt Ackerbau und Viehzucht; hat eine Realschule, zwei Kirchen und eine Nähnadelfabrik‘ – Himmel, eine Nähnadelfabrik und, o Wunder! – ‚ein fürstliches Schloß mit schönem Park. steht jedoch völlig unbewohnt, seit 1815 die Residenz nach Kerrbnrg verlegt wurde.‘“

Sie hatte in steigender Erregung gelesen. „Daß sich Gott erbarm! Dort soll ich mich vergraben!“ rief sie nun.

„Es kann ja ganz niedlich dort sein?“ begütigte ich sie.

„Ganz niedlich? Du gute Seele! Ich finde, daß das, was man für gewöhnlich ‚ganz niedlich‘ nennt, immer recht langweilig ist.“

„Paß auf, Prinzeßchen, es wird besser, als wir denken.“

Sie antwortete nicht; es lag wie Hohn um ihre Lippen.

„Ich gehe jetzt auf den Kirchhof,“ sagte ich. „Willst Du mit?“

Sie stand auf, nahm, ohne ein Wort zu erwidern, den Hut, der bald wie ein schwarzer Heiligenschein das Gesicht umrahmte, strich sich vor dem Spiegel die dunklen Lockchen, die tief über die Stirn fielen, zurecht und ergriff die Handschuhe. Finster, mit zusammengezogenen Brauen ging sie neben mir, und doch flogen unzählige Blicke bewundernd zu ihr hinüber; ich selbst konnte es ja nicht lassen, sie immer wieder anzuschauen. Ja, meine Schwester Lotte war unbestritten das lieblichste, anmuthigste Geschöpf unserer ganzen Großstadt; so meinte ich, so meinten wir Alle, und ich glaube fast – sie selbst auch. Sie war des Vaters Liebling gewesen, unser Aller Verzug, das Prinzeßchen, wie sie bei uns hieß von dem Tage an, wo sie in den kleinen Schuhen zum ersten Male so reizend zierlich durch die Stube trippelte. Von je her war ich mir, ihr gegenüber, wie eine Mutter vorgekommen, sorgend und wachend, aber auch staunend, daß dies feine Geschöpfchen meine Schwester sei.

Sie erwiderte meine leidenschaftliche Zärtlichkeit wohl, aber nach Art verwöhnter Kinder, die fühlen, daß sie uns völlig in der Gewalt haben, mit Launen und Thränen und mit gelegentlichen stürmischen Liebkosungen. Sie erreichte damit Alles. Ihre ernsthafte schwärmerische Zuneigung aber koncentrirte sich nach dem Tode ihrer Mutter auf Hans; die Beiden standen wie eine geschlossene Mauer dem Vater, der Großmutter und mir gegenüber. Es war, als habe ich nicht das mindeste Anrecht darauf, mich „Schwester“ zu nennen, als ob wir nicht einen Vater zu lieben hätten. Die Beiden waren immer einig, sie vertheidigten Einer den Andern förmlich aufgeregt, und als die schlimmen Tage mit dem Hans begannen, als ein Beweis seines ungeregelten Lebens nach dem andern eintraf, als es die heftigsten Scenen mit dem Vater gab und es endlich über ihn zusammenbrach, da war Lotte Diejenige, die mit Thränen und Verzweiflung nicht daran glauben wollte und ohnmächtig ward, als Hans den Dienst quittiren und das Vaterland verlassen mußte. Selbst der Tod des Vaters hatte sie aus dem starren Schmerz nicht aufrütteln können, sie sprach nur davon, daß Hans nun ganz verlassen sei; und während Großmutter und ich in bitteren vorwurfsvollen Thränen seiner gedachten, beklagte sie ihn, als trage er ein schweres unverschuldetes Geschick.

Der Sommerabend war schon weit vorgeschritten, die letzten Strahlen der Sonne fielen dunkelglühend über die breite Promenade und ließen die zahllosen Spazierganger, Wagen und Reiter wie in einer transparenten Staubwolke erscheinen. Das Laub der Bäume zu beiden Seiten des Weges war aschgrau, und selbst in den zierlichen Gärten der Villen bekämpfte der Wasserstrahl vergebens die immer neu sich lagernden Schichten des Staubes auf Blättern und Blüthen.

Zum Ersticken sei es, bemerkte ich, aber Lotte schien diese Meinung nicht zu theilen. Ihre dunklen Augen sahen fast durstig hinein in dieses farbenbunte sonnendurchglühte Bild; hier und da erwiderte sie, stolz den Kopf neigend, den Gruß eines Bekannten, und einmal erröthete sie flüchtig, als ein junger Reiter, in der Uniform des Xten Garderegiments, die Hand zum Gruß erhob.

„Eberhard von Stoßen, Hansens bester Freund,“ sagte sie. „Armer Hans!“

„Der mit schuld ist an seinem Untergange,“ ergänzte ich bitter.

„Schuld?“ erwiderte sie, „schuld sind unsere Verhältnisse, unsere jammervollen Verhältnisse! Hätten wir Vermögen, so wäre Hans der ehrenwertheste Mensch."

Ich schwieg; es war immer dieselbe Antwort.

Endlich lag der frische grüne Kirchhof vor uns; wie tiefer Friede überkam es mich. Weit hinter uns war das Gedränge, der Lärm der Straßen geblieben, nur wenige Gestalten weilten an einzelnen Gräbern, und in der breiten Mittelallee, langsam auf und ab wandelnd, die beiden alten Damen, die, wie der Todtengräber uns einmal erzählte, jeden Tag ihre Promenade hier zu machen pflegten. Als ein wunderlicher Spaziergang war es mir sonst immer erschienen; jetzt, seit den letzten schweren Wochen, begriff ich es: hier war Friede, Ruhe und Hoffnung auf das Ende aller Erdenqualen.

Wir saßen stumm neben einander auf dem Bänkchen vor den drei Hügeln; dort meine Mutter, dann Lottchens Mutter, und dieses neue Grab das unseres Vaters. Weinen thaten wir Beide nicht, auf unseren Gemüthern lag es wie Trotz; wir dachten Beide an Hans. Jetzt ahnt er noch nicht, daß hier ein neuer Hügel – oder hatte die Trauerkunde ihn schon erreicht, nachdem er kaum den Fuß auf festen Boden gesetzt? Eine schwere furchtbare Botschaft für ihn! Ich konnte ihn mir vorstellen, wie erschüttert er war, wie er sich anklagte, schuld an des Vaters raschem Tode zu sein; ich wußte, er würde weinen, toben, sich die Haare raufen, und eine halbe Stunde nachher würde er, ein lustiges Liedchen pfeifend, nach irgend einem Amüsement ausschauen. Unbegreiflicher, liebenswürdiger, kindlich guter Hans!

Lotte war plotzlich aufgestanden und näher zu dem Grabe getreten, und auf einmal kniete sie nieder, warf die Arme über den Hügel des Vaters und begann stille aber heftig zu weinen; ihr schlanker Körper bebte und zuckte im verhaltenen leidenschaftlichen Schmerz. Wohl eine Viertelstunde lang verharrte sie so, und ich störte sie nicht; endlich erhob sie sich und trocknete ihre Thränen. „Es hilft doch nichts, man muß versuchen, was aus solchem erbärmlichen Dasein zu machen ist.“

„Wie meinst Du?“ fragte ich sie.

Sie sah unendlich gleichgültig in das Blättergewirr hinein. „Hans sagte immer,“ kam es von ihren Lippen, „wir Menschen seien wie die Puppen auf meinem Kindertheater, die unsere Hand am Draht hinschob, wie es uns beliebte; er war in seinem Glauben der reine Türke.“

[11] Ich sah sie noch immer fragend an.

„Aber ich,“ setzte sie rasch hinzu und wischte über ihre gerötheten Augen, „ich will mich nicht schieben lassen. ich will nicht! Ich mag nicht so weiterleben!“

Und sie wandte sich kurz und schritt zwischen den Hügeln hinunter, so rasch, daß ich kaum zu folgen vermochte.

Schweigend kehrten wir nach Hause zurück; Lotte, um sich sofort auf die Chaise longue zu werfen und „Schnips“, Hansens zurückgelassenen Pinscher, zu streicheln, zu küssen und zu necken und ihm dabei von seinem Herrn vorzuplaudern. Und das Thier horchte bei dem Worte „Herrchen“ hoch auf, sprang vom Sofa und lief zur Thür, als warte es auf den bekannten Tritt, und kam zu Lotte zurück und sah sie fragend an mit den klugen glänzenden Augen. Da nahm sie das Thierchen empor und drückte ihr Gesicht in das gelbe Fell „Nein, ich will nicht!“ hörte ich sie noch einmal sagen.

Die nächsten Wochen vergingen mit Vorbereitungen für den Umzug. In ihrem Zimmer studirte die alte Frau den Rotenberger Wohnungsplan, legte das Centimetermaß an diesen und jenen Gegenstand und bezeichnete diejenigen Meubel, die verkauft werden sollten, auf einem großen Bogen Papier. Es gab furchtbare Thränenscenen, wenn Lotte erfuhr, daß irgend ein Lieblingsstück in fremde Hände wandern müßte; das Speisezimmer mit den geschnitzten Eichenmeubeln wurde stückweise von ihr vertheidigt, allein vergebens; es wäre ja nicht möglich sich davon zu trennen, meinte sie.

„Am leichtesten doch davon,“ entschied die Großmutter; „was wir behalten, sind Andenken an Eure Mütter, den Firlefanz da schaffte der Wilhelm“ – so nannte sie den Verstorbenen – „erst an, als er Regimentskommandeur wurde und in seiner Stellung repräsentiren mußte. Ich nehme meine alten lieben Sachen, Ihr Euer Boudoir; wir haben dort nur drei Zimmer, also beruhige Dich, Lotte!“

Aber Lotte beruhigte sich nicht. An dem Tage, wo ein Händler die Meubel abholte, lag sie in Weinkrämpfen auf dem Sofa; sie schluchzte Tag und Nacht, sie wurde blaß und elend, und schließlich mußten wir zum Arzt schicken.

