Die Gartenlaube (1885)/Heft 47
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No. 47. | 1885. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Edelweißkönig.
(Fortsetzung.)
Was hat denn der Bauer heut’ – was hat er denn g’rad?“ so ging es am folgenden Morgen unter den Dienstboten des Finkenhofes mit flüsternder Frage von Mund zu Mund.
Als wäre Jörg durch lange, lange Zeit von seinem Hofe fern gewesen und in der verwichenen Nacht erst zurückgekehrt, so ging er rastlos überall umher, betrachtete alles und frug nach allem. Doch immer nur wenige Sekunden duldete es ihn auf der gleichen Stelle. Wenn er seine Dienstboten ansprach, sprang er vom einen aufs andere, und wenn er Fragen an sie stellte, ging er häufig davon, ohne die Antwort abzuwarten. Sein ganzes Wesen war Ungeduld und Unruhe. Hundertmal wohl im Laufe des Vormittages sah man ihn die Uhr aus der Tasche ziehen, als schliche ihm die Zeit in unerträglich trägem Schneckengang dahin. Oft sah man ihn inmitten des Hofes stehen, mit erhobenem Kopfe, wie hinausschauend in unbestimmte Ferne, und häufig auch gewahrte man, wie er plötzlich ohne jede Ursache in sich zusammenfuhr und die scheuen, ängstlichen Blicke nach der Straße, über das Haus und gegen den Garten irren ließ. Dabei geschah es manchmal, daß seine Blicke den forschenden Augen der Emmerenz begegneten, und dann fuhr es bald wie Röthe, bald wie Erblassen über sein Gesicht.
Während der Nachmittagsstunden war er mit keinem Blick im Hofraum zu ersehen; Emmerenz mußte ihn suchen, um in einer wirthschaftlichen Angelegenheit seinen Willen zu hören.
[774] Als sie die Stube betrat, sah sie den Bauer und die Bäuerin vor dem Tische stehen; die beiden waren damit beschäftigt, allerlei Gewandstücke und Eßwaaren in einen Rucksack zu verpacken. „Ich hab’ fragen wollen, Bauer –“ begann Emmerenz noch auf der Schwelle; aber sie kam mit ihrer Frage nicht zu Ende. Während die Bäuerin in ängstlicher Hast ein Tuch über die Gegenstände warf, die auf dem Tische lagen, fuhr Jörg, der über Enzi’s Eintritt mehr erschrocken als erzürnt schien, die Dirne mit heftigen Worten an: „Was willst? Was hast denn jetzt auf amal in der Stuben herin zum suchen ? Das taugt mir net – das Umstreunen am hellen Tag. Mach’ weiter und schau, daß zu Deiner Arbeit kommst!“ Und da wußte Emmerenz in ihrer Verblüffung über diesen Empfang nichts Besseres zu beginnen, als wortlos und hurtig den Rückzug anzutreten. Eine Weile stand sie im Flur, nachdenklich vor sich niederblickcnd; dann ging sie kopfschüttelnd der Hofthür zu. Draußen begegnete sie dem Kommandanten, der sich mit zögernden Schritten von der Straße her näherte: er war ohne Gewehr und trug die „Feiertagsmontur“. Der Ausdruck ängstlicher Unbehilflichkeit, welcher auf seinen sauer lächelnden Zügen lag, war beinahe mitleiderweckend.
„Ischt der Finkenbauer daheim?“ frug er die Dirne mit lispelnder Stimme, während seine scheu verlegenen Blicke die Fensterreihe des Hauses musterten.
„Ja, daheim is er schon – aber –“ erwiderte Emmerenz, den Nachsatz verschluckend, der ihr auf der Zunge gelegen.
Herr Wimmer rückte die Mütze in die Stirn und kraute sich den Hinterkopf. „Das ischt eine verfluchte Geschichte!“ murmelte er vor sich hin und betrat, mit vollen Backen blasend, die Schwelle.
Sachte klopfte er an die Thür; er hörte in der Stube ein hastiges Flüstern, rasch enteilende Tritte, und dann des Bauern laute Frage: „Wer is da?“’ Herr Wimmer trat ein und fand sich wenig ermuthigt, da er den Bauer bei seinem Anblick zurücktaumeln sah, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. „Nix für ungut, Finkenbauer, nix für ungut – aber – aber ich hab’ kommen müssen – ich hab’ müssen – es hat mich nimmer g’litten –“ stammelte Herr Wimmer, während ihm der Schweiß in dicken Tropfen aus Stirn und Schläfen brach. Da er die steifen Blicke krampfhaft in die Dielen bohrte, konnte er nicht gewahren, wie Jörg seine Züge zur Ruhe, seine Lippen zu einem Lächeln zwang. „O mein Gott – gelt Finkenbauer, „schreckliche Sachen hat’s ’geben, seit wir uns nimmer g’sehen haben. Aber – Gott soll mir’s bezeugen – ich, Finkenbauer, ich kann nix dafür, daß’s so bös aus’gangen ischt!“
„Ich weiß schon, Herr Kommandant – Sie hätten’s anders g’macht, wenn’s anders zum machen wär’ g’wesen – ich weiß schon – ich weiß schon – und – und was von Ihnen aus g’schehen is, hat g’schehen müssen – Sie sind ja ang’stellt dafür und haben g’schworen.“
Herr Wimmer traute seinen Ohren kaum, als er den Bauer solche Worte sprechen hörte. Ueber ihrem seinen stillen Plänen so hoch willkommenen Sinne übersah er völlig die hastige, zitternde, ängstliche, fast lauernde Art, in der sie gesprochen waren. Und als er nun gar die vor Staunen weit offenen Augen hob und den Bauer mit ausgestreckten Händen auf sich zukommen sah, wußte er vor Verblüffung und Verwirrung für sein Schnupftuch, mit dem er sich Stirn und Wangen trocknete, kaum die Tasche zu finden. Früher als sein Verstand kam seine Zunge zur Besinnung. Er faßte Jörg bei den Händen, zog ihn nach dem Tische und übersprudelte ihn mit Trostesworten und mit Versicherungen seiner Theilnahme und Freundschaft. Er beklagte Ferdl’s Schicksal und sprach unter Thränen, auf die er durch häufiges Wischen der Augen aufmerksam zu machen suchte, von dem plötzlichen Tode des „lieben, schönen Fräuleins Johanna“. Dann wieder erzählte er in überhasteten Worten von jenem traurigen Morgen. Er war dabei allzu sehr mit dem beschäftigt, was er in jenen „fürchtigen Stunden“ gedacht, empfunden und gethan, um ein Auge für die zitternde Unruhe zu haben, mit welcher Jörg ihm gegenüber saß.
„Aber jetzt – aber jetzt,“ unterbrach der Bauer plötzlich den Redefluß des Kommandanten, „aber jetzt, wo’s aus is und gar mit ihm –, was is nachher jetzt? Is jetzt a Ruh’? Is jetzt a Fried’? Sind s’ jetzt z’frieden, die drin in der Stadt? Wird keiner mehr kommen und fragen, wie’s war und wie’s sein könnt’?“
„No freilich – no freilich ischt jetzt a Ruh’, no freilich ischt jetzt a Fried’!“ betheuerte Herr Wimmer. „Was wollt’ man denn da noch wollen, wo nix mehr zum haben ischt! Wo der Tod sein Wörtle g’sprochen hat, da steckt auch die G’rechtigkeit ihr Schwert in d’ Scheid’. Da kann der Finkenbauer ruhig sein – ganz ruhig. Da hab’ ich schon g’sorgt dafür, denn ich bin dem Finkenbauer sein Freund. Ja, ja – da hätt’ der Finkenbauer nur amal den Bericht lesen sollen, den ich aufg’setzt hab’ und ’neing’schickt in d’ Stadt. Wenn S’ da g’lesen hätten, wie ich die Sach’ mit der Fluchtunterstützung darg’stellt hab’, und alles Andere, was da noch drin g’standen ischt – nachher möchten S’ mir alle beide Händ’ drucken und möchten sagen: der Herr Kommandant ischt mein Freund, und dem hab’ ich’s zum verdanken, wenn jetzt a Ruh’ ischt und a Fried’. Ja – so ischt die Sach’ – da beißt kein Mäusle mehr an Faden ab!“
Das Gesicht des Kommandanten erglänzte vor freudiger Erregung, als Jörg nun wirklich that, was ihm so nahegelegt worden war.
„Ich dank’, Herr Wimmer! Das vergiß ich Ihnen nie nimmer – nie in mei’m ganzen Leben!“ stammelte der Bauer mit schwankender Stimme, während er unablässig die Hände des Kommandanten drückte und schüttelte, „Und gelten S’, Herr Wimmer, wie ’s jetzt auch sein mag – und was kommt – wir Zwei bleiben gute Freund’ mit einander!“
„G’wiß, Finkenbauer, g’wiß – älleweil gute Freund’ – älleweil!“ versicherte Herr Wimmer, der sich bei der Wahrnehmung, welch’ ein begehrter Gegenstand seine Freundschaft wäre, vor Stolz und Selbstbewußtsein ordentlich dehnte und streckte. In diesem Gefühle seiner Würde und seines Werthes begann er nun gar gnädig, so recht von oben herab gnädig mit Jörg zu reden. Als er sich endlich zum Abschied erhob, klopfte er Jörg vertraulich auf die Schulter und versicherte ihm zu wiederholten Malen, daß er „ganz ruhig“ sein und sich auf ihn verlassen könnte. Stolz erhobenen Hauptes stapfte er der Thür zu. Bei all seinem Selbstbewußtsein aber hätte es ihn stutzig machen müssen, wenn er das geringschätzende Lächeln gewahrt haben würde, mit welchem Jörg ihm bis zur Schwelle das Geleite gab, und wenn er durch die geschlossene Thür hätte sehen und hören können, wie der Bauer aufathmend sich emporrichtete und mit nickendem Kopfe vor sich hin murmelte: „Den hab’ ich mir ’kauft – den brauch’ ich net zum fürchten!“
Bald nach ihm verließ der Finkenbauer den Hof, den schwer bepackten Bergsack auf dem Rücken.
Als am Abend die Nachbarsleute zum „Dreiß’gerbeten" kamen und nach dem Bauer frugen, sagte ihnen die Mariann’, daß ein dringendes Geschäft ihn nach einem weit entfernten Dorfe gerufen hätte, von wo er wohl erst nach einigen Tagen zurückkehren würde.
Fast eine Woche blieb er aus. Spät an einem Abende kehrte er zurück und betrat das Haus durch den Garten. Der Zufall wollte es, daß ihm Emmerenz mit einem Lichte im Flur begegnete. Als sie den Bauer betrachtete, meinte sie, er könnte eher von schwerer Arbeit zurückkommen, als von einer Fußreise und von Geschäften; wenigstens sahen seine schrundigen Hände und seine arg mitgenommenen Kleider darnach aus. In der Wohnstube brannte in dieser Nacht die Lampe bis in den Morgen hinein.
Tage und Wochen vergingen; das Leben auf dem Finkenhof schien wieder im alten Geleise zu rollen – und dennoch hatte es ein anderes Gesicht bekommen. Die Mariann’, die sonst so resolut in ihrer Wirthschaft geschaltet und gewaltet hatte, war so still geworden, so in sich gekehrt; wer sie beobachtete, konnte gewahren, wie immer und immer ihre gutmüthigen Augen mit dem Ausdruck tiefer Sorge auf dem ergrauten Haupte ihres Mannes ruhten. Der hatte sich in seinem Wesen wohl ein wenig zum Besseren verwandelt; aber die schweigsame Zerstreutheit und eine Art „schreckhafter“ Unruhe waren ihm verblieben. Wenn die Ehhalten darüber ihr Gerede führten, pflegte Enzi zu sagen: „Laßts den Bauern in Fried’! Der hat halt a Herz – und das trauert sich so g’schwind net aus.“
Häufig war Jörg vom Hause abwesend; entweder wanderte er mit dick angepacktem Rucksack die Straße hinaus, oder er fuhr in seinem einspännigen Bernerwägelchen davon, welches fast immer mit mancherlei Kistchen und Schachteln beladen war; zumeist blieb er nur eine Nacht vom Hofe fern, manchmal aber auch durch [775] mehrere Tage. Diese Wege und Fahrten hatten stets eine triftige Ursache, welche für die Dieeestboten durchaus kein Geheimniß war, ihnen im Gegentheile von der Bäuerin immer mit vertraulicher Genauigkeit klargelegt wurde. Bald war es ein Kauf- oder Tauschgeschäft mit Vieh und Pferden, was den Bauer vom Hofe entführte, bald ein Holzhandel, bald der nöthig gewordene Ankauf von Sämereien und Getreide, von Geräthen und Dingen für die Wirthschaft, bald Dies bald Jenes. Diese Wege und Fahrten häuften sich aber so sehr, daß trotz aller Triftigkeit nicht nur unter den Dienstboten, sondern auch im Dorfe ein Gemunkel darüber entstand. Auch hier war es Emmerenz, die ein erklärendes Wort gleich bei der Hand hatte. „Daheim, wo ihn Alles an die traurigen Tag’ vermahnt, kann halt der Bauer sein Humor nimmer finden – drum sucht er ihn draußt um anand’ und b’sorgt halt selber jetzt, was er sonst von Andere hat b’sorgen lassen.“
Bei Gelegenheit eines Kirchganges gerieth sie einmal hart mit dem Valtl zusammen, der wirklich bei dem übel berüchtigten Leithenbauer in Dienst getreten war und nun offen das Gerede im Dorfe schürte und die Leute gegen seinen ehemaligen Dienstherrn hetzte; als sie dem Bauer in entrüsteten Worten davon Mittheilung machte, schwieg Jörg eine Weile und sagte dann: „Ich dank’ Dir, Enzi! Aber den Valtl laß reden – dem sein Reden thut mir net weh!“
Doch war er von nun an seltener vom Hause abwesend; daß er sich häufig in der dunklen Abenddämmerung durch den Garten davonschlich, mit schwer beladenen Schultern, und bei grauendem Morgen wieder heimkehrte – das wußte ja nur die Mariann’. Viel begann sich Jörg in dieser Zeit mit seinen Kindern zu beschäftigen, die sich ihrerseits wieder eng und herzlich an den Vater anschlossen. Waren sie doch mit der Veverlbas’ seit langen Wochen gar nicht mehr zufrieden! Früher, wenn sie mit ihnen in der Stube oder im Garten beisammen gesessen war, da war sie ein Kind mit den Kindern gewesen, hatte ihre Spiele getheilt und hatte ihnen stundenlang vorgeplaudert von Allem, was sie wußte, was sie in Herz und Köpfchen trug. Jetzt aber war sie so schweigsam und verschlossen; aus einer Genossin der Kinder war sie zur stillen Wächterin geworden; wenn die Kinder zu ihren Füßen spielten, saß sie mit verschränkten Armen oder mit im Schoße gefalteten Händen, aufstarrend zur Stubendecke oder hinausblickend in ziellose Ferne, ernster noch und träumerischer als früher staunten die dunklen Rehaugen aus ihrem lieblichen Gesichte, das manchmal blaß und durchsichtig war wie die Kelchblätter einer Schneerose, dann wieder blühte und glühte in duftigem Roth wie ein Apfel bei beginnender Reife. Dabei streckte sich die Gestalt des Mädchens fast sichtlich von Tag zu Tag, und runder und voller wurden ihre Formen. Wenn auch nur Jörg allein diese plötzliche Wandlung zu verstehen meinte, so fiel sie doch allen im Finkenhofe auf. Ein Einziger nur hatte keine Augen dafür – der Dori. Veverl war ihm eben Veverl, und so, wie sie war, war sie ihm Alles.
