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Die Gartenlaube (1885)/Heft 44

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[717]

No. 44.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Spielkätzchen.0 Nach dem Oelgemälde von F. Lafon. Photographie im Verlage von Lecadre u. Co. in Paris.

Mariann’s Bruder zählte sechsunddreißig Jahre, als sein Herz erwachte. Damals hatte er tief in den Bergen gearbeitet. Dort stand in einem engen, hochgelegenen Bergthale, das vom Dorfe sieben Wegstunden entfernt war, ein kleines Haus, das ein alter Köhler mit seiner jungen Tochter bewohnte. Der Holzknecht hatte das stille, freundlich-blickende Mädchen häufig gesehen, wenn es beim Kräutersuchen und Beerensammeln in die Nähe seines Arbeitsplatzes gekommen war – aber nie hatte er die Dirne angesprochen, wenngleich sie ihm wohlgefallen hatte vom ersten Blicke an. Da kam sie selbst eines Tages zu ihm: ihr Vater läge krank und sie wüßte sich nicht mehr zu rathen. Er ging mit ihr, wortlos – und er sah es gleich, daß dem Alten nicht mehr zu helfen war. Einen Tag und zwei Nächte saßen die Beiden am Lager des Sterbenden – und als es mit ihm zu Ende war, zimmerte der Holzknecht einen groben Sarg, legte den Todten hinein und trug ihn auf seinen Schultern nach dem eine Wegstunde höher gelegenen Wallfahrtskirchlein Mariaklausen. Als er wieder zurückkehrte, begann er für die Bedürfnisse des Mädchens zu sorgen. Die Beiden redeten mit einander, als hätte es nie eine Zeit gegeben, in der sie sich nicht gekannt, und bald wurde die Maid die Frau des Mannes und gebar ihm nach einem Jahre ein Mädchen, das der alte Kaplan von Mariaklausen auf den Namen Eva taufte.

Das Kind war der Abgott des Vaters, und seine liebevolle Fürsorge für das herzige Wesen, in dem alle guten Eigenschaften des Vaters und der Mutter vereinigt schienen, verdoppelte sich noch, als er im sechsten Jahre seines Glückes sein junges Weib verlor. Von nun an mußte der Vater seinem Kinde die Mutter ersetzen; das hielt in den ersten Wochen wohl schwer, aber die Liebe lehrte es ihn. An schönen Sommertagen nahm er [718] das Kind mit sich in den Wald, wo es unter der Rindenhütte seine stillen, bescheidenen Spiele trieb, während draußen der Vater arbeitete; zur Mittagsstunde schob er ihm auf dem selbstgeschnitzten Holzlöffelchen die einfache Kost in das kirschrothe Mündchen, dann aber nahm er sein Veverl auf die Kniee, lehrte es die Thiere kennen, nannte ihm die Namen der Pflanzen und Steine und plauderte zu ihm von dem geheimnißvollen Leben, das nach seinem Glauben in ihrem Innern webte. Pünktlich nach einer Stunde nahm er die Arbeit wieder auf – aber wenn sie des Abends nach Hause kehrten, setzten sie sich auf die Holzbank unter den rauschenden Tannen, und dann wiederholte sich das gleiche, freundliche Spiel. Der Winter vereinigte die Beiden in der traulichen, behaglich durchwärmten Stube, denn da arbeitete der Vater zu Hause, und während er vor seiner Werkbank saß und aus den weißen, astlosen, geschmeidigen Tannenbrettchen die verschiedenartigsten Schächtelchen und Schachteln sägte, übertrug er bei all dem stundenlangen, zärtlichen Geplauder in das Herz seines Dirnleins, das ihm nach Kräften bei der Arbeit an die Hand ging, sein ganzes Träumen, Sinnen, Fühlen und Glauben.

Täglich zur Mittagsstunde traten sie vor die Thür, wo der tiefe Schnee, der den Grund und die Bäume deckte, wo der zu Eis erstarrte Bergbach im kurz währenden Sonnenschein funkelte. Dann streute das Kind den frierenden Vöglein Nahrung, während der Vater über eine von Schnee entblößte Stelle ein Bündel Bergheu schüttete, zur Aesung für das Wild, das vom Morgen an in Rudeln das kleine Haus umstand, der Stunde harrend, zu der die niedrige Thür sich öffnete. So schwand den Beiden Tag um Tag; das Ausbleiben des Wildes war für sie das erste Anzeichen des nahenden Lenzes, bald kamen mildere Tage, die den Schnee die wachsende Kraft der Sonne verspüren ließen – dann aber hub ein Stürmen und Tosen an rings um das kleine Haus, der schwüle Föhnwind brauste durch den steilen Tann, daß die Bäume ächzten und die Erde schütterte, und von den felsigen Höhen nieder grollten die dumpfen Donner der stürzenden Lawinen. Das Stürmen vertoste, klare Bläue wölbte sich über Berg und Thal, bei Veilchenduft und Vogelsang erwachte der Lenz – und wieder zogen die Beiden hinaus in den frisch ergrünenden Bergwald. Drei Winter schwanden ihnen so – und Veverl war acht Jahre alt geworden, als ihres Vaters Schwester, die Mariann’, das „große Glück“ machte. Da drängte nun der Finkenbauer den Schwager, mit seinem Kinde zu ihm ins Dorf zu ziehen; der aber konnte sich ein Leben fern von seinem Waldhaus nicht denken – er blieb, wo er war und was er war.

Acht neue Jahre gingen dahin – aus dem lieblichen Waldkinde war das blühende, träumerische, rehäugige Mädchen geworden – auf das Haupt des Vaters aber war ein Schnee gefallen, den keine Frühlingssonne schwinden machte. Wieder hatte der Winter seinen weißen Teppich über Höhen und Tiefen gedeckt, da war es am Weihnachtsmorgen, Veverl stand unter der Thür und lockte die Vögel, die im Froste pispernd und wispernd ihre Federn sträubten, der Vater aber hatte gemeint, auch das Wild sollte den Tag vermerken, der voreinst den göttlichen Helfer für Noth und Elend geboren hatte – und nun stand er da drüben, unfern vom Hause – klingend hallten die Schläge seiner Axt – er fällte einen Fichtenstamm, damit das Wild die zarten, saftigen Zweigspitzen äsen könnte. Krachend stürzte der Baum, streifte im Stürzen einen andern, wodurch ein schwerer Ast gebrochen und seitwärts geschleudert wurde – und mit einem gellenden Aufschrei flog das Mädchen auf den Vater zu, der, von dem Aste auf die Stirn getroffen, lautlos niedersank auf den Grund, dessen weißer Schnee von dem strömenden Blute sich röthete. Jammernd warf sich das Kind über den Vater, rüttelte mit den kleinen Händen sein blutendes Haupt und rief ihn schluchzend an mit allen Namen, welche Zärtlichkeit und Liebe in qualvollem Schmerze nur ersinnen können. Doch als sein Auge starr blieb und stumm sein Mund, da zeigte sich in Eva die Tochter dieses Vaters – mit Gewalt überwand sie ihre Thränen, der hundertmal gehörten Lehre ihres Vaters denkend, daß der Seele eines Todten die um ihn geweinten Thränen brennendes Weh bereiten. Dennoch brach sie noch einmal in lautes Schluchzen aus, als ihr bei dem Versuche, die Leiche in das Haus zu verbringen, die Kräfte versagten. Da eilte sie in die Stube, nahm das kleine Krucifix aus dem Herrgottswinkel, kehrte zum Vater zurück, faltete ihm die Hände über der Brust und legte das heilige Zeichen zwischen seine erstarrenden Finger. Dann machte sie sich auf den Weg nach Mariaklausen.

Volle sieben Stunden brauchte sie, bis sie das nur eine Wegstunde höher gelegene Kirchlein mit dem Kaplanhause in Sicht bekam; häufig, wenn sie bis über die Brust in den tiefen, eisigen Schnee versunken war, hatte sie die Versuchung angewandelt, die Hände zu falten, die Augen zu schließen und so zu harren, bis der frierende Tod ihre Seele der Seele des Vaters vereinigen würde; aber der Gedanke, daß dann die Leiche des Vaters unbeerdigt liegen müßte, schutzlos den hungernden Füchsen überlassen, spornte immer wieder von neuem ihre schwindenden Kräfte; den letzten steilen Hang vermochte sie nicht mehr zu erklimmen; doch war sie von den Leuten im Kaplanhause schon gewahrt worden, und die beiden Kirchenknechte kamen ihr zu Hilfe. Als sie vor dem alten Kaplane in der mönchisch kahlen Stube stand, versagten ihr fast vor Frost und Entkräftung die Worte. Die bejahrte Wirthschafterin nahm ihr die vom Schnee durchnäßten Kleider ab, wickelte sie in warme Tücher und brachte sie zu Bette; inzwischen stiegen die beiden Kirchenknechte thalwärts nach dem Waldhause; spät in der Nacht erst kehrten sie mit der Leiche zurück – und sie wußten nicht genug zu reden von der wundersamen Gesellschaft, in der sie den Todten gefunden: rings um ihn hätten die Bäume gewimmelt von Vögeln; Hirsche und Rehe hätten ihn im Kreise umstanden; auf seiner linken Schulter aber hätte ein großer, weißer Vogel gesessen, wie sie all ihrer Lebtage noch keinen gesehen, und der hätte mit menschenähnlicher Stimme zu dem Wilde geredet; als sie sich genähert, hätte sich der Vogel pfeilgrad in die Luft erhoben, das Wild aber hätte sich nicht vertreiben lassen – und während sie die Leiche bergwärts trugen durch die Nacht, hätten sie bald hinter sich, bald seitwärts im Walde trippelnde Schritte gehört, so daß es ihnen ganz unheimlich geworden wäre und sie sich ein- um das anderemal bekreuzigt hätten. Veverl konnte den beiden Knechten nicht erklären, daß jener seltsame Vogel ihr liebes „Hansi“ gewesen war, eine weiße Dohle, die ihr Vater gezähmt und abgerichtet hatte, nachdem er sie im vergangenen Frühling unter dem Neste gefunden, aus dem die alten Vögel das in der Farbe mißrathene Junge gestoßen hatten – denn als die beiden Knechte die Leiche in das Kaplanhaus brachten, lag Veverl schon in glühendem Fieber. Der Kaplan und seine Wirthschafterin pflegten sie.

Als die Kranke nach langen Fiebertagen genas, verblieb sie im Kaplanhause; unter ihrem eigenen Dache hätte sie so allein für sich ein trauriges Wohnen gehabt – und der Verkehr mit dem Dorfe war durch den haushoch liegenden Schnee seit Monaten völlig unterbrochen. Zu Anfang des März erst konnte man der Finkenbäuerin die Nachricht von dem Tode ihres Bruders senden; wenige Tage später schon erschien der Bauer in Mariaklausen, um sein Schwagerkind mit sich ins Thal zu führen. Gar wenig war es, was sie aus dem väterlichen Hause, von dem sie unter Thränen schied, mit sich nehmen konnte – und von ihrem „Hansi“, der ihr in Wahrheit eine sprechende Erinnerung an den Vater gewesen wäre, war schon bei ihrem ersten, nach der Genesung vollführten Besuche im Waldhause nichts mehr zu sehen und zu hören gewesen, obwohl sie den Namen des Vogels mit ihrer weichen, innigen Stimme hundertmal hinausgerufen hatte in den widerhallenden Wald. Gegen Abend langten sie im Dorfe an; als Veverl da die „fürchtig vielen“ Häuser sah, wußte sie sich vor Staunen kaum zu fassen; es erging ihr, wie es dem Dörfler ergeht, der zum ersten Male die Großstadt sieht. Auf dem Finkenhofe hatte sie ein leichtes Sicheingewöhnen, denn sie wußte sich alle Leute durch ihr liebes, stilles Wesen rasch zu Freunden zu machen – und überdies waren da noch drei Leutchen, die das Veverl geradezu anbeteten: die beiden Kinder – und der Dori. Freilich – das kleine Waldhaus tief in den Bergen da hinten, mit allem, was drin und drum gewesen, das konnte ihr der prächtige Finkenhof nicht ersetzen – und dann – ihr „Vaterl“ halt – ihr „lieb’s, lieb’s Vaterl!“

Wenn der Finkenbauer nun von diesen Dingen auch nicht mit besonderer Ausführlichkeit erzählte, so bekam Herr Simon Wimmer immerhin noch so viel zu hören, daß er häufige Veranlassung fand, Jörg’s Rede mit den staunenden Worten zu unterbrechen: „Ja was ischt das! Ja was ischt das!“ – und immer wieder wandte er dabei das Gesicht den Fenstern zu, wohl in der Hoffnung, Veverl’s liebliches Antlitz vor einem derselben erscheinen zu sehen.

[719] Gidi machte sich bei seinem stummen Zuhören das Nebenvergnügen, den zwischen Neugier, Verwunderung und Verlangen wechselnden Ausdruck in den Zügen des Herrn Kommandanten zu beobachten.

Nun folgte eine Viertelstunde, in welcher Herr Simon Wimmer mancherlei von Gidi zu leiden hatte, der ihn tüchtig in die Zwickmühle nahm. Vorerst begann der Jäger ausführlich von verschiedenen Mädchen des Dorfes zu sprechen, deren Namen allein schon genügt hätten, den Herrn Kommandanten in mißbehagliche Unruhe zu versetzen. Dann kam er mit breitem Lobe auf das „Fräulein Hanni“ zu reden, wußte nicht genug davon zu sagen, wie sehr „der Zukünftige von der Finkenhofschwester zum neiden“ wäre, und konnte dabei nicht genug bedauern, daß im Dorfe Niemand zu finden sei, der ihrem Werthe und ihrer „Büldung“ das Gleichgewicht hielte.

Herr Simon Wimmer schien auf einem recht unbequemen Stuhle zu sitzen, so unruhig rückte er hin und her; dabei verhielt er sich gar schweigsam; manchmal nur nickte er hastig vor sich hin oder begleitete des Jägers Worte mit einem gezwungen klingenden: „Didididi!“ Seinem Gesichte war es deutlich anzusehen, daß er mit sich selbst im Zweifel war, ob Gidi auf ihn stichelte oder bei seinem so harmlos sich anhörenden Geplauder nur zufällig gerade auf diese Dinge zu reden käme, ohne zu ahnen, wie unwillkommen sie den Ohren des Herrn Kommandanten sein mußten. Schließlich schien ihn sein Selbstbewußtsein vollständig zu der letzteren Ansicht zu überreden; überdies wich seine Unruhe einer ungetheilten Aufmerksamkeit, als er den Jäger sagen hörte:

„Jetzt ich – wenn ich mich mit Heirathsgedanken tragen thät’, ich haltet[1] mich deßwegen doch mit alle zwei Händ’ am Finkenhof an, und wenn ich mir auch zehnmal sagen müßt’, daß d’ Hanni für mich net g’wachsen is! Sein Weiberl aus’m Finkenhof ’rausholen – das heißt a Nummer ziehen! Und es muß ja net g’rad d’ Hanni sein! A Jahrl noch – und ’s Veverl is im besten Alter – und – gelt Finkenbauer? – da wirst Dich auch net spotten lassen, wenn der Kummetwagen[2] von Dei’m Schwagerkind ’nausfahrt aus’m Finkenhof?“

„Das versteht sich! Didididi! Das versteht sich!“ fiel Herr Wimmer mit erregten Worten ein und pries dann des Langen und Breiten die „großmüthige Nobligkeit“ des Finkenbauern, der diese Lobrede mit wortloser Geduld über sich ergehen ließ. Man konnte es dem Bauer wohl ansehen, daß er im Stillen an andere, ernstere Dinge dachte; er gewahrte es kaum, wie ihm Gidi so lustig zublinzelte und verstohlen mit dem Daumen nach dem vor Eifer und Erregung glühenden Gesichte des Herrn Kommandanten deutete, der jetzt von seiner angesehenen Stellung sprach, von seinem sicheren Einkommen und einer ihm in Aussicht stehenden Gehaltserhöhung.

Jörg athmete erleichtert auf, als Herr Simon Wimmer sich endlich zum Abschied erhob.

„Wart’, ich heiz’ ihm noch a bißl ein auf’m Heimweg. Da kriegen wir noch amal an G’spaß – mit dem!“ wisperte Gidi dem Bauer zu; dann nahm er Büchse und Rucksack von der Ofenbank.

„Geh’, laß!“ erwiderte Jörg. „Der is ja z’letzt imstand und redt der Vevi ’was vor, an was das Deandl noch net denken soll. Und überhaupts –“

Er verstummte und gab mit verdrießlicher Miene seinen beiden Gästen das Geleite durch den Hof.

Vor dem Zaunthor setzte Herr Wimmer zu einer Abschiedsrede ein, deren Ende wohl kaum „zum derwarten“ gewesen wäre, hätte nicht Gidi den Herrn Kommandanten mit einem energischen: „Jetzt aber weiter amal –“ durch das Thor auf die Straße geschoben.

Nachdenklich gesenkten Kopfes kehrte Jörg zum Hause zurück. Schon wollte er die Schwelle betreten, da hörte er hinter sich am Straßenzaune das Pförtchen knarren, als er sich wandte, sah er einen Mann in blauer Jacke und Mütze auf das Haus zu kommen; es war ein Postbote, doch nicht der gewöhnliche, welcher alltäglich die Briefe und Zeitungen in das Dorf brachte.

