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Die Gartenlaube (1885)/Heft 37

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[597]

No. 37.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Unterm Birnbaum.

Von Th. Fontane.
(Fortsetzung.)


10.

Die Verhaftung Hradscheck’s erfolgte zehn Tage vor Weihnachten. Jetzt war Mitte Januar, aber die Küstriner Untersuchung rückte nicht von der Stelle, weßhalb es in Tschechin und den Nachbardörfern hieß: „Hradscheck werde mit Nächstem wieder entlassen werden, weil nichts gegen ihn vorliege.“ Ja, man begann auf das Gericht und den Gerichtsdirektor zu schelten, wobei sich’s selbstverständlich traf, daß alle die, die vorher am leidenschaftlichsten von einer Hinrichtung geträumt hatten, jetzt in Tadeln und Schmähen mit gutem Beispiel vorangingen.

Vowinkel hatte viel zu dulden; kein Zweifel. Am ausgiebigsten in Schmähungen aber war man gegen die Zeugen, und der Angriffe gegen diese wären noch viel mehr gewesen, wenn man nicht gleichzeitig über sie gelacht hätte. Der dumme Ladenjunge, der Ede, so versicherte man sich gegenseitig, könne doch nicht für voll angesehen werden und die Male mit ihren Sommersprossen und ihrem nicht ausgetrunkenen Kaffee womöglich noch weniger. Daß man bei den Hradschecks oft einen wunderbaren Kaffee kriege, das wisse jeder, und wenn alle die, die das durchgetrichterte Cichorienzeug stehn ließen, auf Mord und Todtschlag hin verklagt und eingezogen werden sollten, so säße bald das halbe Bruch hinter Schloß und Riegel. „Aber Jakob und der alte Mewissen!“ hieß es dann wohl. Indeß auch von diesen Beiden wollte die plötzlich zu Gunsten Hradscheck’s umgestimmte Majorität nichts wissen. Der dusslige Jakob, von dem jetzt so viel gemacht werde, ja, was hab’ er denn eigentlich beigebracht? Doch nichts weiter als das ewige „He wihr so’n beten still.“ Aber du lieber Himmel, wer habe denn Lust, um Klock fünf und bei steifem Südost einen langen Schnack zu machen? Und nun gar der alte Mewissen, der, so lang er lebe, den Himmel für einen Dudelsack angesehen habe! Wahrhaftig, der könne viel sagen, eh’ man’s zu glauben brauche. „Mit einem karrirten Tuch über dem Kopf. Und wenn’s kein karrirtes Tuch gewesen, dann sei’s eine Pferdedecke gewesen.“ Oh, du himmlische Güte! Mit einer Pferdedecke! Die Hradscheck mit einer Pferdedecke! Giebt es Pferdedecken ohne Flöhe? Nein. Und nun gar diese schnippsche Prise, die sich ewig mit ihrem türkischen Shawl herumziert und noch ötepotöter is als die Reitweinsche Gräfin!

So ging das Gerede, das sich, an und für sich schon günstig genug für Hradscheck, in Folge kleiner Vorkommnisse mit jedem neuen Tage günstiger gestaltete. Darunter war eins von besondrer Wirkung. Und zwar das folgende. Heilig Abend war ein Brief Hradscheck’s bei Eccelius eingetroffen, worin es hieß: „es ging’ ihm gut, weßhalb er sich auch freuen würde, wenn seine Frau zum Fest herüberkommen und eine Viertelstunde mit ihm plaudern wolle; Vowinkel hab’ es eigens gestattet, versteht sich

Markener Schulkinder.
Nach einem Oelgemälde von R. Hirth du Frênes.

[598] in Gegenwart von Zeugen.“ So die briefliche Mittheilung, auf welche Frau Hradscheck, als sie durch Eccelius davon gehört, diesem letztren sofort geantwortet hatte: „sie werde diese Reise nicht machen, weil sie nicht wisse, wie sie sich ihrem Manne gegenüber zu benehmen habe. Wenn er schuldig sei, so sei sie für immer von ihm geschieden, einmal um ihrer selbst, aber mehr noch um ihrer Familie willen. Sie wolle daher lieber zum Abendmahl gehn und ihre Sache vor Gott tragen und bei der Gelegenheit den Himmel inständigst bitten, ihres Mannes Unschuld recht bald an den Tag zu bringen.“ So was hörten die Tschechiner gern, die sämmtlich höchst unfromm waren, aber nach Art der meisten Unfrommen einen ungeheuren Respekt vor Jedem hatten, der „lieber zum Abendmahl gehn und seine Sache vor Gott tragen“, als nach Küstrin hin reisen wollte.

Kurzum, alles stand gut, und es hätte sich von einer totalen „Rückeroberung“ des dem Inhaftirten anfangs durchaus abgeneigten Dorfes sprechen lassen, wenn nicht ein Unerschütterlicher gewesen wäre, der, sobald Hradscheck’s Unschuld behauptet wurde, regelmäßig versicherte: „Hradscheck? Den kenn ich. Der muß ans Messer.“

Dieser Unerschütterliche war niemand Geringeres als Gendarm Geelhaar, eine sehr wichtige Person im Dorf, auf deren Autorität hin die Mehrheit sofort geschworen hätte, wenn ihr nicht seine bittre Feindschaft gegen Hradscheck und die kleinliche Veranlassung dazu bekannt gewesen wäre. Geelhaar, guter Gendarm, aber noch bessrer Saufaus, war, um Kognaks und Rums willen, durch viele Jahre hin ein Intimus bei Hradscheck gewesen, bis dieser eines Tages, des ewigen Gratis-Einschenkens müde, mit mehr Uebermuth als Klugheit gesagt hatte: „Hören Sie, Geelhaar, Rum ist gut. Aber Rum kann einen auch ’rum bringen.“ Auf welche Provokation hin (Hradscheck liebte dergleichen Witze) der sich nun plötzlich aufs hohe Pferd setzende Geelhaar mit hochrothem Gesicht geantwortet hatte: „Gewiß, Herr Hradscheck. Was kann einen nich alles ’rumbringen? Den einen dies, den andern das. Und mit Ihnen, mein lieber Herr, is auch noch nicht aller Tage Abend.“