„Nerven!“ meinte der freundliche Mann. „Luftveränderung! Es paßt ja ganz vortrefflich, daß Sie Berlin verlassen; Landluft, aus der Großstadt hinaus, das wird’s thun!“

Aber die Angst wich doch nicht von mir. Als am letzten Abend unseres Berliner Aufenthaltes das Kind noch immer weinte, setzte ich mich zu ihr an das Bette und nahm ihre kleine heiße Hand in die meine.

„Lotte, Herzensliebling,“ bat ich, „habe doch einmal Vertrauen zu mir – nicht wahr, Du läßt Etwas hier zurück, das –“

„Ja, ja,“ schluchzte sie, „mein ganzes Glück –“

„Und Dein Herz, Prinzeßchen?“

„Ach Unsinn!“ antwortete sie in ganz verändertem Ton und hörte auf zu weinen.

„Ich dachte es, weil Du so unglücklich bist; mir kam der Freund vom Hans in den Sinn; weißt Du, der Eberhard von Stolten, Du hast soviel getanzt mit ihm. Ach, Lotte!“

Sie schwieg, aber sie lachte leise.

„Was sollte ich mit dem,“ sagte sie dann, „er hat ja beinah eben soviel Schulden wie Hans.“

„Ja freilich! Aber wenn Du ihn lieb hast, wäre das noch ein Grund mehr zum Weinen.“

„Ich einen armen Mann heirathen?“ fragte sie fast empört; „aber, Tone, Du bist närrisch! Es ist ja so schrecklich, arm zu sein, es ist ein Unglück! Und wenn er ein Halbgott wäre – niemals! Nein, das hieße ‚sich schieben lassen‘, und ich lasse mich nicht schieben!“

„O!“ sagte ich erstaunt und vorwurfsvoll, denn mir schwindelte einen Moment der Kopf. Sie hatte ja jede seiner augenfälligen Huldigungen mit ihrem reizendsten Lächeln in Empfang genommen.

„Was habe ich denn verbrochen?“ erkundigte sie sich.

„Du hast ihn nicht gerade entmuthigt.“

„Ja, als sein Onkel noch lebte," bemerkte sie trocken.

Ich wußte, was das hieß. Der Neffe hatte für den künftigen Erben des alten reichen Mannes gegolten; nun war dieser gestorben und hatte des Neffen nicht gedacht.

„So ist es doch völlig aussichtslos“ setzte Lotte hinzu und gähnte. Mir stockte das Herz vor solcher Vernunft.

„Ich glaubte, Du hättest ihn lieb und Deine Thränen wären um ihn geflossen?“

Sie sagte weiter nichts als: „Das ist ja alles Einbildung, ich bin nicht sentimental.“

„Dann kann ich mich also beruhigen?“ fragte ich kühl.

„Völlig!“ erwiderte sie kurz und legte den schönen Kopf auf die andere Seite.

Ich ging fast bestürzt hinaus und in das Zimmer unseres verstorbenen Vaters. Der Vollmond sandte sein bläuliches Licht in die Fenster, durch keinen Vorhang mehr gehindert, und zeigte mir die völlig leeren Wände. Es war mir unbeschreiblich traurig zu Muthe. Was war aus Charlotte geworden in den letzten Wochen? Hatte das Unglück so verfinsternde Schatten über ihr junges Gemüth geworfen, oder brachen die Zeichen eines häßlichen Charakters jetzt hervor, wo die Sonne nicht mehr strahlend über unserem Hause stand? Es giebt Menschen, die das Unglück weich und gut macht, es giebt auch Seelen, die sich verlieren im Leid.

(Fortsetzung folgt.)




Römische Cäsaren.

Von Johannes Scherr.
Caligula.[1]

Gaji turbata mens et furiosa inconstantia.     
(Des Gajus Irrsinn und rasende Unstätheit.) 
Tacitus und Seneca. 


1.

Im März des Jahres 37 der christlichen Zeitrechnung zog auf der Straße von Misenum nach Rom eine Procession einher, welche der fünfundzwanzigjährige Gajus Cäsar, genannt Caligula, führte und deren Mittelpunkt der Sarg des Tiberius bildete.

Der Zug glich weit mehr einer Triumphalpompa denn einem Bestattungsgeleite. Die geräuschvoll festlichen Sympathiebezeigungen, womit die Procession den ganzen Weg entlang empfangen und begleitet wurde, galten nicht dem todten Kaiser, sondern dem lebenden, seinem Nachfolger. Bei Gelegenheit von Regierungswechseln haben ja die Menschen von jeher es geliebt, ihren thörichten Hoffnungen überschwänglichen Ausdruck zu geben. Aus allen Ortschaften von rechts nach links strömte das Volk scharenweise herbei, um den Weg Caligula’s mit Blumen zu bestreuen. Ihm zu Ehren dampften an der Straße errichtete Altäre voll Weihrauchsopfern. Die Menge rief Heil und Segen auf sein Haupt herab und überschüttete ihn mit Schmeichelnamen wie „Augenstern“, „Püppchen“, „Bübchen“, „Pflegekindchen“.

[12]

Die Würfelspieler. Von E. B. Murillo.



[13]

Die Melonenesser. Von E. B. Murillo.

[14] Der Gefeierte benahm sich diesen Huldigungen gegenüber anständig und bescheiden. Sein Gebaren ließ das Unvortheilhafte seiner Persönlichkeit vergessen. Um so leichter, als die Vergleichung seiner Erscheinung mit der des finsteren Einsiedlers von Capri doch immerhin sehr zu seinen Gunsten ausfallen mußte.

Als die erste Botschaft vom Tode des alten Tyrannen nach Rom gelangt war, hatte der städtische Janhagel das Gebrüll erhoben: „in den Tiber mit dem Tiberius (Tiberium in Tiberim)!“ Davon war aber keine Rede mehr bei der Auknnft des Leichengeleites in der Hanptstadt. Macro, der kommandirende General des Gardecorps, hatte in Verbindung mit der senatorischen Polizei dafür gesorgt, daß die Exequien dessen, vor welchem noch so eben das römische Reich gezittert hatte, in aller Ordnung vonstatten gingen, Caligula hielt, „bitterlich weinend“ (cum plurimis lacrimis), seinein Großoheim auf dem Forum die Grabrede, in welcher er mehr vom Augustus und vom Germanicus als vom Tiberius sprach und das romische Volk nicht ungeschickt zu bekomplimentiren verstand. Darauf wurde der todte Kaiser unter Entfaltung großen Pompes nach dem Marsfeld getragen und auf den dort errichteten Scheiterhaufen gelegt. Mit der Verbringung der Asche in das cäsarische Mausoleum war die Feierlichkeit zu Ende und hob das Regiment des Caligula an, welches schon nach wenigen Monaten den Römern sehr fühlbar machte, daß „selten etwas Besseres nachkommt".

Der neue Kaiser vereinigte in sich das Blut des julischen und des claudischen Geschlechts und leider hatte er mit diesem Blut zugleich weit mehr die Verkehrtheiten und Laster der Julier und der Claudier als ihre guten Eigenschaften und Vorzüge überkommen. Insbesondere vergeilte sich in ihm der angestammte claudische Hochmuth rasch zu größewahnwitzigem Dünkel und schlug zu so märchenhafter Ueberhebung aus, daß er nicht allein für einen Gott angesehen sein wollte, sondern auch selber alles Ernstes an seine Göttlichkeit glaubte. Er verdient daher als eins der merkwürdigsten Exemplare, welche jemals in dem riesigen Narrenhause der sogenannten Weltgeschichte rumorten, unsere volle Aufmerksamkeit. Auch in modernen Zeiten haben Völker die Regierung von notorischen Narren geduldet, aber Narren von solcher Kolossalitat wie Caligula, Nero und Elagabal hat doch nur das in Geund und Bodens verderbte Römervolk ertragen. Nur aus dem riesigen Sumpfe der kaiserlichen Roma konnten solche Kolosse von Upasbäumen aufschießen.

Von den zwei Schwestern des Octavius Augnstus hatte (die jüngere) Octavia den Mittriumdir ihres Bruders, den Marcus Antonius, geheiratet und demselben zwei Töchter geboren. Die jüngere, Antonia, war dem Prinzen Drusus, dem Bruder Tibers, vermählt worden und hatte zwei Söhnen das Leben gegeben, dem Volksliebling Germanicus und dem Halbtrottel Claudius, von welchem seine Mutter zu sagen pflegte, er wäre „von der Natur nicht fertiggenäht, sondern nur zu Faden geschlagen“, und den sein Oheim Augustus einen „Defekten“ an Leib und Seele, einen „Tropf“ und „Fex“ nante - was alles jedoch den „nur zu Faden Geschlagenen“ nicht hinderte, eines Tages Imperator urbis et orbis, ja sogar der Gemahl der Baleria Messalina zu werden. Germanicus heiratete die kaiserliche Prinzessin Agrippina, welche den großen Minister Agrippa zum Vater und des Augustus Tochter Julia zur Mutter hatte. Diese Agrippina, welche, um sie von ihrer gleichnamigen Tochter, der Mutter Neros, zu unterscheiden, die ältere heißt, gebar ihrem Gemahl am 31. August des Jahres 12 zu Antium den Gajus Cäsar Caligula.