„Bin ich da im rechten Haus,“ frug der Bote, „beim Bauer Georg Fink?“

„Ja, ja, ganz recht,“ erwiderte Jörg mit unsicherer Stimme und eilte hastenden Ganges in den Hof, beim ersten Schritte schon die Hand nach dem Briefe streckend, von welchem der Bote den Namen des Bauern abgelesen hatte.

„Da hab’ ich einen Expreßbrief – kostet eine Mark achtzig Pfennig für direkte Zustellung.“

„A Mark achtzig! Das is aber a bißl viel!“ murmelte Jörg zerstreut.

„No – und ich mein’, es wär’ wenig g’nug für die drei Stund’ von der Station bis da ’raus.“

Jörg griff in die Tasche, und die Hand zitterte ihm, als er dem Boten das Geld hinzählte. Dann nahm er den Brief, ging mit ihm in die Stube, und immer starrte er die Adresse an, als hätte er nicht den Muth, den Brief zu öffnen. Auf den ersten Blick hatte er die etwas ungeübte, kraus durch einander fahrende Schrift seiner Mariann’ erkannt. Eine Mark achtzig! Was mußte ihm da die Mariann’ zu schreiben haben!

Endlich schüttelte er, hoch sich aufrichtend, wie in Unwillen über sich selbst, den Kopf und löste das Messer, das er bei sich trug, aus der Scheide. Dabei hoffte er, daß Gidi mit seinen Vermuthungen vielleicht doch das Richtige getroffen haben mochte, daß seine Mariann’ trotz ihrer rühmenswerthen Pünktlichkeit dieses Einemal wenigstens sich versäumt haben könnte – und da war ja dann nichts natürlicher, als daß sie durch einen solchen Brief ihren Jörg aller Sorgen enthob.

So dachte Jörg auch noch, als er den geöffneten Brief schon entfaltete – doch als er auf dem Blatte die Thränenspuren gewahrte, unter denen die Schriftzüge häufig verschwammen und fast erloschen, da wußte er, daß er hier noch Schlimmeres erfahren würde, als er anfangs selbst gefürchtet hatte. Seine starke Mariann’ – und Thränen!

Die Hände zitterten ihm, als er das Blatt näher an die Augen hob – und er konnte die ersten Zeilen kaum durchflogen haben, da verfärbte sich sein Gesicht, und tastend suchte seine Hand nach einer Stütze. Schwer sank er auf die Holzbank nieder, mit zuckenden Lippen stammelnd. „Mein lieber Herrgott! Wie kann so ’was g’schehen!“ Wieder begann er zu lesen – Zähre um Zähre troff ihm über die Wangen, und keuchend ging sein Athem.

Lange schon hatte er zu Ende gelesen, doch immer noch starrten seine brennenden Augen nieder auf das zitternde, knisternde Blatt. Dann plötzlich schlug er die Hände an die Schläfe, und in lautem Aufschluchzen, das den mächtigen Körper des Mannes schüttelte wie ein jäher Windstoß die Tanne im Bergwald, brach es von seinen Lippen.

„Mein’ arme Hanni! Mein armer, armer Ferdl!“

Die Fäuste sanken ihm über den Tisch, und schluchzend barg er das Gesicht in beiden Armen.

Lange lag er so – sein Schluchzen verstummte – doch immer noch von Zeit zu Zeit überrann unter einem dumpfen Stöhnen ein zuckender Schauer seinen Leib.

Er schien es nicht zu hören, als die Thür sich öffnete und Veverl die Stube betrat, sie mochte wohl glauben, daß der Bauer schliefe, denn ruhig trat sie auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und rief ihn mit halblauter Stimme an.

„Jörgenvetter!“

„Was willst?“ fuhr Jörg mit heiserem Rufe empor und starrte gläsernen Blickes in das erschrockene Gesicht des Mädchens.

Mit scheuen ängstlichen Augen blickte Veverl auf die verstörten, von Schmerz verzerrten Züge des Bauern, auf die vom Weinen gerötheten Lider und auf seine beiden Hände, die vor den Blicken des Mädchens in so furchtsamer Hast jenen Brief zu bergen suchten, als könnte schon sein bloßer Anblick all das Entsetzliche verrathen, das ihn getroffen und erschüttert hatte bis ins Innerste seines Herzens. Kaum wollten dem Mädchen die Lippen gehorchen, als es auf die Frage des Bauern zur Antwort gab: „Den – den – Tisch hab’ ich decken wollen – 's Abendessen is fertig.“

„So – so –“ stammelte Jörg, „ja, ja – schau nur, daß die Kinderln ihr Sach’ richtig kriegen. Auf mich – brauchst net zum warten mit dem Essen – ich – ich hab’ noch an Gang zum machen – ja – an Gang.“ Zwei schwere Zähren rannen ihm über die Wangen, als er dieses letzte Wort wiederholte. Unsicheren Schrittes ging er auf einen Wandschrank zu und versperrte den Brief in eines der Fächer. Dann zog er den mit [720] großen Silberknöpfen geschmückten Spenser an und griff nach dem Hute.

Wortlos stand Veverl inzwischen vor dem Tische, die Bewegungen des Bauern mit sorgenvollen Blicken verfolgend; doch als sie ihn der Thür zuwanken sah, eilte sie ihm nach mit der herzlichen Frage. „’leicht is der Jörgenvetter krank?“

Traurig schüttelte Jörg den Kopf und murmelte vor sich hin: „Was gäbet ich net Alles drum, wenn’s so wär’ – und alles Andere wär’ anders!“

Ohne dem besorgten Mädchen noch einen Blick zu gönnen, verließ er die Stube und wandte sich dem Hofe zu. Als er die Schwelle überschritt, streifte eine von der Höhe der Thür niederhängende Ranke seine Wange, er hob die Augen – „Willkommen!“ las er da oben zwischen Grün und Blumen.

„Ah ja – willkommen!“ klang es in schmerzvollem Hohne von seinen zuckenden Lippen. Mit heftiger Bewegung streckte er den Arm und riß die Inschrift mit den Blumen vom Gebälke, trug sie in die Küche und warf sie in das lodernde Herdfeuer. Feuchten Auges sah er zu, wie die Flamme mit Knistern und Qualmen das Tannreis und die Blumen ergriff und die Inschrift unter schwarzem Ruße erlöschen machte.

Das Kinn auf der Brust, die Hände der schlaff hängenden Arme zu Fäusten geballt, so wanderte er durch das abendstille Dorf dahin. Die Leute, die ihm begegneten, grüßten ihn mit freundlichem Gruße; er sah ihre Grüße nicht und ließ sie ohne Antwort.

Als er vor der Schwelle des Pfarrhofes die Glocke zog, hob er zum ersten Male wieder das Haupt und die Augen.

Mit dumpfem Halle fiel hinter ihm die Thür ins Schloß.

Längst war die Sonne niedergegangen, und tiefe Dämmerung webte schon über den rauchenden Dächern, als Jörg aus dem stillen Hause wieder auf die Straße trat. Ihm folgte der greise Pfarrer im langen Talare, auf dem Haupte das kleine, schwarze Schäppelchen, das von einem Kranze schneeweißer Haare umzogen war. Die milden, ehrwürdigen Züge des greisen Priesters sprachen von tiefer, schmerzlicher Bewegung, und feucht schimmerten seine Augen. Er legte dem Bauer die Hand auf die Schulter und sagte leise:

„Geh’ jetzt nach Hause, Jörg, und suche Ruhe und Ergebung zu finden. Du weißt, Einer ist über uns – dessen Wille geht vor unseren Wünschen und unserer Liebe.“

„Ich g’spür’s – ich g’spür’s!“ fuhr Jörg mit schluchzenden Worten auf.

„Ja, ja – ich weiß, wie Dein Herz an den Beiden hing – und – ich selbst dank’ es meinem Gotte, daß meine selige Schwester diesen Tag nicht hat erleben müssen. Aber wir, Jörg – wir Beide – wir müssen uns als Männer zeigen! Weißt Du – leben, das heißt leiden. Aber wir sind Christen – gelt, Jörg – gute Christen! Und siehst Du – da müssen wir es auch in blutigen Thränen dem Heilande nachthun – und müssen sagen: Herr, Dein Wille geschehe! Geh’ nur – geh’, Jörg – geh’! Was für morgen früh noch zu besorgen ist, das will ich schon auf mich nehmen. Und – morgen soll dann Alles vor sich gehen, wie wenn Alles gut und richtig wäre. Weißt Du – was Du dem alten Freunde vertraut hast, das braucht der Pfarrer nicht zu wissen.“

„Hochwürden!“ stammelte Jörg unter Thränen, und heißer Dank sprach aus dem Klange seiner Stimme. „Ich hätt’ ja nie den Muth net g’habt, um so viel z’ bitten – und lügen – lägen hätt’ ich auch net können. Aber – aber jetzt – Hochwürden –“ Die Worte versagten ihm, als er nun die welke, zitternde Hand des greisen Priesters ergriff und mit ungestümen Lippen küßte.

„Aber Jörg! Jörg!“ wehrte der Pfarrer mit tief bewegter Stimme, seine Rechte aus den Händen des Bauern lösend. „Geh’ – geh’ jetzt nach Hause! Es ist spät geworden – und ich habe ja auch noch ein paar Wege zu machen. Also – gute Nacht, Jörg, gute Nacht!“

„Gut’ Nacht!“

Noch einmal umfaßte Jörg die Hand des Pfarrers mit festem Drucke. Dann wandte er sich, rückte seufzend den Hut und schritt der Straße zu.

Noch hatte Jörg seinen Hof nicht erreicht, als das Abendgeläute mit sanftem Klange vom Kirchthurme hinaus scholl über das nebeldampfende Thal.

Jörg nahm den Hut vom Haupte, faltete in zögerndem Weiterschreiten die Hände, und raunend bewegten sich seine Lippen.

Das Geläute verstummte – Jörg stand still und hob wie in ängstlichem Lauschen den Kopf – jetzt schauerte er in sich zusammem als wäre ihm der Ton der Glocke, die nun zu läuten anhub, durch Mark und Bein gegangen.

Es war der dünne, wimmernde Ton der Todtenglocke.

An den Häusern öffneten sich die Fenster, aus den Thüren traten die Leute und sammelten sich auf der Straße zu kleinen Gruppen, mit hastig durch einander schwirrenden Fragen.

Wer konnte gestorben sein, da doch Niemand im Dorfe schwer krank darniederlag? Hatte es ein Unglück gegeben? Wen mochte es getroffen haben? Oder war am Ende Schlimmeres geschehen? Verbrechen und Mord?

Niemand wußte auf diese Fragen eine Antwort zu geben – und der sie hätte geben können, schritt gesenkten Hauptes, mit thränenden Augen und krampfhaft geschlossenen Lippen wortlos seiner Wege, heimwärts, dem Finkenhofe zu.


Ein großer Raum mit weißgetünchten, niedrigen Wänden, rechts von der Thür der braunlackirte Geschirrschrank, links der eiserne Ofen, eine rings um die freien Wände sich ziehende Holzbank, in der Fensterecke das Krucifix, und darunter der lange, schmucklose Eichentisch – das war die „Ehhaltenstube“ im Gesindehause des Finkenhofes.

Ein trübe brennendes Oellämpchen, das an der Wand auf einem kleinen Brettchen stand, warf seine matten Lichter über den Tisch, um welchen die Dienstboten bei der dampfenden Schüssel saßen. Emmerenz als Oberdirne führte den Vorsitz – eine gedrungene Gestalt von derb gesunden Formen. Der graue Lodenrock reichte kaum bis zu den Knöcheln der nackten, im Verhältnisse zu der Gestalt auffallend kleinen Füße. Das dunkelbraune, miederartige Tuchleibchen, dessen Achselspangen über die runden Schultern auf die drallen Arme nieder geglitten waren, umspannte straff die üppige Büste. Dem grobleinenen, kurzärmligen Hemde waren hoch am Halse mit rother Wolle zwei Buchstaben eingemerkt, E. und B., und darunter eine Zahl, welche verrieth, daß Enzi vor siebenundzwanzig Jahren das Licht der Welt erblickt hatte. Der etwas kurze Hals, den zwei mollige Faltenringe umzogen, trug einen kugelrunden Kopf, über welchem das reiche, röthlich blonde Haar mehr praktisch als geschmackvoll zu einem dicken, zausigen Knoten zusammengewirbelt war. Das Gesicht mit den in gesunder Röthe strotzenden Wangen, mit den vollen Lippen, zwischen denen die weißen Zähne hervorblitzten, mit der kleinen, leicht aufgestumpften Nase und mit den Blau-Augen unter den starken, lichten Brauen machte wohl den Eindruck gemüthlichen Frohsinns. Manchmal aber fuhren die Lippen wie schwellend auf, die Brauen schürzten sich wie unter trotzigen, zürnenden Gedanken – und das sah sich auf diesem Gesichte so seltsam an, fast wie Wetterleuchten bei heiterem Abendhimmel. Zu beiden Seiten der Oberdirne saßen Valtl und die alte Waben, neben dieser machte sich Dori breit; ihm gegenüber saß die Stalldirn’, welche beim Essen fleißiger die Zähne zu rühren liebte, als die Hände bei der Arbeit; der Schmied, die Hausmagd und der Holzknecht ergänzten die Runde.

Die Mahlzeit war beendet. Emmerenz erhob sich vom Tische und begann das Geschirr zusammen zu räumen, während sich die anderen gemächlich aus den Bänken hervorschoben.

„Du –“ flüsterte Dori dabei mit lustig zwinkernden Augen dem Holzknecht zu, „heut’ beim Heimfahren hab’ ich mir a neus Betsprüchl aus’denkt – da paß auf!“

Emmerenz trug das Geschirr nach dem Schranke; als sie zum Tische zurückkehrte und Dori, der als der jüngste Dienstbote nach jeder Mahlzeit das Dankgebet zu sprechen hatte, noch immer keine Miene machte, dieser Pflicht nachzukommen, mahnte sie ihn mit den Worten: „Was is denn, Dori – wird heut’ nimmer ’bet’?“

Der Bursche schien auf diese Aufforderung gewartet zu haben, denn übereilig stellte er sich nun vor dem Tische in Positur, schlug mit weit ausfahredem Daumen das Kreuz, faltete die Hände und begann:

„Jetzt hab’ ich ’gessen,
Bin noch net satt,
Hätt’ gern noch ’was ’gessen,
Hab’ nix mehr g’hatt.
Die Zähn’ sind ’s Beißen g’wöhnt,
Der Magen is weit gedehnt,
Drum hungert’s mich allezeit
Jetzt und in Ewigkeit – Am –“

[721]

„Der Ring an meinem Finger“.
Nach dem Oelgemälde von Carl Marr.

[722] „Amen!“ so wollte er sein „neues Betsprüchel“ schließen; Enzi’s flink erhobene Hand aber kam diesem Amen zuvor – klatschend fiel sie auf Dori’s Ohr und Wange.

„Sakra noch amal!“ stöhnte der Bursche unter dem Gelächter all der Anderen auf und verzog den Mund, als wollte er sich überzeugen, ob ihm auch der Kiefer noch richtig im Gelenke säße.

„Hat’s aus’geben? Nachher is recht!“ äußerte sich Emmerenz mit befriedigter Miene; dann faltete sie die Hände und sprach, die Augen frommen Blickes zum Kreuze erhebend, mit ruhiger Stimme das übliche Tischgebet.

Verdrießlichen Gesichtes starrte Dori vor sich nieder, bis ihn die Stimme der Emmerenz aus dem stummen Brüten weckte. „Du Lalle – Du unchristlicher!“ brummte ihn die Dirne an, als sie nach einem ungestörten Amen an ihm vorüber der Thür zuschritt.

„No ja –“ grollte Dori, „deßwegen muß man auch net gleich dreinschlagen wie der Metzger auf sein Hackstock.“

„Thu’ Dich trösten, Dori,“ bemerkte eine von den Mägden, „d’ Emmerenz hat ’s halt heut’ schon amal so in die Finger – gelt, Valtl?“

Der Knecht hatte alle Ursache, diese Frage zu überhören. Um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, wandte er sich mit stichelnden Worten gegen Dori; der aber wußte die Spottreden des Knechtes zumeist in einer Weise zu erwidern, durch die er die Lacher auf seine Seite brachte, und als ihm schließlich der Witz ausging, wehrte er sich mit gesunder Grobheit seiner Haut.