Von der aus diesem Zwiegespräch entstandenen Feindschaft wußte das ganze Dorf und so kam es, daß man nicht viel darauf gab und im Wesentlichen bloß lachte, wenn Geelhaar zum hundertsten Male versicherte: „Der? Der muß ans Messer.“

*               *
*

„Der muß ans Messer,“ sagte Geelhaar, aber in Tschechin hieß es mit jedem Tage mehr: „Er kommt wieder frei.“

Und „he kümmt wedder ’rut“ hieß es auch im Hause der alten Jeschke, wo die blonde Nichte, die Line – dieselbe, nach der Hradscheck bei seinen Gartenbegegnungen mit der Alten immer zu fragen pflegte – seit Weihnachten zum Besuch war und an einer Ausstattung, wenn auch freilich nicht an ihrer eigenen, arbeitete. Sie war eine hervorragend kluge Person, die, trotzdem sie noch keine 27 zählte, sich in den verschiedensten Lebensstellungen immer mit Glück versucht hatte: früh schon als Kinder- und Hausmädchen, dann als Nähterin und schließlich als Pfarrköchin in einem neumärkischen Dorf, in welch letztrer Eigenschaft sie nicht nur sämmtliche Betstunden mitgemacht, sondern sich auch durch einen exemplarisch sittlichen Lebenswandel ausgezeichnet hatte. Denn sie gehörte zu denen, die, wenn engagirt, innerhalb ihres Engagements alles Geforderte leisten, auch Gebet, Tugend und Treue.

Solcher Forderungen entschlug sich nun freilich die Jeschke, die vielmehr, wenn sie den Faden von ihrem Wocken spann, immer nur Geschichten von begünstigten und genasführten Liebhabern hören wollte, besonders von einem Küstriner Fourage-Beamten, der drei Stunden lang im Schnee hatte warten müssen. Noch dazu vergeblich. All das freute die Jeschke ganz ungemein, die dann regelmäßig hinzusetzte: „Joa, Line, so wihr ick ook. Awers moak et man nich to dull.“ Und dann antwortete diese: „Wie werd ich denn, Mutter Jeschke!“ Denn sie nannte sie nie Tante, weil sie sich der nahen Verwandtschaft mit der alten Hexe schämen mochte.

Plaudern war Beider Lust. Und plaudernd saßen beide Weibsen auch heute wieder.

Es war ein ziemlich kalter Tag und draußen lag fußhoher Schnee. Drinnen aber war es behaglich, das Rothkehlchen zwitscherte, die Wanduhr ging in starkem Schlag und der Kachelofen that das Seine. Dem Ofen zunächst aber hockte die Jeschke, während Line weitab an dem ganz mit Eisblumen überdeckten Fenster saß und sich ein Kuckloch gepustet hatte, durch das sie nun bequem sehen konnte, was auf der Straße vorging.

„Da kommt ja Gendarm Geelhaar,“ sagte sie. „Grad über den Damm. Er muß drüben bei Kunicke gewesen sein. Versteht sich, Kunicke frühstückt um diese Zeit. Und sieht auch so roth aus. Was er nur will? Er wird am Ende der armen Frau, der Hradschecken, einen Besuch machen wollen. Is ja schon vier Wochen Strohwittwe.“

„Nei, nei,“ lachte die Alte. „Dat deiht he nich. Dem is joa sien ejen all to veel, so lütt se is. Ne, ne, den kenn ick. Geelhaar is man blot noch för so.“

Und dabei machte sie die Bewegung des aus der Flaschetrinkens.

„Hast Recht,“ sagte Line. „Sieh, er kommt grad auf unser Haus zu.“

Und wirklich, unter diesem Gespräch, wie’s die Jeschke mit ihrer Nichte geführt hatte, war Geelhaar von der Dorfstraße her in einen schmalen, bloß mannsbreiten Gang eingetreten, der, an der Hradscheckschen Kegelbahn entlang, in den Garten der alten Jeschke führte.

Von hier aus war auch der Eingang in das Häuschen der Alten, das mit seinem Giebel nach der Straße stand.

„Guten Tag, Mutter Jeschke,“ sagte der Gendarm. „Ah, und guten Tag, Lineken. Oder ich muß jetzt wohl sagen Mamsell Linchen.“

Line, die den stattlichen Geelhaar (er hatte bei den Gardekürassieren gedient), aller despektirlichen Andeutungen der Alten ungeachtet, keineswegs aus ihrer Liste gestrichen hatte, stemmte sofort den linken Fuß gegen einen ihr gegenüberstehenden Binsenstuhl und sah ihn zwinkernd über das große Stück Leinwand hin an, das sie, wie wenn sie’s abmessen wollte, mit einem energischen Ruck und Pupp vor sich ausspannte.

Die Wirkung dieser kleinen Künste blieb auch nicht aus. So wenigstens schien es Linen. Die Jeschke dagegen wußt’ es besser, und als Geelhaar, auf ihre mit Vorbedacht in Hochdeutsch gesprochene Frage, „was ihr denn eigentlich die Ehre verschaffe,“ mit einem scherzhaft gemeinten Fingerzeig auf Line geantwortet hatte, lachte sie nur und sagte:

„Nei, nei, Herr Gendarm. Ick weet schon, ick weet schon … Awers nu setten’s sich ihrst … Joa, diss’ Hradscheck … he kümmt joa nu wedder rut.“

„Ja, Mutter Jeschke,“ wiederholte Geelhaar, „he kümmt nu wedder rut. Das heißt, er kommt wieder ’raus, wenn er nich drin bleibt.“

„Woll, woll. Wenn he nich drin bliewt. Awers worümm sall he drin bliewen? Keen een hett joa wat siehn, un keen een hett joa wat utfunn’n. Un Se ook nich, Geelhaar.“

„Nein,“ sagte der Gendarm. „Ich auch nich. Aber es wird sich schon was finden oder doch finden lassen, und dazu müssen Sie helfen, Mutter Jeschke. Ja, ja. Soviel weiß ich, die Hradscheck hat schon lange keinen Schlaf mehr und ist immer treppauf und treppab. Und wenn die Leute sagen, es sei bloß, weil sie sich um den Mann gräme, so sag ich: Unsinn; er is nich so und sie is nich so.“