Die Erziehung des Prinzen war sehr mangelhaft. Sein Vater nahm ihn mit in die Feldlager in Germanien und Syrien, starb aber zu vorzeitig (i. J. 19), als daß er auf die Entwickelung des Sohnes hätte einwirken können. Der Knabe kam dann unter die schlaffe Zucht von Frauen: erst seiner Mutter, hierauf, als diese beim Tiberius in Ungnade gefallen und ins Exil geschickt war, seiner Urgroßmutter Livia und endlich, als diese gestorben, seiner Großmutter Antonia. Im Jahre 32 rief ihn sein Großoheim Tiber zu sich nach Capri, wo er bis zum Ableben des Kaisers zumeist verweilte, mit sklavischer Unterthänigkeit in alle Thyrannenlaunen des düsteren Greises sich fügend. Dieser hielt nicht viel von dem Großneffen, sondern sehr wenig, und der Prinz hatte weder das Zeug noch den Willen, diese üble Meinung in eine bessere umzuwandeln. Er war ein beschränkter, aufgeblasener Junge, dem die Vorstellung von seiner Wichtigkeit schon frühzeitig zur fixen geworden war, träge zum Lernen, stumpf für alles Bessere und Höhere, mit einem starken Hang sowohl zur Lüderlichkeit als zur Grausamkeit behaftet, dabei einer Dosis jener gemeinen Schlauheit nicht entbehrend, welche sich zu ducken, zu kriechen und zu heucheln versteht, bis die Zeit gekommen, wo sie stolziren, despotisiren und bramarbasiren darf. Der Urgrund von all seiner Verkehrtheit mag woht in dem ererbten Blut zu suchen gewesen sein. Er litt darum in Knabenjahren an einer schrecklichen Krankheit, der Fallsucht, und obzwar später seine Körperkräfte so zunahmen, daß er Anstrengungen auszuhalten vermochte, so warf ihn maßlose Ausschweifung doch immer wieder in eine solche Schwäche zurück, daß er zeitweilig weder stehen noch gehen konnte und seine Gehirnnerven den Dienst versagten. Es ist kennzeichnend, daß der Prinz schon auf Capri, sobald das kalte Auge des Großoheims nicht auf ihm ruhte, seinen schlechten Instinkten freien Lauf ließ. Seine bevorzugten Gesellschafter waren Komödianten, Schnurranten und Saltanten. Die Qualen Gefolterter oder Hinzurichtender mitanzusehen, war eine seiner Freuden.

Beschmeichler der Prinzenschaft des jungen Menschen haben ihn frühzeitig glauben gemacht, er wäre ein Genie. Die barocken Einfälle, die er mitunter hatte, wurden von seinen Schranzen als Proben höchster Witzigkeit belacht und beklatscht. So, wenn er seine Urgroßmutter Livia einen „Ulysses im Unterrock“ (Ulyssem stolatum) nannte. Der verderblichste seiner Schmeichelfreunde war aber der jüdische Prinz Herodes Agrippa, welcher als Exulant in Rom lebte und mittels maßloser Verschwendung die vornehme römische Jugend in alle Ueppigkeit und Lasterfülle orientalischer Höfe einweihte. Die grüßte Gefahr vonseiten des Einflusses, den er auf Caligula übte, lag darin, daß er die enge Gehirnfülle desselben mit der Wahnvorstellung zu füllen suchte und wußte, ein orientalischer Monarch wäre etwas ganz Anderes, etwas unendlich viel Besseres und Erhabeneres als ein römischer Cäsar und Princeps, dessen Macht ja durch die noch immer bestehenden Formen und Formeln der Republik eingeschränkt sei. Ein orientalischer König der säße auf seinem Thron als der wirkliche und leibhafte Gott seiner Unterthanen, Herr über aller Gut und Leben, unumschränkt, unfehlbar, allmächtig und sacrosanct. Einer derartigen Unterweisung bedurfte es gerade noch, um den schwachen Kopf des Prinzen schwindelig und wirbelig zu machen.

Der alte Tiberius, welcher aller Verdüsterung ungeachtet bis zuletzt ein starkes Bewußtsein seiner Herrscherpflichten besaß, erkannte zum voraus das Unheil, welches das Regiment seines Großneffen über den römischen Staat bringen konnte und würde. Deßhalb trug er sich wiederholt mit dem Gedanken, den Caligula abthun zu lassen. Er hätte auch wohl diesen Gedanken zur That gemacht, wenn sein doch immerhin lebhaftes dynastisches Gefühl anderweitige Hoffnungen hätte hegen dürfen. Aber es sah ja hinsichtlich der Thronnachfolge schlimm aus in der kaiserlichen Familie. Des Kaisers i. J. 19 geborener Enkel Tiberius Gemellus, Sohn des Drusus, stellte sich so sehr als Schwächliug an Geist und Körper heraus, daß er kaum weniger Fex war als sein Vetter Claiidius. Der General Macro, Caligula´s Militärgouverneur, welcher hoffen durfte, unter der Cäsarschaft seines Zöglings die erste Rolle im Staate zu spielen oder vielleicht gar die Entwürfe Sejans mit mehr Glück wieder aufnehmen zu können - Macro wußte seinen Gebieter zu überreden, daß Caligula nicht umgebracht werden dürfe, weil dessen Dasein zur Sicherung der Thronnachfolge nothwendig sei.

Für den General sollte ein Tag kommen, welcher ihn seine hilf- und erfolgreiche Dazwischenkunft bitter bereuen ließ. Der greise Kaiser mag sich den Beweisgründen seines Ministers achselzuckend gefügt haben, und es ist vielleicht gestattet, anzunehmen, daß der grimmige Menschenverächter bei dieser Gelegenheit das grausam schadenfrohe Wort habe fallen lassen. sein Großneffe Gajus „lebe zu seinem und aller Verderben“ und er, Tiberius, „erziehe in Caligula dem römischen Volk eine giftige Natter und dem Erdkreis einen Mordbrenner“ (se natricem populo romano, Phaëthontem orbi terrarum educare).

Er machte auch noch einen Versnch, die Macht, welche er seinem Großneffen hinterlassen mußte, durch Theilung derselben einigermaßen einzuschränken. Denn er setzte ein Testament auf, kraft dessen er den Principat und alle seine Besitztümer seinem [15] Enkel Tiberius Gemellus und seinem Großneffen Gajus gemeinsam vermachte, und sorgte auch dafür, daß die Existenz und der Inhalt dieser seiner letzten Willensbestimmung in Rom bekannt wurde. Aber es half nichts. Macro erkannte zwar, das tiberische Testament ließe sich, weil zum voraus bekanntgeworden, nicht beseitigen. Aber er war entschlossen, einen Mitprincipat des jungen Tiberius nicht aufkommen zu lassen, und setzte zu diesem Zwecke die bekannte Maschinerie des „vernünftigen Volkswillens“ in Bewegung. Er brachte das Testament Tibers in der Sitzung des Senats vor, führte aber zugleich aus, dieser letzte Wille des verstorbenen Kaisers beruhte auf der ganz unstatthaften Voraussetzung, daß sein Enkel, bekanntermaßen ein unreifes, schwächliches, untaugliches Jüngelchen, zum Mitprinceps das Zeug hätte. Während er noch redete, brach der Janhagel als Sprachrohr der „vox populi vox dei“ in die Curie herein, brüllend, das römische Volk wolle den Sohn des Germanicus, nur den Sohn des Germanicus zum Cäsar und Princeps haben, und die „versammelten Väter“ sagten Ja und Amen dazu.

Das Testament des Einsiedlers von Capri wurde in den Papierkorb der Weltgeschichte geworfen und Caligula war von Stund’ an Alleinherrscher.

(Fortsetzung folgt.)

Dem Kaiser und König Wilhelm I.

zum fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläum.
–– 2. Januar 1886. ––

Winter war es im Land, und Winter war’s in den Herzen,
      Als zu gewaltigem Amt Gott Dich in Schmerzen geweiht.
Unerforschlich Geschick! Dem sterbenden Bruder und Dulder
      Nahm es die Krone und drückt’ Dir sie aufs trauernde Haupt.
Doch Du ermanntest Dich stark, und königlich trugst Du die Bürde;
      Fast an Jahren ein Greis, schienst Du ein Jüngling an Kraft.
Also botest Du Trotz den Stürmen, die Dich umtobten,
      Und wie Siegfried einst, schufst Du Dir selber Dein Schwert.
Als es gehärtet zu Stahl im Feuer des schmerzlichen Streites,
      Schwangst Du die Waffe zuerst wider den inneren Feind,
Schlugst Du vernichtend daheim aufs Haupt den Drachen der Zwietracht,
      Daß er vom tödtlichen Streich nimmer sich wieder erhob.
Weise dann warst Du bedacht auf Schutz der errungenen Güter,
      Legtest zu künftigem Bau sorglich granitenen Grund.
Emsig planten die Meister, und freudig baute Dein Volk mit;
      Sieh’, schon strebten zum Licht mächtige Pfeiler empor!
Aber der tückische Nachbar schaut es mit gierigem Neide;
      Mitten in friedlicher Rast warf er ins Haus Dir den Brand.
Hui, wie flog bei Seite da Hammer und anderes Werkzeug,
      Zornig in jeglicher Hand blitzte das rächende Schwert.
Ströme des Nordens und Südens durchbrachen die trennende Schranke,
      Brausten, ein einziges Meer, über das feindliche Land. –
Winter wiederum war’s; da, König, standst Du als Sieger
      Strahlend in Feindes Palast, um Dich in Waffen Dein Volk.
Ein Jahrzehnt erst trugst Du die Königskrone der Väter,
      Jubelnd bietet man Dir, Kaiser, die Krone des Reichs!
Heil uns, daß Du sie nahmst! – Wen könnte sie würdiger schmücken? –
      Frage die Fürsten im Kreis, alle sie huldigen Dir,
Der ein Held Du zugleich und erster Bürger des Staates,
      Pflichtstreng gegen Dich selbst, Anderen gütig und mild.
Mäßig im Siege dereinst, nun schirmst Du den Frieden der Erde,
      Nimmer ermüdend daheim, rüstig zu krönen den Bau.
Hüter der Arbeit, des Rechts, und Schützer der Armen und Schwachen,
      Schütze ein gütiger Gott lang noch Dein Leben dem Reich! – –
Winter ist es im Land, doch Frühling rings in den Herzen.
      Heil ihm, der ihn geweckt! Kaiser und König, Du bist’s!
 Ernst Scherenberg.