„Da schau!“ spottete Valtl nun, „wenn den Lackl so grob daherreden hörst, da möcht’ sich ja keiner net denken, wie sanft und scharmierlich als er an andermal daherreden kann!“

„Jetzt auf die Stund’ müßt’ ich mich dengerst b’sinnen, wo ich Dir a sanfte Red’ hätt’ geben mögen!“

„Ja – aber gelt – bei der Veverl – da taugt’s Dir halt besser, die zuckerne Süßen!“

„Du, merk’ Dir’s fein,“ fuhr Dori mit bebender Stimme auf, während brennende Röthe in seine Wangen schoß, „zu mir kannst reden, wie D’ willst – und mich kannst heißen, was Dir lieb is – aber – aber d’ Veverl bringst mir net in d’ Red’!“

„Natürlich – von Dir werd’ ich mir vorschreiben lassen, was ich reden soll – Du damischer Gispel, Du verliebter!“

„Valtl – ich sag Dir’s –“

„No also, so sag’ mir’s halt, wo der Veigerlbuschen hin’kommen is, den im Kammerwinkel aus der Joppen ’zogen hast? Ich mein’ allweil, ich hab’ ihn an der Veverl ihrem Mieder g’sehen.“ ’ „Net wahr is! Net wahr is! Net wahr is!“ schrie Dori, die zitternden Fäuste ballend. „D’ Veverl nähmet schon gar keine Bleamerln von mir!“

„Glauben möcht’ man’s schier, daß ihr ’s Grausen kommt, wenn s’ Dich anschaut, Du Mißgeburt!“ fiel Valtl mit rohem Lachen ein; und zu den Andern sich wendend, sagte er: „G’nommen hat s’ den Buschen aber doch. Ich hab’ ja zug’schaut aus’m Stallfenster. Und ang’schmaacht[3] hat er ’s Deandl dabei, so zuckersüß – das is g’rad g’wesen, wie wenn der Mistgockel mit der Schwalben schnabelt.“

Eine fahle Blässe hatte bei diesen Worten alle Farbe aus Dori’s Gesicht vertrieben. Mit vorgerecktem Kopfe und stieren Augen, schnaubend und die langen Arme wie Pendel schwingend, näherte er sich dem Knechte, dann plötzlich schnellte er sich unter einem gurgelnden Aufschrei mit katzenartigem Sprunge wider Valtl’s Brust, der durch die Wucht dieses Anpralls zu Boden gerissen wurde, von Dori’s Händen am Halse gewürgt und gedrosselt.

Da verging den Andern das Lachen. Kreischend und scheltend sprangen sie herbei, um die Beiden zu trennen. Emmerenz erschien unter der Thür, und mit dem Rufe. „Ja, heiliger Gott, was macht’s denn jetzt da für Sachen!“ drängte sie sich mitten in den staubenden Knäuel, packte Dori mit beiden Händen beim Kragen und riß ihn in die Höhe. Fluchend richtete sich Valtl von den Dielen auf – und schon hob er die Arme, um nun seinerseits über Dori herzufallen, als die Thür sich öffnete.

Jörg stand auf der Schwelle.

„Jesses, der Bauer! der Bauer!“ ging es flüsternd durch die erregte kleine Schar, und Jeder und Jede bemühte sich, eine möglichst harmlose Miene zu zeigen.

Doch immer noch hätte ein einziger Blick genügt, um Jörg errathen zu lassen, was hier vor sich gegangen.

Er aber stand auf der Schwelle, regungslos, mit gesenkten Augen – und es währte eine Weile, ehe er die Hand hob, um den Hut vom Haupte zu nehmen. Ein tiefer Seufzer schwellte seine Brust, und seine Lippen begannen zu zittern, als wären ihm die Thränen nahe.

Emmerenz näherte sich ihm mit zögernden Schritten – und als sie nun das blasse Gesicht und die verstörten Züge sah, fuhr sie erschrocken auf. „Um Gotteswillen – Bauer – wie schaust denn aus? Was hast denn? Was is denn g’schehen?“

Jörg mußte sich auf das Gesims des Wandschrankes stützen, als er tiefer in die Stube treten wollte. Mehrmals öffnete er die Lippen, ohne daß er zu sprechen vermochte, und als er endlich die Sprache fand, lösten sich die Worte rauh und schwer von seiner Zunge.

„Leut’ – ’s Unglück – is ein’kehrt in mei’m Haus – mein’ – mein’ Schwester – d’ Hanni is verstorben –“

„Jesus Maria!“ fuhr es von jedem Munde. Nur Valtl’s Lippen waren stumm geblieben. Die alte Waben hob die Schürze vor die Augen und flüsterte: „Da – da – jetzt kommt’s auf, wem ’s Zügenglöckl ’golten hat.“

„Ja is denn zum glauben?“ frug Emmerenz, tief erschüttert. „Kann denn so ’was g’schehen, so g’radweg über Nacht? Heut’ am Abend noch – ganz g’freut schon hab’ ich mich auf das liebe, süße G’sichterl – und jetzt – ja, sag’ nur g’rad, Bauer, an was is s’ denn g’storben?“

„Sie – sie is – verunglückt – im Wasser.“

(Fortsetzung folgt.)

  1. hielte.
  2. Der Wagen, welcher die Aussteuer trägt.
  3. anschmachten.

Frauen als Armenpflegerinnen.

Von A. Lammers.

Weibliche Wohlthätigkeit ist in unseren Tagen die Zielscheibe zahlreicher Witze, und ein Schauspieldichter, der sich gern auf Zeitstoffe wirft, L’Arronge, hat aus den „wohlthätigen Frauen“ ein ganzes Lustspiel gemacht. Soweit dies auf scheue und zartfühlende Weiblichkeit abschreckend wirkt, ist es sicher schade; denn die mannigfaltigen Aufgaben der Armenpflege leiden immer noch unter einem gewissen Mangel sich ihnen widmender freiwilliger Kräfte, geeignete Frauen sind dafür leichter zu haben als Männer, denen schon so viel aufgepackt ist, und für manche Pflege-Aufgaben eignet sich unzweifelhaft obendrein die Frau besser als der Mann. Nur in so fern der Spott auch berichtigend zu wirken vermag, ist er nützlich, und viel von dem üblichen Wohlthun der Frauen kann solche Berichtigung noch vertragen. Aber wer verbessern will, muß selber Einsicht haben, die sich auf Erfahrung und Nachdenken stützt. Daran fehlt es Manchem, der mit dem Ueberlegenheitsbewußtsein des Mannes in allen Stücken, die das öffentliche Leben betreffen, auf „das schwächere Geschlecht“ hinabsehen zu dürfen meint. Spötter dieser leichten Art pflegen keine Ahnung von den Fortschritten zu haben, welche die Frauen bereits in der Reinigung ihres Wohlthuns von den so oft getadelten Auswüchsen und in der Eroberung eines würdigen Antheils an der öffentlichen Armenpflege gemacht haben. Ihnen muß man dies also als Schild für das „zarte, leicht verletzliche Geschlecht“, wie die Prinzessin Leonore im „Tasso“ sagt, entgegenhalten – zugleich aber und hauptsächlich jenen vielen, unendlich vielen Frauen es zeigen, die im Herzen brennen, unglücklichen Menschen in ihrer Nähe eine rettende, helfende, tröstende Hand zu reichen, und nur nicht recht wissen, wie das wahrhaft wirksam anzufangen sei. Ja, dies ist um so nöthiger, als auch die Lieblingsrathgeber der Frauen, die Geistlichen, bei Weitem nicht alle gehörig Bescheid wissen in der Lehre und Kunst der Armenpflege, von der sie auf ihrem Bildungsgange ja leider nicht einmal die Grundbegriffe erfahren.

Eine Frau ist, bis sie durch Leitung oder eigene, allmählich ansteigende und umsichgreifende Erkenntniß den rechten Weg des [723] Wohlthuns entdeckt, immer in Versuchung, theils zu viel, theils zu wenig zu thun.

Sie mag noch so oft gehört haben, daß unter den Bettlern sehr geschickte Dürftigkeitsheuchler sind: wenn ein zerlumpter Mensch seine Jammermiene vorsteckt und die Hand hohl macht, greift sie doch in die Tasche, des ersten Eindrucks nachgiebige bequeme Beute. Oder sie erfährt, daß eine frühere Dienstmagd ihrer Eltern in Noth gerathen ist, sucht sie auf und findet, daß die Aermste ihren Kaffee ohne Zucker trinken muß: flugs sammelt sie unter ihren Freundinnen, bis dieser schreiende Mangel für die Dauer gedeckt ist. Auf Reisen hilft sie durch ihre gutmüthig hingeworfenen Kupfer und Nickelmünzen den zudringlichen Bettel am Leben erhalten, über den als eine Plage, die Einem den Genuß der schönsten Landschaften störe, doch Niemand wortreicher klagt, als sie selbst. In ihrem Heimathsorte arbeitet sie oft genug allen Anschlägen kundiger Männer entgegen, des Bettels an den Haus- und Stockwerksthüren Herr zu werden. Sie ist die Hilfsquelle aller heimlich herumkriechenden Mitleidsschmarotzer in der Stadt. Ihre reichlichen und freigebig gespendeten Mittel tragen häufig dazu bei, das Loch des Elends weiter zu reißen, das sie stopfen wollen, denn sie schwächen in Bedrängten den unschätzbaren Trieb, sich selbst aus der Klemme zu ziehen, den keine fremde Hilfe ersetzen kann. Es ist damit ganz so wie in jener sagenhaften Erzählung vom Fürsten Bismarck, nach der dieser einem Jagdgenossen, der in den Sumpf gerathen war, kaltblütig angekündigt haben soll, er werde ihn erschießen, um seine Leiden abzukürzen und dem qualvollsten Erstickungstode zuvorzukommen. Hätte er statt dessen, wie der eingesunkene Freund erwartete und flehte, ihm unvorsichtig gleich die Hand gereicht, so wären sie Beide vielleicht im ekelhaftesten Moraste untergegangen. Jene scheinbar herzlose Drohung aber bewirkte, daß der Andere alle Kraft aufbot, sich selbst aufs Trockene zu bringen, und so auch glücklich wieder herauskam.

Ein Mensch, der immer mit seinen Almosen bei der Hand ist, wirft sein Geld weg, ohne wahrhaft zu nützen und zu helfen. Die Frauen aber sind dazu im Allgemeinen mehr aufgelegt als die Männer, nicht etwa nur weil ihr Herz weicher, sondern auch weil ihr Einblick in den Zusammenhang der Dinge und die weiteren, nachwirkenden Folgen übereilter Unterstützung Fremder naturgemäß minder ausgebildet ist. Deßwegen thun sie auf diesem Punkte gern und leicht zu viel.

Viele thun dann aber eben deßhalb auch zu wenig. Sie wollen nicht erst untersuchen, wo sie mit ihren Gaben eingreifen; wollen die Gaben nicht ersehen durch Hilfe anderer und viel werthvollerer, freilich auch mühevollerer Art.

In der Armenpflege ist Rath oft unendlich viel besser als die rasche, bequeme, unbedachte That. Viele noch erwerbsfähige Arme können es so wenig vertragen, daß Andere ohne weitere Umstände für alle ihre Bedürfnisse sorgen, wie ein Kind die Erfüllung aller seiner Wünsche oder ein Kranker das Einstimmen in seine wehleidigen Klagen. Man muß ihnen vielmehr Muth machen und auf die Sprünge helfen, daß sie sich nach neuem lohnenden Erwerb unermüdlich umsehen. Man muß ihre Wirthschaft, ihren Haushalt, ihre häusliche und persönliche Gesundheitspflege, ihre Kindererziehung, ihr gegenseitiges Verhalten zu einander zu verbessern suchen, statt mit Geld und anderen todten Sachen, die nichts beleben, nur ertödten können, um sich zu werfen.

Das ist, woran die wohlthätigen Frauen es häufig fehlen lassen, so lange sie ihren momentanen Einfällen überlassen sind. Es ist aber keine Schwäche des weiblichen Geschlechts, sondern eine allgemeine Schwäche der Neulinge. Angehende männliche Pfleger der Armuth sind derselben gerade so ausgesetzt. Sie sind ebenfalls immer zu früh bei der Hand mit Gaben, legen an den Bedarf der Armen einen zu hohen Maßstab, weil sie sich nicht die Mühe genommen haben, ihr wirkliches Leben näher kennen zu lernen, und strapazieren den städtischen Beutel oder den ihres Wohlthätigkeitsvereins, während sie ihre Pfleglinge durch schlechtüberlegte Verwöhnung noch ein paar Stufen tiefer herunterdrücken. Mit der Neulingschaft verliert diese für die Gesellschaft kostspielige, für die Armen verhängnißvolle Neigung sich bei Frauen ebenso gut wie bei Männern.

Nun stellt sich aber dem tieferen Eindringen in die Verhältnisse der Armuth ein anderes Hinderniß lähmend in den Weg: die Scheu vor der Wahrnehmung fremden Elends, die schon nicht selten zu unüberlegten Almosen an Bettler führt, daß man ihre Lumpen und Schwäre nur nicht länger sehen, ihr Gejammer nicht mehr hören müsse. Der glückliche Mensch wünscht, thunlichst wenig mit Leuten und Zuständen in Berührung zu kommen, die ihn aus seinem Wohlgefühl herausschrecken könnten. Er fürchtet sich gewissermaßen vor seinem eigenen Mitleid.

Hat er nicht Recht? Der erste Anblick ungelinderter menschlicher Leiden wird ihn in der Regel niederdrücken, schwermüthig machen und vermöge jener Neigung unserer Phantasie, die Erlebnisse Anderer in Gedanken auf uns selbst zu übertragen, in quälende Zweifel an der Dauer des eigenen Glückes stürzen. Nein, er hat doch Unrecht: denn dies ist nur die augenblickliche erste Wirkung. Der Anfangseindruck des Gewahrens von Noth und Pein bei Anderen ist ebenso unangenehm, aber ebenso wenig bleibend, wie wenn man zum Baden in kaltes Wasser springt, eine Operation übersteht, ein Examen macht, oder in eine Gesellschaft tritt, die man ihrer Bedeutung oder ihres Reizes halber sucht und ihrer Neuheit wegen doch ein wenig fürchtet. Dieser fatale Anfangseindruck würde nur dann nachhaltig sein, wenn nichts geschähe, Pein und Noth zu lindern – nichts entweder durch Dritte, oder was noch bei weitem wirksamer, durch uns selbst. Nur sich selbst überlassenes, hilfloses und unbekämpftes Elend beugt uns dauernd nieder.

Man geht in ein Krankenhaus, um einen Freund zu besuchen, der sich einem berühmten Chirurgen ans Messer liefern muß. Es ist das erste Mal, daß man so viel Schmerzen und Leiden zuhauf sieht. Die Vorstellung hat sicher nichts Erfreuliches. Leicht erregbare Nerven zittern mit, wenn sie einen Mitmenschen auf den Operationstisch tragen sehen, oder hören, wie ein Trichinenkranker in der Qual der rastlos durchwühlten Muskeln stöhnt, oder dem irren wilden Blicke eines Wahnsinnigen begegnen. Aber dann folgt als unausbleiblicher zweiter Gedanke derjenige an die Hilfe und Pflege, welche die Leidenden hier finden. Alle haben sie es hier besser als daheim, denn weßhalb wären sie sonst hergekommen? Für die Meisten ist der Abstand zwischen der Wartung, die ihnen in der eigenen überfüllten Wohnung zu Theil werden konnte, und der Behandlung durch lauter erfahrene Hände, der Verfügung über die Hilfsmittel einer wohlversehenen öffentlichen Anstalt so weit wie der Abstand zwischen Armuth und Reichthum. Jede uns begegnende Pflegeschwester, sei sie vom Rothen Kreuz, Diakonissin oder Barmherzige, erneuert den Eindruck dieser außerordentlichen Wohlthat; und da fast jede von ihnen, deren ganzer Beruf doch in dem Verkehr mit Leidenden aufgeht, gleichwohl ruhig, wo nicht geradezu seelenfreudig und vergnügt erscheint, so beginnt uns die Ahnung aufzudämmern, daß die Wahrnehmung fremder Leiden auf die Länge nicht so niederbeugend wirkt, wie wir nach dem ersten Eindruck zu urtheilen geneigt waren.

In den Hütten der Armuth machen die Töchter des Wohlstandes alle Tage die gleiche Erfahrung. Zuerst wollen sie lieber gar nicht hinein, denn ihr ausgebildeter ästhetischer und wahrscheinlich sogar etwas verzärtelter Sinn macht sich nicht mit Unrecht auf schwere Kränkungen gefaßt. Die Nase empfängt schon bei der Deffnung der Hausthür den Vorgeschmack dessen, was die Augen zu sehen bekommen werden und was sich in roher Sprache Luft machen wird. Aber die Noth in unserer Umgebung verschwindet ja nicht dadurch, daß wir uns weigern, von ihr Notiz zu nehmen. Im Gegentheil: je weniger Notiz die Hilfefähigen von der sie umringenden Hilfsbedürftigkeit nehmen, desto üppiger wird diese weiterwuchern und am Ende uns aufsuchen, dann aber fordernd und gefährlich drohend, wofern wir ihr nicht zuvorkommen. Schlummert also Gefahr in der Nichtbeachtung der Massennoth und weicht sie doch nur mit der Zeit den Hilfs- und Heilmitteln, welche Bessergestellte anzuwenden im Stande sind, so muß die Scheu vor Schmutz und Mißgeruch und den Ausbrüchen schwergequälter Seelen überwunden werden; und wer sie in sich unterdrückt, der wird bald mit Wonne empfinden, daß er auf diesem Wege sein eigenes unversehrtes Glück nicht beeinträchtigt, sondern mehrt und stärkt. So lange wir uns um die Bedrängten nicht kümmern, entsenden sie von Zeit zu Zeit ein sehr unbehagliches Gefühl nicht verdienten Vorzugs und nicht gemilderten fremden Elends in die hartherzig verschlossenen Seelen. Aber wir brauchen uns ihrer nur ernstlich anzunehmen, sei es mit Opfern vom eigenen Ueberfluß oder besser noch mit frischer [724] hilfsbereiter Thätigkeit, so löst sich der Druck, und unser Glück wurzelt sich fester in dem Bewußtsein wohlbethätigter Nächstenliebe.