„Nei, nei,“ wiederholte die Jeschke. „He is nich so un se is nich so. De Hradschecks, nei, de sinn nich so.“

„Keinen ordentlichen Schlaf also,“ fuhr Geelhaar fort, „nich bei Tag und auch nich bei Nacht, und wankt immer so ’rum, und is mal im Hof und mal im Garten. Das hab ich von der Male … Hören Sie, Mutter Jeschke, wenn ich so mal ’ne Nacht hier auf Posten stehen könnte! Das wäre so was. Line bleibt mit auf, und wir setzen uns dann ans Fenster und wachen und kucken. Nich wahr, Line?“

Line, die schon vorher das Weißzeug bei Seite gelegt und ihren blonden Zopf halb aufgeflochten hatte, schlug jetzt mit dem losen Büschel über ihre linke Hand und sagte: „Will es mir noch überlegen, Herr Geelhaar. Ein armes Mädchen hat nichts als seinen Ruf.“

Und dabei lachte sie.

„Kümmen’s man, Geelhaar,“ tröstete die Jeschke, trotzdem Trost eigentlich nicht nöthig war. „Kümmen’s man. Ick geih to Bett. [599] Wat doa to siehn is, ick meen hier buten, hier in‘n Goarden, dat hebb‘ ick siehn, dat weet ick all. Un is ümmer dat Sülwigte.“

„Dat Sülwigte?“

„Joa. Nu nich mihr. Awers as noch keen Snee wihr. Doa …“

„Da. Was denn?“

„Doa wihr se Nachtens ümmer so ‘rümm hier.“

„So, so,“ sagte der Gendarm und that vorsichtig allerlei weitere Fragen. Und da sich die Jeschke von guten Beziehungen zur Dorfpolizei nur Vortheile versprechen konnte, so wurde sie trotz aller sonstigen Zurückhaltung immer mittheilsamer und erzählte dem Gendarmen Neues und Altes, namentlich auch das, was sie damals, in der stürmischen November-Nacht, von ihrer Küchenthür aus beobachtet hatte. Hradscheck habe lang da gestanden, ein flackrig Licht in der Hand. „Un wihr binoah so, as ob he wull, dat man em seihn sull.“ Und dann hab‘ er einen Spaten genommen und sei bis an den Birnbaum gegangen. Und da hab er ein Loch gegraben. An der Gartenthür aber habe was gestanden wie ein Koffer oder Korb oder eine Kiste. Was? das habe sie nicht genau sehen können. Und dann hab‘ er das Loch wieder zugeschüttet.

Geelhaar, der sich bis dahin, allem Diensteifer zum Trotz, ebenso sehr mit Line wie mit Hradscheck beschäftigt hatte, ja, vielleicht mehr noch Kourmacher als Beamter gewesen war, war unter diesem Bericht sehr ernsthaft geworden und sagte, während er mit Wichtigkeitsmiene seinen gedunsenen Kopf hin und her wiegte: „Ja, Mutter Jeschke. Das thut mir leid. Aber es wird Euch Ungelegenheiten machen.“

„Wat? wat, Geelhaar?“

„Ungelegenheiten, weil Ihr damit so spät herauskommt.“

„Joa, Geelhaar, wat sall dat? wat mienens mit ‚to spät‘ ? Et hett mi joa keener nich froagt. Un Se ook nich. Un wat weet ick denn ook? Ick weet joa nix. Ick weet joa joar nix.“

„Ihr wißt genug, Mutter Jeschke.“

„Nei, nei, Geelhaar. Ick weet joar nix.“

„Das ist gerade genug, daß einer Nachts in seinem Garten ein Loch gräbt und wieder zuschüttet.“

„Joa, Geelhaar, ick weet nich, awers jed’ een möt doch in sien ejen Goarden en Loch buddeln künn’.“

„Freilich. Aber nicht um Mitternacht. Und nicht bei solchem Wetter.“

„Na, rieden’s mi man nich rin. Un moaken Se’t good mit mi … Line, Line, segg doch ook wat.“

Und wirklich, Line trat in Folge dieser Aufforderung an den Gendarmen heran und sagte, tief aufathmend, wie wenn sie mit einer plötzlichen und mächtigen Sinnen-Erregung zu kämpfen hätte: „Laß nur, Mutter Jeschke. Herr Geelhaar wird schon wissen, was er zu thun hat. Und wir werden es auch wissen. Das versteht sich doch von selbst. Nicht wahr, Herr Geelhaar?“

Dieser nickte zutraulich und sagte mit plötzlich verändertem und wieder freundlicher werdendem Tone: „Werde schon machen, Mamsell Line. Schulze Woytasch läßt ja, Gott sei Dank, mit sich reden und Vowinkel auch. Hauptsach‘ is, daß wir den Fuchs überhaupt ins Eisen kriegen. Und is dann am Ende gleich, wann wir ihn haben und ob ihm der Balg heut oder morgen abgezogen wird.“


11.

Vierundzwanzig Stunden später kam und zwar auf die Meldung hin, die Geelhaar, gleich nach seinem Gespräche mit der Jeschke, bei der Behörde gemacht hatte – von Küstrin her ein offener Wagen, in dem, außer dem Kutscher, der Justizrath und Hradscheck saßen. Die Luft ging scharf und die Sonne blendete, weßhalb Vowinkel, um sich gegen Beides zu schützen, seinen Mantel aufgeklappt, der Kutscher aber seinen Kopf bis an Nas‘ und Ohren in den Pelzkragen hineingezogen hatte. Nur Hradscheck saß frei da, Luft und Licht, deren er seit länger als vier Wochen entbehrt hatte, begierig einsaugend. Der Wagen fuhr auf der Dammhöhe, von der aus sich das unten liegende Dorf bequem überblicken und beinah jedes einzelne Haus in aller Deutlichkeit erkennen ließ. Das da, mit dem schwarzen, theergestrichenen Gebälk, war das Schulhaus und das gelbe, mit dem gläsernen Aussichtsthurm, mußte Kunicke‘s sein. Kunicke‘s „Villa“, wie die Tschechiner es spöttisch nannten. Das niedrige, grad gegenüber aber, das war seine, das sah er an dem Birnbaum, dessen schwarzes Gezweig über die mit Schnee bedeckte Dachfläche wegragte. Vowinkel bemerkte wohl, wie Hradscheck sich unwillkürlich auf seinem Sitze hob, aber nichts von Besorgniß drückte sich in seinen Mienen und Bewegungen aus, sondern nur Freude seine Heimstätte wiederzusehen.