Gar fleißig während all dieser Zeit sprach Herr Simon Wimmer im Finkenhofe vor, wenngleich ihm Dori’s Neckereien diese Besuche recht sehr verbitterten. Der Bursche hatte es bald gewittert, auf welch geheimen, absichtsvollen Wegen die „Verfluchte Geschichte“ wandelte, und da sann er nun allnächtig lange Stunden nach, welch einen Schabernak er am kommenden Morgen dem Didididi wohl spielen könnte. Redlich wurde Dori von Veverl unterstützt, um Herrn Wimmer’s hoffnungsvolle Laune zu trüben. Ein einziges Mal nur war es ihm gelungen, das Mädchen zu sprechen – und Veverl hatte nach dieser Unterredung, so kurz sie gewesen war, durch lange Stunden ein rothes Mal auf der Wange umhergetragen. Seitdem floh sie wie ein gescheuchtes Reh in die verborgensten Winkel des Hauses, wenn sie vom Hofe her das bekannte, würdevolle Räuspern hörte, oder wenn Dori ihr die Ankunft des Gefürchteten meldete. In der Hoffnung, Veverl zu treffen, stellte sich Herr Simon Wimmer sogar manchmal beim „Dreiß’gerbeten“ ein, aber nur ein einziges Mal glückte es ihm, den Platz an Veverl’s Seite zu erobern, so oft er dann wiederkam, fand er die Emmerenz zur Linken, den Dori zur Rechten des Mädchens. Dafür trug er aber vom letzten „G’sturitrunk“, der am fünfundzwanzigsten Mai gehalten wurde, ein seiner „Büldung“ wenig entsprechendes Räuschlein mit nach Hause. Die Leute wunderten sich damals, daß Jörg zugleich mit dem Rosenkranz für die Hanni auch die Gebete für den Ferdl schließen ließ, für welchen doch nach Recht und Brauch zwei Tage länger hätte gebetet werden sollen. Das Benehmen des Finkenbauern in dieser Sache hatte überhaupt manches Verwunderliche. Während er den Rosenkranz für die Hanni stets mit lauter Stimme mitzubeten pflegte, rührte er bei den Gebeten für den Ferdl keine Lippe, oder verließ wohl auch, wenn sie begannen, die Stube. Die Leute machten natürlich ihre Glossen – und die Meisten meinten: „Er zürnt sei’m Bruder noch im Tod – er kann’s ihm halt net vergessen, daß er ihm d’ Schandarm’ ’rein’zügelt hat in sein rechtlichen Hof!“
So nahte Ende Mai.
Die Zeit der Almfahrt war schon nahe, und da stieg bei grauendem Tage Emenerenz zu Berge, um Nachschau zu halten, wie ihre liebe Bründlalmhütte sich „g’wintert“ hätte und ob sie nicht durch die Lawinenstürze und Föhnstürme zu Schaden gekommen wäre.
Die Dirne kehrte von ihrer Bergfahrt früher zurück, als man erwartet hatte. In heller Aufregung suchte sie den Bauer und fand ihn in der Stube.
„Denk’ Dir g’rad, Finkenbauer,“ berichtete sie unter Thränen der Entrüstung, „mein’ ganze Hütten is ausg’raubt worden! ’s eiserne Oeferl haben s’ ’rausg’rissen aus der Holzstuben, ’s ganze Kreisterbett haben s’ davon, den Tisch mitsammt der Bank und die zwei Stühl’, alles G’schirr, was droben g’wesen is über’n Winter, und – noch net g’nug – mein’ Herrgott haben s’ mir mitg’nommen, die unchristlichen Halunken, und all meine Heiligenbildln dazu!“
„Ja was D’ sagst – was D’ sagst!“ that der Bauer ganz erschrocken und erzürnt.
„Ja – und g’wiß vor a drei, vier Wochen muß die Rauberei schon g’schehen sein. A Fährten siehst gar nimmer net – und wo s’ den Ofen ’rausg’rissen haben aus der ang’mauerten Wand, da sind die Riss’ und Brüch’ ganz alt schon zum anschaun. Und an Schlüssel zur Hüttenthür müssen s’ auch g’habt haben – oder es is gleich gar a Schlosser dabei g’wesen – denn an der Thür kannst gar nix sehen, daß ’was aufg’sprengt wär’ – ganz schön is ’s Schloß wieder zug’sperrt. So a Lumperei!“
Die Hände auf dem Rücken, wanderte Jörg in der Stube auf und nieder und schalt und wetterte, daß die Fenster klirrten.
„Ja mein, Bauer – mit’m Schimpfen is gar nix g’holfen! Da muß ’was g’schehen! Was is denn – soll ich ’leicht zum Kommandanten ’nauflaufen, daß er herkommt und die Sach’ zur Anzeig’ nimmt?“
„Was? Anzeigen? Das wär’ mir noch ’s Rechte!“ fuhr der Bauer auf. „Daß ich zum Schaden den Spott auch noch tragen müßt’. Meinetwegen sollen s’ hin sein, die paar lumpigen Mark, wo das Sach’ werth is – is mir lieber, als daß mich d’ Leut’ auslachen thäten im ganzen Ort. Und drum brauchst weiter nix z’ reden – ich laß Dir Dein’ Hütten schöner wieder herrichten, als wie’s z’erst g’wesen is!“
Das geschah nun auch in den nächsten Tagen, und zwar auf eine Weise, daß Niemand Ursache fand, nach dem Verbleib der alten Geräthe zu fragen.
Der Sonntag kam, an welchem im Wirthshause der Almtanz abgehalten wurde, eine Art von Abschiedsfeier für die Sennerinnen, die in den folgenden Tagen den Auftrieb nach den Almen vollführen sollten.
Da war es zur Nachmittagszeit, als Gidi von den Bergen niederstieg ins Thal. Von weitem schon hallten ihm die fröhlichen Tanzweisen, die johlenden Jauchzer und lustigen Gesänge entgegen. Was aber ging ihn all dieser Jubel an? Vierzehn volle Tage hatte er droben in seiner Jagdhütte verbracht; sein Mundvorrath war aufgezehrt, und um ihn zu erneuern, kam er nun niedergestiegen in das Dorf. Bei grauendem Abend wollte er wieder hoch oben sein im schönen, geliebten Bergwald.
Doch als er am Wirthshause vorüberschritt, rief ihn der Wirth mit so freundlichen Worten an, und manch ein Bekannter winkte ihm mit dem Kruge den Willkomm’ zu. Da konnte Gidi nicht anders. „No – meinetwegen – auf a Stamperl!“ lächelte er und schritt auf die mit grünendem Birkenreis geschmückte Thür zu. Vielleicht zog ihn neben Durst und Höflichkeit doch auch noch etwas Anderes in das lustige Haus, denn mit forschenden Blicken musterte er die offenen Fenster des im oberen Stocke liegenden Tanzsaales.
Er betrat die Stube, deren Decke unter den Füßen der Tanzenden zitterte und dröhnte. Eine Weile währte es, bis er [776] mit „Gott g’segn’s!“ und „Vergelt’s Gott!“ von Krug zu Krug die Runde gemacht hatte. Dann ging er in die Schlafkammer der Wirthsleute, um seine Büchse in eine sichere Ecke zu stellen; daneben warf er den Rucksack auf die Dielen und hieß den Hund sich darauf niederkuschen.
Schon wollte er die mit plaudernden und schäkernden Paaren verstellte Treppe zum Tanzboden emporsteigen. Da schlug durch die offene Hinterthür der Klang einer Cither und ein Gewirr von lachenden Stimmen an sein Ohr, und aus all diesen Stimmen kicherte eine besonders hell und lustig empor.
Mit langen Schritten eilte Gidi jener Thür zu; sie führte nach einem weiten, von einzelnen Bäumen durchsetzten Hofraume, den ein hoher Staketenzaun von der Straße trennte; in der Tiefe des Hofes war Brennholz in langen, plumpen Scheiten zu einer klafterhohen Mauer aufgeschichtet; rechts und links von der Thür standen im Schatten des vorspringenden Daches zwei Tische; den einen sah Gidi besetzt mit Burschen, deren Gesichter von Trunk und Tanz geröthet waren; er zuckte mit keiner Wimper, als er Valtl unter ihnen gewahrte, der vor sich die klingende Cither hatte. Mit stummem Nicken erwiderte er den grüßenden Zuruf einiger Bursche und steuerte gemächlichen Schrittes dem andern Tische entgegen, um welchen dicht gedrängt eine kleine Schar von Mädchen saß.
„Du – jetzt pass’ auf – jetzt holt Dich Einer!“ kicherte eine schwarzhaarige Dirne und stieß dabei der neben ihr sizenden Emmerenz den Ellbogen in die Seite.
„Geh’, laß mir mein’ Ruh’ – Dein’ Botschaft is kein Puff net werth,“ brummte Enzi und verdrehte die Augen.
Da stand der Jäger schon vor ihr. „Was is, Emmerenz – probiren wir ein’ mit ’nander? Hörst’ es – an Landlerischen spielen s’ droben – das is mein’ liebster – und nachher — der erste Tanz mit Dir – da kann nix fehlen!“
Emmerenz runzelte die Stirn, erhob sich langsam und legte ihre Hand in die dargebotene Rechte des Jägers. Während die Beiden so der Thür zuschritten, begann am andern Tische drüben die Cither zu schwirren und zu klingen mit heiserer Stimme fiel Valtl in die Weise ein:
„Der Bua, der is kurz,
Und sein Deandl net lang,
Und da sind die zwei richtigen
Stutzln beisamm’.“
Schallendes Gelächter erhob sich, denn es war unverkennbar, wem das Trutzlied gelten sollte. Valtl aber sang weiter:
„Und die Zwei sind schon g’recht’,
Und die Zwei passen z’samm’,
Und das giebt Dir a Rass’
So lang wier a Daam.“[1]
Das Lachen und Johlen verstärkte sich, wobei alle Blicke an dem Jäger hingen. Eine unheimliche Blässe lag auf Gidi’s Stirn und Wangen, ein drohendes Funkeln glomm in seinen Augen, aber sein Mund lächelte, und fester schlossen sich seine Finger, als er fühlte, daß Emmerenz ihre Hand aus der seinen zu ziehen versuchte.
„Und ’s Deandl is kugelrund …“
so wollte Valtl von neuem beginnen, aber sein heiseres Kreischen wurde von der hellklingenden Stimme des Jägers übertönt, der in die Ländlerweise, welche durch die offenen Fenster des Tanzsaales herniedertönte, mit den Worten einfiel:
„Der Haber muß reif sein,
Nacht kann man ’n erst maah’n,[2]
Und a Hirsch, der vermirkt’s net,
Wann d’ Aasraben kraah’n!“
Lauter Beifall folgte dieser Strophe; selbst auf Enzi’s Lippen erschien ein leises Lächeln der Befriedigung – rasch aber verschwand dieses Lächeln wieder, als sie die Antwort vernahm, welche Valtl der Strophe des Jägers folgen ließ:
Und a Jaagerknechts-Bua
Und a Stallmagd dazu,
Und a räudiger Hund –
Is a gar schöner Bund!“
Lautlose Stille herrschte nach diesen Worten; das war keine Anspielung mehr, welche die Ausrede hätte zulassen können: „Ich hab’ Dich net g’meint!“ – das war offene Beleidigung.
Dunkle Röthe goß sich über Enzi’s Gesicht, die Thränen schossen ihr in die Augen, und dem Jäger ihre Hand entreißend, stieß sie zornig hervor: „Schand’ und Spott muß man auch noch derleben mit Dir – da such’ Dir an Andere dazu!“
Mit irren Blicken schaute Gidi der Dirne nach, als sie dem Platze zuschritt, von dem er sie geholt hatte. Dann wandte er sich dem Knechte zu – sein ganzes Gesicht verzerrte sich, und in bläulicher Röthe schwollen ihm die Adern – jetzt schleuderte er den Hut beiseite, warf mit einem gurgelnden Wuthschrei die Arme in die Luft und stürzte auf Valtl los, daß der Tisch ins Wanken kam, Cither und Krüge mit Klirren und Klappern zur Erde flogen. Valtl hatte mit einem Fluche dem Angreifer den linken Arm entgegengestemmt, während in seiner geschwungenen Rechten das Messer blitzte.
Ein wildes Schreien und Kreischen erhob sich – schon aber hatte der Jäger Valtl’s Arm erhascht, und den Burschen mit sich niederreißend auf das Pflaster, schmetterte er ihm die Hand, welche das Messer umklammert hielt, wider die Steine, daß mit Klatsch und Klirren die Klinge weit hinausflog in den Hof.
Droben im Tanzsaal verstummte die Musik, neugierige Gesichter erschienen an allen Fenstern, die Thür füllte sich mit herbeieilenden Leuten, Bursche und Männer stürzten auf die Ringenden zu, um sie aus einander zu reißen – aber wie ein wüthender Eber die verfolgende Meute, so schüttelte Gidi die Fäuste von sich ab, die über seine Arme und Schultern herfielen. „So – so – stechen willst auch noch – stechen, – so – stechen willst auch noch –“ keuchte und schrie er, indem er seinen Gegner emporzerrte von der Erde, „g’hörst Du da her – g’hörst Du unter Menschen – wart’ – wart’ – Dir zeig’ ich, wo D’ hing’hörst – wo D’ hing’hörst – Du –“ und unter Würgen und Drosseln stieß und schleifte er den Knecht vor sich her dem Zaune zu, in dichtem Knäul das ganze Rudel der Abwehrenden hinter sich nachziehend. Valtl schlug mit Händen und Füßen um sich, kratzte und biß – aber dieser wilden, von Wuth und Haß entfesselten Kraft gegenüber gab es kein Entrinnen. Mit jähem Ruck hob Gidi den Burschen empor und wälzte ihn über die knackenden Staketen hinweg, daß er wie ein voller Sack auf die Straße plumpste und über Staub und Steine niederkollerte in die tiefer liegende Wiese. Mühsam erhob sich Valtl – „Wart’, Jaager, das brock’ ich Dir ein!“ knirschte er und verzog sich unter dem Gelächter der Leute hinter die nahen Haselnußstauden.