Immer mehr Frauen empfinden dies und handeln danach. Sie begnügen sich nicht mit den zufälligen Gelegenheiten zum Wohlthun, welche ihr eigener Lebenskreis ihnen eröffnet, sondern suchen in allerhand Vereinen die stets bereite öffentliche Gelegenheit auf. Solcher Frauenvereine giebt es in manchen unserer älteren, reicheren und durch bürgerlichen Gemeinsinn hervorragenden Städte schon seit den Befreiungskriegen, und die Einheitskriege von 1864, 1866, 1870 und 1871 haben neue hinzugefügt in den Vaterländischen Frauenvereinen und ihres Gleichen. Sie erziehen ihre Mitglieder zu einer vernünftigeren, edleren und wirksameren Wohlthätigkeit, als blindlings ausgestreute Geld- und Werthgaben sind. Aber in ihrer Vereinzelung und unumschränkten Selbständigkeit sind auch diese Vereine noch der Gefahr einer zweckwidrigen Vergeudung ihrer Wohlthaten ausgesetzt, weil sie da nicht durchgehends zuverlässig übersehen können, ob ihre Pfleglinge nicht schon anderweitig unterstützt, also auch nicht wahrhaft bedürftig und in so fern würdig der Hilfe sind.

Dies hat städtische Armenbehörden schon oft über die wohlthätigen Frauenvereine seufzen lassen. Sie sehen sich durch das Gesetz gezwungen, alle Hilfsbedürftigen des Ortes zu unterstützen; wenn nun aber ihre Pfleglinge obendrein noch von diesem oder jenem Verein weniger wohlbedachte und wohlbemessene Gaben empfingen, oder wenn durch Vereinswohlthaten Leute ohne Noth verwöhnt und zu dauernder Hilfsbedürftigkeit hinabgedrückt wurden, so wuchs vor ihren sorgenden Augen die Last der Stadt ins Unerschwingliche. Ohne weder den Damen der Vereine ihre Freude am Helfen noch den Vereinspfleglingen schlechthin jede Unterstützung über das strenge städtische Maß hinaus zu mißgönnen, erschien ihnen dieses Wohlthun doch häufig als eine künstliche Beförderung der Noth, welcher es abhelfen wollte, als eine schwere Störung des Erziehungswerks, das sie an den noch erwerbsfähigen Armen des Orts zu vollbringen hatten, und als eine Pflege schmarotzerhaft wuchernden Unkrauts.

Wachsame, entschlossene Armenbehörden haben deßhalb die Frauenvereinsthätigkeit in feste Verbindung mit sich selbst zu setzen getrachtet. Vaterländische Frauenvereine oder einzelne hochgesinnte Frauen sind ihnen ihrerseits dazu entgegengegangen. Verschiedene Formen solchen geregelten und glücklichen Zusammenwirkens kamen in der Wanderversammlung deutscher Armenpfleger zur Sprache, als sie dieses Jahr am 16. und 17. September in Bremen tagte.

Es traf sich vor fünf oder sechs Jahren in Stettin, daß der zweite Bürgermeister die Armenverwaltung unter sich hatte und dessen Gemahlin an der Spitze des Vaterländischen Frauenvereins stand. Da vermochte diese die Wohlthätigkeitsvereine der Stadt, sich unter einander und mit der städtischen Armenbehörde in fortlaufenden Verkehr zu setzen, damit jede unterstützende Stelle von allen anderen erfahre, wem sie beistehen und womit, zur Verhütung doppelter und noch mehrfältiger Hilfe.

Aehnlich hat die Armenbehörde der Stadt Bremen die dortigen Wohlthätigkeitsvereine aufgefordert, ihr im Vertrauen mitzutheilen, was sie thun und wem, um sie nöthigenfalls vor dem Mißbrauch ihrer Mittel warnen zu können.

Am weitesten ist man bis jetzt in Kassel gegangen. Dort entstand bei einer allgemeinen Verjüngung der Gemeinde-Armenpflege der Wunsch, weibliche Kräfte heranziehen zu können; und kaum aufgetaucht, wurde er auch erfüllt, indem der Vaterländische Frauenverein eine seiner Abtheilungen zu förmlichem Eintritt in die Reihen der Pflegekräfte anbot. Seitdem wirken Pflegerinnen gleichberechtigt mit den Pflegern, und ihre Oberin hat Sitz und Stimme in der Behörde, die die ganze städtische Armenpflege leitet. Wie vortrefflich das gehe und wirke, bezeugte in der Bremer Versammlung von der einen Seite der Bürgermeister, von der anderen der Schriftführer des Vaterländischen Frauenvereins. Ersterer rieth zugleich auf Grund der vierjährigen Erfahrung Kassels an, die Frauen nicht einzeln in den Bezirksberathungen unter männlichen Armenpflegern sitzen zu lassen und die Auswahl der ihnen anzuvertrauenden Geschäfte nicht allzu ängstlich einzuschränken.

Man sollte denken, daß jene große Reform städtischer Armenpflege, die von Elberfeld ihren weltbekannten, geschichtlichen Namen trägt, schon von selbst die Aufnahme möglichst vieler Frauen in den thätigen Kreis und ihre Befassung mit den meisten, wo nicht allen Pflegegeschäften nach sich ziehen müsse. Wo man von roher Gabenvertheilung (außerhalb der Anstalten) übergeht zu sorgfältiger Einzelbehandlung, wo man den Kindern und Schwachen Erziehung angedeihen läßt und den vom Erwerb abgekommenen vollkräftigen Erwachsenen freundschaftlich beisteht, da stellt sich plötzlich ein bisher unerhörtes Bedürfniß nach pflegenden vormundschaftlichen Kräften heraus. Durch Anstellung gegen Entgelt läßt es sich nur zum allerkleinsten Theile befriedigen. Es ist aber auch nicht etwa ein Streben nach nothdürftigem Ersatz, daß man freiwillige Pfleger vorruft: dieser Freiwilligen-Dienst hat vor der kahlen kalten Abmachung der Sache durch lauter bezahlte Angestellte deutlich empfundene Vorzüge. In den großen rheinischen Fabrikstädten, wo die Unsicherheit der Lage und steten Beschäftigung der Arbeiter zu ausreichendem Lohne ohne Unterlaß vor Augen steht und die Gemüther beherrscht, hat es seit einem Menschenalter nicht schwer gehalten, die nöthige Zahl von Pflegern unter den bemittelteren Männern zu finden, mögen diese dort verhältnißmäßig auch wenig zahlreich sein. In Städten mit nicht so dringender und auffälliger Noth der Massen, in kleinen Städten vollends und auf dem Lande hat es seine große Schwierigkeit. Diese Schwierigkeit aber nimmt allenthalben noch täglich zu mit den gewaltig wachsenden Ansprüchen des Staats an seine Bürger, der verschiedenen Kirchen an ihre Angehörigen, der Gemeinden, Körperschaften und Vereine an Alle, die über das nächste eigne Bedürfniß hinaus ein wenig Kraft, Mittel und Muße übrigbehalten. Da melden sich doch die Frauen zu den Geschäften und Sorgen der Armenpflege höchst willkommen!

Selbst in Elberfeld und Crefeld, den Musterstädten heutiger rechter Armenpflege, hat man nicht ganz auf ihre Hilfe verzichten wollen. Nur beschränkt man sie dort auf einen Theil des großen Geschäfts: in Crefeld bleibt die Untersuchung der Hilfsbedürftigkeit ihnen fern, in Elberfeld leiten sie die Krippen und die Ferienkolonien. Das erklärt sich vollkommen aus der langjährigen Schulung der dortigen männlichen Pfleger. Ohne Noth giebt man die schwierigeren Aufgaben eines Berufs nicht gern an Neulinge ab. Aber wo das Massenaufgebot von Freiwilligen wider die Massennoth – wie man das Elberfelder System kurz charakterisiren könnte – noch jung ist oder erst erfolgen soll, da steht nichts Vernünftiges im Wege, die Frauen von vornherein gleich den Männern in Reihe und Glied zu stellen.

„Leistungen werden bald,“ sagte der Korreferent auf dem Bremer Armenpflegertag, „die verantwortlichen Leiter überzeugen, daß den Frauen, die sich hier freiwillig anbieten, nach und nach fast alle Geschäfte der Armenpflege ziemlich ebenso gut wie Männern übertragen werden können. Ich glaube für meinen Theil nicht daran, daß sie sich für Registerführung und Kassengeschäfte nicht eignen sollten. Nur wo es sich um die genaue Gesetzeskunde des Juristen handelt, wird dem Manne diese specielle Schulung dauernd seinen Vorzug erhalten. Im Uebrigen braucht ja nichts gewagt und überstürzt zu werden. Man geht schrittweise vor und erzieht sich so die Helferinnen allmählich zu immer umfassenderer Verwendung, wie man sich auch die neu zutretenden Männer erziehen muß. In dem Maße wie das Zutrauen in ihre Leistungsfähigkeit wächst, werden mehr Männer frei für die vielen sonstigen Ansprüche des öffentlichen Lebens, die zur Ueberbürdung aller Willigen führen, und treten mehr Frauen aus der Nichtigkeit pflichtenlosen Daseins über in eine berufsartige Arbeit, welche ihnen selbst noch mehr Lebensfreuden in Aussicht stellt als der nach ihrer linden Hand verlangenden hilfsbedürftigen Armuth.“

Wenn dieser kulturgeschichtliche Vorgang sein einstweilen nicht zu bestimmendes natürliches Ziel erreicht hat und damit die Grenzen in einander fließen, welche heute noch das Wohlthun unaufhaltsamen weiblichen Mitleids an den Hausthüren und in den Frauenvereinen von der strenggeordneten durchdachten Armenpflege guter Behörden trennen, wird ein großer Zwiespalt und Widerspruch in unserer Behandlung der dauernden, immer aufs neue hervortretenden und Hilfe erheischenden wirthschaftlichen Nothstände verschwinden. Kopf und Herz, möchte man sagen, gehen dann auf diesem wichtigen socialen Gebiet eine neue Ehe ein, deren fruchtbringende Harmonie sich in allen Sphären der Gesellschaft ebenso stärkend wie versöhnend fühlbar machen wird.


[725]

Bilder von der Balkanhalbinsel.

Die Zarenstadt Tirnowo.

Nachdem die Türken sich als Sieger auf den Abhängen des Balkangebirges niedergelassen hatten, entstand im bulgarischen Volke die Sage, daß sein letzter Zar im Kampfe nicht gefallen sei, sondern im tiefen Verließ unter den Trümmern seiner Burg träumend schlafe und einst erwachen werde, um die Niederlagen seines Volkes zu rächen und die frühere Macht und Größe des bulgarischen Reiches wieder herzustellen. Fast ein halbes Jahrtausend war verflossen, bis jene symbolische Prophezeiung sich erfüllte und ein fremder Zar als Befreier die Balkankette überschritt, bis in der alten Zarenstadt Tirnowo der bulgarische Reichstag wiederum tagte und einen bulgarischen Fürsten wählte. In diesem langen Zeitraume war inzwischen das Ansehen der „Zarin der Städte“ gesunken, ihr Reichthum von den neuen Sitzen der türkischen Paschas überflügelt, aber auf den Trümmern der Fürstenburgen saß als treue Hüterin der Vergangenheit die altersgraue Sage und sang ohne Unterlaß unsterbliche Heldenlieder und flüsterte leise von lichten Hoffnungen und einer besseren Zukunft. Und wie wunderbar half die Natur dem Wirken und Schaffen der menschlichen Dichtung! Sie, die alles Verjüngende, wußte stets die Spuren blutiger Kämpfe zu tilgen, deckte frische Matten über die verwüsteten Abhänge, ließ breite Linden über den Kriegergräbern rauschen und lockte Nachtigallen in die duftenden Rosenhaine. Seit Jahrhunderten schauten also die schneeweißen Häupter der Balkanriesen in das herrliche Jantrathal hinab, in dem, von Hügel zu Hügel sich ausstreckend, die alte Stadt friedlich an den Ufern des rauschenden Stromes von früheren Kämpfen ausruhte.

Ansicht von Tirnowo.

Kein Wunder also, daß hier in Tirnowo am 19. Mai 1837 Moltke einen seiner „Briefe“[1] mit den Worten begann: „Was für ein wunderschönes Land ist doch dieses Bulgarien!“ Bald hierauf entwirft er eine kurze Schilderung des herrlichen Panoramas, welches vierzig Jahre später F. Kanitz[2] mit dem Zeichenstift festgehalten (vergl. unsere Illustration), und faßt sie in folgende knappe Worte zusammen: „Ich habe nie eine romantischere Lage, als die dieser Stadt gefunden; denke Dir ein enges Gebirgsthal, in welchem die Jantra sich ihr tiefes Felsbett zwischen senkrechten Sandsteinwänden gewühlt hat und wie eine Schlange in den seltsamsten und kapriciösesten Wendungen fortfließt. Die eine Wand des Thals ist ganz mit Wald, die andere ganz mit Stadt bedeckt. Mitten im Thale erhebt sich ein kegelförmiger Berg, dessen senkrechte Felswände ihn zu einer natürlichen Festung machen; der Fluß schließt ihn ein wie eine Insel, und er hängt mit der übrigen Stadt nur durch einen 200 Fuß langen und 40 Fuß hohen natürlichen Felsdamm zusammen, der aber nur breit genug für den Weg und die Wasserleitung ist. Ich habe eine so abenteuerliche Felsbildnng nie gesehen …“

So bewundert schon jeder Fremdling die schöne „Dornburg“ (Tirnowo), den Bulgaren aber erfaßt beim Anblick der vielen Kirchen und Klöster, der denkwürdigen Plätze und der Burgruinen noch ein anderes Gefühl. Stolz denkt er an die Zeiten, da hier seine Zaren regierten und gewaltig in die Schicksale der Balkanhalbinsel eingriffen.

Tirnowo ist jedoch keineswegs die Wiege der Bulgaren. Als jener kriegerische Stamm finnisch-ugrischer Abkunft die Donau überschritten und die an ihren Ufern wohnenden slavischen Völker unterjocht hatte, war zunächst Varna die Hauptstadt der siegreichen Eroberer. Erst als die Bulgaren slavische Sprache und slavische Sitten angenommen hatten und auf die Besiegten nur ihren Namen, ihren kriegerischen Geist und den sonderbaren „Drang nach Süden“ vererbten, wurde die fürstliche Hauptstadt mehrmals näher dem Balkan verlegt.

In wichtiger Zeit ward es Tirnowo beschieden, die Zaren von Bulgarien zu beherbergen.

Zu Anfang dieses Jahrtausends rückten die bulgarischen Heere über den Balkan und bedrohten die Sicherheit des in ewigen Fehden hin und her schwankenden byzantinischen Kaiserreichs. Es entbrannte ein vierzigjähriger blutiger Krieg, aus dem die Gestalten des Kaisers Basilios II. und des Zaren Samuel in düsterer Größe hervorragen. Im Jahre 1014 erfolgte die Entscheidungsschlacht bei Belasiza, in der das Bulgarenheer vernichtet wurde und 15 000 Krieger in Gefangenschaft des Kaisers geriethen.

Zar Samuel flüchtete nach Prilep, wohin ihm eine Botschaft Basilios’ II. folgte, die vielleicht einzig in der Geschichte dasteht und genügend die grausame Barbarei kennzeichnet, mit welcher damals auf der Balkanhalbinsel Kriege geführt wurden.

Basilios II. war ein starker, aber rauher und herzloser Charakter; mönchisch war seine Lebensweise, er lebte ohne Frau; Wein und Fleisch kamen nie auf seinen Tisch. Er war aber ein kluger Herrscher und gewandter Feldherr, dessen Leben ein unversöhnlicher Haß gegen die Bulgaren ausfüllte.

Dieser Mann ließ nach der Schlacht bei Belasiza die 15 000 gefangenen Bulgaren sämmtlich blenden, beließ jedem Hundert einen „Einäugigen“ als Führer und sandte sie so zu ihrem Zaren nach Prilep. „Als sie Samuel in so großer Menge so unmenschlich verstümmelt heranströmen sah, stürzte er besinnungslos zu Boden. Zum Bewußtsein gekommen, [726] verlangte er Wasser, aber kaum daß er davon verkostet, erfaßten ihn Herzkrämpfe und binnen zwei Tagen verschied er am 15. September 1014.“

Wenige Jahre hierauf wurde ganz Bulgarien von Basilios unterworfen, der eine Schreckensherrschaft einführte, die ihm den Beinamen „der Bulgarentödter“ eintrug.

Erst im Jahre 1186 vermochten die Bulgaren das Joch abzuwerfen. „Wie Hirsche oder Ziegen“ erschienen damals die Hirten auf den hohen Felsen und schütteten überall einen Pfeilregen und wälzten Blöcke auf das byzantinische Heer hinab, daß der Kaiser fliehen mußte und froh war, sein nacktes Leben gerettet zu haben.