Im Dorfe selbst schien man der Ankunft des justizräthlichen Wagens schon entgegen gesehen zu haben. Auf dem Vorplatz der Igelschen Brett- und Schneidemühle, die man, wenn man von der Küstriner Seite her kam, als erstes Gehöft zu passiren hatte (gerade so wie das Orthsche nach der Frankfurter Seite hin), stand der alte Brett- und Schneidemüller und fegte mit einem kurzen storrigen Besen den Schnee von der obersten Bretterlage fort, anscheinend aufs Eifrigste mit dieser seiner Arbeit beschäftigt, in Wahrheit aber nur begierig, den herankommenden Hradscheck eher als irgendein Anderer im Dorf gesehen zu haben. Denn Schneidemüller Igel, oder der „Schneidigel“, wie man ihn kurzweg und in der Regel mit absichtlich undeutlicher Aussprache nannte, war ein Topfkucker. Aber so topfkuckrig er war, so stolz und hochmüthig war er auch, und so wandt‘ er sich in demselben Augenblicke, wo der Wagen an ihm vorüberfuhr, rasch wieder auf sein Haus zu, bloß um nicht grüßen zu müssen. Hier nahm er, um seine Neugier, deren er sich schämen mochte, vor Niemandem zu verrathen, Hut und Stock mit besonderer Langsamkeit vom Riegel und folgte dann dem Wagen, den er übrigens bald danach schon vor dem Hradscheckschen Hause vorfahren sah.

Frau Hradscheck war nicht da. Statt ihrer übernahm es Kunicke, den sie darum gebeten haben mochte, den Wirth und so zu sagen die Honneurs des Hauses zu machen. Er führte denn auch den Justizrath vom Flur her in den Laden und von diesem in die dahinter befindliche Weinstube, wo man einen Imbiß bereit gestellt hatte. Vowinkel nahm aber, unter vorläufiger freundlicher Ablehnung, nur ein kleines Glas Portwein und trat dann in den Garten hinaus, wo sich bereits alles, was zur Dorfobrigkeit gehörte, versammelt hatte: Schulze Woytasch, Gendarm Geelhaar, Nachtwächter Mewissen und drei bäuerliche Gerichtsmänner. Geelhaar, der, zur Feier des Tages, seinen Staats-Czako mit dem armslangen schwarzen Lampenputzer aufgesetzt hatte, ragte, mit Hilfe dieser Paradezuthaten, um fast drei Haupteslängen über den Rest aller Anwesenden hinaus. Das war der innere Zirkel. Im weitern Umkreis aber standen die, die bloß aus Neugier sich eingefunden hatten, darunter der schon stark gefrühstückte Kantorssohn und Dorfdichter, während einige 20 eben aus der Schule herangekommene Jungens mit ihren Klapp-Pantinen auf das Kegelhaus geklettert waren, um von hier aus Zeuge zu sein, was wohl bei der Sache herauskommen würde. Vorläufig indeß begnügten sie sich damit, Schneebälle zu machen, mit denen sie nach den großen und kleinen Mädchen warfen, die hinter dem Gartenzaun der alten Jeschke standen. Alles plapperte, lachte, reckte den Hals, und wäre nicht Hradscheck selbst gewesen, der, die Blicke seiner alten Freunde vermeidend, ernst und schweigend vor sich hin sah, so hätte man glauben können, es sei Kirmeß oder eine winterliche Jahrmarktsscene.

Die Gerichtsmänner flüsterten und steckten die Köpfe zusammen, während Woytasch und Geelhaar sich umsahen. Es schien noch etwas zu fehlen, was auch zutraf. Als aber bald danach der alte Todtengräber Wonnekamp mit noch zwei von seinen Leuten erschien, rückte man näher an den Birnbaum heran und begann den Schnee, der hier lag, fortzuschippen. Das ging leicht genug, bis statt des Schnees die gefrorne Erde kam, wo nun die Pickaxt aushelfen mußte. Der Frost indessen war nicht tief in die Erde gedrungen, und so konnte man den Spaten nicht nur bald wieder zur Hand nehmen, sondern kam auch rascher vorwärts als man anfangs gehofft hatte. Die herausgeworfenen Schollen und Lehmstücke wurden immer größer, je weicher der Boden wurde, bis mit einem Male der alte Todtengräber einem der Arbeiter in den Arm fiel und mit der seinem Stande zuständigen Ruhe sagte: „Nu giw mi moal; nu kümmt wat.“ Dabei nahm er ihm das Grabscheit ohne weiteres aus der Hand und fing selber an zu graben. Aber ersichtlich mit großer Vorsicht. Alles drängte vor und wollte sehn. Und siehe da, nicht lange, so war ein Todter aufgedeckt, der zu großem Theile noch in Kleiderresten steckte. Die Bewegung wuchs und aller Augen richteten sich auf Hradscheck, der, nach wie vor, vor sich hin sah und nur dann und wann einen scheuen Seitenblick in die Grube that.

[600]

Dreschmaschine auf einem Bauernhofe.
Nach dem Oelgemälde von Prof. Albert Kappis.

[601] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [602] „Nu hebben se’n,“ lief ein Gemurmel den Gartenzaun entlang, unklar lassend, ob man Hradscheck oder den Todten meine; die Jungens auf dem Kegelhäuschen aber reckten ihre Hälse noch mehr als vorher, trotzdem sie weder nah noch hoch genug standen, um irgend ’was sehn zu können.