Lachend kehrten die Männer und Bursche zu den Tischen und in das Wirthshaus zurück; sie alle waren froh darüber, daß diese Sache, die ein so böses Gesicht gezeigt, einen so annehmbaren Ausgang gefunden hatte.
Gidi stand eine Weile, tief athmend, und wischte sich mit dem Joppenärmel die Wangen und das Gesicht. Dann schritt er geraden Weges auf Emmerenz zu.
„So, Deandl ― der Weg is frei – jetzt komm’ zum tanzen!“
„Gelt Du – laß mich in Ruh’ –“
„Enzi!“
„Enzi – Enzi hat mein’ Mutter zu mir g’sagt und kann mein Bauer sagen – für Dich heiß’ ich Emmerenz. Und zum Tanz such’ Dir an Andere – Du wüthiger Teufel, Du!“
„Schau’ aber g’rad mit Dir möcht’ ich tanzen!“ stieß Gidi mit scharfer, bebender Stimme hervor und haschte dabei das Handgelenk der Dirne. Da half ihr nun kein Wehren und Sträuben – wortlos zog er sie mit sich fort in den Flur, und über die Treppe empor in den Tanzsaal. Mit Lachen und Kichern drängten die Mädchen und Bursche sich ihnen nach. Für keinen Augenblick gab Gidi die Dirne frei; mit der linken Hand zog er sein Schnürbeutelchen aus der Tasche, öffnete es mit Fingern und Zähnen und warf einen Preußenthaler auf den Musikantentisch.
„An Landlerischen!“ befahl er – und als die Weise begann, schwang er mit einem Juhschrei den Hut, schraubte die Arme um Enzi’s Hüften und wirbelte sie durch den niedrigen Saal, daß ihre Röcke nur so flogen und die dicken, rothblonden Zöpfe sich loslösten ven ihrem Haupte. Rings um die Wände stand Paar an Paar gereiht, und sie alle folgten mit ihren Blicken diesen Beiden. Gidi war ja bekannt als der beste und geschickteste Tänzer des ganzen Thales und es war immer ein „Staat“, ihn tanzen zu sehen.
Lauter Beifall begrüßte das Paar, als die Musik verstummte und Gidi unter einem letzten Juhschrei die Dirne mit beiden Armen hoch aufschwang über seinen Kopf.
Stolz lächelnd blies Enzi, als sie wieder auf den Dielen stand, die hochrothen Backen auf und wollte ihrem Tänzer die Hand reichen, um sich aus dem Saale führen zu lassen.
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[778] Gidi aber übersah die Hand. „Das war unser erster Tanz, Emmerenz,“ sprach er die Dirne leise an, „– und ich mein’ schier, unser letzter! Ich dank Dir schön – und nix für ungut!“ Damit rückte er den Hut und stapfte davon.
Wenige Minuten später wanderte er schon mit langen Schritten dem Schloßberg zu, die Büchse auf dem Rücken, begleitet von seinem Hunde, der unter fröhlichem Gebell und mit spielenden Sprüngen seinen Herrn umkreiste. Im Finkenhofe aber war ein arges Verwundern darüber, als die Oberdirne lange vor „Betläuten“ schon vom Almtanz nach Hause kam, mit einem so fuchsteufelswilden Gesichte, daß ihr alles Gesinde aus dem Wege ging.
Drei Tage verstrichen, und unter den Sticheleien der Dienstboten verschlimmerte sich Enzi’s Laune noch. Am bittersten mußte Dori darunter leiden. Wie er seine Arbeit auch thun mochte, immer hatte die Oberdirne daran zu nörgeln und zu räkeln.
Um dieses einen Umstandes willen athmete Dori ordentlich auf, als der Morgen kam, an welchem der Auftrieb zur Alm vollzogen werden sollte. Andererseits freilich war ihm das Herz gar schwer; denn dieser Morgen brachte ja den Abschied von Veverl. Als er bei grauendem Frühlicht in die Gesindestube zur Morgensuppe kam, hatte er ein ganz verschwollenes Gesicht und rothe Augen und immer wieder fuhr er sich mit den Fäusten über die Wangen und unter die Nase, während er die siebzehn Schafe, die droben auf den Bergen seiner Aufsicht unterstehen sollten, aus dem Pferche in den Hof trieb, wo er den Mutterthieren die kugeligen Schellen, dem Widder die große Leitglocke um den wolligen Hals befestigte. Inzwischen trieb die Emmerenz unter Schelten und Schreien die läutenden, brüllenden Kühe und die blökenden Kälber vor dem Zaune auf einen Knäuel zusammen und fuchtelte dabei mit ihrem langen Haselnußstabe, wie ein Fuhrmann vor dem Knallen mit der Peitsche.
Inmitten des Hofes stand Mariann’ in leisem Gespräche mit dem Bauer, der den Bergstock in Händen hielt und die schwerbepackte Kraxe schon auf dem Rücken trug.
Veverl lehnte, die beiden Kinder an ihrer Seite, am Geländer der Grät. Die eine Hand hielt sie in der Tasche ihres Röckchens vergraben. „Dori, Dori!“ hatte sie schon ein paarmal leise gerufen, aber so oft der Bursche in ihre Nähe kam, eilte er abgewandten Gesichtes an ihr vorüber.
Draußen im Hofe mahnte jetzt der Bauer die Emmerenz, daß sie doch das Schelten und Fuchteln lassen möchte; mit Ruhe käme sie rascher zum Ziele, und es wäre an der Zeit, mit dem Auftrieb zu beginnen, wenn man vor der Mittagshitze die Bründlalm erreichen wollte.
Als Veverl den Jörgenvetter so drängen hörte, verließ sie die Grät, um Dori unter seinen Schafen aufzusuchen, und sprach den Burschen mit vorwurfsvollen Worten an: „Han, Dori – möchtest gleich gar auf d’ Alm auftreiben, ohne daß mir,B’hüt Gott!‘ sagen thätst?“
„Ah na – ah na, Veverl,“ stammelte Dori und fuhr mit der schnuffelnden Nase in die Höhe, ich wär’ schon noch kommen – g’wiß – ganz g’wiß!“
„No, jetzt brauchst ja nimmer kommen, jetzt bin ich ja da,“ erwiderte das Mädchen mit treuherzigem Lächeln. „Und — schau, Dori, da hab’ ich Dir ’was ’bracht, das gieb ich Dir mit auf d’ Alm, weil mir doch auch schon so oft a Freud’ g’macht hast!“ Dabei zog sie die Hand aus der Tasche und reichte dem Burschen ein winziges, aus dunklem Seidenstoff gefertigtes Säckchen, das an einer dünnen Schnur befestigt war. „Da – das mußt um Dein’ Hals ’rumhängen – weißt – a heiligs Bannwürzerl is drinn’, das b’schützt vor gachem Unglück und vor Zaubermacht – so hat mein Vaterl g’sagt, der wo mir’s ’geben hat.“
Die dicken Thränen schossen dem Burschen in die Augen. „Veverl – Jesses na – o mein Gott, o mein Gott – na na, das kann ich net nehmen,“ stotterte er, griff aber hastig mit den beiden zitternden Händen nach dem Schnürchen und fuhr damit seinem Halse zu. Danken konnte er dem Mädchen nicht, denn das kleine Liesei faßte ihn bei der Joppe und frug: „Du, Dori, han, dauert’s noch lang’, bis d’ Edelweißbleameln blühn?“
„O nein – noch g’wiß a fünf a sechs Wochen,“ stotterte der Bursche und versuchte seinen Joppenzipfel aus den Händen des Kindes zu ziehen.
Das Liesei aber hielt fest. „Gelt, Dori, wenn s’ nachher blüh’n, nachher suchst mir eine, und wann D’ abtragen thust, nachher bringst mir s’, gelt? Und – und wann ’leicht dem Edelweißkönig sein Königsbleamerl finden thätst, nachher bringst mir’s auch, gelt, Dori – weißt, ich gieb Dir schon was dafür!“
„Ja, ja, Liesei, is schon recht – aber laß mich nur jetzt g’rad a bißl aus —“
Weiter kam Dori nicht, denn der Bauer trat herzu und mahnte: „Schau, daß Dein’ Kraxen in d’ Höh’ bringst! Es is an der Zeit!“ Dann reckte er sich hoch auf und rief über die Herde hinweg: „Enzi – jetzt wird amal marschirt!“
„Ja, Bauer, ich bin schon g’recht!“ scholl die Stimme der Dirne entgegen. Jetzt kam die Mariann’ herbei geeilt. Sie hatte das Weihbrunnkesselchen aus der Stube geholt, rief die Sennerin und den Hüterbuben zu sich, besprengte sie mit dem geweihten Naß und wünschte ihnen glückliche Almzeit.
Nun setzte sich der Zug in Bewegung. Der Bauer schritt voraus; ihm trotteten die Schafe nach, dann kamen mit Läuten und Brüllen die Kühe und Kälber, denen Enzi und Dori mit ihren hohen Kraxen und langen Stäben folgten. Am Zaune glückte es dem Dori noch, Veverl’s Hand zu erhaschen; er sprach kein Wort dazu, er schnuffelte und schluckte nur unter Thränen. Doch als er die Straße erreichte, fuhr er sich mit der Faust über die Augen, schnalzte mit der Zunge und ließ einen Juhschrei in die Lüfte schrillen, daß klingend von allen Bergen das Echo wiedertönte.
„So is recht! So g’hört sich’s!“ lächelte Mariann’; dann aber wandte sie sich mit ernstem Gesichte zu Veverl. „Daß sich d’ Enzi gar net hören laßt! Ich weiß net – die zieht heuer mit ei’m recht unguten G’müth auf d’ Alm – und – so ’was is net gut – für sie net und net für’s Vieh.“ Und mit besorgten Blicken sah sie der Dirne nach, die hinter ihrer Herde einherschritt, als ging es weiß Gott wohin, nur nicht nach der Bründlalm, nach ihrem „liebsten Platz auf der weiten Gotteswelt“.
Mit desto hellerem Gesichte blickte Dori der Höhe zu, der sie entgegen stiegen, und als der Zug den Frühschatten der ersten Bäume erreichte, begann er ein Jodeln und Jauchzen, daß es nur so wiederhallte im steilen, rauschenden Bergwalde. Als aber einmal der Weg am Höllbachgraben hart vorüber führte, verstummte der Bursche plötzlich inmitten eines Jodlers und faßte die Emmerenz bei’m Arme: „Du – da schau – der Bauer!“ flüsterte er und deutete nach dem vom Gestrüpp überwucherten Hang, über welchen Jörg emporstieg, in der Richtung nach der hohen Platte.
„No ja – er wird halt droben a Vaterunser beten,“ meinte die Dirne.
„Du – han,“ frug Dori nach einer Weile, „weßwegen hat er denn an dem Platzl, wo’s Unglück g’schehen is, noch allweil kein Marterl aufrichten lassen? Das g’höret sich doch!“
Enzi zuckte die Schultern. „Was weiß denn ich? Und was geht’s denn uns an, wenn der Bauer net thut, was der Brauch is? Das is sein’ Sach’ net die unser’!“
Dori schwieg, runzelte die Stirn und schaute im Weiterschreiten dem Bauer nach, der zwischen hohen Büschen verschwand. Hätte er ihm noch weiter mit den Blicken folgen können, so würde er wohl zu der Ansicht gekommen sein, daß Emmerenz mit ihrer Meinung nicht das Richtige getroffen hatte. Wenigstens schien Jörg keine Eile zu haben, die Unglücksstelle zu erreichen. Als er sich aus dem wirren Buschwerk auf den freien, von Felsenklötzen übersäeten Hang gewunden hatte, verhielt er aufathmend die Schritte, setzte die Kraxe auf einen Stein und löste die Arme aus den Tragbändern. So stand er geraume Zeit und lauschte nach dem Wege hinunter, bis das Läuten, Blöken und Brüllen der almwärts ziehenden Schafe und Rinder fern und gedämpft einherklang durch das dichte Gehölz.
Jezt schlich er geduckten Leibes am Rande des Gebüsches entlang; als er den steilen Absturz erreichte, lauschte und lugte er wieder emporgereckten Hauptes – diesmal über die Schlucht hinweg der Richtung zu, in welcher die Jägerhütte stand. Dann las er drei faustgroße Steine von der Erde und steckte sie in die Joppentasche. Vorsichtig stieg er über den Schluchtrand auf einen Vorsprung nieder, der sich gleich einem Gesimse an der abfallenden Wand entlang zog; Steinschrunden, Felsecken und kümmerndes Gesträuche boten für seine Hände den nöthigen Halt, während er langsam dem der Höhe zuführenden Gesimse folgte; wo dasselbe [779] näher an den Schluchtrand stieg, ging Jörg gebückt, als fürchte er die Blicke irgend eines Menschen, den Zufall oder Absicht etwa in die Nähe des Höllbaches geführt hätte. Achtsam setzte er Fuß vor Fuß, und dennoch dämpfte das Rauschen, das aus der Tiefe quoll, kaum das Geräusch seiner Tritte. Der Firnenschnee, der unter Föhn und Sonne zur Frühjahrszeit die brausenden Gewässer durch die Höllbachschlünde ins Thal geschickt, war längst zerschmolzen bis auf wenige, schmutzig graue Felder, auch war seit Wochen kein starker Regen mehr gefallen; der Höllbach nährte sich fast nur noch aus spärlich rinnenden Quellen, die mit Triefen und Rieseln über die steil abfallenden Wände ihren Weg in die dunkle Tiefe suchten. Wenn Jörg auf seinem gefährlichen Pfade das Rinnsal solch einer Quelle passirte, wurde er übersprüht von dünnen Tropfen und weißlichem Wasserstaube. Endlich hielt er an; während er den linken Arm zu besserem Halte in eine Felsschrunde preßte, holte er mit der rechten Hand einen der drei Steine aus der Tasche und ließ ihn niederfallen in den Abgrund.