Nun zog Joannes Asen I., der muthige Führer dieses Aufstandes, als neuer Zar von Bulgarien in Tirnowo ein, das zwei Jahrhunderte lang die Hauptstadt des Landes bildete, bis die türkische Woge sich über den Balkan ergoß.

Mit der Herrschaft der Aseniden beginnt die Glanzzeit Bulgariens, deren fieberhafter Herzschlag in den engen Mauern Tirnowos am lautesten pochte – jetzt kamen glückliche Raubzüge und frohe Heimkehr beutebeladener Krieger, welche Byzantium die alte Schuld heimzahlten – dann erschien das erste schwache Sprießen und Keimen der Kultur, und vorsichtig wagten sich die Anfänge bulgarischen Schriftthums hervor. Fremde Fürsten warben um die Freundschaft der Zaren, und selbst der versöhnte Kaiser von Byzantium holte sich aus Tirnowos Mauern die schöne Tochter des Zaren Boris zur Gemahlin.

Aber wie kurz war diese Zeit des Glücks! Als im Norden Stefan Duschan, der Gewaltige, Serbiens Macht gefahrdrohend ausdehnte und im Süden schon die Vorhut der türkischen Horden erschien, begann im Innern der Verfall des bulgarischen Reiches. Während in der Umgegend von Tirnowo die Sekten der Adamiten und Hesychasten, die von der Ehe nichts wissen wollten, in Bergen und Schluchten ihr Unwesen trieben und die Sitten des Volkes untergruben, gab der Hof kein besseres Beispiel. Zar Alexander sandte seine rechtmäßige Gattin, eine walachische Fürstentochter, in ein Kloster, da ihm ein „bezaubernd schönes Judenmädchen“ weit besser gefiel. Er ließ es taufen und erhob es zur „neuerleuchteten Zarin“.

Da schmetterten in das sinnentrunkene Leben, in das ausgelassene Jauchzen der Bacchanalien die Kriegstrompeten von den Höhen des Balkan hinein. Murad, der unüberwindliche „Sieger im heiligen Kampfe“, überschritt mit seinem Heere die schlecht bewachten Pässe; bald zwang er Bulgarien zu einem Bündniß und bedrohte ernstlich das serbische Reich, als noch einmal das Kriegsglück den Slaven lächelte und die freudige Kunde durch die Länder ging, daß bei Ploznik an der Topliza Murad geschlagen wurde. Aber kurz nur dauerte der Freudenrausch. Nach kaum zwei Jahren mußte Tirnowo den Türken die Thore öffnen, und Zar Schischman wurde Vasall Murad’s. Bulgarien war gedemüthigt, aber noch nicht unterjocht. Als jedoch am St. Veitstage 1389 die große Schlacht auf dem Amselfelde geschlagen und die letzte Kraft der Südslaven gebrochen war, erschien auch sein Schicksal besiegelt.

Am 17. Juli 1393 wurde Tirnowo nach dreimonatlicher Belagerung von den Türken erstürmt. Die hervorragendsten Bürger wurden niedergemetzelt, die schönsten Mädchen und Knaben als Kolonisten nach Kleinasien geschleppt, die Kirchen in Moscheen und Bäder umgewandelt!

Seit jenem Tage spielt Tirnowo lange keine Rolle mehr in der Geschichte. Durch ein halbes Jahrtausend kann der Chronist höchstens von namenlosen Bedrückungen und von fruchtlosen Aufständen, die schließlich in ein Banditenthum ausarteten, berichten. Andere Städte Bulgariens, wie Rustschuk, Varna und Sofia, überholten selbst im Wohlstand die alte Zarenstadt.

Erst in der Nacht vom 6. zum 7. Juli 1877 begrüßten die aufgeregten Bewohner die im Norden auflodernden Feuersäulen brennender Dörfer als Zeichen naher Erlösung. Diese blutige Lohe deutete ja den Weg des General Gurko an, der mit seiner Kavallerie unaufhaltsam gegen Tirnowo vordrang und Scharen moslimischer Landleute vor sich herscheuchte. Am 7. Morgens zogen die Russen fast ohne Kampf in Tirnowo ein, und seit jenem Tage begann für die alte Zarenstadt die freudige Zeit der nationalen Wiedergeburt; sie sah wiederum einen bulgarischen Landtag in ihren Mauern, und auf ihren Straßen jubelte wiederum das Volk einem bulgarischen Fürsten entgegen.

Man nennt die Geschichte die Lehrmeisterin der Völker, aber wer folgt ihren Lehren? Sie predigt aus Tausenden von Ruinen und an Hunderten von Schlachtfeldern weise Mäßigung dem Bulgarenvolke, und trotzdem sehen wir heute den Fürsten Alexander, wie einst die Zaren Bulgariens, dahinstürmen auf dem schmalen Wege kühner Wagnisse. Man sagt, die türkische Herrschaft habe aus dem kriegerischen Bulgaren einen friedlichen Landbauer und Gärtner gemacht; aber die Thatsachen lehren, daß den Grundzug eines Volkscharakters selbst Jahrhunderte der schlimmsten Knechtschaft zu ändern nicht vermögen; denn bis heute sind den Bulgaren ihre alten Eigenschaften verblieben: der ungestüme „Drang nach Süden“ und die Lust, kriegerisch in die Geschicke der Balkanhalbinsel einzugreifen. Siegfried.     


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Offene Briefe an Henry M. Stanley.

Von Dr. Pechuël-Loesche.
II.

Recht entsprechend den Zahlenwerthen, die Sie, Herr Stanley, in Ihrer fabelhaften Exportliste aufstellen, sind auch andere Zahlen, die Sie anläßlich Ihres großen Bahnprojektes abdrucken. Sie sagen (II, 384), wenn eine genügende Verbindung bis Manyanga hergestellt ist, so wäre eine Ausfuhr von 60 000 Tonnen Erdnüssen und Palmöl gesichert im Werthe von 21 Millionen Mark jährlich! Wo soll diese Ausfuhr denn herkommen in einem Gebiete, von welchem jetzt selbst – wie weiter unten zu erklären – Ihre eigenen Auftraggeber, weil sie nicht mehr anders können, zugestehen, daß es wüst und öde sei? Dazu führen Sie ferner auf: Kautschuk und Elfenbein, Werth 6 Millionen Mark jährlich. Aber die Kautschukliane (Landolphia) ist in diesem ohnehin waldarmen Gebiete äußerst selten, daher producirt dasselbe überhaupt keinen Kautschuk, kann keinen produciren. Und das ganze westliche Kongobecken liefert ja insgesammt bloß für 1½ Millionen Mark Elfenbein! Aber so geht’s im Kongolande: Ha! Dort läuft ein Elefant! – – großartiger Elfenbeinreichthum! Da steht ein Baum! – prachtvolle Waldungen!

Noch ganz andere Differenzen stellen sich jedoch heraus, wenn man Ihre vielfachen, so überzeugend genau aussehenden Angaben (II, 384; II, 431) über die Anlage der Eisenbahn mit einander vergleicht und etwas nachrechnet.

Die ganze Bahnlänge von Vivi bis zum Stanley Pool, 366 Kilometer lang – es thut ja nichts, Herr Stanley, daß Sie die Entfernung überhaupt nicht kennen! – würde 940 000 Pfd. St. = 18 800 000 Mark kosten. Da nach Ihrer Behauptung „die Bahn eine Niveaubahn sein wird und weniger Brücken bedarf“, so berechnen Sie die Kosten einfach, indem Sie sagen: die englische Meile kostet 4000 Pfd. St. = 80 000 Mark. Zum Unglück für Ihre Unfehlbarkeit begnügen Sie sich aber nicht mit der kurzen Angabe der Totalsumme, sondern Sie geben auch Einzelheiten. Da offenbart sich denn deutlich Ihre Zuverlässigkeit. So sagen Sie: die Bahn von Vivi bis Isangila, 80 Kilometer lang, kostet 210 000 Pfd. St. gleich 4 200 000 Mark. Die Strecke von Vivi bis zum Stanley Pool, ohne die Bahn Isangila-Manyanga, aber mit den 4 Dampfern, die hier zu je 10 000 Pfd. St. = 200 000 Mark angesetzt sind, würde 860 000 Pfd. St. = 17 200 000 Mark kosten. Folglich kostet die Strecke Manyanga-Stanley-Pool, 145 Kilometer lang, 860 000 Pfd. St. Minus 210 000 Pfd. St. und 40 000 Pfd. St. = 610 000 Pfd. St. = 12 200 000 Mark. So kostet denn die einfache Niveaubahn nach Ihrem Schema auf einer nicht doppelt so langen Strecke fast das Dreifache der zuerst berechneten Strecke!

Nun haben Sie aber für diese beiden Strecken bereits total 820 000 Pfd. St. = 16 400 000 Mark verrechnet. Folglich bleiben Ihnen für den Bau der mittleren Strecke: Isangila bis Manyanga, 141 Kilometer lang (!) von den 18 800 000 Mark der Totalsumme, bloß 2 400 000 Mark – wovon Sie doch nur etwa ein Fünftel dieser Strecke bezahlen können. Da fehlen also gleich etwa 9 Millionen, und zwar für Ihre Niveaubahn, Herr Stanley! Woher diese nehmen? und woher außerdem die Gelder beschaffen für Herstellung der zahllosen bedeutenden Hochbauten und unvermeidlichen gewaltigen Ueberbrückungen?

Derartig sind Ihre Kostenanschläge, Herr Stanley, und mit diesen haben Sie die Arbeiten der Berliner Konferenz unterstützt!

Ueberhaupt ergeben sich aus allen Ihren Zahlenangaben Widersprüche und Preisdifferenzen in solcher Menge und Höhe, daß einem Jeden, der näher prüft, was er liest, die absolute Haltlosigkeit Ihrer so bestimmt ausgedrückten officiellen und nichtofficiellen Mittheilungen zur unumstößlichen Gewißheit werden muß.

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Im zweiten Kapitel über das Klima (II, 315) stellen Sie eine Liste Ihrer Mitarbeiter auf, führen Sie Todesfälle, Heimgekehrte an. Die Zahlen stehen da, einfach, übersichtlich geordnet. Sind sie aber auch richtig? Im ersten Jahre führen Sie 18 Personen auf; Abgang von diesen: 6 Personen; bleiben 12. Sie schreiben 13. Im nächsten Jahre kommen zu den 12 Ihnen noch Gebliebenen weitere 13 Neulinge; Abgang von dieser Zahl 9; bleiben 16. Sie rechnen 28! Zu den 16 kommen im nächsten Jahre wiederum 13, macht 29; Abgang 8; bleiben 21. Sie schreiben 32! Zu den 21 thatsächlich noch vorhandenen sendet man Ihnen im nächsten Jahre noch 33, macht 54; Abgang 17; bleiben 37. Sie schreiben 69! Dann kamen 93; macht 130; Abgang 35; bleiben 95. Sie rechnen 151! Und schließlich 142 statt 134.

Welche Ihrer Zahlen sind denn nun eigentlich richtig, Herr Stanley? Und was ist alljährlich aus den Beamten geworden, die Sie mehr anführen, als nach der Rechnung vorhanden sein können? Müssen wir die Zahl der Gestorbenen oder die der Heimgekehrten vergrößern? Die Zahl der Angekommenen zu verringern, geht nicht an, denn die von Ihnen gegebene Totalsumme, 263, ist doch überhaupt zu niedrig angesetzt.[3]

Leider kann ich eine volle Uebersicht des gesammten Personalbestandes und der Verluste der Expedition nicht mittheilen, da genaue Daten sehr schwierig zu beschaffen sind. Hier stoßen wir auf eines der wirklichen Geheimnisse der Expedition.

[727] Wenn, Herr Stanley, wie zu vermuthen, wenigstens die Anfangszahlen Ihrer Liste richtig sind, hatte die Expedition im ersten halben Jahre bereits 11% Todesfälle in Folge von Krankheit! und wenn wir die Zahl der Heimgekehrten, die doch gewiß möglichst schnell abreisten, berücksichtigen, sogar 14,4% Todesfälle. Für die folgenden vollen Jahre ist jedoch nach Ihrer Aufstellung der thatsächliche Procentsatz der Todesfälle nicht zu ermitteln. Warum geben Sie auch hier nicht einmal zuverlässige Zahlen? Es würde von höchster Wichtigkeit sein![4] – –

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Sie belehren auch die Leser über die Preise der Waaren (I, 213) und wie billig die Association dieselben abgiebt:

„Eine Länge besteht aus 6 engl. Yards gewöhnlichem Calicot, die an der Küste einen Werth von 1 Dollar oder 4 Mark repräsentiren, während wir denselben nur mit 3 Mark berechnen.“

Daraus erkennt nun der Leser klar, wie uneigennützig das Unternehmen ist, wie einfach es praktische Philanthropie übt. Gerade darum muß ich Ihnen, Herr Stanley, recht scharf widersprechen. Sie haben überaus hohe Preise berechnet, und vor Allem die eigenen Beamten der Association sind davon betroffen worden. Hier etliche Thatsachen: Einige Stücke Zeug, welche mit 12 Mark ausgezeichnet sind, berechnen Sie mit 32 Mark! andere von 15 Mark mit 52 Mark! andere von 12 Mark mit 38 Mark, andere von 16 Mark mit 47 Mark, andere von 45 Mark mit 90 Mark, andere von 18 Mark sogar mit 108 Mark und so fort! Nun ergeben aber bereits die ersten Preise einen hübschen Verdienst; welch’ ausgezeichnetes Geschäft wird also bei dem unerhört gesteigerten Preise gemacht! Wie viel behält schließlich ein derartig behandelter Beamter von seinem Gehalte übrig?

Sie erzählen (I, 161, 165) von der Anlegung eines Gartens in der Station Vivi. Sie haben 2000 Tonnen der reichsten schwarzen Treibhauserde auf die Höhe schaffen lassen! Also etwa 2000 Tonnen! es ist kein Irrthum, denn die Zahl ist auf verschiedenen Seiten wiederholt. Binnen 20 Tagen wurden 5000 Kisten voll Erde, im Ganzen 2000 Tonnen auf den Berg getragen zur Herrichtung eines Gartens. Also pro Tag 250 Kisten, Gesammtinhalt 100 Tonnen. Jede Kiste enthielt demnach ⅖ Tonnen! Und je eine solche mit 400 Kilo Erde belastete Kiste hat ein Mensch auf seinem Kopfe den überaus steilen Hügelhang hinaufgetragen! Welche Leistung, Herr Stanley! Was sind neben Ihren und Ihrer Getreuen Thaten die Wunderwerke des Alterthums: der Pyramidenbau der Pharaonen, die schwebenden Gärten der Semiramis?

Ihre Erdumwälzung ist ein würdiges Seitenstück zu Ihrer Exportliste! Warum sollen Sie auch nicht statt 20 Tonnen 2000 Tonnen schreiben?

Diese 2000 Tonnen Erde wurden außerdem auch noch in einem bloß 2000 Quadratfuß großen Garten aufgeschichtet: 1 Tonne auf jeden Quadratfuß! Ein kleines Gebirge ist da aufgethürmt worden! Und „reichste schwarze Treibhauserde“, sagen Sie, Herr Stanley? Wo haben Sie diese denn in jener Laterit-Wüstenei herbekommen? Wo ist sie denn hingekommen? Wir haben nur schönen gelben Laterit gesehen, theilweise etwas grau gefärbt von der Kohle des verbrannten Hochgrases. Nichts wollte auf ihm wachsen, und selbst die Paar von Ihnen gepflanzten Bäumchen und etliches Grünzeug konnten nur durch fleißiges Begießen lebend erhalten werden! Die Dienstleute mußten das Wasser dazu 90 Meter vom Kongo heraufholen. Welche vortreffliche, praktische Gartenschöpfung!

Und wie hat sie sich bewährt? Die meisten Pflanzen sind elend zu Grunde gegangen. Ihre 2000 Tonnen der reichsten schwarzen Treibhauserde vermochten nicht, sie zu ernähren. Hören wir aber, was Sie darüber sagen. In der Schilderung Ihrer Rückkehr nach Vivi und Ihrer Begegnung mit mir loben Sie (I, 476) die Entwickelung Ihres Gartens im Gegensatze zu der von Ihnen behaupteten Vernachlässigung des unglückseligen Vivi durch die Menschen:

„Wenn aber die Menschen sich gleichgültig gezeigt hatten, so war die Natur wenigstens nicht träge gewesen. Die Mangobäume waren stattlich herangewachsen und die Melonenbäume so hoch geworden, daß ihr Grün das blendende Weiß der Gebäude beschattete.“

Nun, Herr Stanley, Sie bieten selbst ein vorzügliches Mittel, die Gerechtigkeit dieses Lobes zu prüfen. Mögen die Besitzer Ihres Buches das darin enthaltene Bild (I, 165) betrachten. Der Holzschnitt ist nach einer Photographie hergestellt, die in viel späterer Zeit von Vivi angefertigt worden ist. Demnach müssen die Bäume mittlerweile noch stattlicher geworden sein. Der Zeichner hat ebenfalls noch nachgeholfen. Und dennoch, kann die kühnste Phantasie sich diese kümmernden Gewächse vorstellen, wie sie „das blendende Weiß der Gebäude beschatten“?