Eine Pause trat ein. Dann nahm der Justizrath des Angeklagten Arm und sagte, während er ihn dicht an die Grube führte. „Nun, Hradscheck, was sagen Sie?“

Dieser verzog keine Miene, faltete die Hände wie zum Gebet und sagte dann fest und feierlich: „Ich sage, daß dieser Todte meine Unschuld bezeugen wird.“

Und während er so sprach, sah er zu dem alten Todtengräber hinüber, der den Blick auch verstand und, ohne weitere Fragen abzuwarten, geschäftsmäßig sagte: „Ja, der hier liegt, liegt hier schon lang. Ich denke 20 Jahre. Und der Pohlsche, der es sein soll, is noch keine zehn Wochen todt.“

Und siehe da, kaum daß diese Worte gesprochen waren, so war ihr Inhalt auch schon bewiesen und jeder schämte sich, so wenig kaltes Blut und so wenig Umsicht und Ueberlegung gehabt zu haben. In einem gewissen Entdeckungseifer waren alle wie blind gewesen und hatten unbeachtet gelassen, daß ein Schädel, um ein richtiger Schädel zu werden, auch sein Stück Zeit verlangt und daß die Todten ihre Verschiedenheiten und ihre Grade haben, gerade so gut wie die Lebendigen.

Am verlegensten war der Justizrath. Aber er sammelte sich rasch und sagte: „Todtengräber Wonnekamp hat Recht. Das ist nicht der Todte, den wir suchen. Und wenn er 20 Jahre in der Erde liegt, was ich keinen Augenblick bezweifle, so kann Hradscheck an diesem Todten keine Schuld haben. Und kann auch von einer früheren Schuld keine Rede sein. Denn Hradscheck ist erst im zehnten Jahr in diesem Dorf. Das alles ist jetzt erwiesen. Trotz alledem bleiben ein paar dunkle Punkte, worüber Aufklärung gegeben werden muß. Ich lebe der Zuversicht, daß es an dieser Aufklärung nicht fehlen wird, aber ehe sie gegeben ist, darf ich Sie, Herr Hradscheck, nicht aus der Untersuchung entlassen. Es wird sich dabei, was ich als eine weitere Hoffnung hier ausspreche, nur noch um Stunden und höchstens um Tage handeln.“

Und damit nahm er Kunicke’s Arm und ging in die Weinstube zurück, woselbst er nunmehr, in Gesellschaft von Woytasch und den Gerichtsmännern, dem für ihn servirten Frühstücke tapfer zusprach. Auch Hradscheck ward aufgefordert, sich zu setzen und einen Imbiß zu nehmen. Er lehnte jedoch ab und sagte, daß er mit seiner Mahlzeit lieber warten wolle, bis er im Küstriner Gefängniß sei.

So waren seine Worte.

Und diese Worte gefielen den Bauern ungemein. „Er will nicht an seinem eignen Tisch zu Gaste sitzen und das Brot, das er gebacken, nicht als Gnadenbrot essen. Da hat er Recht. Das möcht ich auch nicht.“

So hieß es, und so dachten die Meisten.

Aber freilich nicht alle.

Gendarm Geelhaar ging an dem Zaun entlang, über den, sammt andrem Weibervolk, auch Mutter Jeschke weggekuckt hatte. Natürlich auch Line.

Geelhaar tippte dieser mit dem Finger auf den Dutt und sagte: „Nu, Line, was macht der Zopf?“

„Meiner?“ lachte diese. „Hörens, Herr Gendarm, jetzt kommt Ihrer an die Reih’.“

„Wird so schlimm nicht werden, Lineken … Und Mutter Jeschke, was sagt die dazu?“

„Joa, wat sall se seggen? He is nu wedder ’rut. Awers he kümmt ook woll wedder ’rin.“

(Fortsetzung folgt.)

Unsere nächste Nachbarwelt.

Wer nach des Tages Lasten und Mühen seine Erholung in der freien Natur zu suchen pflegt, der wendet, wenn das Dunkel der Nacht sich über die Fluren herabsenkt, gern den Blick empor zum sternenbesäeten Himmelsgewölbe. Denn aus diesen Regionen strömt es wie ein hehrer Gottesfriede herab in das empfängliche Gemüth, und Raum und Zeit sammt dem vielgestaltigen Jammer, der nun einmal der Menschheit Erbtheil ist, scheinen dann weniger die Seele zu bedrücken. Steigt endlich die Scheibe des Mondes über den Horizont empor, so fühlt sich der Mensch leicht wie im Banne einer friedlichen Macht, und deßhalb haben zahllose Dichter den Mond verherrlicht, ja seinem milden Lichte einen besonderen Einfluß auf das Gemüth zugeschrieben. Auch die Volksanschauung behauptet die verschiedenartigsten Wirkungen des Mondes auf den Menschen wie auf die organischen Wesen überhaupt. Man kann wenigstens die Möglichkeit solcher Einflüsse nicht bestreiten, wenn man sich erinnert, daß das Nervensystem an Feinheit in vielen Beziehungen selbst die empfindlichsten Apparate, welche die Wissenschaft zur Beobachtung besitzt, weit übertrifft. Unter den „Lichtern zu erhellen die Nacht“ ist der Mond jedenfalls das augenfälligste und seine wechselnden Gestalten haben sicherlich schon in den frühesten Zeiten der Menschheit die allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Die Wissenschaft hat später nachgewiesen, daß dieser merkwürdige Begleiter der Erde auch der uns bei Weitem am nächsten befindliche Himmelskörper ist, indem er nur 30 Erddurchmesser von uns entfernt seine Bahn beschreibt.

So erscheint der Mond recht eigentlich als unsere Nachbarwelt. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet kann man auch erwarten, daß diese Nachbarerde unseren eigenen Planeten mehr oder weniger beeinflußt, ja man wird geneigt, dabei an recht bedeutende Einwirkungen zu denken. Die Volksmeinung spricht sich bekanntlich mit seltener Uebereinstimmung dahin aus, daß der Mond vor Allem das Wetter auf unserer Erde beherrsche, besonders soll die feine, nach dem Neumonde erscheinende Sichel fast immer eine Witterungsänderung bedingen. Weßhalb dies der Fall ist, weiß freilich Niemand von Denen, die daran glauben, und wenn dem Astronomen oder Meteorologen diese Frage gestellt würde, so könnte er nur wie Plutarch bei einer gewissen Gelegenheit antworten: „Ganz einfach deßhalb, weil die Sache vielleicht gar nicht wahr ist.“ Sie ist in der That nicht wahr; denn die neuesten Untersuchungen haben mit einer Gewißheit, die gar keinem Zweifel Raum läßt, gezeigt, daß ein Einfluß des Mondes auf das Wetter, wie es der populären Meinung nach bestehen soll, durchaus nicht existirt.