Hin- und widerprallend von Wand zu Wand, verschwand der Stein zwischen den in einander greifenden Felsgefügen, die den Blick in die Tiefe wehrten; ein Poltern und Kollern folgte, das mit einem dumpfen Klatschen erlosch. Im gleichen Augenblicke warf Jörg den zweiten Stein – dann stand er eine Weile lauschend und rührte wie zählend die Lippen, bevor er den dritten Stein von der ausgestreckten Hand in den Abgrund sinken ließ. Wieder folgte jenes Poltern und Klatschen, doch kaum es verhallt war, schwirrte aus der Tiefe ein klirrender Laut empor; das klang, als wäre dort ein eiserner Stachel heftig wider einen Stein gestoßen worden. Jörg nickte vor sich hin, als hätte er diesen Laut zu hören erwartet, und wandte sich zur Umkehr. Doch wenige Schritte nur hatte er gethan, als ein seltsames Geräusch ihn niederblicken machte in die Tiefe. Unter den überhängenden Felsen kam ein weißer Vogel von Taubengröße hervorgeflattert, setzte sich auf einen von blaßgelben Algen überwachsenen Steinvorsprung, öffnete wie gähnend den Schnabel, reckte schlagend die Schwingen und ließ sich mit krächzender Stimme vernehmen: „Echi, do, do, a do, Echi, Echi.“
„Ja gehst net – gehst – gehst, Du – gscht, gscht, gscht!“ flüsterte Jörg und suchte mit fuchtelndem Arme den Vogel zu verscheuchen. Der aber rührte sich nicht vom Flecke; hurtig wendete er den Hals hin und her, lugte bald mit dem einen, bald mit dem andern seiner kleinen schwarzen Augen zu Jörg empor und plapperte dazu: „Do, Görgi, do, a do, gedegg gedegg.“
Mit ungeduldigen Fingern bohrte Jörg ein Steinbröckchen aus einer morschen Stelle der Felswand und schleuderte es mit scheuchendem Zischen nach dem Vogel; der hüpfte erschrocken empor und ließ dabei seine Stimme vernehmen, daß es halb wie zorniges Gackern, halb wie Gelächter erklang; dann breitete er die weißen Schwingen und schwebte in kreisendem Falle der Felsspalte zu, aus der er emporgeflattert war.
Eine Weile noch lauschte Jörg wie in ängstlicher Besorgniß in die Tiefe nieder, dann trat er den Rückweg an. Als er den Stein erreichte, auf welchem seine Kraxe stand, löste er die Verschnürung derselben, zog einen schweren, mit grobem Tuche umwickelten Pack hervor und schlich mit ihm einer dichten Stelle des Gebüsches zu. Hier hob er von der Erde mit schwerer Mühe eine Felsplatte empor, unter welcher eine kleine Höhlung zum Vorschein kam: in diese legte er den Pack und deckte die Platte wieder darüber. Dann kehrte er zu seiner Kraxe zurück, lud sie auf seine Schultern und folgte mit rüstigen Schritten dem Wege nach der Bründlalm.
Im Jahre 14 der christlichen Zeitrechnung, am 19. August, ist zu Nola in Campanien Gajus Julius Cäsar Octavianus Augustus gestorben, der Rächer seines von der republikanischen Aristokratie Roms ermordeten Großoheims, der Begründer nicht, aber der Feststeller und Ausbauer der römischen Monarchie. Der nahezu siebenundsiebzigjährige Kaiser – denn er war es, welcher den Namen Cäsar zuerst im Sinne des kaiserlichen Herrschertitels trug – hatte seinen Stief- und Schwiegersohn Tiberius, welcher sich in Brundusium nach Illyrien einschiffte, bis nach Beneventum begleitet und war von dort nach Nola gereist. Hier erlitt er einen heftigen Rückfall in die Dysenterie, welche er sich unlängst durch eine Verkältung in Astura zugezogen hatte, von der er aber während eines Aufenthaltes in Neapel und auf der Insel Capreä, einer Privatbesitzung der cäsarischen Familie, scheinbar vollständig genesen war.
Seine Umgebung erkannte bald, daß es verzweifelt um ihn stände, und die Kaiserin Livia jagte ihrem Sohn Tiberius Eilboten nach, um den muthmaßlichen Thronerben an das Sterbebett des „Herrn der Welt“, des „imperator urbis et orbis“, zurückzuholen. Er kam. Ob aber noch rechtzeitig, ist fragwürdig, wennschon einer der Hauptquellschriftsteller, aus welchen wir, der vielen und nur allzu begründeten kritischen Bedenken ungeachtet, römische Kaisergeschichten schöpfen müssen – Sueton – mit Bestimmtheit versichert, Tiberius habe seinen Stief-, Schwieger- und Adoptivater noch am Leben getroffen und in langem Geheimgespräch die letzten Willensbestimmungen desselben empfangen.
Augustus täuschte sich keineswegs über seinen Zustand und nicht allein mit ruhiger Gefaßtheit, sondern sogar mit heiterer Ironie sah er dem letzten Augenblick entgegen. Dieser Mann hatte ja alles genossen, was die Erde selbst dem kühnsten Begehren zu bieten vermag. Er war einer jener großen Verbrecher der sogenannten Weltgeschichte, –
„Die stört nicht im Innern
Bei lebendiger Zeit
Ruhloses Erinnern
Und vergeblicher Streit“ –
Ja, mit Gelassenheit und Humor erwartete der Kaiser das Ende, als ein Mann, der bis in seine Fingerspitzen hinaus überzeugt war, daß mit dem Tod alles aus und vorbei. Konnte der, welcher mit Antonius und Lepidus zusammen die fürchterlichen „Proscriptionslisten“ entworfen hatte, an eine Fortdauer nach dem Tode, an eine jenseitige Vergeltung glauben? Nein. Die Märchen vom Elysium und vom Tartarus, welche der geschmeidige Hofpoet Vergil in so wohlklingende Verse gebracht, waren ja ganz gut als Unterhaltungsfüllsel für müssige Stunden; aber daran zu glauben, das konnte selbstverständlich nur dem Pöbel zugemuthet werden.
Am Morgen seines letzten Tages fragte der zum sterben Bereite, ob man in der Stadt von seinem Zustande Kenntniß hätte und ob sich die Leute darüber beunruhigten. Als man ihm [780] gesagt, alles ginge in Nola den gewohnten Gang, hieß er einen Spiegel bringen und ließ sich frisiren. Dies geschehen, richtete er an die sein Lager umstehenden vertrauten Höflinge die Worte: „Sagt einmal, Freunde, habe ich die Posse des Lebens anständig (commode) durchgespielt?“ fügte dann mit leiser Stimme aus dem Epilog zu einer griechischen Komödie die Verse hinzu:
„Wenn das Stück euch hat gefallen,
Nun, so laßt den Beifall schallen!“
ließ sich in die ausgestreckten Arme der Livia fallen, sagte dieser Frau, welche er sehr geliebt und wohl auch ein bißchen gefürchtet hatte, noch ein zärtliches Wort und verschied.
Tiberius Claudius Nero, der Stief-, Schwieger- und Adoptivsohn des Todten, war jetzt Princeps, Imperator, Cäsar. Denn seine Nachfolge im Besitze der höchsten Macht über den römischen Staat und damit über den „Erdkreis“ ging ohne Schwierigkeit vonstatten, obzwar der römische Adel den neuen Herrscher sehr scheel ansah. Diese mit leicht zählbaren Ausnahmen bis zum Angefaultsein verderbte Aristokratie war durch Augustus so gezähmt worden, daß die Söhne und Enkel und Vettern derer, von welchen Julius Cäsar umgebracht worden war, alles Ernstes an den „göttlichen“ Ursprung glaubten, welchen die höfische Poesie, wie sie im „augustischen Zeitalter“ aufgekommen, dem julischen Geschlechte, das seine Herkunft vom sagenhaften Trojaner Aeneas ableitete, unterthänigst angeschmeichelt hatte. Der neue Kaiser war kein Julier, sondern nur ein Claudier und das ist ihm von den römischen Legitimisten niemals verziehen worden. Er galt diesen Junkern, welche ihren Legitimismus wunderlichst mit Republikanismus zu verquicken liebten, als ein Eindringling. Und um wie viel mehr vollends den Prinzen und Prinzessinnen des kaiserlichen Hauses!
Hier liegt zweifelsohne die Wurzel des schlechten Rufes, welchen man in den Kreisen der römischen Aristokratie dem Tiberius zurechtmachte, lange bevor er denselben verdiente. Hier wurden die Farben gerieben und gemischt zu jenem Bild eines Ungeheuers, einer Verkörperung des Begriffes „Tyrann“, als welches und als welche das Alterthum den Sohn der Livia den spätern Zeiten überliefert hat. Und so gewaltig war die Wirkung und Nachwirkung des Hasses, welchen der römische Adel dem Nachfolger des Augustus vom Anfang an trug, daß sogar der hohe Geist eines Tacitus der Ueberlieferung sich beugte und die Erscheinung des Tiberius mit einer Voreingenommenheit und Einseitigkeit ansah und behandelte, welche die moderne Kritik dem großen Geschichtschreiber nachwies und mit Recht zum Vorwurf machte. Schon der geistvolle französische Skeptiker Montaigne hat im 16. Jahrhundert den Anstoß zu solcher Kritik gegeben und merkwürdig ist auch, daß Napoleon i. J. 1804 gegen Fontanes über die Mängel der taciteischen Geschichtschreibung sich ausließ, welche seither durch deutsche Kritiker wie Krüger, Sievers, Höck, Wietersheim, Stahr, Hertzberg und andere, sowie durch englische wie Ihne und Merivale allseitig untersucht und erörtert worden sind. Die Quelle dieser Mängel ist gewesen, daß Tacitus ein überzeugter aristokratischer Republikaner oder republikanischer Aristokrat war, welcher ehrlich und fest glaubte, mit der Unterwerfung der römischen Aristokratie durch die cäsarische Monarchie hätte der unaufhaltsame Untergang des römischen Staatswesens angehoben. Unter diesem Gesichtspunkt hat er auch den Tiberius und dessen Regierung angesehen. Aber die berühmte Schilderung dieser Zeit in seinen „Jahrbüchern“ ist keineswegs folgerichtig durchgeführt. Denn nicht selten richtet sich doch der Geist der Wahrhaftigkeit in dem „großen Koloristen“ gegen die Zumuthungen vonseiten der Parteibornirtheit und der Klatschtradition entschlossen auf. Dadurch kam Ungleichheit und Unfolgerichtigkeit in das Gemälde. Wäre Tacitus konsequent verfahren, so hätte er, welcher nicht nur im politischen, sondern auch im ethischen, also im besten Sinne ein Aristokrat war, den Tiberius eigentlich sympathisch ansehen und behandeln müssen. Denn der Kaiser, obgleich mit Abrechnung seiner letzten Regierungsjahre einer der besten Regenten, welche Rom jemals gehabt, war bei der urtheilslosen Menge, der er etwas vorzuschauspielen verschmähte und deren Gunst oder Abgunst er gleichermaßen stolz verachtete, im höchsten Grade unpopulär. Die Menge will beschmeichelt und mit schönen Worten geködert sein. Der Erzheuchler Augustus hatte das wohl gewußt und sehr geschickt bethätigt. Sein schwermüthiger Nachfolger verschmähte diese kleinen, aber für einen Monarchen immerhin großen Künste und Kniffe und blickte mit der gleichen Gleichgiltigkeit auf den Haß der Junker wie des Pöbels herab.
Schwermuth war diesem Mann an- und eingeboren. In die Menschenverachtung hat er sich erst eingelebt. Und sie galt auch nur seinen Zeitgenossen. Bezeichnend sagt Tacitus: „Ihm lag weniger der Beifall der Mitlebenden als die Anerkennung der Nachwelt am Herzen.“ Gewiß kein unedler Ehrgeiz.
Die gäng und gäbe Vorstellung von Tiber wird sich gegen die Thatsache sträuben, daß er in der Blüthe seiner Männlichkeit für einen der schönsten Männer Roms galt. Seiner aus dem Alterthum herabgekommenen Porträtbüste zufolge, welche das vatikanische Museum bewahrt, war dieser Ruf wohlgerechtfertigt. Mag auch das Marmorbild des Prinzen etwas idealisirt sein, immerhin zeigt es uns einen edelgeformten Kopf und ein feingeschnittenes, geistvolles Antlitz, über welches ein Hauch von Melancholie gebreitet ist. Einen ganz andern Eindruck aber macht eine Porträtbüste, welche, im Museo Nazionale in Neapel zu finden, den altgewordenen Kaiser darstellt, gewitterdüster, um die gekniffenen Lippen einen schneidenden Zug von Skepsis, das ganze Gesicht wie von einer verderbenträchtigen Wolke von Haß und Hohn beschattet.
Wie er in diesen Bildnissen erscheint, so stand der junge und so der alte Tiberius in der Geschichte Roms – erst ein jugendlicher Heros, dann ein greiser Dämon, welcher viel, sehr viel gelitten und das Allerschlimmste erfahren haben mußte, um das zu werden.
Seine ganze Erscheinung ist keineswegs so räthselhaft, wie sie der oberflächlichen Betrachtung allerdings erscheinen mag. Um den gewordenen Tiberius zu begreifen, muß man den werdenden kennen. Der Knabe und Jüngling kann und soll uns den Mann und Greis erklären.
Tiberius stammte von väterlicher und mütterlicher Seite aus dem hocharistokratischen Geschlechte der Claudier, welches, ursprünglich aus Sabinum nach Rom eingewandert, zu verschiedenen Zeiten in der römischen Geschichte eine so vortretende Rolle gespielt hatte, daß seine „Stemmata“ (Ahnentafeln) fünf Diktatoren, zwanzig Consuln und sieben Triumphatoren aufwiesen. Im gleichen Maße jedoch, wie sich die Claudier durch ihre Verdienste um den Staat berufen, hatten sie sich durch ihren unbändigen Stolz und junkerhaften Hochmuth verrufen gemacht. Tibers Vater, Tiberius Claudius Drusus Nero, hatte als der Charakterschwächling, welcher er war, den Ruf seines Hauses nicht gemehrt. In den Bürgerkriegen war er zweiächslerisch von einer Partei zur andern ge- schwankt. Erst ein Genosse des Brutus und des Cassius, dann ein Mitkämpfer des Sextus Pompejus, hatte er seinen Frieden mit dem Triumvir Antonius gemacht und unterwarf sich dann schließlich dem Octavian.