Sie sind undankbar, Herr Stanley, daß Sie eines viel hoffnungsvolleren Gartens nicht erwähnen, den meine deutschen Gefährten unten im Thälchen von Vivi, wo das Wasser sich näher fand, eingerichtet hatten. Die Sämereien hatte ich selbst mitgebracht. Dank dieses ausreichend bewässerten Gartens, für welchen etliche Wasserträger ununterbrochen thätig waren, konnten Sie, Herr Stanley, damals in Vivi jederzeit mit frischem Gemüse bewirthet werden. Dergleichen war in der Expedition noch nicht dagewesen. Sie hatten doch noch nicht eine Gemüseschüssel Ihrer Beamten gefüllt. Später ist unter Ihrer Oberleitung dieser Garten auch wieder zur Wüstenei geworden.

Nach Ihrem Buche sollte man glauben, daß auf Ihren Spuren Alles zu grünen und zu blühen begonnen habe. Da schreiben Sie (II, 370) ohne Zaudern:

„Während die Association von Westen her mit Mangos, Melonen, Limonen, Orangen, Ananas und Guaven vorgedrungen ist – –“

Und Sie scheuen sich nicht, solche Sätze in einem Buche drucken zu lassen, das – wie Sie selbst rühmen – in acht Sprachen zugleich erscheint – obwohl jeder Europäer, der den Kongo kennt oder ihn noch besuchen wird, Ihnen gerade das Gegentheil nachweisen kann?

So schreiben Sie auch (I, 162), daß Sie Pflänzlinge von Sansibar den weiten Weg um Afrika mit sich geführt hätten. Wozu? Sie konnten dieselben doch am unteren Kongo und in den Landschaften im Norden und Süden nicht nur bei den Kaufleuten und Missionaren, sondern selbst bei den Eingeborenen im Innern, wenn auch nicht gerade an Ihrer Kongolinie, viel bequemer haben.

Ihr Unternehmen hat noch kein einziges neues Gewächs den seit Alters her im Lande kultivirten hinzugefügt! An Ihrer Kongolinie haben weder Sie noch die Association etwas Nennenswerthes begonnen, was etwa der praktischen Lösung einer Kulturaufgabe ähnlich wäre. Sie erstrebten ganz andere Dinge. Wollen Sie aber vielleicht behaupten, das sei jetzt anders geworden, nachdem das Nothwendigste gethan? Lesen Sie unten, was der bereits mehrfach citirte Regierungsvertreter schreibt, welcher zu Anfang dieses Jahres Ihren Spuren folgte.[5]

Und die Hausthiere, Herr Stanley? Weit im Inneren, z. B. am Pocock Bassin, halten die Eingeborenen sogar Haustauben, die von den südlicheren Küstenstrichen allmählich so weit ins Land gelangt sind. Sollen diese vielleicht später als Abkömmlinge der glücklich bis Vivi gebrachten Brieftauben angesehen werden?

Freilich hat Ihr Unternehmen jetzt auch Rinder eingeführt. Aber wozu eingeführt? Rinder gab es im Unterlande daselbst doch schon in Menge, und zwar ehe man überhaupt Ihren Namen nannte, Herr Stanley. Wie viele hat allein das holländische Haus dort gezüchtet, trotz der Schwierigkeiten, das Futter zu beschaffen! Pferde und Esel sind auch vorhanden, waren schon vor Ihnen da, Herr Stanley. So auch Schweine, Schafe, Kaninchen, Truthühner, Enten, Hofhühner der verschiedensten Rassen, Haustauben. Will man auch diese Errungenschaften vielleicht als ein Verdienst der Expedition angesehen wissen? auf welcher Ihrer Stationen wären die etwa zu finden?

Sollte man nicht glauben, das Kongoland beginne erst seit den Unternehmungen der Association aus Elend und Barbarei emporzusteigen?

Allerdings, zu meiner Zeit sind einige Rinder weiter den Kongo hinauf, als sie bis dahin vorkamen, geschafft worden – nämlich bis Vivi. Sie gingen den Weg alles Fleisches; das Land erzeugte nicht Futter genug für sie. Und die armen Maulthiere, die Sie, Herr Stanley, zwischen Vivi und Isangila zum Gütertransport verwandten? Ihre Knochen bleichen am Wege. So ist es denn auch in dieser Hinsicht jenseit Vivi auf Ihren Spuren wüst und leer. Und was sich dort etwa findet, besitzen die Eingeborenen seit uralter Zeit. Lesen Sie wiederum, was der officielle Gewährsmann darüber sagt.[6]

Herr Stanley! was bleibt eigentlich noch übrig von all den Herrlichkeiten des Kongostaates? Prüfen wir weiter.

Ohne Zaudern und Einschränkung rühmen Sie (II, 369) die Mineralreichthümer. „Eisen im Ueberfluß.“ Kennen Sie auch Eisenerze, Herr Stanley? Dieses allenthalben im Lande vertheilte Eisen würde selbst an den reichsten Lagerstätten nur dann einigen Werth besitzen, wenn die Kohlen gleich daneben lägen. Exportiren Sie nur die Speerspitzen und Messerklingen der Eingeborenen – machen Sie Solingen und Sheffield Konkurrenz! Und die Kupfererze? Diese wie ihre Fundorte sind seit Menschengedenken bekannt. Einst wurden die Erze von Sklavenkarawanen mit zur Küste gebracht; jetzt lohnt es sich nicht mehr, dieselben nur zehn Kilometer weit zu tragen. Die Kupfererze von Kudondo und Manyanga sind im Handel gewesen. Die von Bembe haben europäische Gesellschaften bereits vor Jahrzehnten auszubeuten versucht. Mit welchem Gewinne – fragen Sie die trauernden Aktionäre. Kongoland hat eine Geschichte, die lange vor Ihnen anhebt, Herr Stanley! Es ist dort schon Manches erreicht, Manches versucht worden, ehe Sie auf den Gedanken kamen, ein Dorado aufzuschließen.

Und wissen Sie nicht, daß bei den herrschenden Kupferpreisen nur reichste Erze in günstigster Lage noch den Abbau lohnen? Wer soll denn im Kongolande die Minen bearbeiten? Etwa die Eingeborenen? Sie erzählen von den Kupferbarren der Leute von Manyanga. Diese schmelzen sich mühsam etwas Kupfer für den Zwischenhandel mit ihren Nachbarn aus – wollen Sie etwa behaupten, daß diese selben Leute der Association auch nur eine Tonne ihrer Barren im Jahre liefern würden oder liefern könnten? –


  1. „Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835–1839“ von Helmuth von Moltke, Hauptmann im Generalstabe, später Generalfeldmarschall. Berlin 1882. Vierte Auflage.
  2. „Donau-Bulgarien und der Balkan“ von F. Kanitz. Renger’sche Buchhandlung, Leipzig 1882.
  3. Report of W. P. Tisdel. Congo, No. 4. pag 18, 19. „Die Sterblichkeit unter den Weißen, die in den Dienst der Association getreten sind, ist fürchterlich gewesen. Niemals habe ich in irgend einem anderen Lande Aehnliches gekannt. Es wird gesagt, daß das Klima am Stanley Pool viel besser ist als im Lande weiter stromab, aber meine Beobachtung bestimmt mich, zu glauben, daß sehr wenig Unterschied vorhanden ist. Ich fand viel Krankheit am Stanley Pool; in Wirklichkeit war es eine Ausnahme, irgendwo einen gesunden weißen Mann zu finden. Die Todtenliste der Weißen entlang meiner Marschroute war entsetzlich, und die Association kann heute in Afrika nicht 50 arbeitsfähige weiße Leute, und nur 120 im Ganzen aufzählen. Während einer Periode von sechs Jahren hat der Präsident der Association ungefähr 600 (?) Weiße engagirt, drei Jahre in Afrika zu dienen. Nur fünf von dieser großen Zahl sind bisher fähig gewesen, ihre volle Vetragszeit dort zu verweilen.“
  4. Es sind von verschiedenen Seiten, und nicht anonym! schwerwiegende Zweifel an der behaupteten Zuträglichkeit des Klimas und dem Wohlbefinden der Beamten am Kongo wiederholt ausgesprochen worden. Diesen wird lediglich durch anonyme Notizen in der Tagespresse entgegengewirkt. Muß dieses Verfahren nicht endlich bei Jedermann Bedenken erregen? Die Association rekrutirt ihr Personal aus so ziemlich allen civilisirten Nationen; sollten diese daher nicht ein gewisses Recht haben, zu fragen, wie das Schicksal ihrer Angehörigen sich gestaltet? Sollte sich die Association nicht endlich bewogen finden, den Beweis der Wahrheit für die Zeitungsnotizen anzutreten, die Gemüther zu beruhigen, indem sie eine officielle ausführliche Liste über Dienstzeit und Verbleib ihrer sämmtlichen seit sechs Jahren angeworbenen Beamten veröffentlicht? Liegen die Verhältnisse wirklich so günstig, wie durch die Tagespresse behauptet wird, so kann sich die Association selbst durch eine officielle Veröffentlichung einen großen Dienst erweisen.
  5. Tisdel: Congo, No. 4, pag. 3. „Alles, was für die Angestellten der Association gebraucht wird, kommt von Europa, die einzig mögliche Ausnahme in Bezug auf die Verpflegung ist, daß gelegentlich Ziegen oder Hühner gekauft werden können, und für die eingeborenen Träger mögen zuweilen Maniok, Mais, Bananen und Erdnüsse beschafft werden. Dies gilt für die ganze Inlandlinie jenseits Ponta da Lenha am unteren Kongo, und die wiederholten Behauptungen, welche von Zeit zu Zeit in der europäischen Tagespresse aufgestellt wurden, dahin lautend, daß alle Arten tropischer Früchte, Gemüse, Rinder und Schafe im Ueberfluß erzeugt würden, entbehren in Wirklichkeit der geringsten Begründung, wenigstens so weit meine Beobachtung und Untersuchung sich erstreckte.“
  6. Tisdel: Congo, No. 4, pag. 18. „Pferde und Rinder sind unbekannt, und nur drei Maulthiere, das Eigenthum von Oberst Sir Francis de Winton, sind jetzt am Leben im Kongothal. Das Futter für diese Maulthiere wird von Europa gebracht.“

[728] Nachdruck verboten. Uebersetzungs-
 recht vorbehalten.

Ein wunderlicher Heiliger.

Novelle von Hans Hopfen.

Ich staunte nicht wenig, als der lachende Mann die schwarze Halbmaske vom Gesicht nahm und mit seiner unverstellten Stimme mir zurief: „Ja, ja, Herr Doktor, ich bin es wirklich! … Grüß Gott! und wie unterhalten Sie sich in diesem Getriebe?“

Mir blieb bei dieser Erkennungsscene nun zwar nicht der Verstand stehen, aber mir blieb doch das Wort in der Kehle stecken. Und das ist begreiflich genug.

„Wie kommen denn Euere Hochwü –“

Nein, das ging doch nicht. Ich konnt’ ihn hier, von Dominos aller Farben und Klassen, von Bajazzos und Karikaturen umschwärmt, doch unmöglich als hochwürdigen Herrn anreden!

Nicht, daß ich ihm den Ausflug in die volle Weltlichkeit verargt hätte. Bewahre! Aber es wäre doch gegen alle Maskenfreiheit gegangen. Brauchten die verlarvten Maulaffen da rund herum, die uns mit Ohren und Ellenbogen nahe genug kamen, zu wissen, daß dies lachende Haupt einem regulirten Chorherrn, dem leibhaftigen, längst mit allen sieben heiligen Weihen und anderen Würden ausgerüsteten Pater Bibliothekar des Stiftes …

Nun ja, den Namen werd ich Euch nennen! Sollte mir einfallen! …

Also irgend eines hochangesehenen altberühmten Stiftes im Erzherzogthum Oesterreich ob oder unter der Enns angehörte. Das brauchte Niemand zu wissen, außer uns alten Freunden, die wir hier eben selbfünft oder -sechst bei einander standen und uns herzlich begrüßend die Hände schüttelten.

Von uns fiel es keinem ein, eine Bemerkung über das Hiersein des Paters zu machen. Und beim ersten Wort, das sich doch etwa wie Verwunderung deuten ließ, brach er in sein herzhaftes, in sein entwaffnendes Lachen aus, das mit einem heftigen: Nil humanum a me alienum puto so viel sagen wollte als: ich thue was mich freut, meine Heiligkeit ficht das nicht an, und ich bin es gewöhnt dem Teufel auf den Buckel zu springen, wenn ich ihm zwischen die Hörner spucken will.

Wir nahmen den kostbaren Mann in unsere Mitte, und ich bot ihm meinen Arm. So ruderten wir gemeinsam, langsam durchs lustige Gedränge, nicht ohne daß ich ihn ermahnt hätte, doch wieder die Larve vors Gesicht zu nehmen; denn er pflegte in wissenschaftlichen und wirthschaftlichen Angelegenheiten seines Klosters des Oefteren nach Wien zu kommen, und es mochte doch dieser oder jene sein Gesicht kennen und daran ein Aergerniß nehmen oder geben. Die Welt ist ja so dumm.

Er aber lachte nur wieder, ließ sein Angesicht leuchten vor dem Schwarme der Sünder, und wir gewöhntens in der nächsten Minute. Was gings auch uns weiter an! Es war ja sein Gesicht und nicht das unsere, das er zu Markte trug. Und überdies wurden die Gedanken hier bald genug abgezogen.

Da stoben ein Paar Bekannte heran mit wichtigen Mienen, als gält’ es den Staat und die Gesellschaft zu retten.

„Haben Sie die Wolter gesprochen? Sie soll da sein! Und die Baudius auch!“

„Nein, aber die Geistinger.“

„Ja, dort! Und da die Gallmeyer! Sehen Sie?“

„Fesche Pepi, grüß Dich Gott tausendmal!“

„Ach, geh weiter, ich bins ja gar nicht!“ …

„Sehen Sie doch dort den Riesendomino, schwarz mit gelb verbrämt! Waschechte Loyalitätsfarben bis in die Mummerei! Wie wird Ihnen?“

„Um Gottes willen! Das ist doch nicht die Baronin Y.?“

„Sie selber mit ihrem Leibhusaren, der bissigen Frau X., an der einen und dem Marineminister an der andern Seite. Rette sich wer kann!“

Wir stoben in wilder Flucht nach der entgegengesezten Seite. Die Menschenwoge schloß sich hinter uns. Wir neckten und wurden geneckt, erkannten jene Maske auf den ersten Blick und zerbrachen uns umsonst den Kopf, welcher allwissende Kobold etwa hinter dieser versteckt sein mochte.

Da versperrte der hübsche Baron Sperber den Weg, der nicht ohne Aerger und Ungeduld an einen schlanken Domino, welchen er Philomen nannte, wiederholte Aufforderung ergehen ließ, sich anständig zu betragen, er werde sonst andere Saiten aufziehen.

Dort schob mit fechtenden Armen der junge Hofrath Ixzet durchs Gedränge, um jeden Preis eine tiefverhüllte Frauengestalt verfolgend, die so auffällig und energisch vor ihm floh, daß er nicht umhin konnte, in ihr seine höchsteigene Gattin zu vermuthen.

Und wir lachten über den einen und lachten über den andern.

Ach, es war eine lustige Zeit! Ich möchte mich nicht als Lobredner der Vergangenheit aufspielen. Man kommt sich gar so alt dabei vor. Aber Gott verzeih mirs, es will mir wirklich scheinen, als unterhielten sich die jungen Leute von heutzutage nicht mehr so wie wir damals.

Das mag Sinnestäuschung sein. Es liegt wohl an einem selber. Aber Eins ist gewiß: Maskenbälle, wie wir sie damals im Theater an der Wien erlebten, die giebt es nicht wieder. Ich habe nirgend anderswo ihres Gleichen oder auch nur annähernd Aehnliches gefunden.

Von allem norddeutschen Mummenschanz gleich von vorn herein zu geschweigen, selbst die berühmten Pariser Opernbälle hab’ ich langweilig und gemein gefunden gegen jene heiteren Feste. Und was ich sonst in großer Herren Ländern Vergleichbares sah, durfte sich mit jenen Maskenbällen im klassischen Theater an der Wien erst recht nicht messen.

Da sah man im Schwarm, was gut und theuer war und was im Dienste der neun Musen sich berühmt gemacht hatte, da sah man auch alte und junge Staatsmänner, Börsengrößen und andere Narren, Frauen aus bevorzugten Ständen und Künstlerinnen, bei deren Namensnennung schon jedem Wiener das Herz höher schlug, und dazwischen Philomena und ihres Gleichen und schöne Frauen, die ihre eigenen Männer wider deren Willen beobachteten oder aber ihnen durchgingen, Reich und Arm, Hoch und Gering, Minister und Ballettänzer und selbst einen leibhaftigen regulirten Chorherrn, wie Figura dicht an meiner Linken zeigte.

Wir waren alte Bekannte, Pater Otto und ich – oder hieß er Pater Odilo? Ich weiß es heute nicht mehr recht; denn wir nannten ihn nicht anders als Pater Odysseus oder auch Pater Fuchs, weil er gar so schlau, durchtrieben und listig war und doch immer ein unbesorgtes, in Gott vergnügtes Wesen zur Schau trug.