Ueber unbewußtes Zählen.

Von W. Preyer.
I.

Auf den ersten Blick scheint die Ueberschrift „Unbewußtes Zählen“ sich selbst zu widersprechen. Denn wer von 1 bis 100 zählt, weiß bei jeder einzelnen Zahl, daß er zählt: aber es giebt in Wirklichkeit so viele Fälle, in denen der gebildete Mensch zählt, ohne es zu wissen, daß es ihm unmöglich sein würde, sich in der Welt zurecht zu finden, falls er plötzlich diese Fähigkeit verlieren sollte.

Liegen drei Geldstücke neben einander auf dem Tische, so wird Jeder, der sie sieht, auf die Frage „wie viele es seien?“ nach einem einzigen Blicke antworten „3“; auch wenn 4 oder 5 Münzen nur einen Augenblick angesehen werden, erfolgt fast jedesmal die richtige Antwort ohne Zögern. Sie wird so schnell gegeben, daß zum überlegten, wenn auch noch so beschleunigten Zählen keine Zeit bleibt.

Also ist unbewußtes Zählen nicht nur nichts in sich Widersprechendes, sondern etwas Alltägliches. Man darf nicht einwenden, das sei kein Zählen mehr; denn wenn Jemand bestimmt angeben kann, ob 3 oder 4 oder 5 Gegenstände sich vor ihm befinden, so muß er Zahlen unterscheiden können, und gewiß ist, daß, wer nicht zählen kann, auch jene Fragen nicht zu beantworten vermag. Kinder müssen, um 3 Kugeln von 4 Kugeln zu unterscheiden, anfänglich die eine Kugel zur anderen fügen; manche lernen aber dadurch zählen, ehe sie die Zahlwörter kennen.

Hierdurch ist bewiesen, daß Zählen die Kenntniß der Zahlwörter nicht nothwendig voraussetzt, wie denn auch ungebildete Taubstumme, die noch nicht lesen und schreiben können, ohne Ziffern nur mittels ihrer Finger zählen.

Dann folgt aber weiter aus dem Verhalten des Kindes, welches die Bedeutung der Zahlwörter erlernt hat, daß nur durch Uebung, das heißt durch sehr oft wiederholte Zählung von wirklichen Dingen, die Sicherheit des unbewußten Zählens beim bloßen Anblick von 1, 2, 3, 4 bis 5 Dingen erreicht wird. Wer sich nicht übt, wie der Blödsinnige, kann nicht, ohne die Eins zur Eins zu fügen, bis 3 zählen und bleibt auf der niedrigsten Entwicklungsstufe des Kindes stehen.

Nun ist aber bekannt, daß Niemand, wenn etwa 50 Stahlfedern oder einzelne Markstücke ungeordnet vor ihm liegen, in einem Augenblicke sagen kann, wie viele zu sehen sind. Der Eine zählt schneller als der Andere, der Lehrling macht Gruppen von drei, von fünf, von zehn und faßt die Gruppen zusammen, der erfahrene Geldwechsler übersieht mit großer Sicherheit vielleicht in wenigen Sekunden die ganze Summe, ohne das Geld zu berühren, aber auch er wie jeder Andere muß aufmerksam zählen, sowie die Anzahl der Stücke über eine gewisse Grenze hinausgeht. Wo liegt diese Grenze?

Der bekannte Rechenkünstler Dase, welcher im Jahre 1861 starb, sagte, für ihn wären einige dreißig gleichartige Gegenstände ebenso sicher in einem einzigen Augenblicke gesondert wahrnehmbar, wie für andere Menschen drei oder vier, und es ist oftmals bestätigt worden, daß er nicht übertrieb; denn wenn er schon durch seine kaum von den besten Rechenmaschinen seiner Zeit übertroffene Sicherheit im Kopfrechnen das größte Aufsehen erregte, so ist doch seine Art zu sehen, die Geschwindigkeit, mit der er die Anzahl von Schafen in einer Herde, von Büchern in einem Repositorium, von Fensterscheiben in einem großen Hause richtig angab, noch erstaunlicher.

Weder vor ihm noch nach ihm hat man von einem solchen Talent etwas gehört. Da aber jeder Mensch dasselbe Vermögen in geringem Grade besitzt und, wie ich hier zeigen will, durch Uebung steigern kann, so ist es wohl möglich, daß in Zukunft mehrere derartige Zählkünstler auftauchen werden. Die Meisten wissen nur nicht, wie leicht es ist, sich zu üben.

Zunächst kann man sich schon durch wenige Proben davon überzeugen, daß ohne Uebung nicht Jedermann 6 und 7 ebenso sicher unterscheidet, wie 3 und 4. Aber man braucht nur mit bekannten kleinen Gegenständen, wie Zündhölzchen oder Stecknadeln, die in unbekannter Menge unter einem Blatt Papier liegen und die man während der Dauer einer Sekunde enthüllt und ansieht, Rathversuche anzustellen, so merkt man bald, daß nicht viel dazu gehört, um 6 bis 7 und dann bis 9 ebenso sicher jedesmal richtig zu taxiren, wie 3 bis 5. Aber man muß sich wohl hüten, bei diesen Bemühungen bewußt zu zählen – dazu darf man sich gar nicht [16] Zeit nehmen – oder nachher in der Erinnerung zu zählen, das würde viel zu lange dauern, vielmehr ist es nothwendig, einfach mit größter Anspannung der Aufmerksamkeit zu schätzen.

Wer sich jedesmal ernstlich bemüht richtig zu rathen, wundert sich, nachdem er sich an dem unterhaltsamen Spiele öfters betheiligt hat, daß ein falsches Errathen immer seltener vorkommt, während es anfangs häufig war. Erst wenn die Zahl der angeschauten Gegenstände größer als 9 wird, kommen wieder Fehler in größerer Häufigkeit und größere Fehler als 1 zuviel oder 1 zuwenig vor. Jedoch weitere Uebungen im Schätzen auch größerer Mengen kleiner Gegenstände vermindern auffallend schnell die Größe und Häufigkeit der Fehler. Manchem will es freilich nach vielen Proben nicht glücken über die 10 hinauszukommen, wahrscheinlich wegen mangelhafter Anspannung der Aufmerksamkeit, welche anfangs groß sein muß und erst nach Erwerbung der neuen Fertigkeit im Schnellsehen nicht mehr besonders anstrengend ist. Dann hat man ein Gefühl, als wenn die richtige Zahl blitzschnell in den Kopf hineinführe.

Um diese Art der Zählung methodisch einzuüben, zeichnete ich auf weiße Karton-Vierecke (vergl. beifolgende Abbildungen) unregelmäßig und regelmäßig vertheilte Punkte und kleine schwarze kreisförmige Felder, welche einen Augenblick angesehen werden und sich vorzüglich zur Erlernung des unbewußten Zählens eignen. Es zeigte sich dabei, daß sehr viel auf die Anordnung der Punkte ankommt. Ein Kartenspieler erkennt sofort, ohne zu wählen, daß auf der Karte „Herz-zehn“ zehn Herzchen dargestellt sind, nicht aber ebenso schnell und ebenso sicher zehn Herzen oder Punkte, die z. B. ein Kreuz bilden. Die Symmetrie der Anordnung allein macht also nicht die Schätzung leichter, sondern die Kenntniß der Art der symmetrischen Anordnung.

Die Punkte der Kreuze, von denen man auf einmal nur eines freilegt und etwa eine Sekunde lang ansieht, sind schwerer richtig zu schätzen, als die Punkte in Kartenanordnung und in daraus gebildeten Figuren:

Noch leichter aber sind die Punkte zu schätzen in der Anordnung der Dominosteine und in derselben entsprechenden Figuren:

Man darf dabei die Punkte nicht zu klein zeichnen und muß sie tiefschwarz auf weißem Grunde oder umgekehrt vor sich haben. Alle Felder außer dem zu betrachtenden bleiben verdeckt. Am schwersten gelingt die Schätzung ungeordneter Punkte, zum Beispiel in folgenden Figuren:


Uebung, welche nur geduldige und aufmerksame Wiederholung ist, macht auch hier den Meister. Indessen ist schon durch den Fall Dase dargethan, daß noch so lange fortgesetzte Uebung über eine gewisse Grenze nicht hinausführt. Für die rasche Schätzung oder unbewußtes Zählen von Punkten in unbekannter symmetrischer Anordnung oder beliebigen gleichartigen ungeordneten Gegenständen scheint die Summe der Finger und Zehen, also 20 die Grenzzahl zu sein. Jenseit 20 hört wahrscheinlich, jenseit 30 zweifellos die Sicherheit auf auch nach der größten Uebung, an welcher es Dase nicht fehlte.

Damit ist nun nicht gesagt, daß mehr als 30 Punkte überhaupt nicht mit Sicherheit fast gleichzeitig unter besonderen Umständen aufgefaßt werden könnten; aber sie müssen dann schon in längst bekannter, förmlich auswendig gelernter Anordnung vorliegen. So können sehr geübte Karten- und Domino-Spieler in Neunern und Zehnern oder Fünfern und Sechsern etc. gegen 40 Punkte so schnell übersehen, daß sie sich der Addition nicht bewußt werden. Hierbei ist es aber nicht mehr die unmittelbare Anschauung der einzelnen Punkte, sondern die der Bilder, welche entscheidet. So wenig jemand beim Anblick der Zahl 8 von 1 bis 8 zählt, zählt der Spieler beim Anblick der Herz-acht. Das Kind, welches die Karten noch nicht kennt, zählt die einzelnen Herzen, indem es jedes derselben mit dem Finger betastet.