Jahrelang hatte er infolge der angedeuteten Parteistellungen mit seiner jungen Gattin Livia Drusilla, von ebenfalls claudischer Abkunft, ein abenteuerliches Kriegs- und Wanderleben geführt und auf einem dieser Züge hatte ihm die erst vierzehnjährige Livia am 6. November des Jahres 41 v. Chr. seinen Erstlingssohn Tiberius geboren. Der Vater mußte häufig große Müh- und Drangsale bestehen, um Mutter und Kind vor den Soldaten des Octavianus zu retten, desselben Octavianus, den ein „wunderbares Spiel des Schicksals“ später zum Gatten der Livia und zum Adoptivvater Tibers machte.
Livia, wohl zu schmeichlerisch als die schönste Frau ihrer Zeit gepriesen, aber fraglos eine der klügsten, eine kalte und berechnende Natur, war achtzehn Jahre alt, als sie die Blicke des siegreichen Triumvir Octavian auf sich zog, welcher ein ebenso großer Weiberjäger als Männervertilger gewesen ist. Er merkte bald, die schöne Livia wäre zu klug, ihn anders als durch Heirat in ihren Besitz gelangen zu lassen. Er beschloß also, sie zu heiraten. Freilich war auch er bereits verheiratet, allein derartige Hindernisse wurden im damaligen Rom für gar keine angesehen. Octavian verstieß seine Gattin Scribonia, verstieß sie an demselben Tage, wo sie ihm seine Tochter Julia gebar, welche nachmals so fürchterlich verrufen, aber immer noch schlechter war als ihr Ruf. Zugleich befahl der Allgewaltige dem Tiberius Claudius Drusus Nero, sich ebenfalls von seiner Frau zu scheiden.
[781][782] Dies geschah und der gehorsame Ehemann trieb die Gefälligkeit so weit, daß er, so zu sagen, den Brautführer machte, als Octavian mit der Livia Hochzeit hielt. Drei Monate später gebar sie den Claudius Drusus Nero, welchen Sohn Octavian dem ersten Gemahl seiner Frau zustellen ließ. Tiberius Claudius Drusus Nero starb unlange darauf, nachdem er den Octavian zum Vormund seiner beiden Söhne Tiberius und Drusus bestellt hatte.
Tibers Kindheit und Jugend war eine nichts weniger als glückliche und es bewahrheitete sich an ihm auch der göthe’sche Ausspruch, daß niemand die ersten Eindrücke des Daseins je zu verwinden vermöge. Erst neun Jahre ist er alt gewesen, als er, römischem Gebrauche gemäß, seinem Vater auf dem Forum die Leichenrede halten mußte. Von Natur scheu und verschlossen, wie er war, konnte sein Aufenthalt im kaiserlichen Palatium ihn immer nur mißtrauischer gegen sich selbst und gegen andere machen. Er vereinsamte schon als Knabe. Zwar seine Mutter liebte ihn und baute, wie nicht zu bezweifeln, auf die unverkennbarst bedeutenden Geistesgaben ihres ältesten Sohnes um so mehr hochfliegende Pläne, als ihre Ehe mit dem Cäsar Augustus, wie Octavian jetzt hieß, kinderlos blieb. Aber sein Stiefvater konnte ihn nicht leiden und zog ihm nicht nur, wie natürlich, die eigene Tochter Julia, sondern auch seinen jüngeren Bruder Drusus augenscheinlich weit vor. Tiberius fühlte, daß er überflüssig, daß er diesen und jenen im Wege. Das machte ihn ungesellig und, weil er sich nicht an den Leuten abschleifen konnte, eckig und steif in seinem Gebaren. Dazu kam, daß er infolge der Frühreife seines Verstandes wie infolge der Verhältnisse schon in Knabenjahren ein scharfer Beobachter wurde, und was er in seiner Umgebung vom Thun und Treiben der Menschen sah, mußte in seiner Seele den Keim der Menschenverachtung und des Menschenhasses entstehen und wachsen machen.
Schon frühzeitig hieß er seines unjugendlichen, ernsten und zugeknöpften Wesens wegen bei Hofe spöttlich „der Alte“. Gerechter wäre es gewesen, ihn einen „Reifen“ zu nennen. Denn schon als Jüngling war er zu einer geistigen Entwickelung gelangt, welche ihn fraglos zu den gebildetsten Männern seiner Zeit stellte. Und das muß man dem Augustus nachsagen, daß er, obzwar er es nur seiner Frau zuliebe that, umsichtig und treulich dafür besorgt war, seinem Stiefsohn alles zufließen zu lassen und zu gewähren, was zu Entfaltung der glänzenden Anlagen desselben beitragen und ihn zur späteren Uebernahme der wichtigsten Stellen und Aemter befähigen und tüchtig machen konnte. In Jahren, wo andere Knaben das Leben nur erst für einen Tummelplatz für knäbische Spiele ansehen, wurde Tiber schon in das Verständniß von Staats- und Kriegsgeschäften eingeführt und zur Handhabung von Verwaltungssachen und militärischen Aufgaben angeleitet.
Daß er und was er gelernt, hatte er schon als Neunzehnjähriger zu zeigen Gelegenheit. Da machte er als Brigadegeneral – denn diesem modernen Officiersrang entsprach etwa der eines römischen Kriegstribuns – den ersten Feldzug mit, gegen die Kantabrer in Spanien. Von da an ist er viele Jahre lang fortwährend, im Krieg und im Frieden, an der Verwaltung des römischen Weltreichs in vorragender Weise betheiligt gewesen. Im Alter von vierundzwanzig Jahren leitete er einen Feldzug in Armenien. Zwei Jahre später wurde er zum Civil- und Militärstatthalter von Gallien, also zur Regierung einer der wichtigsten Provinzen des Reiches berufen. Dann wieder hatte er in Pannonien (Ungarn und Dalmatien) den Heerbefehl zu führen und in allen diesen mit großer Verantwortlichkeit, mit vielen Anstrengungen, Gefahren und Mühsalen beschwerten Aemtern gelang es ihm, mehr und mehr das Vertrauen seines kaiserlichen Stiefvaters, sowie die Zuneigung seiner Untergebenen und die Achtung der öffentlichen Meinung zu gewinnen.
Wir besitzen dafür Zeugnisse von unanzweifelbarer Echtheit. Viel schon hatte es zu bedeuten, wenn ein junger Mann in Tibers Stellung, ein Prinz des kaiserlichen Hauses, im damaligen Rom ein geregeltes und wohlanständiges Leben führte. Im damaligen Rom, diesem ungeheuren Lasterpfuhl, dessen giftfarbigschillernde Oberfläche zwei bekannte Gedichtesammlungen des Zeitgenossen Ovid („Liebschaften“ und „Liebeskunst“) verführerisch genug widerspiegeln. Kein Zeitgenoß Tibers, überhaupt keiner unserer antiken Gewährsmänner weiß uns von Ausschweifungen des jungen Prinzen zu melden. Dagegen war seines Lobes voll ein so klassischer Zeuge wie Horaz, wohl der feinste Menschenkenner, der uns im ganzen Bereiche der römischen Literatur begegnet. Wenn seine Beziehungen zum Hofe und insbesondere zu seinem Wohlthäter, dem kaiserlichen Minister Mäcenas, ihn zwangen, gelegentlich dicke und nicht sehr wohlduftende Weihrauchswolken vor der Nase des Augustus aufsteigen zu lassen, so hat er sich doch anderwärts, wie seine Satiren und Episteln beweisen, die Freiheit des Urtheils und den Freimuth des Wortes durchaus bewahrt. In den zuletzt erwähnten seiner Werke hat er Beweise seiner Hochachtung für Tiberius niedergelegt, welche, fern von jeder Uebertreibung, schon durch die Einfachheit des Ausdrucks ihre Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit bezeugen. An einer Stelle kennzeichnet er den Prinzen als mannhaft und bieder („fortem bonumque“), an einer andern nennt er ihn gut und ruhmreich („bonus clarusque“), an einer dritten preis’t er ihn als den tapfern Besieger der Armenier („Claudi virtute Neronis Armenius cecidit“).
Also war mit der Zeit in das Dasein Tibers mehr Sonnenschein gekommen. Der hellste Stral desselben kam aus seiner glücklichen Ehe mit der Tochter von des Augustus berühmtem General und Minister Agrippa aus dessen erster Ehe mit einer Tochter des als Ciceros Freund bekannten Ritters Atticus. Diese Dame, Vipsania Agrippina, mit welcher der Prinz frühzeitig vermählt worden, nennt Sueton eine vortrefflich zu ihm passende Frau („bene convenientem“). Tiberius liebte sie innig und dieser Ehebund war einer der wenigen, der sehr wenigen in Rom, welcher für die verschiedenen daselbst aufgethanen „Lästerschulen“ kein Abhandlungsthema abgab. Vipsania hatte ihrem Gatten einen Sohn geboren, welchem er seinem Vater und seinem Bruder zu Ehren den Namen Drusus gegeben. Sie ging mit ihrem zweiten Kinde, als es dem Augustus beliebte, das Glück der Gatten brutal gewaltsam zu vernichten.
Ein wunderlicher Heiliger.
Es ist manchmal verblüffend, wie zwei Menschen in derselben Zeit, ja fast in derselben Stunde, ohne daß einer dem andern ein Sterbenswort mittheilt oder zielende Anregung zugehen läßt, auf denselben Gedanken, auf den nämlichen Entschluß verfallen. Gewisse Ideen liegen in der Luft, und greift sie der Eine heraus, hat sie der Andere schon in der Hand.
Pater Otto hatte sicher kein Wort mit Vater Latschenberger in der Sache gewechselt, die seiner Freundin heilig war. Ja, sie wußte gewiß, daß Einer den Andern seit Wochen nicht gesehen, und daß der Vater über seines Neffen Ausbleiben sich ärgerte. Und doch, wie kam er nur auf denselben Einfall?
Er hatte sich schon einige Tage mürrischer gezeigt, als gewöhnlich. Plötzlich fing er bald nach Otto’s letztem Besuch einmal beim Fleischtranchiren an – er hatte so die Art menschenfreundlicher Hausväter, alles Unangenehme, was ausgesprochen werden mußte, bei Tisch abzumachen; seine Verdauung schien durch Verdruß und Kummer der übrigen Familienmitglieder nicht empfindlich beeinträchtigt zu werden – „Hörst einmal, Blankerl,“ rief er und wetzte gar derb das Messer dabei, „die dumme Geschicht’ mit dem Herrn von Sperber muß ein Ende nehmen! So oder so! Will er Dich heirathen, mir kann’s recht sein, obschon mir ein Schwiegersohn lieber wär’, der kein Norddeutscher und kein Protestant wär! … Meint er aber nur so sein G’spusi mit Dir zu treiben und Dich womöglich ins Gerede zu bringen, da werd’ ich ihm das nächste Mal zeigen, wo der Zimmermann das Loch für ihn gemacht hat. Und das fix! Eins, zwei, drei! … Und Du wirst Dich halt darnach richten! Schreib Dir das hinter die Ohren! Dixi! Punktum!“
[783] Dixi! Punktum! war das Siegel auf unerschütterlichen Entschlüssen, gegen welche jede Widerrede ausgeschlossen war. Gegengründe verfingen so wenig als Thränen und Bitten, wenn Papa Latschenberger gesprochen und seinen fatalen Punkt unter seine Meinung gesetzt hatte.
Seine Mädchen wußten das. Auch sein jüngstes. Allein so sehr es wünschte, mit dem Manne, den es herzlich liebte, in Freud und Leid vereinigt zu werden, so wenig traute es dem rauhhaarigen Vater die Art zu, so heikle Angelegenheit glückbringend in die Hand zu nehmen. Er war der Mann nicht, Baron Sperber zu einem Entschluß zu bewegen, den dieser vielleicht noch gar nicht ins Auge gefaßt hatte, und der ihm aus der Pistole geschossen auch schwerlich einleuchten würde.
Pater Otto, das war der Mann dazu! Aber hätte Bianca dem Papa bekannt, daß sie den Vetter schon mit der heiklen Aufgabe betraut habe, dem lieben Baron auf den Zahn zu fühlen, so würde sie bei Jenem Alles auf einmal verdorben haben. Denn Ehren-Latschenberger hielt was auf seine Würden als Vater und Bürgersmann. Ein Anderer hatte keineswegs da vorzugreifen. Er brauchte noch keinen Vormund, weder geistlichen noch weltlichen. Er war der Vater seiner Kinder. Und er wußte besser, als irgend Jemand, was sich schickte und wie man für die Seinigen einstand.
Der Erfolg war auch darnach. Bianca gab sich in den folgenden Tagen die größte Mühe, ihren Edgar, den sie auf dem Wege nach und von der Opernschule sprach, von Besuchen im Hause fern zu halten. Sie klagte ihm die liebe Noth, die sie jetzt mit den Launen des Vaters habe, dem irgend etwas im Geschäft wider den Strich gelaufen sein müsse, denn er sei zänkisch und ungerecht gegen alle Welt, und am ungerechtesten gegen sein jüngstes Kind.
Der Liebhaber hörte dem Mädchen wohl mit Rührung zu; aber gerade Bianca’s getrübtes Wesen regte seine Sorgen auf. Und eines schönen Sonnabends, wo er es vor Sehnsucht nach der behaglichen Stube voll Musik und Blumenduft und dem süßen Mädchen mitten darin gar nicht mehr aushalten konnte, sah er es auf einmal klar als seine Pflicht ein, dem alten Latschenberger den struppigen Kopf zurecht zu setzen und ihm das Unrecht ins Gewissen zu reden, seinem Kinde, solch einem Kinde das Dasein ohne Noth zu vergällen.
Die Gelegenheit hierzu war recht günstig.
Als er mit einem Riesenblumenstrauß in der einen, den kurzen Schnurrbart in der andern Hand, geschniegelt und gebügelt und schönster Erwartungen voll, vor der Thür der Latschenbergerischen Wohnung wartete, bis diese auf sein wiederholtes Klingeln hin geöffnet werde, hörte er drinnen die fette Stimme des Familienvaters, der da eine seiner Töchter anherrschte: „Im Zimmer bleibst! Ich werd’ schon selber aufmachen. Punktum!“
Und das besorgt’ er auch. Aber, nachdem die Thür geöffnet war, hieß er den freundlich Grüßenden durchaus nicht willkommen, sondern blieb vierschrötig, breitgegrätscht auf der Schwelle stehn und sagte, während er über dem Spizbauch die schwankenden Quasten seines Schlafrocks durch einander schlang: „Mein lieber Herr Baron, nix für ungut! Aber ich kann nicht umhin zu finden, daß Ihre Besuche für anständige Mädel zu häufig erscheinen. Ich bin der Vater. Ich habe für den guten Ruf meiner Töchter zu sorgen. Und damit nix für ungut, wie schon gesagt, und ich wünsch’ Ihnen anderstwo einen recht vergnügten Abend, Herr Baron, und bleiben S’ fein gesund!“
Die Pforte des Latschenberger’schen Paradieses war darauf so rasch vor Sperber’s kreidebleicher Nase geschlossen worden, daß er sich fragte, ob er den ganzen Auftritt nicht geträumt habe, und unwillkürlich die Hand noch einmal nach dem Klingelzug erhob.