Wir Beide hatten uns schon vor Jahren im lieben München, in Sybel’s historischem Seminar getroffen, woselbst der junge Kleriker auf einer Studienreise für längere Zeit einsprach. Zu unserem Befremden, denn Meister Sybel stand nicht eben in gutem Geruch bei der katholischen Klerisei. Aber dem Pater Odysseus war schon damals nichts Menschliches fremd, er nahm es mit der Wissenschaft ernst, war dabei in seinem Glauben und seinen Ueberzeugungen so sicher, daß er in einer ketzerischen, kleindeutschen Gelehrtenstube so wenig für sein Seelenheil zu fürchten brauchte, wie auf einem Maskenball im Theater an der Wien, und zudem mußten ihm schon damaliger Zeit seine Oberen mehr Freiheit und Zutrauen als Anderen gewähren, denen selten oder nie ein kurzer Sprung über die Klausur gestattet werden kann.

Pater Odysseus machte damals ganz unverfroren die historischen Uebungen und anderen gelehrten Zeitvertreib mit, war von dem Meister und den Kommilitonen gern gesehen, kein Kopfhänger und kein Spielverderber, dabei in allen Principienfragen unverhohlen ein starrer unangreifbarer Fanatiker mit lächelnder Miene. Und also lächelnd, starr und frohgemuth war er eines Tages auch wieder gegangen, wie er gekommen war.

Als vielbeschäftigten Bibliothekar des Stiftes Dingsda hatt’ ich ihn unverhofft wiedergefunden, wo ich die Erlaubniß um Einsicht in die Schätze der berühmten Bücherei an einen Wildfremden zu richten gedacht hatte.

Also knüpften sich im kühlen Bücherschatzhause des reichen waldumfriedeten Klosters alte Fäden aufs Erfreulichste wieder an. Wie schon gesagt, Pater Odysseus sprach auch manchmal in der Hauptstadt ein und gab die Besuche zurück, die ich ihm in seiner Zurückgezogenheit machte. Es kam auch vor, daß er die Nacht über in Wien blieb und dann an unseren fröhlichen Gelagen in der „Goldenen Ente“ Theil nahm, ein nicht sehr gesprächiger, mäßiger, aber immer heiterer Tischgenosse, der sich nur alle politischen Gespräche ein- für allemal verbat. Er trug in der Stadt nicht das mönchische Gewand, sondern die Kleidung

[729]

Transport von Firmkindern in den nördlichen Alpen Tirols.
Originalzeichnung von Fritz Bergen. Nach einer Skizze von A. Härting in Bozen.

[730] eines Weltgeistlichen, einen schlichten schwarzen Gehrock und die weißeingefaßte violette Halsbinde. Es fehlte nichts, aber man mußte doch genau zusehen, um den geistlichen Herrn zu erkennen. Bei Anderen springt’s oft in die Augen. An ihm war eben nichts Auffallendes, aber auch nichts in seiner Kleidung, was dem Stande zuwiderlief.

Ju der lezten Zeit kam Pater Odysseus um vieles häufiger in die Stadt als im verwichenen Jahre. Wir merkten es, obwohl er es keineswegs angezeigt fand, sich jedesmal bei uns einzufinden, ja, wenn ich richtig beobachtete, von uns lieber gar nicht gesehen wurde.

Indessen hatt’ er auf Befragen kein Hehl daraus, daß ihn Klosterangelegenheiten jede Woche drei- bis viermal hierherführten und daß er, weil dies mit solcher Regelmäßigkeit sich wiederholen müsse, die Gelegenheit benutze, um einer kleinen Muhme, die heranreise, Stunden in der Geschichte, Litteratur und schriftlichen Ausarbeitungen deutscher und französischer Sprache zu ertheilen.

Das Mädchen sei sehr begabt und mache ganz erstaunliche Fortschritte, so daß ihm diese regelmäßigen Unterrichtsstunden die größte Freude bereiteten.

An die Freude glaubt’ ich nun gerne, denn ich kannte dieses himmlische Mühmchen mit dem musterhaften Gretchengesicht und den großen blauen Madonnenaugen. Es ist niemalen ein zierlicheres, verführerisches Geschöpfchen auf so winzigen Füßen über die Welt gelaufen.

Es war ausgemacht, daß Bianca sich der Bühne widmen sollte. Denn die verschwenderisch liebende Natur hatte diesem Wunderding von Menschenkind nicht nur alle Schönheit und Anmuth des Leibes mit auf den Weg gegeben, es hatte auch die Stimme einer Nachtigall in diese jungfräuliche Kehle gezaubert, so daß sie häßlich wie der unscheinbare Singvogel hätte sein können und doch die Herzen aller, die sie hörten, erobert hätte.

Auch der geistliche Herr Vetter hatte gar nichts gegen diese weltliche Bestimmung seiner Kousine. Er hoffte durch seinen Unterricht viel zu ihrer künstlerischen Entwickelung beizutragen. Er hatte ihr sogar einen Theaternamen zurechtgedrechselt. Denn mit ihrem gewiß sehr ehrbaren Vatersnamen Latschenberger war in künstlerischer Karrière nichts anzufangen. Man denke sich: Zerline ... oder Susanne ... Fräulein Latschenberger ... Blanche Latschenberger! Unmöglich! ... Scandrini sollte sie sich nennen. Bianca Scandrini, das klang, das sang schon von selber und nahm sich auf einem Theaterzettel vielversprechend und mustergültig aus.

Bianca Scandrini war gar nicht weit mehr von ihrem ersten Auftreten entfernt. Sie war nur noch zu jung. Siebzehn Jahre! Und sie erschien noch jünger, weil sie so klein war. Klein und niedlich und zierlich, aber doch voll und rund. Eva, wie sie im Buche steht!

Sachverständige weissagten ihr ganz ernsthaft eine große Zukunft. Wenn mein guter Freund, der berühmte Gesangsprofessor, von ihr sprach, zog er die Augenbrauen ganz hoch in die Stirn und schloß die Augenlider und ließ den Mund ein Weilchen halb offen stehen, sowie er etwa über dem feinsten Rheinwein und der theuersten Havannazigarre sich zu verhalten pflegte, und nach einer Weile dieses nur in einem leisen unartikulirten Tone geleisteten Lobes ihrer Kunstfertigkeit fügte er die Versicherung hinzu, daß Bianca Scandrini schon jetzt Alles an sich habe, was sonst noch zu einer Primadonna gehöre, die reüssiren wolle. Er habe allerhand Sterne aus seiner Opernschule aufsteigen sehen, aber solch ein Konsum von Blumen und Bonbons, wie er diesem Kinde schon in den ersten Klassen ermöglicht worden und von demselben mit eleganter Selbstverständlichkeit tagtäglich vollzogen werde, sei ihm noch nie vorgekommen.

Der schlaue Vetter hörte das lachend mit an und fuhr fort, ihr gute Lehren und erbauliche Stunden zu geben. Ihr Lob in seinem Munde klang maßvoll und zurückhaltend. Er bewunderte nichts und gab über Allem Gott die Ehre. Aber daß er in Gottes Geschöpf verliebt sein konnte, wie ein anderer Sterblicher auch, stand mir fest, wenn ich auch keinem hätte rathen mögen, den hochwürdigen Herrn darum zu fragen.

Darum aber durft’ ich ihn fragen, ob seine schöne Kousine Bianca Scandrini am Ende auch mehr oder weniger sorgfältig vermummt hier auf dem Maskenballe sei.

Und da ich ihn also fragte, lachte er, wie es sein Brauch war, und sagte dann: „Deßwegen bin ich ja hier. Ich lasse sie nicht lang aus den Augen.“

Nicht? Also war sie gar nicht weit! Und ich strengte all meine Schkraft an, in diesem Menschengewimmel trotz alles Mummenschanzes jenes entzückende Wesen zu entdecken, das mir, sobald mir seine Anwesenheit verrathen war, das wichtigste von allen war, wie viel ihrer auch sich hier herumtrieben.

Richtig, das mußte sie sein! Das war sie! Ihre Kleinheit verrieth sie und die auszeichnende Eleganz ihrer holdseligen Erscheinung, holdselig auch in dieser schwarzen Verkleidung, und mir verrieth sie auch noch eine Strähne des lichtblonden Haares, die sich zwischen Maske und Kapuze fürwitzig in die Welt drängte. Jenes eigenthümliche Wiener Blond, wie es anders in dieser Nuance kaum vorkommt, weizenblond mit einem sanften Hauch von Schatten darüber.

Auch ihre Begleitung stimmte. Der Vater, wohlgemuth, ein Kaufmann aus der Josephstadt, klein und breitschulterig, mit einem Schmeerbauch, der seines faltenreichen Dominos spottete. Er ging herum, den Anderen voraus, als wollt’ er ihnen den Weg frei beißen. Man sah’s ihm an, er hätte weit lieber in Lerchenfeld bei der „blauen Flasche“ gesessen, als hier herumzutrollen. Aber Bianca hatte alle Welt und auch den Vater unter dem Pantöffelchen. Da sie sich in den Kopf gesetzt, wie andere berühmte Künstlerinnen einen Maskenball im Theater an der Wien mitzumachen, und da sie sich königlich dabei in drei Sprachen, französisch, italienisch und deutsch, mit aller Welt unterhielt, so hieß es ausharren ohne Widerrede.

Die beiden Tugenddrachen von Schwestern nebenher dachten auch nicht an Widerrede. Sie waren nicht schön, diese beiden älteren Schwestern, nein, sie waren sogar abscheulich, feist, schleppfüßig, unelegant in des Wortes verwegenster Bedeutung und ohne jegliche Begabung als die, den Kochlöffel und die Nähnadel zu schwingen und ihrem Kleinod von Schwesterchen zu Willen und zu Diensten zu sein alle Stunden des Tages und der Nacht.

Die Natur hatte die ganze Familie stiefmütterlich behandelt, um auf den einen Liebling der Musen und der Menschen alle Gaben zu häufen, die ein sterbliches Wesen ob der Menge hoch emporheben.

Mir graute vor diesen Schwestern, die gar nicht wie Schwestern aussahen, sondern wie Tanten, oder richtiger, wie der Berliner sagt, wie Tunten, „olle Tunten“, womit eben Alles gesagt ist.

Aber Bianca gehörte zu den wenigen weiblichen Wesen, die zwingenden Zauber auf mich ausübten. Ich gefiel ihr nicht. Ich schob es auf die Tunten. Aber daß ich ihr nicht gefiel, war mein Glück. Denn ich hätte im andern Falle die größten Thorheiten meines Lebens für sie begangen, und zwar mit unsagbarem Vergnügen.

Ich erwähne das nur, um die Wirkung begreiflicher zu machen, die sie auf Andere, die sie auf Jeden ausübte.

Ich gefiel ihr nicht, aber wir waren ganz gute Freunde und unterhielten uns auch jetzt auf dem Maskenballe vortrefflich mit einander, während Pater Odysseus, der sofort, als er in die Nähe seiner Muhme gelangt war, die Maske wieder vors Gesicht gebunden, gravitätisch und stumm neben uns herschritt, einem Erzengel Michael im Domino vergleichbar, der sich nicht ganz à son aise fühlt, weil er sein flammendes Schwert in der Garderobe hat abgeben müssen.

Wie wir nun so, eine ganze mehr oder weniger vermummte Karawane von lustigen Freunden, durchs Menschengewühle ruderten, kam uns wieder der hübsche Baron Sperber in die Quere. Er erschien mir erschöpft und athemlos, und keineswegs durch freudige Veranlassung, denn er machte ein Gesicht, welches mit der allgemeinen Stimmung und der unsrigen wenig übereinstimmte. Es hatte offenbar Mühe gekostet, seine alte Geliebte Philomen abzuschütteln, die es vielleicht auf eine Ueberrumpelung des ausgeflogenen Vogels unter Maskenfreiheit abgesehen hatte, es hatte Mühe gekostet, sich vor ihren ferneren Vorwürfen, Zumuthungen und Bitten, vor der ganzen unliebsamen Scene zu uns zu retten.

Als er nun so aufathmend vor uns dastand und sich die hohe Stirn mit seidenem Tuche trocknete – denn auf seiner Stirn lichtete sich bereits das Ringelhaar, obwohl er noch in den [731] zwanziger Jahren war und sonst ein sehr gesundes wohlgenährtes Aussehen hatte – wie er so dastand, mußten wir unwillkürlich über den drolligen Gesellen lachen.

Da lachte er denn mit. Und recht von Herzen.

Edgar von Sperber war ein lebenslustiger, behaglicher und dazu bildhübscher Geselle, mit dem angenehm zu verkehren. Er stammte aus einer angesehenen Familie von Kaufleuten, die seit Jahrhunderten in Hamburg saßen, dort zu solider Wohlhabenheit gelangt und bei guter Gelegenheit einmal – es war noch nicht gar lange her – vom Kaiser von Oesterreich geadelt worden waren. Seinen Großoheim James Edward Sperber nannte man einen der Könige der Südsee, weil die Leute seines Hauses dort Niederlassungen von Bedeutung gegründet hatten und seine Schiffe gewaltigen Handelsverkehr mit jenen Gegenden unterhielten. Edgar berühmte sich nie des Reichthums seiner Familie. Daß aber die hohe Gestalt des mächtigen Kaufherrn James Edward Sperber häufig in seinen Gesprächen auftauchte, war eine Familiengewohnheit, die man ihm um so weniger übelzudeuten brauchte, als er sie von Kindesbeinen an üben gehört und dem entsprechend selbst geübt hatte. Wer freut sich nicht guter Altvordern! Edgar, reich und lebenslustig, stand im Begriff, sich die Welt zu betrachten, um sich da ein Heim zu gründen, wo es sich nach seinem Geschmack am besten leben ließ. Er schwankte noch zwischen Paris und Wien und schien sich während dieses Schwankens am letztgenannten Orte so ausnehmend zu gefallen, daß er vor der Hand an ein Weiterziehen nicht dachte.

Manche nannten ihn den Dicken, obwohl seine Leibesfülle keine übermäßige war und zu seiner Größe nicht im Mißverhältniß stand. Er hatte lichte lachende Augen, lichtbraunes Haar, das er wie auch den Bart ganz kurzgeschoren trug, und pflegte beim Gehen sich nach jedem Schritte ein wenig auf dem Ballen zu heben, was seinem Wandel trotz seiner Größe etwas anmuthig elastisch Behagliches verlieh. Er war immer elegant, wenn auch manchmal mit einer gewissen absichtlichen Nachlässigkeit gekleidet. Sein Wesen und Gebahren schien, wie das so mancher guten Hamburger, schon von Weitem andeuten zu wollen, daß der liebe Gott, ohne ein Versehen zu begehen, ihn ebenso gut auf der andern Seite des Kanals, unter richtigen Engländern hätte auf die Welt setzen können. Er war von hohem Wuchs, von anheimelnder Rede und von jener natürlichen Ungezwungenheit des Gehabens, die unbesorgt an Uebermuth, an Keckheit streift und zumeist auf dem sicheren Grunde eines zuverlässigen väterlichen Vermögens fußt. Aber er war gut und gutmüthig sowohl aus Klugheit wie von Natur.

Einer jener gescheiten, starken, großen, wohlbeleibten Männer, die aussehen wie die Enkel Simsons und die wie dieser nur allzu geneigt und geeignet sind, sich von einer Delila, wenn sie schön und geschickt ist, um den kleinen Finger wickeln zu lassen.

Wie er sich zu uns gesellte, mußt’ ich denken, das wär’ eigentlich ein Mann für Bianca Scandrini, wie geschaffen dafür, daß er sich in sie und auch sie sich in ihn – soweit ihr das überhaupt möglich war – verliebte.

Und da Gedanken manchmal auch unausgesprochen sich von einem auf den andern elektrisch übertragen oder, wenn das besser klingt, in der Luft liegen, so bin ich überzeugt, daß in demselben Augenblick Bianca, wie ihre beiden schrecklichen Schwestern, der leibliche Vater wie der leibliche Vetter, ja selbst der junge Baron denselben Gedanken hegten wie ich, wenn auch Jeder auf andere, Jeder auf seine Weise, wobei es denn freilich nicht zu leugnen sein wird, daß der nämliche Gedanke sich in Edgar von Sperber’s fürwitzigem und leichtlebigem Kopfe ganz anders in Wunsch und Absicht umsetzte, als unter der geweihten und graduirten Stirn des Paters Bibliothekars und Vetters der schönen Sängerin.

Bei Keinem von uns gewann dieser Gedanke noch Worte. Einstweilen herrschte nur harmlose Lustigkeit und gleichgültiges leichtes Geplauder, bis endlich auch der schweigsame Vater sich an der allgemeinen Unterhaltung betheiligte, indem er mit vollendeter Sicherheit die Behauptung aufstellte, daß er von diesem Vergnügen nun übergenug habe und daß es Zeit sei, nach Hause zu gehen.

Edgar, der nun eben erst warm werden wollte, war von diesem jähen Abbruche vergnüglicher Beziehungen sichtlich betroffen. Er kleidete diese Betroffenheit in eine sehr artige Einladung zum Souper. Edgar war eine von den glücklichen Naturen, die zu jeder Tages- oder Nachtzeit aus beliebigem Anlasse und unter allen Umständen zu soupiren bereit sind.