Hat aber der Mond auch keine wahrnehmbare Einwirkung auf das Wetter, so übt er doch einen gewaltigen und regelmäßig wiederkehrenden Einfluß auf das Wasser unserer Weltmeere aus. Ebbe und Fluth sind hauptsächliche Wirkungen des Mondes und von so ungeheurer mechanischer Kraft, daß ein verschwindend geringer Theil derselben ausreichen wird, um dereinst, wenn unsere Kohlenvorräthe erschöpft sein werden, die ganze Menschheit mit Wärme zu versorgen. Heute ist es Arbeit der Sonne, alte, in den Pflanzen niedergelegte Sonnenwärme, die unsere Oefen heizt, die unsere Maschinen treibt und unsere Wohnungen bei Nacht erleuchtet; in einer Zeit, die früher oder später ebenso gewiß kommen muß, wie die Sonne morgen im Osten aufgeht, wird es die Anziehungskraft des Mondes sein, welche den Tausendcentner-Hammer hebt oder den eisengepanzerten Riesendampfer durch Sturm und Wogen zwingt. Schon heute ist diese flutherzeugende Kraft des Mondes gelegentlich als billiger und ausreichend starker Lastträger benutzt worden, wo es galt, Gewichtsmassen zu bewegen, denen keine andere Kraft gewachsen war. Ein 460 Meter breiter Meeresarm trennt die Insel Anglesea von der Küste von Wales. Diesen Meeresarm überbrückt seit einem drittel Jahrhundert ein ungeheures eisernes Rohr und bietet in seinem Inneren den schwersten Eisenbahnzügen eine sichere Fahrbahn über die grausenvolle Tiefe der See. Keine andere Kraft hat die ungeheuren Rohre dieser Riesenbrücke zwischen die Pfeiler getragen, als die flutherzeugende Kraft des Mondes! Daran wurde der geniale Erbauer der Brücke, Robert Stephenson, einst selbst erinnert, als er im Kreise von Angehörigen und Gästen den Vorgang bei Aufrichtung der Brücke schilderte. Max Maria von Weber war Ohrenzeuge der Erzählung, und es ist von eigenthümlichem Interesse, seinen Bericht zu vernehmen.[1]

[603] „Ich war,“ so läßt er Stephenson erzählen, „am Morgen, der um 10 Uhr den Eintritt der verhängnißvollen Fluth bringen sollte, schon vor Tagesanbruch am Ufer. Es war stürmisch und ich hörte die hohe Brandung durch die Nacht brausen. Weithin brannten auf beiden Ufern die Wachtfeuer und Fackeln, bei denen die Nacht über gearbeitet wurde. Mir lag es schwer auf der Seele – der Augenblick kam, wo die Fluth eintrat. Ich stand auf der zuerst zu flößenden Röhre, die seit Jahr und Tag, seitdem die Arbeit an ihr begonnen wurde, bergfest auf ihren Werklagern ruhte, volle zwei Millionen Pfund schwer. Todtenstille auf beiden Ufern mit ihren Hunderten von Arbeitern, die, Hand am Griff, vor ihren Ankerwinden standen, mit Tausenden zugeströmter Zuschauer. Ich sah Fairbairn wie einen Punkt am Anglesea-Ufer auf seinem Gerüst stehen; unter mir, an der Hauptwinde des Walesufers, stand Brunel, die klugen Augen nach mir heraufgerichtet – Alle todtenstill – nur die steigende Fluth brodelte um die Pontons, in deren gewaltigem Zimmerwerk und Rippen es knackte, knarrte und polterte, je mächtiger das Wasser sie gegen die große Last, die sie heben sollten, preßte.

Endlich wurde auch das Prasseln still – sie mußten ihre volle Last haben – ich sah nach der Uhr und den Wassermassen – die Fluth war fast auf ihrer Höhe – die Eisenmasse rührte sich nicht – mir stand das Herz fast still – da plötzlich fühlte ich, wie es wie ein Zittern durch die kolossalen Röhren unter meinen Füßen lief – der eiserne feste Boden wich – und im selben Momente sah ich, wie die Gerüste sich gegen uns verschoben. Die Arbeitsmannschaften brachen unaufhaltsam in unermeßliche Jubelrufe aus, die aus tausend Kehlen weit und breit an den Ufern widerhallten. – Die ungeheuere Röhre schwamm! Rasch packte die Fluth die Pontons – ich gab meine Signale. Meine Mitarbeiter folgten dem Winke meiner Hand! Die Fluth spritzte von den angestrafften Tauen und Ketten thurmhoch empor, oder brodelte über die erschlafft ins Wasser sinkenden mit einer Präcision, als belebe ein einziger Wille die Hunderte von Männern hüben und drüben.“

Als der Meister nach dieser Erzählung schwieg, fragte plötzlich einer der anwesenden Gäste: „Aber haben Sie sich denn auch bei dem Hauptmitarbeiter bedankt, ohne dessen Hilfe die Röhren auch heute noch im Ufersande lägen?“

„Wen meinen Sie?“ fragte Stephenson erstaunt.

„Nun, wen anders als den Mond, denn der hat doch die Röhren zwischen die Pfeiler getragen.“

„Wahrhaftig,“ antwortete der große Ingenieur lachend, „daran habe ich wirklich nicht gedacht.“

In neuerer Zeit hat man auch darauf aufmerksam gemacht, die Kraft der Fluth zur Erzeugung von Elektricität zu benutzen, die dann ihrerseits wieder in andere Kräfte umgesetzt werden könnte; wie bald sich diese Ideen verwirklichen werden, ist noch nicht abzusehen.