Aber im nächsten Augenblick besann er sich auf die Wirklichkeit und, statt noch einmal Einlaß zu verlangen, nahm er den großen schönen Strauß in zornige Hand und warf ihn so heftig auf die so oft glückseligen Herzens überschrittene Schwelle, daß die Papierhülle nur so klatschte und die bunten Kelche, die jäh geknickten, sich kläglich an die harten Bretter schmiegten, als hauchten sie sterbend: warum öffnet ihr euch nicht diesem guten Mann?
Es war der lezte Strauß, den Fräulein Latschenberger von Edgar von Sperber erhielt. Und es braucht nicht gesagt zu werden, daß sie seine Blumen mit Küssen bedeckte, nachdem sie den Theueren erst die Treppe hinuntergehen gehört und ihm dann verstohlen nachgespäht hatte, bis er um die Ecke der Florianigasse ohne sich umzusehen verschwunden war.
Sie stürzte hinaus, raffte den Strauß, der fast so rauh mißhandelt worden war, wie ihr liebendes Herz, mit beiden Händchen vom Boden auf, und euch Blumen, die ihr just noch euer Geschick beklagen durftet, euch ward ein schönes Los kurz vor dem Tode!
Dem Vater Trotz! dem Gekränkten ewige Liebe! Scene und Arie, begleitender Chor und Brummbaß! … Angeblich schlaflose Nacht bei sämmtlichen Mitwirkenden.
Ob sich Edgar und Bianca den nächsten Tag auf dem Wege zur Opernschule gesprochen haben? … Wie Ihr nur so fragen mögt! Eine Unterredung von einer Länge, von einer Herzlichkeit, von einer Bangigkeit, wie noch keine dagewesen in den Annalen aller Sperber’schen Liebschaften. Alle möglichen Gründe, welche den Alten zu so grobem Vorgehen bewogen haben mochten, wurden erörtert. Verleumdungen, geschäftlicher Aerger, Mißtrauen etc. Aber, ob es Edgar ehrlich meine, das fragte Bianca nicht.
Das war Pater Otto’s Sache! Und überdies, des Mädchens Sinnen und Trachten stand heute nicht auf also bänglichen Erörterungen. Die Frage, ob sie Beide sich ohne Beschwer wiedersehen und weiterlieben könnten, lag ja weit näher und ging Jedem von Beiden so dringend ans Herz, daß andere Fragen dagegen gar nicht aufkamen.
Wenn Bianca jetzt Edgar betrachtete, meinte sie ihn früher nie recht ins Auge gefaßt zu haben, denn dann hätt’ es ihr schon früher einleuchten müssen, wie hübsch und wie vornehm er aussah, und wie ihm die Liebe zu ihr aus allen Blicken leuchtete. Wenn sie ihn jetzt betrachtete, fiel ihr immer ein, was jüngst ihr Gesangsprofessor gesagt hatte, daß ihr nun erst das Licht der Kunst im Herzen aufgegangen sei, daß sie erst vor Kurzem die Sprache des Herzens reden gelernt habe …
Sie dankte dem lieben Edgar also auch einen merklichen Fortschritt auf ihrer Künstlerlaufbahn! Das entschied über Alles. Und so meinte sie nachgerade vollen Ernstes, ohne diesen Edgar fernerhin nicht mehr leben zu können.
Diese vielleicht etwas voreilige Ueberzeugung wirkte nun weder beruhigend noch klärend auf die stürmische Gemüthsverfassung der leidenschaftlichen Sängerin. Im Gegentheil ward ihre Stimmung immer kriegerischer. Sie meinte sich erzwingen und ertrotzen zu sollen, was der Vater so voreilig und jähzornig verweigerte.
Sie konnte sich zwar vorhersagen, daß der Mann, welcher einmal sein Dixi! und Punktum! erlassen hatte, sich so bald keines Besseren belehren lassen werde, und auf diese Weise schon gar nicht; allein es war ihr ganz recht, ihn noch mehr ins Unrecht zu setzen, wenn er nicht nur den Mann, welchen sie liebte, von seines Hauses Schwelle grob verjagte, sondern auch ihrem Künstlerlauf sein Veto in den Weg legte. So war’s ja klar, daß er ihr Alles verleiden und verwehren wollte, was ihr das Leben überhaupt werth machte, die heilige Kunst und die süße Liebe, und daß sie sich selbst helfen mußte, rücksichtslos, entscheidend, rasch!
In dieser ungeduldigen Laune faßte sie getrosten Muthes die Sache beim verkehrten Ende an.
Sie wartete Pater Otto’s Vermittlung gar nicht ab, sondern riß jede Gelegenheit vom Zaune, dem Vater begreiflich zu machen, daß er nichts Eiligeres zu thun habe, wenn er es anders gut mit seiner Bianca meine, als Herrn Baron Sperber wieder höflich in sein Haus einzuladen und den Kontrakt mit Königsberg zu unterzeichnen.
Der Alte verlor alle Fassung ob solcher Frechheit, Unvernunft und Verstocktheit. Er tobte, wetterte, fluchte. Die Mädchen weinten und klagten laut. Auf der Tagesordnung des sonst von Musik und Wohlklang durchzogenen Hauses Latschenberger stand häßlich schallender Verdruß, Zank und Bekümmerniß die ganze Woche hindurch.
Bianca lief mit rothgeweinten Augen herum und ergab sich einer Verbitterung, die Schlimmes befürchten ließ.
Als nun am Samstag Pater Otto mit seinen menschenfreundlichen Vorsätzen angerückt kam, fand er es freilich unmöglich, bei dem über alle Maßen entrüsteten Spießbürger auch nur das Geringste auszurichten. Sämmtliche Latschenbergerischen Herzen flammten in Wuth, und der Rauch, der von diesen wüthenden Herzen aufstieg, umnebelte ihre Häupter so dicht, daß kein Licht der Vernunft und Milde mehr hindurchdrang.
[784] Immerhin befremdete den freundlichen Priester der unsinnige Zorn des Alten weit weniger als das scheue, wortkarge, seitabblickende Wesen seines Mühmchens, das dann mit Eins ins helle Gegentheil, in ein lachendes, tändelndes, zuthunliches Plaudern umschlug, welches ihm die reine Komödie, welches ihm wie eine heitere Maske vorgenommen schien, um finstere Gedanken und Pläne vor seinem hellen Blick zu verbergen. Der kluge Mönch ließ sich davon nicht beirren, er faßte sein Mühmchen nur um so fester ins Auge und sagte es ihm bald auf den Kopf zu, daß es einen Entschluß gefaßt habe, und einen, welcher den Vater wenig erfreuen werde.
Bianca zuckte nur die Achseln dabei, aber sie antwortete weder ja noch nein.
„Kann ich Dir bei Deinem Vorhaben in nichts nütze sein?“ fragte Pater Otto.
„Bei was für einem Vorhaben?“ entgegnete Bianca, ohne daß ihre Harmlosigkeit überzeugend klang. Der Verdacht, daß am Ende doch der Vetter es gewesen sei, welcher den Vater gegen Edgar in solchen Harnisch gebracht habe, drängte sich ihr wieder auf und hieß sie vorsichtig sein und ihr Geheimniß Niemand preisgeben.
Pater Otto mochte wohl ahnen, was in ihrer unschuldigen Kinderseele sich für ein Wetter zusammenbraute; aber auch er hielt es nicht für nöthig seine Gedanken zu verrathen, er hob nur sachte drohend den Zeigefinger und sagte sanft: „Mädel, mach mir keine Dummheiten!“
„Mußt Du mich auch quälen?!“ rief Bianca. „Es thut mir leid, daß Du es diesmal bei uns so schlecht getroffen hast. Aber komm nur recht bald wieder!“
„Na, gar so bald wohl nicht!“ entgegnete lauernd der Priester. „Ich habe viel Arbeit in meiner Bücherei und werde schwerlich vor vierzehn Tagen wieder nach Wien herein kommen.“
Ein seltsam Feuer leuchtete bei dieser Versicherung in des Mühmchens Augen auf. Ei, die verrätherischen Augen! dachte Pater Otto still bei sich.
Bianca kehrte die Blicke derweilen ausweichend gegen Himmel und sagte so nebenhin – es klang nicht laut: „Wie schade! In vierzehn Tagen kann sich Allerhand ereignen!“
„Ja, ja!“ sagte der Vetter wie ein argloser Mann, der gar nichts merkt, und dann hieß er seine Muhme fein sanft und verträglich sein und nichts übers Knie brechen. Es werde schon Alles gut werden, mit Gottes Hilfe.
Ja wohl, wird es werden! sagte Bianca hinter ihm drein, da er fort war. Es wird! aber anders, als Ihr denkt!
Hierauf stürzte sie an ihr Schreibtischchen und stellte mit fliegender Feder an Edgar die Frage, ob er sie wirklich liebe.
Ein Dienstmann, den sie von der Straße heraufrief, brachte das Billet an den bezeichneten Ort. Und der Tag hatte sich kaum verfärbt, und Vater Latschenberger hatte kaum den Weg nach der „Blauen Flasche“ eingeschlagen, als auch schon Antwort in Bianca’s Händen war. Sie möchte getrost über Edgar verfügen und seine Liebe auf jede Probe stellen. Er habe keinen sehnlicheren Wunsch, als ihr nützlich zu sein.
Er wußte wohl nicht recht, was er versprach. Aber Bianca zweifelte keinen Augenblick daran, daß es ihm heiliger Ernst mit seiner Betheuerung sei, und daß sie mit ihm machen könne, was sie wolle.
Der andere Tag brachte etwas Klarheit in die Sache. Auf einem ihrer verstohlenen Spaziergänge, die sie, seitdem der Argwohn des Vaters in Verfolgungswuth ausartete, nur mit größter Vorsicht veranstalten durften, schüttete Bianca dem Geliebten ihr ganzes Herz aus. Sie wollte so bald wie möglich auf die Bühne, so bald wie möglich sich eine selbständige Stellung verschaffen und darum das Engagement in Königsberg um jeden Preis antreten. Der Vater wollte das um jeden Preis verhindern. Allein um ihr Probegastspiel zu absolviren, dazu brauchte sie die Erlaubniß des Vaters nicht. Hatte sie aber erst auf der Bühne gefallen, so konnte der gestrenge Herr seine Einwilligung nicht mehr versagen, zumal sie schon vorher eine Probe unabhängigen und unbeugsamen Willens gegeben haben werde, die ihn schon zur Einsicht und Nachgiebigkeit bewegen sollte. Aber eben dazu brauchte sie Edgar’s freundschaftliche Hilfe.
Dieser sah sie fragend an, wie Einer, der noch nicht begreift, was eigentlich von ihm verlangt wird.
Also mußte sie’s noch deutlicher sagen. Sie nahm ihn vertrauensvoll bei der Hand und raunte ihm zu: „Edgar, wir müssen fliehen, wenn wir glücklich werden wollen!“
„Fliehen?! Ausgezeichnet!“ rief Sperber. So etwas hatt’ er sich schon lange gewünscht; aber in seinen kühnsten Träumen hätte sein Muth sich nicht zu solch einer lauten Andeutung verstiegen.
Er küßte von Freude ganz hingerissen seiner himmlischen Bianca beide Hände. Recht erstaunt sah das Mädchen auf ihn herab. Was doch ihr Vorschlag für eine seltsame Wirkung auf den jungen Mann hervorbrachte! Es war doch eine recht schauerliche, gar nicht ungefährliche Sache, ein trauriger Nothbehelf, wo keine andere Hilfe mehr ersichtlich; aber daß er sich über diesen fatalen Vorschlag freute wie ein Kind, dem man den Weihnachtsbaum voller Herrlichkeiten und Süßigkeiten zeigt, das verstand sic nicht recht und fragte sich jählings, ob sie nicht groß Unrecht anstellte.
Allein Zeit und Umstände waren langem Besinnen und Erwägen so abhold, daß sie noch in derselbigen Stunde Alles verabredeten, was vorbereitet, was unterlassen werden mußte, wenn ihre Flucht aus Wien gelingen sollte.
Am dritten Tag darauf, ziemlich früh am Morgen, hatte sich Bianca von ihrem Vater verabschiedet, um, wie sie vorgab, zu einer Tante zu fahren, die in Gumpoldskirchen einen Weingarten hatte und sich ab und zu im Sommer eine ihrer Nichten zu längerem oder kürzerem Besuch ausbat.
An der Sache war nichts Auffallendes. Die Einladung der Tante war schon vorige Woche gekommen; ob man ihr folgen sollte, war gestern ausführlich verhandelt worden. Der alte Latschenberger erklärte, daß er froh sein wolle, wenn ihm das verweinte Gesicht seiner bockbeinigen Jüngsten für eine Woche aus den Augen geräumt werde.
Der Gefallen sollte ihm schon erwiesen werden, und zwar für länger, als er meinte! dachte Bianca dabei; aber sie hütete sich wohl, zu sagen was sie dachte.
Mit leichtem Gepäck, was sie zur Noth in der Hand fortzutragen vermochte, so wie man’s eben für eine Woche aufs Land mitnimmt, wenn man ein bescheidenes Bürgermädel ist, trat Bianca auf die Gasse.
Daß Eins von den Ihrigen sie auf die Bahn brächte, hatte sie trotz des Verdrusses, den sie bis zum Abschied rege gehalten, nicht hindern können. Aber die Schwester war’s zufrieden, daß sie, an der Südbahn angekommen, in demselben Komfortabel, der Beide herausgebracht hatte, wieder zurückfuhr, ohne die Schmollende bis auf den Perron zu geleiten und zu warten, bis der Zug abdampfte. Sie hatten sich Beide nichts mehr zu sagen als Lebewohl!