Um es schnell möglichst weit zu bringen, ist sehr bequem für Anfänger die Einübung mittels eines Buches. Wer mit geschlossenen Augen ein Buch aufschlägt und den größeren Theil einer Seite verdeckt oder durch einen Andern verdecken läßt, hierauf einen schnellen Blick auf die freigelassenen Zeilen wirft, um sofort zu errathen, wieviele es sein mögen, wird nach öfterer Wiederholung des einfachen Versuches, jedesmal mit einer andern Seite und ohne zu zählen, verwundert sein über die Sicherheit im Schätzen, welche dadurch sich ausbildet. Das kleine Kind aber ist völlig außer Stande, auch nur drei Zeilen mit einem Blick von einer Sekunde richtig zu schätzen.

Während der geistigen Entwickelung findet also eine Abkürzung, Vereinfachung und Beschleunigung des Zählens statt. Was zuerst mit Langsamkeit und Bedacht, mit gespannter Aufmerksamkeit und in mehreren Abtheilungen vorgenommen wurde, wird später sehr schnell ohne Anstrengung, ohne besondere Anspannung der Aufmerksamkeit, fast „wie von selbst“ oder „mechanisch“ ausgeführt.

Allemal ist mit einer ganz neuen geistigen Erregung von Gehirntheilen der höchste Grad des Bewußtseins verbunden, daher das Packende einer neuen Idee, während mit der Wiederholung derselben Erregung, je mehr also der Reiz des Neuen schwindet, auch um so weniger Bewußtsein in Anspruch genommen wird. Das Zählen wird schließlich durch immer wiederholtes Fortschreiten von 1 zu 2 zu 3 zu 4 etc. unbewußt wie zum Beispiel das schnelle Bewegen der Finger beim Klavierspielen, welches anfangs große Mühe und Willenskraft erforderte. Es wird in allen ähnlichen Fällen Bewußtsein erspart.

Was beim erstmaligen Eindruck höchst überraschend erschien, kann sogar, wenn es gar zu oft wiederkehrt, wie das ABC, trivial werden, nämlich abgenutzt. Am Scheideweg, wo drei häufig begangene Wege zusammentreffen, ist der Boden mehr abgetreten, als auf jedem einzelnen Wege, daher das Wort (aus dem Lateinischen tres, tria „drei“ und via „Weg“). Geradeso die einfache Verstandesthätigkeit des Zählens, deren zugehörige Bewegung schließlich die sehr oft benutzten Nervenfasern und Nervenzellen im Gehirn unbewußt durchläuft. Auf neu angelegten Eisenbahnen fahren nur langsame Züge; je älter die Bahn, je besser sie sich bewährt, um so schneller saust der Kourierzug dahin, ohne an Zwischenstationen zu halten. Aehnlich der Eilzug menschlicher Gedanken im Gehirn.

Und hierauf beruht auch die praktische Bedeutung der Schnell-Zähl-Uebungen.

Wer bis 20 oder nur bis 12 unbewußt sicher zählt, hat einen großen Vortheil vor Anderen voraus, welche nicht einmal 6 von 7 unfehlbar unterscheiden können, ohne zu zählen, weil er sein Bewußtsein anderen Dingen zuwendet und namentlich durch die Uebung im Schnellsehen überhaupt seine Kenntnisse wesentlich erweitert, wo ein Anderer nur ganz langsam von der Stelle kommt.

Diejenigen Bewegungen des Menschen, welche durch einen äußeren Eindruck ohne Betheiligung des Bewußtseins geschehen, wie z. B. die Verengerung der Pupille, wenn helles Licht in das Auge fällt, nennt man bekanntlich Reflexbewegungen. Dieselben kommen zum Theil dadurch zu Stande, daß oft wiederholte willkürliche Bewegungen (z. B. das Schließen des Auges, wenn man mit der Hand dagegen fährt, ohne zu berühren, das Hutabnehmen beim Grüßen) immer schneller ohne Willen und Ueberlegung verlaufen. So wird auch das Zählen von 1 bis 5 bei jedem durch Wiederholung unbewußt und nähert sich der Reflexbewegung. Und wenn viele solcher einfacher geistiger Vorgänge, bei deren bewußter Wiederholung man nichts Neues lernt und nur Zeit verliert, immer schneller und mehr wie Reflexe ablaufen, dann wird das Gehirn frei für höhere Geistesthätigkeit.


[17]

Berliner Winter.

Plauderei von Paul von Schönthan.0 Mit Illustrationen von H. Schlittgen.

Der Winter ist die haute saison, das eigentliche Lebenselement des Großstädters, im November beginnt die Zeit der Gesellschaften, die Theater aber spielen in dieser Epoche ihren Trumpf aus, wenn sie einen haben, die Hochfluth der Koncerte durchbricht etwas später alle Dämme, das Kneipenleben florirt, und die „Vereinsmeierei“ steht in voller Blüthe.

Die Berliner „Gesellschaften“ genossen ehedem einen eigenartigen Ruf. Vor vierzig Jahren ungefähr erlebte der Berliner Salon seine Blüthezeit, als Geibel sang:

„In der Gesellschaft, wo am blanken Theetisch
Das Wasser brodelt und der Blaustrumpf glänzt,
Und wo prosaisch bald und bald poetisch
Des Geist’s Rakete durch die Luft sich schwänzt.“

Es gab musikalische, ästhetische, philosophische Zirkel, in deren Mittelpunkt die Eigner gefeierter Namen standen. Tieck, Schelling, Cornelius, Eichendorff, Humboldt, Franz Kugler, Varnhagen von Ense, Bettina von Arnim und Andere. Der Glanz dieser berühmten Salons erlosch allmählich, wichtige politische Themata, die sich in den Vordergrund drängten, verscheuchten das schöngeistige Geplauder über Meyerbeer’s neue Opern, Heine’s Poesien und Hegel’s Philosophie. Die Berliner Geselligkeit hat nicht aufgehört, aber jene schöngeistigen Salons sind verschwunden, und der „blanke Theetisch“ ist zur Mythe geworden. Kein Wirth unternimmt es heut zu Tage – wie einst Ludwig Tieck – seine Gäste durch eine Vorlesung zu ergötzen, und wenn wirklich einmal von ein paar Leuten ein künstlerisches oder litterarisches Thema aufgegriffen wird, so nehmen die Urtheile alsbald eine Schärfe an, die dem leichten Ton des geselligen Geplauders entgegengesetzt ist. Dagegen hat der Jourfix, die Gesellschaft, in der Oberflächliches geschwatzt, mittelmäßig musicirt und ohne wahre Begeisterung vielleicht auch noch getanzt wird, eine bemerkenswerthe Verbreitung selbst in jenen Kreisen gewonnen, die sich sonst keinen Aufwand erlauben zu dürfen glaubten. Die Nachsicht, die man gegenseitig übt, erleichtert das Mitmachen der Mode selbst für solche Familien, die nur vorübergehend sich in der Hauptstadt aufhalten oder aus irgend einem andern Grunde eine Wirthschaft nicht führen: zwei bis drei Wohnräume, die sich sehen lassen können, stehen bald zur Verfügung, und die Miethinstitute, deren Thätigkeit jetzt eben beginnt, sind so vortrefflich organisirt, daß sich die Hausfrau wegen der mangelnden Dinge, der Unvollständigkeit ihrer Beleuchtungsapparate, der Beschränktheit ihres Besitzes an Porcellan oder Silbergeräth keine Skrupel zu machen braucht. Unter dem Schutze der Dämmerung fährt der Wagen des Leihinstitutes vor, und im Nu sind Tafelaufsätze, zwiebelgemusterte Service und ein Nibelungenhort von Alfenide-Bestecken in die „Gesellschaftsräume“ hinaufgeschafft; Tische und Stühle, Leuchter und Lampen folgen – wenn man will, auch Bilder, und es ist, wie ich neulich gehört habe, sogar geplant, auch für ein entsprechendes Lager tadelloser Herren, die im Nothfalle als „Vierzehnte“ zu verwenden sind, wenn sich im letzten Augenblicke herausstellt, daß nur dreizehn Personen am Tische sitzen, Sorge zu tragen. Ach, wenn es doch so weit käme, daß diese Institute auch noch die schützende Begleitung einzelner Damen, welche in [18] entfernteren Stadttheilen wohnen, übernehmen wollten – glauben Sie mir, verehrte Leserin, es gehört – wie hoch man auch von dem Werth des weiblichen Umganges und seinem bildenden Einfluß denken mag, viel Selbstverleugnung dazu, mit unbefangener Miene in kalter Winternacht seinen schützenden Arm einer Dame zu leihen, die vielleicht Berlin N oder O wohnt, während wir uns in Berlin W befinden. – Zum Glück ist der Westen der Brennpunkt des geselligen Lebens, und ich erwähne als Kuriosum die Thatsache, daß die Theilnehmer einer Herrengesellschaft, etwa 25 den Kunst- und Finanzkreisen angehörige Herren, vor Kurzem konstatirten, daß sie, so oft sie sich auch seit Jahren da und dort in den verschiedenen Berliner Salons begegnet waren, die westliche Zone nicht überschritten hatten.

Der bürgerliche Jourfix ist als schädlicher Auswuchs unserer großstädtischen Verhältnisse hingestellt und in letzter Zeit auf der Bühne bis zum Ueberdruß gegeißelt worden. Man hat wahre Karikaturen von „Gesellschaften“ inscenirt, und der gute Ruf der reichshauptstädtischen Geselligkeit mag durch diese Zerrbilder nicht gehoben worden sein. Dagegen ist es noch nicht unternommen worden, die unendlich komischen Bemühungen Derjenigen zu schildern, die entweder aus Eitelkeit, aus mißverstandenen Rücksichten des Standes, oder aus wahrer Freude an der Geselligkeit Soupers und Thees veranstalten, bei denen alles geborgt ist und – doch so viel fehlt. Es wird zu Hause gekocht, nur die Mayonnaise ist vom Koch, und auf dem Tische steht ein Bannerträger aus Cuivrepoli, der die gemüthliche Devise „Genöthigt wird nicht“ hochhält. Oft treiben die Leute die Eleganz so weit, noch einen Diener zu bestellen oder den Portier in die Livrée zu stecken.