Wenden wir uns jetzt von den Wirkungen des Mondes zu der eigentlichen Beschaffenheit desselben, so werden wir an der Hand der Forschung sogleich in eine Welt versetzt, die von der unsrigen vielfach gänzlich verschieden ist. Unter Zuhilfenahme eines guten Fernrohrs können wir unmittelbar mit unseren Augen wahrnehmen, daß der Mond Berge und Thäler besitzt gleich unserer Erde, daß auch in jener Welt Tiefebenen und Hochländer vorhanden sind, ja die Messungen der Astronomen zeigen, daß die höchsten Gipfel der Mondberge die bedeutendsten Gebirgserhebungen auf unserer Erde an Höhe überragen.

Die vorwiegende Form der Gebirgserhebungen auf dem Monde ist indessen von derjenigen der Erde gänzlich verschieden. Dort findet man viel Tausende von Bergwällen, die cirkusartig ein vertieftes Inneres umschließen, in dessen Mittelpunkt meist ein kleines Centralgebirge sich erhebt. Diese Formationen sehen wie ungeheure Krater aus, und man hat sie wirklich für Mondvulkane gehalten. Indessen ist die Aehnlichkeit mit unsern Vulkanen nur eine außerordentlich geringe, und es ist nicht daran zu denken, daß bei diesen Mondkratern vulkanische Eruptionen stattfänden, denn wäre dies der Fall, so würden wir von der Erde aus mit Hilfe unserer Fernrohre die Dampfentwickelung und die Aschenwolken sehr gut wahrnehmen können. Statt dessen erblickt man das kreisrunde Innere jener Mondkrater, die häufig mehrere Meilen im Durchmesser haben, stets in gleicher Klarheit und von Wolken oder gar Feuerausbrüchen keine Spur. Vulkane ähnlich unserer Erde hat der Mond allerdings auch, aber man hat sie erst in neuester Zeit mit Gewißheit als solche erkannt und in einigen wenigen Fällen auch Spuren von stattgehabter Thätigkeit bei ihnen nachweisen können.

Außerordentlich merkwürdig ist, daß es auf dem Monde keine Wasserbecken, ähnlich unsern Meeren und Landseen, giebt. Diese Thatsache ist völlig sicher. Zwar erblickt man in manchen Theilen der Mondoberfläche große dunkle Flächen, die vielfach von Gebirgsmassen umgeben sind, und die früheren Mondbeobachter haben sie wirklich für Meere gehalten und als solche benannt. Mit Leichtigkeit überzeugt man sich jedoch, daß dort kein Wasser vorhanden ist, wenngleich andererseits meine nun fast 20 Jahre hindurch fortgesetzten Untersuchungen der Mondoberfläche mich zu der festen Ueberzeugung gebracht haben, daß jene dunklen Flächen höchst wahrscheinlich die Becken ehemaliger Mondmeere sind. Heute ist der freie Wasserspiegel aus ihnen verschwunden und die Ufer zeigen an manchen Stellen offenbar Anzeichen von Zerfall und Zertrümmerung. Wo ist aber das Wasser dieser Meere geblieben?

Diese Frage läßt sich zur Zeit nur durch Hypothesen beantworten, und unter diesen scheint mir die wahrscheinlichste noch diejenige zu sein, welche meint, daß die ehedem freien Wasser der Mondoberfläche im Laufe der Jahrtausende nach und nach von den Gesteinen im Innern des Mondes aufgesaugt worden sind. An manchen Stellen könnten die oberflächlichen Schichten immerhin noch eine gewisse Feuchtigkeit besitzen, ja es scheint, daß unter dem Einflusse der Sonnenwärme gewisse tiefer liegende Stellen der ehemaligen Mondmeere sich zeitweise mit einer Art Vegetation bedecken. Man darf jedoch hierbei durchaus nicht an höherstehende Pflanzen denken, sondern vielleicht nur an solche, welche unsern Flechten und Moosen verwandt sind. Darauf deutet wenigstens der grüne Schimmer und das Abdunkeln gewisser Partieen der Mondoberfläche, nachdem die Sonne längere Zeit dieselben beschienen hat. Ganz spruchreif ist die Sache noch nicht, vielmehr verdient sie genauere Untersuchung, und hierbei könnten sich auch Freunde der Himmelskunde Verdienste erwerben, falls sie sich mit Ausdauer solchen Beobachtungen unterziehen.

Wie das Wasser, so fehlt dem Monde auch eine Lufthülle, welche mit unserer irdischen Atmosphäre vergleichbar wäre. Ganz ohne Luft ist der Mond nicht, aber seine atmosphärische Umhüllung ist so fein und so wenig dicht, daß sie nicht ausreichen würde für die Bedürfnisse unserer Lungen, ja, daß sie kaum so dicht sein wird wie der sogenannte luftleere Raum, den unsere besten Luftpumpen herzustellen vermögen. Daraus folgt, daß auf dem Monde kein Laut erschallen kann, und daß für menschliche Ohren dort eine klanglose Einöde sein würde. Wie völlig anders ist also unsere Nachbarwelt eingerichtet im Vergleich zur Erde!