Bianca betrat aber den Perron gar nicht, wartete nur in der Vorhalle so lang, bis der Einspänner mit ihrer Schwester hinter der Linie verschwunden war, und schritt aus einem anderen Thor des Bahnhofs auf einen anderen wohlbekannten Wagen zu, dessen Kutscher, hinter dem rechten Ohr den Strohhalm einer Virginiacigarre, im Knopfloch eine großaufgeblühte rothe Rose, fast von der gleichen Farbe seiner Nasenspite, gar ehrerbietig das gnädige Fräulein begrüßte. Er glaubte, sie sei wohl eben mit der Bahn angekommen und sein Herr habe ihr, galant wie immer, seinen Fiaker zur Verfügung gestellt.
Der Schlag klappte zu. Die feurigen Rosse zogen an. Bianca’s Entschluß war That geworden.
Sie hatte nichts Eiligeres zu thun, als die Vorhänge zu beiden Seiten des Wagens herabzuziehen.
Sie war allein in dem bläulich überschimmerten Gelaß, das mit rasender Eile über das glatte Pflaster dahinstob. Sie preßte die Hand aufs Herz und sah sich rund um. Ein kleiner Korb, eine große Decke, ein Reisenecessaire, das war Alles, was sie Außergewöhnliches bemerkte. Die drei Stücke nahmen wenig Raum ein. Es sollte jede auffällige Zurüstung vermieden werden. Edgar hatte solche auch für hinderlich oder gar schädlich erklärt. Was der Mensch auf Reisen braucht, kriegt man für Geld zu kaufen. Und Geld wollt’ er mitnehmen, daß er genugsam einkaufen konnte was Bianca’s Herz begehrte.
Sie verstand nichts vom Reisen. Sie hatte sich in jeden Vorschlag gefügt, den er gemacht. Sie wollte nur fort, um auf irgend einem Umweg zur rechten Zeit ihr Engagement zu erreichen. Dazu waren freilich noch ein paar Monate Zeit. Aber die würden schon herumgehen, angenehm oder nicht, in irgend einem schönen verborgenen Erdenwinkel in Italien, in Frankreich …
[785][786] sie machte sich keine Gedanken darüber. Sie hatte nur den einen Gedanken: sie wollte fort von Wien, fort von dem grausamen Vater und den quälerischeu Schwestern, fort, weit fort, und wollte, um in diesem Vorhaben nicht gehindert zu werden, jetzt von Niemand gesehen und erkannt werden.
Darum hatten sie verabredet, auf keinem Wiener Bahnhofe, wo die Begegnung von Bekannten ja überall zu gewärtigen war, abzureisen, sondern mit Edgar’s verlässigem Unnumerirten irgend eine der ferneren Stationen zu erreichen, wo sie zur Nachtzeit ziemlich sicher waren, unerkannt in ein vorherbestelltes Koupé zu steigen. Einmal auf der Eisenbahn eingeschifft, wollte Bianca nicht, ehe sie in anderen Landen war, den Kopf aus dem Fenster stecken, geschweige den Fuß noch einmal auf österreichische Erde setzen. Die Ihrigen fragten sobald nicht nach ihr. Für diese war sie im Hause der Tante gut aufgehoben. Bei der herrschenden Verstimmung erwarteten diese auch keine Briefe. Daß ihnen morgen ein Telegramm zuging, welches ihre Ankunft in Gumpoldskirchen meldete, dafür wollte Sperber sorgen.
All das fuhr wie in einem Wirbel zusammengeballt an Bianca’s Denken vorüber. Es haftete nicht. Sie hatte nur für ein Gefühl Raum: jetzt roll’ ich davon! Eine wilde Schadenfreude beherrschte sie. Sie ballte die Fäustchen und stemmte sie auf die Wagenkissen und horchte, wie die Räder rasselten, und guckte, wie der Sonnenschein sich mühte, das dichte blaue Gewebe der Vorhänge zu durchdringen.
Wie wird’s werden? wird’s gelingen? wird sie Schaden nehmen dabei?
Sie schüttelte das Haupt und lächelte. Sie war ihrer selbst sicher, und Sperber war ein braver Mann.
Aber sollte er nicht bereits bei ihr sein? Wenn er sie, wenn sie ihn verfehlte! … Ihr Herz schlug bang. Doch das war ja nicht denkbar, daß Edgar nicht Wort halten, nicht auf die Sekunde gewärtig sein sollte … Wie lange fuhr sie bereits? … sie wußt’ es nicht. Wo war sie jetzt? … sie konnt’ es nicht sagen. Wo hatten sie sich zu treffen verabredet? … sie hatt’ es vergessen.
Aber als ob er auf den Ruf ihres Gedankens erschiene … ein Pfiff, der Wagen hielt, und Edgar sprang herein, die Thür behutsam hinter sich zuziehend, und weiter sausten die hurtigen Räder.
Aepfelwein – was soll uns Aepfelwein? werden die meisten Leser fragen. Diejenigen, die ihn nicht kennen, werden auf der Zunge einen leisen säuerlichen Geschmack spüren, und von Denjenigen, die ihn da oder dort kennen gelernt haben, wird den Meisten derselbe Zungenreiz zu Theil werden – nur in etwas stärkerem Maße. Es giebt aber auch Leute, deren Augen plötzlich aufleuchten, über deren Züge sicher etwas wie Sonnenschein gleitet, wenn sie die Ueberschrift dieser Zeilen lesen. „Ha – ebbes vom Moscht!“ ruft jubelnd der Schwabe aus, und der biedere Sachsenhäuser betrachtet schmunzelnd sein Glas „Rauscher“ und freut sich, daß man darüber auch etwas schreiben kann.
In der That kann man den Aepfelwein das „Nationalgetränk“ von Württemberg wie von der ganzen weiteren Umgebung von Frankfurt am Main nennen. Giebt es auch genug andere Landstriche in Deutschland und Oesterreich, wo man das massenhafte Obst zu verwerthen sucht, indem man daraus Wein bereitet – man vertilgt das Getränk doch zumeist noch im süßen Zustande als Most, oder man benutzt es zu anderen Zwecken, wie zur Essigfabrikation. Wein aber wird nur ausnahmsweise erzeugt. In den genannten Gegenden ist jedoch der Aepfelwein zum Bedürfniß der unteren und mittleren Klassen geworden. Er wird als „Süßer“, als „Rauscher“ und als Wein das ganze Jahr hindurch verzapft, und in einer großen Anzahl von Wirthshäusern wird nichts als Aepfelwein geschenkt. Auf dem Lande und mitunter auch in der Stadt hat man stets ein paar Fäßchen davon im Keller, und auf dem Mittagstische der Familie steht auch der Krug mit „Moscht“, wie in anderen Gegenden das Bierkrügel, das Weinglas oder – die Wasserflasche. Und dieselben kleinen schmierigen und rauchigen Stübchen, die Heiligthümer der Zechergemüthlichkeit, die in Bayern dem Bier, am Rhein und in den österreichischen Rebenländern dem Wein gewidmet sind, stehen hier unter dem Zeichen des Aepfelweins. Vor dem schäumenden, schmutzfarbenen Rauscher oder dem goldgelben Wein sitzen die Gäste stundenlang, von ihm lassen sie sich trösten über häusliches oder geschäftliches Leid, er begeistert sie zu all den Schnaken und Schnurren, die dann von Mund zu Mund gehen, bis sie in die Witzblätter gelangen, er ist es, der die Mienen erheitert und den Kampf ums Dasein, der draußen tobt, vergessen macht, und er ist es auch, der nicht selten zu einem „Kampf ums Dasein“ drinnen führt – ganz wie anderswo, nur daß die letzte Ursache der Erscheinung hier kein Rebengelände und kein Brauhaus, sondern ein Apfelbaum ist.
Doch das sind Dinge, die Viele wissen werden, was aber die meisten der Leser in Erstaunen setzen dürfte, ist die Thatsache, daß der Aepfelwein sich ganz im Stillen eine Gemeinde geschaffen hat, die weit über seine eigentliche Heimath, weit über Deutschlands Grenzen hinaus reicht, daß deutscher Aepfelwein in England, Schweden und Rußland getrunken wird, ja daß selbst der südamerikanische Pflanzer sich mitunter ein Fäßlein über das große Wasser kommen läßt.[3] Wenn man in Frankfurt über die große Mainbrücke geht und den Sachsenhäuser Berg hinansteigt, da läßt man sich’s nicht träumen, daß der Saft all dieser Aepfel, die da in ungezählten Wagenladungen vorübergeführt werden, so weit nach den vier Windrichtungen versendet wird. Und wenn man das nicht gerade herausfordernd in die Welt blickende Fabrikgebäude betrachtet, in dem all diese Aepfel verschwinden, dann denkt man auch nichts weiter, als: ein Aepfelweinproducent mehr! Wen aber der Zufall weiter führt, der erkennt bald, daß hier Fleiß und Ausdauer aus dem Kleinbetrieb heraus, auf den die Aepfelwein-Erzeugung sonst allgemein beschränkt geblieben ist, ein in seiner Art einziges industrielles Unternehmen geschaffen hat. Die Brüder Freyeisen, denen die Fabrik gehört, sind alte Sachsenhäuser. Vater und Großvater kelterten schon Obstwein, aber erst in den letzten Jahrzehnten bildete sich aus dem Geschäft ein Großbetrieb heraus, dessen Produkt in alle Welt versendet wird.
Steigt man in die Keller hinunter, so erhält man erst einen Begriff von der ganz gewaltigen Ausfuhr eines Erzeugnisses, von dessen Export bisher in größeren Kreisen kaum etwas verlautete. In zwei Stockwerken dehnen sich kolossale Kelter aus, von denen der obere rund 400 Fuß, der untere circa 300 Fuß lang ist. In diesen Riesenräumen lagert neben und über einander Faß an Faß, alle gefüllt mit dem Produkt eines Jahres, denn viel länger hält sich der Aepfelwein nicht. Aus allen Theilen Deutschlands, namentlich aus der Wetterau, dem Taunus, aus Bayern und aus Hannover, werden die Früchte herbeigeschleppt, aus denen all dieser Wein gewonnen wird. Und sie reichen meist gar nicht aus, sodaß nicht selten Waggonladungen Aepfel aus Frankreich und Oesterreich bezogen werden. Im Durchschnitt werden in jedem Herbst 50000 Centner Aepfel verarbeitet, und da 10 Centner ungefähr 3 Hektoliter Wein geben, so erhält man daraus 15000 Hektoliter Aepfelwein, wovon der weitaus größte Theil nach auswärts versandt wird. Der Betrieb selbst ist sehr einfach. Die Aepfel werden in einer durch Dampfkraft getriebenen Mühle zu einem Brei zerrieben, und dieser kommt, nachdem er eine Weile „gezogen“ hat, in die Pressen, deren Einrichtung ja bekannt ist. Der ablaufende „Süße“ wird durch Röhren in die Keller geleitet, wo er alsbald in Gährung geräth. Schon nach 6 bis 8 Tagen ist er „Rauscher“, der an Ort und Stelle stark getrunken wird. Ist die Gährung weiter fortgeschritten, so wird er ungenießbar, und erst im Februar und März wird aus dem im Oktober und November gekelterten Most klarer Wein. Um diesem mehr Haltkraft zu geben, als er ursprünglich besitzt, setzen die Brüder Freyeisen den sogenannten „Speierling“ zu, einen Wein, den sie aus einer Speierling genannten, sehr herben Birnenart gewinnen.
Fragt man sich nun, was den Aepfelwein so sehr in Aufnahme gebracht hat, so wird man kaum irre gehen, wenn man dies zum großen Theil den Herren Chemikern zuschreibt, die sich um die Analyse des Traubenweins so sehr bemüht haben. Trinkt man eine Flasche Wein für 80 Pfennig, so kann man in den meisten Fällen sicher gehen, daß er Kunstprodukt ist, während man für 25 bis 30 Pfennig einen Liter Aepfelwein erhält, der fast immer echt sein wird, weil eine Fälschung sich nicht rentiren würde. Und besser als das künstlich gemischte „Rebenblut“ ist der Aepfelwein jedenfalls, ganz abgesehen davon, daß er auch gesünder ist. In sanitärer Beziehung hat er übrigens vor Wein und Bier manche Vorzüge, ja er wird in neuester Zeit auch vielfach von Aerzten verschrieben.
„Während der Genuß von Traubenweinen,“ sagt Otto Lämmerhirt, „das Blut erhitzt, der von Bier dasselbe verdorben und zu Fieberkrankheiten geneigt macht, das Gemüth mürrisch und melancholisch stimmt, wirkt im Gegensatz hierzu der Genuß von Obstwein vermöge seines Gehaltes an phosphorsauren Salzen anregend auf die Gehirnthätigkeit, und die Aepfel- und Citronensäure der Früchte belebend auf den ganzen menschlichen Organismus, indem sie durch vermehrte Thätigkeit der Organe die Schlacken aus dem Blute entfernen und so dasselbe reinigen.“
Wer übrigens in Württemberg gelebt hat, der wird wohl auch erfahren haben, wie wohlthätig der Genuß des Aepfelweins auf den Gesundheitszustand der Truppen bei den Manövern einwirkt – eine Gelegenheit, welche für solche Beobachtungen besonders günstig ist. Schwaben zeigt auch, wie sehr durch allgemeine Verbreitung des Aepfelweins der Branntweingenuß und damit all die üble Gefolgschaft des Alkoholismus eingeschränkt werden kann. So darf man sich denn auch nicht wundern, daß der Aepfelwein längst begeisterte Verehrer gefunden hat, die ihn wie Dr. Lucas besangen –
„Der edle Wein belebt mit seinem Feuer
Wohl jede Menschenbrust;
Der Obstwein ist dem Landmann werth und theuer,
Zur Arbeit schafft er Lust!“ –
[787] und Enthusiasten, die ihn als Universalmittel gegen alle möglichen Krankheiten hinstellten, wie Petsch, der ihn „die Muttermilch der Natur“ nannte. Was den Schreiber dieser Zeilen betrifft, so muß er freilich gestehen, daß weder Württemberg noch Frankfurt, trotzdem er da wie dort Jahre verlebte, es vermochten, ihn zum Aepfelwein-Apostel zu machen. Das ihm neue „Nationalgetränk“ erregte wohl seine Neugierde und veranlaßte ihn zu Beobachtungen, die nun in diesen Zeilen krystallisiren – aber er läßt es beim Schreiben und überläßt das Trinken Andern. Aepfel-, Citronen- und Phosphor-Säure mögen – wir können es Herrn Lämmerhirt glauben – sehr ersprießliche Dinge sein, aber Manchen, sind sie eben – zu sauer.
Blätter und Blüthen.