Anders Vater Latschenberger, der die Einladung eines ihm nur oberflächlich bekannten Kavaliers zu so vorgerückter Stunde mit sittlicher Entrüstung ablehnte und kurzangebunden den Seinigen den nächsten Weg zur Garderobe deutete.

Edgar sah betrübt hinter jenen drein. Er hätte so gern noch ein Stündchen mit Blanche verplaudert. Sie war ihm schon früher als schön aufgefallen. Aber noch nie erschien sie ihm so lustig, so geistreich, so entzückend wie heute, da sie eine Viertelstunde, ach, höchstens zehn Minuten an seinem Arme hinwandelte und ihre wunderbaren Augen durch die Löcher ihrer Maske leuchten ließ, das es einem das Herz im Leibe verbrannte. Edgar fing allen Ernstes den alten Latschenberger zu verfluchen an, der harmloser Freundlichkeit mit der Trutzmiene eines beleidigten Dämons begegnete.

Allein Edgar von Sperber war zum Fluchen nicht gemacht. Er ging lieber mit gutmüthigem Gesicht den Abziehenden in die Garderobe nach, um wenigstens noch ein Abschiedswort an Bianca zu richten und vielleicht ihr Gesicht zu sehen.

Die Familie mühte sich in verschiedenen Winkeln in ihre Mäntel und Hüllen zu kriechen. Alles war hier noch streng vermummt und verlarvt, denn die Stube war voll von Leuten, die zum Aufbruche rüsteten, und man war darauf bedacht, sein Inkognito bis ans Ende festzuhalten.

Edgar fand, die er suchte, abgewandt, mit dem Rücken gegen die Ballgäste, das Gesicht der Wand zugekehrt, in einer Ecke, wo sie sich viele Mühe gab, mit Hilfe einer ihrer Schwestern ein Paar lange knappe graue Wollgamaschen über Ballschuhe und seidene Strümpfe zu ziehen.

Es war nur ein verstohlener Augenblick, aber Edgar wollte darauf schwören, er hätte sein Tag noch nichts Reizenderes gesehen, als diese wunderbar gefesselten Feenpfötchen von grauen Filetmaschen halb verkappt.

Doch da stand schon die kleine Maske vor ihm und sagte: „Sie wieder da, Baron? . . . Das ist hübsch von Ihnen, daß Sie mir ordentlich gute Nacht sagen!“ Damit reichte sie ihm eine ganz kleine schwarze Hand in einem tadellosen französischen Handschuh hin.

So klein sie war, diese schwarze Hand, sie faßte fest zu. Edgar beugte seinen Mund auf sie nieder und bewunderte in diesen Händen das würdige Geschwisterpaar der beiden grauverkappten Füßchen, die es ihm gerade vorher angethan hatten.

Es stand in derselben Sekunde bei ihm fest, daß diese Füßchen heut Abend in keinen gemeinen Miethwagen steigen sollten, und er beeilte sich, den Damen und dem Vater seine Equipage zum Nachhausefahren anzubieten.

Das war etwas Anderes! Zum Soupiren war es zu spät, aber je früher desto besser heimzurollen, in einem bequemen Wagen, einem unnumerirten, kavaliermäßigen – dieser Versuchung kann ein Wiener Herz nicht widerstehen. Der Alte gewährte dem jungen Mann die Gnade, darum er gebeten wurde, und ließ es sich gefallen, das Edgar den Theaterportier nach seinem Kutscher rufen hieß. Am Arm das süße Geschöpf, das sich wie ein Kätzchen in der Nachtkühle schaudernd an seine Seite schmiegte, stand er einige Minuten harrend im Hofe, darin die Wagen einrollten.

„Wenn ich nur Einmal Ihr Gesicht gesehen hätte!“ sagte er leise zu ihr. Es that ihm in diesem Augenblick wunderlich wohl, mit der Verhüllten, nur einen Schritt von der ohrenspitzenden Sippschaft entfernt, im Geheimen zu flüstern.

Bianca schien es nicht eben anders zu gehen. Neckend antwortete sie: „Ich bin zu eitel, Ihnen heut mein Gesicht zu zeigen, das stundenlang unter der Maske gelitten hat. Aber Sie kennen es ja schon, es ist ein recht alltägliches Gesicht, und man kann es auch alle Tage sehen.“

„Könnt’ ich es doch alle Tage sehen!“ antwortete der Baron hastig und mit einem Seufzer, der aus ehrlichem Herzen kam.

Bianca lachte laut auf.

„Warum lachen Sie mich aus?“ rief Edgar.

„Ich denke nicht daran. Aber es muthet mich komisch an, daß Sie sich ungeschickter stellen, als Sie sind. Mein Vater wird sich ein Vergnügen daraus machen, Ihren Besuch zu empfangen – wenn auch nicht just alle Tage.“

Edgar wußte offenbar nicht gleich, was er auf so viel Freundlichkeit sagen sollte, er war stumm, aber da rollte schon sein Gefährt vors Portal.

(Fortsetzung folgt.

[732]
Blätter und Blüthen.

Berliner und Wiener Küche. Als Erwiderung auf die gleichnamige in Nr. 40 der „Gartenlaube“ veröffentlichte Plauderei ist uns von einer Berliner Hausfrau ein Schreiben zugegangen, welches wir unseren geehrten schönen Leserinnen nicht vorenthalten möchten. Es lautet:

Berlin, im Oktober 1885. 
Geehrter Herr Redacteur!

Es geht wirklich nicht, ich würde mir die schwersten Indigestionen zuziehen, wollte ich’s verschlucken und verschweigen, daß ich Ihren Herrn Paul von Schönthan mit seiner Berliner und Wiener Küche ganz gründlich im Magen habe.

Wir armen norddeutschen Hausfrauen können doch nichts dafür, daß er ein so erschrecklicher Süßschnabel ist, dem jede kräftige Kost ein Heimweh nach den Mehltöpfen Wiens bereitet.

Hoffentlich verdirbt er sich aber an seinen Nockerln, Krapfen, Strudeln, Schmarrn und wie die zungenbrecherischen Namen all der süßen Mehlkleister sonst heißen mögen, noch so stark den Magen, daß er alle Jahre nach Karls- oder Marienbad gehen muß – zu seinen vielgeliebten böhmischen Köchinnen „mit den alchemistischen Kenntnissen“.

Unsere braven Berliner und norddeutschen Köchinnen scheeren sich allerdings nicht um Alchemie, und ihre Küche ist weder ein „Laboratorium“, noch ein „Atelier“, aber gut kochen können sie, und wir norddeutschen Hausfrauen wissen in unsern Küchen auch Bescheid, wenngleich Herr von Schönthan nichts davon meldet.

Armer Herr von Schönthan, wie hat ihm die „Dürftigkeit der Berliner Restaurations-Speiskarte“ schlechtgethan, nud doch muß den Wienern in Berlin das Essen in den echten Berliner Restaurants offenbar besser zugesagt haben, als in dem importirten Wiener, denn der Inhaber des letzteren ließ ja sehr bald, wie Herr von Schönthan selber erzählt, seine Landsleute in „Niedergeschlagenheit und Verwirrung“ zurück, um die Segnungen des „Schönbrunner Reis“ und der „Oedenburger Nudel“ nach Paris zu tragen. Ob er es dort wohl länger ausgehalten hat?

Kennt Herr von Schönthan wohl so’n reguläres Berliner Eisbein mit Sauerkraut, bei dem es Einem trotz des kalten Namens warm um – die Magengrube wird?

Kennt er wohl so einen zarten Hamburger Riesenkalbsrücken mit jener leckeren, herrlichen Sahnesauce, die nur in norddeutschen Küchen zu gerathen scheint? Kennt er die goldgelb gebratenen saftigen Vierländer Hühner? Oder kennt er so eine in Eigelb und geriebener Semmel gewälzte und in ostfriesischer Butter gebratene goldige frische Flunder, so einen feisten norddeutschen Flußhecht mit Meerrettigsauce, eine geräucherte ostpreußische Maräne?

Sind ihm schon jemals die allerdings nur in unserem verrufenen märkischen Sande gedeihenden aromatischen köstlichen Teltower Rübchen mit mecklenburgischer Lammsbrust auf den Tisch gekommen? Kennt er die kräftigen, würzhaften, delikaten, auch nur in dem nordöstlichen Böotien wachsenden, in Bouillon, Biersuppe oder der ganz eigenartigen sauersüßen Specksauce servirten „grauen Erbsen“, die sogar hoffähig sind und in der Kochkunst-Ausstellung neben den Dressel’schen höchsten Delikatessen prangten? Kennt er wohl die mit Sardellen und Citronen zubereiteten pikanten „sauren Klopse“, die außerhalb der nordischen Stadt der reinen Vernunft „Königsberger Klopse“ heißen? Kennt er pommersche Gänse und ihr „Weißsauer“, westfälische Schinken und den von Fritz Reuter zur Klassicität gebrachten Spickaal mit Gurkensalat? „Daß Du die Nase ins Gesicht behältst!“

Das schmeckt Alles fein! Und das sind Alles norddeutsche Küchenerzeugnisse, auf deren Vollendung die größte Sorgfalt und Mühe verwendet werden muß, denn hierfür giebt’s keine gedruckten „vorgekauten“ Vorschriften und kein mechanisches Messen und Abwägen der einzelnen Bestandtheile – hier heißt’s, seine Sache gelernt haben, nach der Praxis, nicht aus Kochbüchern mit „hundert Kapiteln über Mehlspeisen“; hier heißt’s, Geschmack und Einsicht haben, nach eigenem Ermessen im richtigen Augenblicke umsichtig, sachgemäß und schnell handeln und mit Liebe und Hingebung arbeiten. Das erst ist die wahre Kochkunst, nicht jene unheimliche Alchemisterei in Laboratorien und Ateliers.

Und diese norddeutsche Kochkunst schafft Gesundes, Reelles, Förderliches! Von ihren Leistungen wird man satt!

Vermag Ihr Herr von Schönthan wohl zu sagen, was das Wort „satt“ so recht eigentlich bedeutet; kennt er das wohlige Gefühl des Sattseins?

Nein! Denn von seinen „abgetriebenen Gugelhupfs“, Nudeln, Strudeln, Nockerln wird er nicht satt, sondern voll, wie ein Pfefferkuchenmann, dessen ganzer Leib auch nur aus Teig besteht. Wie unbehaglich ist solch ein Vollsein, wie mollig aber ist dem Satten zu Muth – ein Unterschied wie zwischen Backofenhitze und Frühlings-Sonnenschein!

Herr von Schönthan soll nur erst essen lernen! Ich erlaube mir daher, ihn zu einem richtigen echten norddeutschen Mittag in meiner bescheidenen Häuslichkeit einzuladen. Er soll auch einen Pudding bekommen, der weder schreckensbleich, noch rindenlos ist oder gar vor Scham in Anilinroth erglüht. Der Speiszettel wird mir gar kein Kopfzerbrechen verursachen, und als gute Köchin will ich ihm sogar einige feurige Kohlen bereit halten.

Auch Sie, Herr Redacteur, sind freundlichst dazu eingeladen von
Ihrer ergebensten 
Ida Bischofsburger. 


Transport von Firmkindern in den nördlichen Alpen Tirols. (Mit Illustration S. 729.) Endlich ist der Tag erschienen, an welchem der Bischof von Brixen oder Salzburg die Kirchen der Tiroler Dörfer visitirt und den von Nah und Fern herbeiströmenden Kindern das Sakrament der Firmung spendet. Längst haben die mit Kindern gesegneten Elternpaare einen „Firmgöth’“ oder eine „Firmgodel“ gefunden, welche am bestimmten Tage den kleinen Loisl, die Viktl, oder wie das Kind sonst heißen mag, in einem Rückenkorb hinab in die Dorfkirche zur Firmung tragen und dort, wie es Brauch, an ihnen Pathenstelle vertreten. Einen solchen Kindertransport zeigt unser Bild.

Voran, auf den Langstock gestützt, wandert ein rüstiger Bauer, dem wir es sofort ansehen, daß er hoch vom Berge aus einem sogenannten Einödhofe herabkommt. Ein bausbackiger Bub und ein kleiner Schreihals schauen zwischen Polstern aus seinem Rückenkorbe hervor, in dem er schon manche Bürde auf unwegsamem Steige getragen.

Neben dieser strammen Bauerngestalt schreitet ein junges Weib mit einem Wickelkind im Arme und einem niedlichen kleinen Mädchen zur Seite. Hinter diesen beiden folgen die übrigen Firmpathen, alle schwer mit Firmkindern beladen, so daß die Rückenkörbe zu eng sind und aufgebundene Brettchen den Polstern zur Stütze dienen müssen, um das Herausfallen der Kleinen zu verhindern.

Alle diese Leute kommen weit her, und es ist wahrlich keine kleine Mühe, der sie sich unterzogen haben. Aber trotzdem sieht man nirgends verdrießliche Gesichter, sondern heitere Festfreude strahlt allen aus Blick und Mienen. Ist ja doch heute heiliger Firmtag, der kommt in vier bis fünf Jahren einmal; und dann setzt bekanntlich ein wohlhabender Bauer immer einen gewissen Stolz in die Zahl seiner Firmkinder. Die größeren werden nach der Firmung ins Wirthshaus geführt, und zuletzt beim Heimgehen bekommt jedes ein blankes Guldenstücklein oder einen alten Schatzthaler, wenn ihnen der splendide Göth oder die Godel nicht gar ein „Firmg’wandel“ gekauft hat. Das merken sich die Kinder ihr Leben lang. J. C. Maurer.     


„Du Ring an meinem Finger“ (Mit Illustration Seite 721.) Den feinen glänzenden Goldreif am Finger muß wohl ein eigenartiger Zauber umgeben. Nicht bloß in den Träumen junger Mädchen spielt derselbe eine hervorragende Rolle, auch Künstler und Dichter haben oft versucht, die von ihm wachgerufenen Empfindungen in Worten, Tönen und Farben festzuhalten. Die ebenso schlichte als wirkungsvolle Zeichnung Paul Thumann’s zu dem von R. Schumann in Musik gesetzten Liede Chamisso’s ist allbekannt. Nicht minder ansprechend ist das farbenreiche Gemälde Karl Marr’s, dessen Holzschnittnachbildung unsere heutige Nummer schmückt. Das stimmungsvolle Bild athmet eine seltene Innigkeit und ist für die Begabung des noch jungen Künstlers – derselbe wurde 1858 in Milwaukee geboren und lebt gegenwärtig in München – ein außerordentliches Zeugniß. – th.     

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Inhalt: Edelweißkönig. Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 717. – Spielkätzchen- Illustration. S. 717. – Frauen als Armenpflegerinnen. Von A. Lammers. S. 722. – Bilder von der Balkanhalbinsel. Die Zarenstadt Tirnowo. Von Siegfried. Mit Abbildung. S. 725. – Offene Briefe an Henry M. Stanley. Von Dr. Pechuël-Loesche. II. S. 726. – Ein wunderlicher Heiliger. Novelle von Hans Hopfen. S. 728. – Blätter und Blüthen: Berliner und Wiener Küche. S. 732. – Transport von Firmkindern in den nördlichen Alpen Tirols. S. 732. Mit Illustration S. 729. – „Du Ring an meinem Finger.“ S. 732. Mit Illustration S. 721.


In unserem Verlage ist erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:
„Gartenlaube-Kalender“
für das Jahr 1886.
0 251 Seiten mit zahlreichen Illustrationen in Holzschnitt, eleg. geb. Preis Mk. 1,50.

Allen Lesern der „Gartenlaube“ als Ergänzung der letzteren empfohlen! Man bittet beim Kauf des Kalenders genau an die Verlagsfirma zu achten, da von anderer Seite her ein sogenannter „Gartenlauben-Kalender“ verbreitet wird.

manicula Ein dieser Nummer beigelegter Bestellzettel kann zur Bestellung in derselben Buchhandlung, von welcher man die „Gartenlaube“ bezieht, benützt werden. – Postabonnenten wollen sich gefl. an die nächstgelegene Buchhandlung, oder wie dies, wie z. B. im Auslande, auf Schwierigkeiten stößte, unter Beifügung des Betrags incl. Kreuzbandporto direkt an die unterzeichnete Verlagshandlung wenden.


Unseren Abonnenten

theilen wir hierdurch zugleich in Erwiderung verschiedener Anfragen mit, daß wir von einzelnen älteren Jahrgängen der „Gartenlaube“ noch eine kleine Anzahl von Exemplaren zu dem ermäßigten Preise von nur 3 Mark für den vollständigen Jahrgang abgeben können.

Es sind dies die Jahrgänge 1868, 1869, 1872, 1875, 1876, 1877, enthaltend Novellen und Romane von V. Blüthgen, P. Heyse, G. v. Meyern, E. Marlitt, H. Schmid, L. Schücking, Fr. Spielhagen u. s. w.

Bestellungen auf diese älteren Jahrgänge führen alle Buchhandlungen aus, welche den neuen Jahrgang liefern. Nur solche Besteller, welche an ihrem Wohnort oder in dessen Nähe keine Buchhandlung haben, wollen sich unter Beifügung des Betrags der Bestellung (event. in Briefmarken) direkt franko an die unterzeichnete Verlagshandlung wenden.

  Leipzig, im Oktober 1885. Ernst Keil’s Nachfolger. 



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.