Um elf Uhr setzt sich dann auch wohl ein vor dem Examen stehender Referendar an das Pianino und erschreckt das an schüchterne Etüden gewöhnte Instrument durch einen brausenden Galopp, und im Nu sind die leicht transportabeln Möbel aus dem Speisezimmer hinausgeschafft, und die Schläfer im ersten und im dritten Stockwerke fahren erschreckt aus ihren Träumen auf und seufzen: „Jetzt tanzen sie auch noch!“ Gegen ein Uhr verläßt der letzte Gast das Haus, – erst zwischen der Hausthür beim Schein der im Luftzuge flackernden Kerze bedachtsam nach einem nicht zu großen Silberstücke suchend, zu dessen Empfangnahme sich die Hand der fröstelnden Hausfee unter der Schürze bereits gekrümmt hat.

Die Freuden des Karnevals werden anticipirt. Der Karneval selbst tritt in Berlin ziemlich bescheiden auf, über seine Dauer urtheilt ein älterer Humorist:

„Die Bälle, Kränzchen, Picknicks, Kind,
Von Weihnachten bis Ostern sind“

und

„Was nicht ein Jeder haben kann,
Sieht man als Subskriptionsball an.“

Freund Schlittgen hat auf seinen Skizzen dieser fashionablen Karnevalsveranstaltung ebenso liebevoll gedacht, wie der Tanzvergnügungen, an welchen sich hauptsächlich die bevorzugten Träger von „zweierlei Tuch“ betheiligen. Eine gewisse Uebereinstimmuug ist indeß hier und dort bemerkbar. Die Scene im Foyer des eleganten Ballsaales ist etwas steifer, das ist wahr, während die Garde unten mehr Temperament entwickelt. Aber überall bleibt der Wehrstand Sieger und Hahn im Korbe. Um dem in galanten Angelegenheiten ein wenig hintangesetzten Civil einen Trost zu bieten, hat Schlittgen auch der Kehrseite des Militarismus, – im wörtlichsten Sinne – des Wind und Frost trotzbietenden Wachpostens, der freudlos seine Bahn wandelt, bis die Ablösung naht, gedacht.

Man hat von dem wuchernden Kneipenwesen, von der wachsenden und jedes Vergleiches spottenden Popularität des Münchener Bieres befürchtet, daß das Berliner Gesellschaftsleben dadurch empfindlichen Abbruch erleiden wird – aber seitdem das bayerische Bier salonfähig geworden ist, seitdem an der vornehmsten Tafel der altdeutsche kühle Bierkrug kreist, während die Weinflaschen zum großen Theil unberührt wieder in den Keller hinabwandern, ist die Befürchtung, unsere Herren könnten fahnenflüchtig werden, nichtig geworden.

Auch dem „Skat“ hat man die Salons geöffnet, nachdem man seine unbezwingliche Macht, die er über unsere männliche Generation gewonnen, erkannt hat, und selbst die Damen kommen mitunter in die Lage, sich des 3. Kapitels der Epistel St. Jacob! „vom Gebrauch und Mißbrauch der Zunge“ zu erinnern und – an die Stelle mittheilender Unterhaltung eine stille Bezique-Partie treten zu lassen. Daß in den Reihen des zarten Geschlechtes auch sehr tüchtige Skatgenossen stehen, ist selbstverständlich; es giebt Skatspielerinnen, die gefürchtet sind – ihrer Ueberlegenheit wegen.

Die Kreise der Kommerzienräthe und Börsenaristokraten, die ihre Soupers von Huster beziehen, pflegen auch für die geistige Bewirthung ihrer Gäste in exquisiter Weise zu sorgen. Sie laden Künstler und Künstlerinnen ein, die zu gelegener Zeit ein paar Lieder singen, ja selbst professionelle Gedankenleser, Bauchredner und Eskamoteure, die sich gerade in der Residenz aufhalten, werden zu einem solchen Abend engagirt. Man erzählt, einer unserer glücklichsten Börsenspekulanten, der Banquier B., habe vor einigen Jahren seinen Gästen nach dem „Pückler-Eis“ die Ueberraschung bereitet, den berühmten Klaviervirtuosen ** erscheinen zu lassen, von dem man wußte, daß er eben in Petersburg Koncerte veranstaltet. Der reiche Financier hatte den Virtuosen eigens kommen lassen, um die „Aufforderuug zum Tanz“ und eine andere Pièce zu spielen. Am nächsten Morgen reiste ** mit dem Schnellzug wieder nach Rußland zurück. Der Spaß soll 30 000 Mark gekostet haben. Da das Honorar in einem Kouvert verwahrt war, kann ich für die Richtigkeit dieser Ziffer nicht einstehen. Dieser verschwenderische Streich eines Mannes, der so reich ist, daß man von ihm sagt, er rauche nur die abgeschnittene Spitze der Cigarren und werfe die Cigarre selbst weg, erinnert an die allerdings unverbürgte Erzählung von der reizenden Ueberraschung, die der Wiener Rothschild bei einem Ballfest in seinem Palais den Geladenen bereitete. Der Krösus führte den Kotillon an, die Paare folgten ihm über die Treppe hinab, es ging nach dem Südbahnhofe, wo ein festlich dekorirter Separatzug bereit stand, der die Tänzerpaare nach Triest führte, von da ging’s nach Venedig, und erst nach drei vergnügten Tagen zog man wieder unter Musikklängen in den Rothschild’schen Ballsaal ein.

Bis die Geselligkeit Alles in ihren Strudel zieht, behaupten die Theater das Feld. Die Reichshauptstadt steht in dem Ruf, zwanzig und mehr Theater zu besitzen, aber die Rechnung ist falsch, es bleiben – wenn man von Theatern im eigentlichen Sinne spricht, doch nur acht, und diese besseren Kunstinstitute genügen am Ende auch dem Unterhaltungsbedürfnisse von 50000 Menschen, und höher ist das Berliner Theaterpublikum nicht zu veranschlagen. Dazu gesellen sich zwei elegante vom besten Publikum besuchte Specialitätentheater, der unverwüstliche Renz’sche Cirkus, die Vorstadt- und sogenannten Au-Theater, periodische Theaterunternehmungen und Tingel-Tangel schier ohne Zahl. Diese zuletzt genannten Vergnügungsanstalten haben die Erbschaft der zum großen Theil vom Schauplatz [19] verschwundenen „Nikotin-Theater“ angetreten, nur in den Tingel-Tangels, wo schöngebaute Spanierinnen den „noch nie von einer Dame gesehenen Luftsprung“ ausführen und dressirte Seehunde Proben ihrer hoben Bildungsfähigkeit ablegen, wird der aromatische Tabaknebel geduldet. Die Rauchtheater, in welchen seiner Zeit Sensationsstücke vom Schlage des „Geschundenen Raubritter“ und „Hirsch in der Tanzstunde“ hundertmal und öfter vor einem stimmungsvollen Auditorium über die Bühne gezerrt wurden, waren eine Berliner Specialität.

Es ging so gemüthlich zu in diesen Hallen. Theaterdirektor und Bierwirth waren gewöhnlich in einer Person vereinigt, weil sonst ihre Interessen leicht kollidirt hätten. Es soll vorgekommen sein, daß ein rücksichtsloser Wirth durch die unzeitgemäße Verbreitung der Kunde, es sei soeben „frisch angestochen“, die Bühnenwirkung der herrlichsten Dichterwerke grausam zerstörte, weil Alles schleunigst das Büffett aufsuchte, wo die frische Quelle rieselte. In einem dieser Theater hatte man noch vor zwei Jahren die Chance, auf sein Billett eine Pendüle zu gewinnen, es war dies dasselbe Theater, in welchem ich einmal eine „Große Atlas-Programm-Festvorstellung“ angekündigt fand, – der Theaterzettel war nämlich an diesem Abend auf Atlas gedruckt. In einem andern den Musen geweihten Hause gab man den „Lumpensammler von Paris“, zum Schlusse wurde ein „Riesensprung durch den Saal“ versprochen; diese Auswüchse am Baume des Theaterwesens sind verschwunden, und die Theateratmosphäre ist in den letzten 10 Jahren in dankenswerther Weise gereinigt worden.

Erst im December und gar im Januar schwillt die Hochfluth der Koncerte mächtig an, die Kreuzzüge der Virtuosen nach der „heiligen Kunststadt“ beginnen. Nach einer ungefähren Berechnung sollen auf jeden Berliner in der Saison ein halbes Dutzend Symphonien, fünf Geigen- und zwei Cello-Soli entfallen, von den Klavierkoncerten gar nicht zu reden. Die Klaviermanufaktur – in des Wortes eigentlicher Bedeutung – blüht ja in Berlin, die Klavierarbeit wird am Ende noch besser bezahlt als jede andere weibliche Handarbeit. Neben der Hochschule für Musik bestehen noch drei oder vier Klavier-Lehrinstitute ersten Ranges, Kullak an der Spitze mit vielen hundert weiblichen Schülerinnen, die sich zum allergrößten Theil wieder dem Lehrfach widmen. Das ist der Fluch der bösen That …

Der größte und vornehmste Theil unserer Koncerte findet im Saale der Sing-Akademie statt. Es ist dies ein Raum von beispielloser Nüchternheit, und es herrscht da immer eine Stimmung wie im Wartezimmer eines vielbeschäftigten Arztes. Alles nimmt still und mit einer gewissen Feierlichkeit Platz, und vergeblich sucht das Auge in dem kahlen Raum einen gefälligen Ruhepunkt. Ich habe die größte Hochachtung vor dem Ernst, dem tiefen Verständniß, mit dem diese Versammlung die Musik, die hier erklingt, in sich aufnimmt. Freilich, es giebt auch unter den andächtigen Zuhörern in der Sing-Akademie Heuchler, nichtsnutzige Tartüffes, die wahrscheinlich gezwungenermaßen das Koncert besuchen und denen der harte Klappstuhl noch härter erscheint, die durch eine ausdrucksvolle Rhetorik ihrer Gliedmaßen das brennende Verlangen nach Erlösung unwillkürlich verrathen und mit der Hand bald die zufallenden Augen, bald den weit geöffneten Mund bedecken müssen. Ja es giebt unter diesen angeblichen Verehrern seriöser Kammermusik Verworfene, denen das „Komm herab o Madonna Theresa …“ aus der neuesten Operette über alle A-moll und C-dur Sonaten der Welt geht.