Labyrinthe. Auch dem jüngsten Klippschüler sind die wunderbaren Irrgärten und Irrgänge bekannt, von denen uns die alten Schriftsteller erzählen. In Aegypten bestand, nach Herodot, ein Labyrinth mit dreitausend Zellen; auf Kreta baute der athenische Allerweltskünstler Dädalos auf Geheiß des Königs Minos ein Labyrinth, welches wahrscheinlich aus einer Menge unterirdischer Gänge bestand und dem weisen Herrscher als Staatsgefängniß diente. Dessen Erbauer selbst wurde darin gefangen gehalten; später bewohnte der nicht minder berühmte Minotaur das unentrinnbare Gewirre, und Theseus würde sicherlich darin umgekommen sein, wäre die liebliche Ariadne nicht auf den schlauen Gedanken gekommen, ihm den im Laufe der Zeit zum Gemeinplatz gewordenen Ariadnefaden mit auf den Weg zu geben.
Auch Jerusalem besaß ein freilich etwas verkümmertes Labyrinth, und es darf somit nicht Wunder nehmen, wenn die Kreuzfahrer, denen das Ding offenbar imponirt hatte, den Gedanken mit nach Hause brachten und ihren Zwecken anpaßten. Es galt jetzt nicht mehr Staatsverbrecher oder Ungeheuer einzusperren, sondern den frommen Büßern durch ein handgreifliches Beispiel zu zeigen, wie schwer die Seligkeit zu erringen sei. Erzbischof Alberich von Humbert ging mit dem guten Beispiele voran und baute während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in dem herrlichen Dome zu Rheims ein Labyrinth, welches den Lebenspfad und die Hemmnisse aller Art veranschaulichte, die sich dem Christen entgegenthürmen. Die Pilger suchten ihren Weg in den Irrgängen, wobei sie Gebete verrichteten und fromme Lieder sangen. Wer sich nicht abschrecken ließ, gelangte zuletzt nach dem Mittelpunkte, wo ein Heiligenbild aus bläulichem Stein stand. Leider wurde das Rheimser Labyrinth 1779 dem Erdboden gleich gemacht, weil die Kinder der Stadt darin Versteck spielten und den Gottesdienst störten. So schlimm wird es also wohl mit den Irrgängen nicht gewesen sein.
Dagegen besitzen die Liebfrauenkirche zu St. Omer und der Dom zu Bayeux noch heute Labyrinthe.
Wir führen unsern Lesern zwei dieser Labyrinthe im Grundriß vor. Vielleicht besitzen Einige die nöthige Geduld, um sich mit Hilfe eines Stiftes durch die Irrgänge durchzuarbeiten. G. van Muyden.
Jagdhunde am Feuer. (Mit Illustration S. 773.) Welche Naturwahrheit liegt in diesem einfachen Bildchen, das der Künstler mit richtigem Verständniß dem Jägerleben abgelauscht hat! Sind diese drei Schweißhunde von echt deutschem Schlage mit allen Kennzeichen ihrer edlen Rasse nicht wahre Prachtthiere, wie sie der hirschgerechte Waidmann kaum anders wünschen kann? Und mag der „Saurüde“, der zwischen ihnen als Vierter im Bunde auf der Erde lagert, mit seinem dicken Kopf und dem kurzen „Behang“ immerhin wenig edles Rasseblut verrathen, so ist er trotzdem ein nicht zu verachtender wackerer Geselle, der, wenn es darauf ankommt, so gut wie jene seine Pflicht thut. Die Jäger, welchen diese Hunde angehören, sind wahrscheinlich vom Feuer weg nicht weit auf einem Pürschgang abwesend und haben ihre Lieblinge hier „arretirt“, da dieselben beim Anschleichen an Wild von diesem „eräugt“ werden und dadurch der Jagd hinderlich sein könnten. So harren sie nun am kalten, nebeligen Wintermorgen frierend, mit gesenkten Köpfen und eingezogenen „Ruthen“ im Schnee neben dem sinkenden Feuer des Augenblickes, wo man sie abrufen wird, um auf der „Schweißfährte“ einem „krank“ geschossenen Stück Hochwild „nachzuhängen“ und dieses entweder zu stellen, oder, wenn es verendet sein sollte, dem Jäger durch „Laut geben“ anzuzeigen. Trotz des Ungemaches der rauhen Jahreszeit halten sie auf ihrem Platze frei, ohne angebunden zu sein, aus; diese edlen klugen Thiere verstehen ja jedes Wort, und ein solches, ja selbst ein stummer Wink ihres Herren genügt schon, um sie stundenlang zum Bleiben anzuweisen. Nur den Saurüden, der weniger an Gehorsam gewöhnt ist, hat der Jäger am Hetzriemen mit einem Schweißhund zusammengekoppelt, dieser wird den leichtfertigen Kameraden schon zu meistern wissen, daß er nicht ausreiße. Darum fügt sich letzterer mit scheelem Blick in sein Schicksal und denkt vielleicht: „der Klügere giebt nach“. J. C. Maurer.
Die christliche Blutzeugin. (Mit Illustration S. 777.) Da steht sie, die zarte Jungfrau, die Tochter eines Konsularen, die Christin, die ihr Zeugniß mit ihrem Blute besiegeln will, auf der Arena des römischen Amphitheaters, angesichts ihres Exekutors, eines afrikanischen Löwen, schaudernd und doch entschlossen. Gefesselt steht sie da: der riesige, wie aus Erz gegossene Scherge scheint sie vorwärts zu drängen, während ein anderer rechts den Körper eines bereits verendeten zum Todesthor hinausschleift. Noch ein Augenblick, und das Gatter des Käfigs geht auf, die hungrigen Bestien stürzen heraus, und der Leib der Unglücklichen ist zerfleischt. Die Thörin! Sie betet einen Gekreuzigten als Gott an; man hat ihr große Versprechungen gemacht, wenn sie ihrem Wahn entsagen und dem Apollo Opfer bringen wollte, aber ihre Antwort ist Nein! und immer Nein! gewesen. Nie werde sie vor einem Geschöpfe die Kniee beugen; diese Ehre gebühre nur dem Einen Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde. Dabei blieb sie standhaft. So hat man sie denn in die unterirdischen Gewölbe des Flavischen Amphitheaters, des sogenannten Kolosseums, abgeführt.
Hinrichtungen durch wilde Thiere gehörten bekanntlich zu den Schauspielen dieses Hauses, und die Arena war zugleich Bühne und Schaffot. Die Verbrecher wurden bald wehrlos, bald bewaffnet Löwen, Tigern, Bären, Stieren preisgegeben, welche gewissermaßen die Rolle der Folterknechte und Scharfrichter übernahmen und die, wie die „Erscheinungen“ in unseren Theatern, durch eine Maschinerie aus den Versenkungen der Bühne emporgehoben, in ihren Käfigen aufstiegen. Diese Art Exekution, die so vielen Glaubenshelden die Krone des Martyriums gebracht hat, war eine Zugabe zu den großartigen Thierhetzen, die neben den Zweikämpfen der Gladiatoren in diesen blutigen, ungeheuren, furchtbaren und doch wunderbaren und märchenhaften Räumen regelmäßig abgehalten zu werden pflegten.
Wir wollen unsere Märtyrerin oder, wie die Süddeutschen sagen, unsere Martyrin, Prisca nennen, weil diese für die erste Blutzeugin des Abendlandes gilt und in der christlichen Kunst aus einer ähnlichen Darstellung bekannt ist. Sie wird abgebildet mit einem oder zwei Löwen, die sich ihr aber gezähmt und schweifwedelnd vor die Füße legen, da sie im entscheidenden Moment von denselben verschont wurde – eine Wendung, wie sie sich in vielen Heiligenlegenden findet, in denen die Märtyrer nach vielen mißlungenen Versuchen, sie umzubringen, erst durch das Schwert getödtet werden. Ich will nur an den heiligen Januarius erinnern, der im Amphitheater zu Pozzuoli den wilden Thieren gleichfalls vergeblich
[788] vorgeworfen ward; die rührende Geschichte des Sklaven Androklus, der einst einem Löwen in der Libyschen Wüste einen Dorn aus dem Fuße gezogen hatte und nachmals in der römischen Arena von dem dankbaren Thiere nicht angegriffen wurde, ist freilich besser verbürgt. Die Hoffnung, daß die Bestien ihre Wildheit vergessen und sich schmeichelnd der Jungfrau zu Füßen legen werden, mag uns über das Entsetzen hinweghelfen, das uns beim Anblick dieser antiken Löwenbraut ergreift. „Virtus Christianorum non nisi in ferro vincitur“, sagt die Legenda aurea im Leben der heiligen Euphemia: die Kraft der Christen erliegt nur dem Schwerte, unter dem das Haupt Pauli gefallen ist. Rudolf Kleinpaul.
Im Spatzenklub. (Mit Illustration S. 781.) Immer zerbrach ich mir schon den Kopf darüber, was das häßliche fremde Wort Klub, das sich im deutschen Volksleben leider immer mehr einnistet, eigentlich zu bedeuten habe. In England, wo wir seine Berechtigung gelten lassen müssen, steht es im Gegensatz zu Society, dem wissenschaftlichen Verein, Union, der großen umfassenden Vereinigung, Association, der kaufmännischen Gesellschaft oder Handelsverbindung, und Alliance, der staatlichen Verbindung oder dem Bündniß schöner Seelen, gleichviel welcher. Als ich aber das Bild von Marie Laux vor mir sah, fand ich augenblicklich eine lebensvolle Erklärung des Worts Klub. Ja, ein Spatzenklub ist es in der That, der sich hier in den Zweigen der Platane breit macht. Da sehen wir die biederen gefiederten Spießbürger so recht in ihrem Leben und Treiben veranschaulicht, wie sie sich jahrein und jahraus hier umhertummeln. Den verspäteten Käfer, der sich vorwitzig zum Tageslicht emporgewagt, hat ein Spatz gepackt, und während er ihn erwürgt, stürzt ein anderer, dann noch ein dritter herzu, und selbst ein vierter möchte noch etwas von der leckeren Beute erhaschen, wenn er nur den Muth dazu hätte, darum mitzuraufen. Für den Fliegenschnäpper, der im vorigen Frühling in der Dorfschule auf dem um das Kaiserbild gehängten Kranz genistet, hat man in diesem Jahre vorsorglich einen Nistkasten in den Zweigen der Platane ausgehängt; er steht jetzt leer und verlassen, das scheint aber unsern Spatzen gerade willkommen zu sein. Im Fluge ist der Kasten bezogen, und nun bildet er den fortwährenden Streitpunkt oder Zankapfel im Spatzenklub.
Während ein Weibchen schon darin sitzt und sein Männchen vor der Thür, kommt ein zweiter Spatz mit einer großen Feder herbei, und ein dritter mit Halmen im Schnabel wird nur noch einen Augenblick aufgehalten durch die Balgerei um den Käfer. Sobald eine solche aber hier beginnt, eilen sie alle, auch noch ein vierter oder fünfter heran, um auch dabei zu sein. Oberhalb sitzt ein Paar, welches sich um diesen Krakehl nicht bekümmert, denn sie haben beide mit dem ihrigen genug zu thun; sie schelten einander weidlich aus oder zanken und streiten um des Princips willen. Weiter abseits sitzt ein Pärchen, welches sich erst recht nicht um das Treiben rings umher kümmert; sie liebkosen mit einander, als wenn außer ihnen beiden Niemand auf der Welt vorhanden wäre. Unten in der Ecke kauert einer tief in philosophische Betrachtungen versunken. Noch einer oben hockt anscheinend trübselig da; er ist offenbar ein Idealist, der am besten durch das Leben zu kommen glaubt, wenn er die Augen zukneift und sich um die harte, alltägliche Wirklichkeit gar nicht kümmert.
Ueberschauen wir das ganze Bild nochmals, so sehen wir den Spatz als getreues Ebenbild des Menschen vor uns. Alle Neigungen und Regungen, Freude und Leid, Zank und Streit, Liebe und Haß giebt es im Spatzenleben ebenso wie bei uns. Müssen wir da nicht unwillkürlich fragen, wie würde die Welt aussehen, wenn wirklich das grausame Wort Ausrottung dem Vogel gegenüber, der uns am nächsten steht und in gar mancherlei Dingen auch am ähnlichsten ist, hart und unerbittlich zur Geltung gebracht werden sollte – wie würde die Welt aussehen ohne Spatzen! Karl Ruß.
Der kleine Widerspenstige. (Mit Illustration S. 785.) Wer in dem Löffel, welchen die Mutter lachend ihrem ungebärdigen Jungen aufnöthigen will, irgend eine widerlich schmeckende Arznei vermuthet, ist im Irrthum.
„Ich wurde mit dem Fläschchen aufgezogen
Und hab’ mir’s niemals wieder abgewöhnt –“
so singt Emil Rittershaus im Geiste deutscher Jugend, und das entschiedene Verlangen nach seinem Fläschchen, das die fortschrittliche Mama nun hinter die Milchsuppenschüssel gestellt hat, reizt den tapferen Jungen zu solchem gesichtverzerrenden Widerstand. Die Mama hat gut lachen, sie ist ja eine Frau und kennt das männliche Gefühl für die Flasche nicht; aber selbst wenn sie mit ihrer Löffelei endlich den vollen Sieg gewinnt, wird sie später doch die Tiefe der angeborenen Ueberzeugung bewundern, die einst so energisch aus ihrem Knaben gesprochen hat, und welche ein weises Bardenlied mit dem Worte verewigt: „Das Essen, nicht das Trinken, bracht’ uns ums Paradies.“ F. H.
Kleiner Briefkasten.
A. Sch. in M. Seit Heinrich Schütz’ Geburt waren Anfang Oktober 300 Jahre verflossen. Die Hauptmeisterschaft des berühmten Tonkünstlers lag auf dem Gebiete der kirchlichen Komposition, auf welchem er als größter Vorläufer Johann Sebastian Bach’s erscheint. Ein zweites ganz hervorragendes Verdienst erwarb er sich aber namentlich dadurch, daß er das unter den Mediceern in Toskana emporgekommene Musikdrama nach Deutschland einführte: die „Daphne“ des Rinuccini, nach Martin Opitz’ Umdichtung von Schütz mit einer eignen neuen Musik versehen, war die erste Oper, welche in Deutschland komponirt und am 13. April 1627 am Hofe des Kurfürsten Johann Georg’s I. von Sachsen, an welchem Schütz Kapellmeister war, aufgeführt wurde. Als Schütz’ Geburtstag werden übrigens drei Tage angeführt: der 5., 8. und 14. Oktober 1585. Er selbst giebt nach der „Sachsen-Chronik“ den „Tag Burkhardi“, also den 14. Oktober, an.
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