Auch im Koncerthaus, der Stätte der ehemaligen Bilse-Koncerte, schwingt wieder ein Veranstalter populärer Koncerte den Taktstock, und der Saal ist allabendlich dichtgefüllt. Die Zuhörer sitzen eng an einander gefügt, wie die Feigen in der Kiste, und nur der aalglatten Gewandtheit der Kellner, die ihre Körperverhältnisse allen Umständen anzupassen wissen, ist es zu danken, wenn Hunger und Durst nicht in bedenklicherem Grade überhand nehmen. Es gewährt einen eigenthümlichen Anblick, wenn man während der C-moll Symphonie Beethovens ringsherum Gänseklein, Hühnerfrikassee, ja sogar Klappstullen mit duftendem Harzer Käse verzehren sieht; ein unerschütterlicher Ernst drückt sich in den rhythmischen Kaubewegungen aus und geräuschlos gleiten Gabel und Messer durch Schnitzel und Koteletten, so geräuschlos wie die stählernen und hölzernen langen und kurzen Nadeln in den Händen der Damen, die dem Herkommen gemäß unter Mannsfeldt ebenso wie unter „Bilse“ die weibliche Tugend des Fleißes bewahren und, der Musik lauschend, endlose Tischläufer, zierliche Theeservietten, warme wollene Capuchons und Schlummerrollen entstehen lassen. Einmal hieß es, am Donnerstag weile die Liebe, die poetische Milchschwester der Musik, im Saale, Verlobungsabende nannte man diese Koncerte schlechtweg. Dieser Abend gehört der Jugend und ihren Beschützerinnen. „Die Mädchen“ – meint der weise Montesquieu – „sind von selber hinlänglich zur Ehe geneigt, die Jünglinge nur bedürfen der Aufmunterung“ – und die Musik, die nach Shakespeare „der Liebe Nahrung“ ist, auch die einfachste, wirkt mäichtig auf die Sinne; – ich brauche die Thatsache nicht durch den Hinweis auf kriegerische Fanfaren und Kampfgesänge zu belegen, – bei den Klängen eines schwärmerischen Liedes, eines Wiener Walzers schmilzt die Herzensrinde selbst desjenigen, der sich, wie fast jeder von uns, vorgenommen hatte, als Hagestolz zu sterben.

Ich müßte auch noch von den Vereinen sprechen, die für das winterliche Leben in der Großstadt nicht ohne Bedeutung sind. Die Vereinsmeierei liegt den Deutschen nun einmal im Blute, es ist eine oft bestätigte Erfahrung: „Wenn man in Deutschland irgend etwas nett findet, so entsteht daraus ein Verein“. – Ungefähr 800 Vereine weist das Berliner Adreßbuch nach, und dabei ist eine Menge kleinerer Gesellschaften, Klubs etc. noch gar nicht angemeldet. Es kommen bei dieser Gelegenheit natürlich nur die geselligen Vereine in Betracht, obwohl auch die „Tage“, Berathungen und Sitzungen der politischen, gelehrten und ungelehrten Fachvereine in das öffentliche und das Familienleben eingreifen. Unter den geselligen Vereinen nehmen die humoristischen einen hervorragenden Platz ein, und dann die Theatervereine, deren Wirksamkeit von den Vorstadttheatern übrigens wohl gefühlt wird. Die humoristischen Gesellschaften, die den „Ulk“ auf ihre Fahne geschrieben haben, sind über ganz Berlin verbreitet; sie legen sich die räthselhaftesten Namen bei, z. B. „Blaue Zwiebel“, „Grüne Brille“, „Lustiger Spund“, „Dampfwalze“; verständlicher sind die Bezeichnungen „Eulenspiegel“, „Humor“ etc. Der Zweck der Rauchklubs, die auch recht bezeichnende Titel führen, z. B. „Gemüthlicher Qualm“, „Fidibus“, „Weichselrohr“, ist mir nicht recht klar. Das Rauchen ist am Ende doch kein geselliges Vergnügen? – Unübersehbar ist die Menge der Vereine „Ehemaliger“: Da giebt es, „ehemalige Kameraden des zweiten Garderegiments zu Fuß“ – „ehemalige Schwedter Dragoner, Husaren, Ulanen“ etc., ehemalige Frequentanten dieser oder jener Lehranstalt, und man hat bereits die Gründung eines „Vereins ehemaliger Vereinsmitglieder“ vorgeschlagen.

Die meisten dieser Vereine, die in den Wintermonaten mit ihren Sitzungen und Zusammenkünften so wichtig thun und das Gute haben, daß sie dem Ehrgeiz zahlreicher organisatorischer, gesellig hochbegabter, rhetorisch gewandter Menschen ein Feld zur Bethätigung eröffnen, sind, wenn wir ganz ehrlich sein wollen, in vielen Fällen doch nur auf den ewigen „Dorscht“, das germanische Nationalleiden zurückzuführen, und sie bezwecken nicht viel mehr, als einen Vorwand zum gemeinsamen Zechen.

Mithin schlägt das Vereinsleben des Berliner Winters in das Gebiet des Kneipenwesens, das leider den Ruhm des deutschen Familienlebens recht gründlich zu erschüttern beginnt. So unvollständig diese nur in großen Zügen entworfene Liste der Berliner Wintervergnügungen ist, so wird sie doch bewiesen haben, daß in der deutschen Reichshauptstadt, wo man so ausdauernd und emsig zu arbeiten weiß, auch dem Vergnügen sein Recht wird.




Blätter und Blüthen.

Murillo’s Betteljungen. (Mit Illustrationen Seite 12 und 13.) Zu den größten Schätzen der Münchener Pinakothek gehören bekanntlich die fünf Kindergruppen Murillo’s, von denen wir hier die beiden berühmtesten in Holzschnitt-Nachbildung wiedergeben, da sie zugleich auch für den Entwickelungsgang des Künstlers selbst am bezeichnendsten sind. Ist doch das Leben dieses größten aller spanischen Maler neben dem Correggio’s eines der eigenthümlichsten Räthsel der Kunstgeschichte. Zunächst durch die allen Traditionen widersprechende Art seiner Ausbildung, denn außer einem zweijährigen Aufenthalt in Madrid hat er seine Vaterstadt Sevilla, wo er am 1. Januar 1618 geboren oder doch getauft ward, nie auf länger verlassen, mußte sich also ganz selbständig ausbilden, da sein Meister Juan de Castillo weit unter ihm stand. Wenn er dann auch in den reichen Sammlungen von Madrid die schönsten Werke des Titian und Rubens kennen lernte und von dem auf der Höhe seines Ruhmes stehenden Hofmaler Velasquez jedenfalls viele Einflüsse erfuhr, so konnte das bei so kurzem Aufenthalt doch nicht viel mehr als den Werth von einer Orientirung in seiner Kunst haben. Murillo ist daher eines der glänzendsten Beispiele für den berühmten Goethe’schen Satz: „Es bildet ein Talent sich in der Stille.“

Die Folgen dieses von dem unserigen so sehr verschiedenen Bildungsganges sieht man nun bei unserem Esteban Murillo in ganz besonders glänzender Weise, speciell an diesen weltbekannten Kindergruppen, die der Meister offenbar alle in Sevilla auf der Gasse aufgelesen hat. Weil sie so unmittelbar aus dem Leben gegriffen sind, finden wir in ihnen eine Poesie des Proletarierthums entwickelt, wie sie eben nur der Süden kennt und möglich macht, wo man mit einem Stück Polenta oder Kürbiß sich einen ganzen Tag ernähren kann und seinen Durst am nächsten Brunnen löscht. Daß ihre Garderobe ihnen auch keine großen Auslagen verursacht, das sieht man bei den zwei Schlingeln des einen unserer Bilder nur zu deutlich, von denen der eine die Melone, der andere ein Körbchen mit Weintrauben wohl in des Nachbars Garten erbeutet hat und die nun nach dem alten Sprichwort: „Brätst Du mir eine Wurst, so lösch’ ich Dir den Durst“ ihre Schätze mit einander austauschen. Denn der Besitzer der Melone hat, wie man sieht, seinem Genossen bereits ein Stück derselben gegeben und erwartet nun die Bezahlung aus dessen Traubenkorb. Der glückliche Inhaber desselben scheint sich indeß viel zu sehr in den eigenen Genuß vertieft zu haben, um den Wünschen des Andern sofort zu entsprechen.

Er wirft ihm im Gegentheil einen Blick zu, als wenn er das bischen Melone bei Weitem nicht ausreichend für seine herrlichen Trauben fände. Unübertrefflich ist die Wonne geschildert, mit der die Beiden sich Gottes Gaben schmecken lassen, es ist die lautere Natur, wie sie mit solcher rücksichtslosen Wahrheit und zugleich so bezauberndem Humor eben nur einer der größten Künstler aller Zeiten wiederzugeben vermochte. Nicht eine Spur von süßlicher Idealisirung ist zu entdecken an den halb verhungerten kleinen Raubthieren, ihre Glieder, wie ihre Lumpen, starren von Schmutz. Man sieht an diesem mit der ganzen Frische der Jugend aufgefaßten Bilde denn auch noch deutlich den Einfluß des großen Landsmannes Murillo’s, des damals schon hochberühmten Ribera oder Spagnoletto der zwar schon lange in Neapel lebte, dessen in Sevilla und Madrid befindliche Bilder aber offenbar mächtig auf den jungen Murillo wirkten.

Auf seiner vollen Höhe sehen wir Murillo dann in dem andern, etwa zehn bis fünfzehn Jahre später entstandenen Bilde, den „Würfelspielern“, wo er abermals die Proletarierjugend verherrlicht. Hier entwickelt er aber bereits neben noch größerer Meisterschaft in der Zeichnung zugleich einen Reiz des die Figuren umspielenden Lichtes und der Luft, einen Zauber der Färbung, jenes wunderbar fein nüancirte Grau, in dem ihn nie wieder [20] Jemand erreicht hat. Jede Spur der früheren, bis zur Härte gehenden Bestimmtheit ist hier verschwunden, Alles schwimmt in magischem Lichte. Dabei ist der Ausdruck ebenso wahr. Wie der vordere als der einfältigere der beiden spielenden Jungen sich über das Glück seines triumphirenden Gegners wundert, mit welcher Unbekümmertheit der daneben stehende kleine Galgenstrick sein Stück Brot verzehrt und den Spitz vergeblich auf einen Brocken spekuliren läßt, das ist alles mit einer großartigen Meisterschaft gegeben, die selbst den dürftigen, ewigen Hunger verrathenden Gliederbau der zerlumpten und auch sonst nichts weniger als schönen, halbwilden Jungen mit einem poetischen Reiz zu übergießen weiß.

Man muß die Welt in irgend einer Weise, sei’s mit dem Pinsel, der Feder oder dem Degen erobern oder sich nicht um sie kümmern, um vollkommen glücklich zu sein; zwischen Diogenes und Alexander giebt es keine halbwegs befriedigende Mittelstufe – unsere kleinen Weltbürger aber haben die Höhe des Ersteren hier schon vollständig erklommen.

Leider hat der herrliche Künstler, der uns diese Meisterwerke geschenkt, die Vergänglichkeit alles irdischen Glückes auch an sich selbst erfahren müssen. Als er auf der Höhe des Ruhmes durch eine lange Reihe von unsterblichen Meisterwerken angelangt war, genügte im Jahre 1686, während er an eine „Vermählung der heiligen Catarina“ in der Kapuzinerkirche zu Cadiz die letzte Hand anlegte, ein einziger falscher Tritt, ihn vom Gerüste stürzen und sein ruhmvolles Leben plötzlich einbüßen zu lassen. Fr. Pecht.     


Plauderei. (Mit Illustration S. 4 u. 5.) Plaudern! Das ist seit jeher eins der Hauptbedürfnisse der Menschheit. Die höheren Schichten unserer Gesellschaft haben sogar die Plauderei zu einer besonderen Kunst ausgebildet, und je glatter der Parkettboden, auf dem sich der Mensch bewegt, desto gewandter muß er zu plaudern verstehen. Dasselbe Gesetz waltet auch in der entgegengesetzten Schicht der Gesellschaft, wo es keine strahlenden Kronleuchter giebt. Es äußert sich allerdings hier etwas anders als dort. Die dichterische Kunst hat jedoch die beiden Arten des Plauderns, trotz ihres diametralen Unterschieds, nach Kräften ausgenützt, und wer sie im Leben nicht genau studiren konnte, der findet sie mit gewissenhafter Treue in den Dialogen zahlloser Romane und Dramen phonographirt. Nur die Maler gehen diesem Thema zumeist beharrlich aus dem Wege; denn es ist ein kühnes Unterfangen, mit den stummen Farben Worte und Gespräche zu malen. Nur einem Meister kann dies gelingen, und ein Meister ist es auch, der das Bild, welches unsere heutige Nummer schmückt, getrost „Plauderei“ nennen durfte.

Wie packt uns auf den ersten Blick die anmuthige Scene! In dem alten Mathias mit dem weißen Schnurrbart und der Hahnenfeder auf dem morschen Hut erkennen wir sofort einen guten Bekannten und glauben von seinen Lippen eine seiner Jagdgeschichten zu vernehmen, und auch die lebfrische Emmerenz ist uns nicht fremd und scheint wirklich von der scheckigen Kuh zu erzählen. Gewichtige Dinge sind es gewiß nicht, über die hier so leicht hinweg geplaudert wird.

Aber eine tiefe, wenn auch stumme Zwiesprach wird doch an dem Tische geführt. Die Augen der schmucken Cilly mit dem runden Hütchen erzählen viel Schöneres, als man je im Leben hören kann, und der hübsche Hansei dort im Hintergrunde läßt sich kein Jota dieser geheimnißvollen Sprache entgehen. Was sonst geplaudert wird, dafür haben die beiden jungen Leute kein Ohr, aber wenn alle aufbrechen und sich zum Abschied rüsten, werden sie gewiß dem alten Mathias das wärmste Lob spenden für seine schöne Unterhaltung.


Eine Papierstatistik der „Gartenlaube“. Ein Leser unseres Blattes richtete vor Kurzem an uns die Frage, wie viel Papier zum Drucke der „Gartenlaube“ seit ihrer Gründung wohl verbraucht wurde. Um seine Neugierde zu befriedigen, stellten wir eine Berechnung zusammen, die zu so überraschenden Resultaten führte, daß wir beschlossen haben, sie auch weiteren Kreisen an dieser Stelle bekannt zu geben.

Vom Jahre 1853 bis zum Schlusse des Jahres 1885 sind von der „Gartenlaube“ zusammen 356 980 000 Nummern gedruckt, welche die Zahl von 6 856 000 Jahrgängen oder Bänden ergeben, während die Zahl der Druckbogen rund 900 000 000 beträgt. Würde man diese Bogen in einer Linie an einander legen, so könnte man mit denselben 14½ Mal die Erde am Aequator umspannen. Die Länge dieses Papierstreifens würde die Länge sämmtlicher Eisenbahnlinien der Welt nicht nur decken, sondern dieselbe noch um rund 200 000 Kilometer übertreffen. Mit diesem Papierstreifen könnte man auch den Mond mit der Erde verbinden und dann den Rest desselben noch fünfmal um die Erde wickeln.

Würden wir aber alle Bogen ausbreiten und mit denselben eine Fläche zu bedecken suchen, so kämen wir zu dem gewiß überraschenden Resultat, daß wir mit ihnen nicht einmal den Bodensee überspannen und kaum das 316 Quadratkilometer große Fürstenthum Reuß älterer Linie bedecken könnten.

Noch überraschender fällt folgender Vergleich aus: Legen wir die einzelnen Bände auf einander, so erreichen wir dadurch die imposante Höhe von etwa 320 000 Metern, welche die Höhe des höchsten Berges der Erde, des Gaurisankar[WS 1] 36 Mal und diejenige des Mont-Blanc beinahe 67 Mal übertrifft. Würden wir aber alle Bände in einem Raum unterbringen, welcher der großen Cheopspyramide entspricht, so müßten wir wahrnehmen, daß diese ganze Papiermasse nur hinreichen würde, um den dreißigsten Theil derselben vollzupfropfen! Wenn ferner das größte deutsche Kriegsschiff „König Wilhelm“ vor die Aufgabe gestellt werden sollte, alle Bände nach einer Insel zu schaffen, so müßte es 16 Mal vollgeladen werden, bis es den Transport bewerkstelligte. Und das Gewicht dieser Bände? In runder Summe dürfte es 190 000 000 Kilogramm betragen und, auf gewöhnliche Lowrywagen der Eisenbahn verpackt, 4250 derselben füllen. 85 Eisenbahnzüge zu je 50 Wagen wären nöthig, um diese Gewichtsmasse zu befördern. Wollte aber ein Mensch versuchen, alle Seiten, die in den 6 856 000 Bänden enthalten sind, zu zählen, so würde er das niemals zu Stande bringen; denn selbst wenn er Tag und Nacht zählte und zur Nennung jeder Zahl nur eine Sekunde brauchte, so würde diese Arbeit doch die Zeit von 228 Jahren, 3 Monaten, 23 Tagen und 8 Stunden erfordern.



Allerlei Kurzweil.


Bilder-Räthsel.



Inhalt:

[ Inhalt der Nr. 1 des Jahrgangs 1886, hier nicht wiedergegeben.]




[ Werbung des Verlags für den neuen „Gartenlaube-Kalender“, hier nicht wiedergegeben.]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Verkleinerungswort von caliga, Soldatenstiefel. Caligula bedeutet also Soldatenstiefelchen. Der Sohn des Germanicus und der (älteren) Agrippina hat, wie jedermann weiß, diesen Spitz- oder vielmehr Kosenamen in seiner Kindheit im Feldlager von Germanien von den Soldaten zugelegt bekommen, weil seine Mutter den Knaben kleine Soldatenstiefel tragen ließ. Später war ihm aber die Benamsung Caligula sehr unliebsam. Die alten Quellenschriftsteller nennen ihn übrigens nicht Caligula, sondern Gajus Cäsar. Der Caligula, der Ueberschrift von Suetons Biographie ist ein späterer Zusatz. – Ich will gerade noch anmerken, daß die Quellen zur Geschichte dieses Kaisers leider nicht so reichlich fließen, wle zu wünschen wäre. Am empfindlichsten trifft uns, daß die Bücher 7–10 der „Annalen“ des Tacitus bekanntlich verloren gegangen. Davon waren zwei oder drei Bücher der Regierung des Gajus Cäsar gewidmet und wir dürfen kecklich annehmen, daß uns hier ein Bild desselben geboten war, wie es eben nur Tacitus zu malen vermochte. In Ermangelung dieses Führers sind wir auf Dion und Sueton angewiesen und zur Ergänzung derselben auf die gelegentlichen Mittheilungen, Bemerkungen und Winke, die sich in den taciteischen „Historien“, sowie bei den beiden jüdischen Autoren Philo und Josephus, endlich beim Seneca, dem älteren Plinius und anderen finden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist der Mount Everest. Zur Namensverwechslung siehe die Wikipedia.