Aber noch mehr. Nicht nur die physische Eigenthümlichkeit der Mondoberfläche, sondern auch die Weltstellung desselben überhaupt verursacht dort Verhältnisse, die wesentlich von denjenigen unserer Erde verschieden sind. Die durchschnittliche Tagesdauer auf dem Monde beträgt 354 Stunden, der längste Tag an den Polen 179 Erdentage. Es ist einleuchtend, daß der Gipfel eines Berges früher von den Sonnenstrahlen getroffen wird, als sein Fuß; der Gipfel des Chimborazo sieht z. B. die Sonne 10 Minuten früher aufgehen, als dies für die Ebene im Meeresniveau der Fall ist. Auf dem Monde treten diese Verhältnisse viel greller hervor. Der Gipfel des Berges Huygens wird z. B. 9 Stunden früher von der Sonne beschienen als sein Fuß, und wenn man sich den Mondpolen zuwendet, nimmt diese Verlängerung des Tages für die Spitzen der Mondberge noch sehr zu, bis endlich gewisse Gipfel in der unmittelbaren Nähe dieser Pole gar keine Nacht mehr haben, sondern geradezu im ewigen Sonnenschein glänzen. Man kann diese Gipfel schon mit einem mäßigen Fernrohr von der Erde aus erkennen und ebenso deutlich verfolgen, wie die Sonne die Spitzen mancher Mondberge stundenlang vergoldet, ehe die Schatten um den Fuß derselben verschwinden. Die Nächte des Mondes werden auf der uns zugekehrten Seite während ihrer ganzen Dauer durch die Erde erleuchtet. Unser Planet erscheint einem Auge auf dem Monde als eine Scheibe von vierzehnmal größerer Fläche als uns die Mondscheibe, eben so zeigt dort die Erde Phasen wie hier der Mond, nur sind dieselben umgekehrt. Wenn wir hier erstes Mondviertel haben, so ist auf dem Monde letztes Erdviertel, haben wir Neumond, so ist auf dem Monde Vollerde etc. Für den größten Theil der uns zugewandten [604] Mondseite geht die Erde weder auf noch unter, sondern steht stets in einer und derselben Richtung am Himmel, wobei sie ihre Stellung nur langsam und wenig ändert. Die Sonnenscheibe erscheint auf dem Monde nicht merklich größer oder kleiner als auf der Erde, auch die gegenseitige Lage der Sterne ist dort dieselbe wie hier, allein die Bewegung derselben ist so langsam, daß erst in 27 Tagen ein Umschwung des Himmelsgewölbes erfolgt. Da der Mond nur eine überaus dünne Lufthülle hat, so giebt es dort keine Morgen- und Abenddämmerungen und eben so wenig ein erleuchtetes Himmelsgewölbe, Sonne, Erde und Sterne sind den ganzen Tag hindurch zugleich am Himmel sichtbar, und sobald die Sonne untergeht, tritt für die ganze Mondlandschaft augenblicklich tiefe Nacht ein, die nur durch das Erdenlicht gemildert wird. Die Temperatur der Mondoberfläche zeigt die größten Veränderungen von Hitze und strenger Kälte. Während einer Zeitdauer von 14 Erdentagen der ununterbrochenen Einwirkung der Sonnenstrahlen ausgesetzt, muß der Mondboden sich in den äquatorialen Gegenden weit über die Temperatur des siedenden Wassers erhitzen, worauf in der langen Nacht eine Abkühlung erfolgt, welche die Bodentemperatur bis zu sibirischen Kältegraden herabdrückt.

Aus dem Vorhergehenden wird ohne weiteres ersichtlich, daß die gegenwärtigen Zustände der Mondoberfläche nicht geeignet sind für lebende Wesen von der Organisation des Menschen. Es kann daher kein Zweifel darüber sein, daß Mondbewohner, die uns körperlich ähnlich sind, nicht existiren, dieser Schluß ist völlig unanfechtbar. Natürlich ist dadurch keineswegs ausgeschlossen, daß möglicher Weise lebende Wesen von anderer Organisation, die eben den dortigen Verhältnissen angepaßt ist, auf dem Monde vorhanden sein könnten. Der gegen Ende des vorigen Jahrhunderts lebende berühmte Mond-Erforscher Schröter glaubte in der That an verschiedenen Stellen der Mondoberfläche Spuren wahrgenommen zu haben, die auf Gewerbe und Kulturen vernünftiger Geschöpfe hindeuteten. „Vielleicht,“ sagt er, „ist mancher kleine, als ein flacher Berg erscheinende Gegenstand, der selbst dann, wenn ihm die Erleuchtungsgrenze sehr nahe ist, keinen deutlichen Schatten wirft, dergleichen sehr viele auf her Mondfläche vorhanden sind, sowie mancher kleine helle Flecken, woraus man nicht weiß was man machen soll, ein bebauter Wohnplatz vernünftiger Mondgeschöpfe; und vielleicht liegt eben darin und in den Gewerben, welche daselbst getrieben werden, mit die Ursache, warum mancher von dergleichen Gegenständen so oft unter völlig gleichen und ähnlichen Erleuchtungswinkeln unsichtbar ist, dann aber, wenn er sichtbar ist, bald heller, bald dunkler, bald mehr, bald weniger deutlich erscheint. Eben solche abwechselnde Phänomene würde manche volkreiche oft in Nebel gehüllte Stadt unseres Erdbodens aus dem Monde beobachtet dem Auge geben. Und so kann auch manche monatlich abwechselnde Farbenveränderung einiger sich dadurch besonders auszeichnenden größern Mondflecken eben so gut in einer nach den monatlichen Wechselzeiten sich richtenden Kultur, als in der verschiedenen Reflexion des Lichtes und in atmosphärischen abwechselnden Veränderungen ihren Grund haben.

Ueberhaupt hat der Gedanke, daß der Mond gleich unserer Erde und allen übrigen Weltkörpern von vernünftigen, seiner physischen Anordnung gemäß organisirten Geschöpfen bewohnt wird, für einen Beobachter des Himmels viel Anziehendes. Kästner sagt über die vorzügliche Lage unserer Erde im Weltgebäude: ‚Nur wir können von den Bewegungen und Eigenschaften der Weltkörper Wahrheiten festsetzen. Hätte der Schöpfer nicht haben wollen, daß wir dieses thun sollten, er hätte uns kein so bequemes Observatorium gegeben.‘“ Man kann dieser Ansicht beipflichten oder nicht, jedenfalls sind diejenigen kleinen Fleckchen auf dem Monde, die Schröter als Produkte der Thätigkeit von Mondbewohnern ansah, lediglich Erzeugnisse der Natur. Ich habe sie sämmtlich mit weit besseren optischen Hilfsmitteln, als Schröter besaß, untersucht und sie zweifellos theils als kleine Krater, theils auch als Gruppen von Hügeln erkannt, die durch vulkanische Kräfte oder vielleicht durch Verwitterung ihr gegenwärtiges Aussehen erlangten. Nach Schröter war es, im ersten Drittel unseres Jahrhunderts, besonders Gruithuisen in München, der eifrig nach Spuren von organischen Wesen auf dem Monde suchte. Er glaubte auch eine Art von Festungswerk entdeckt zu haben in einem System von radial verlaufenden Wällen, die von anderen durchschnitten werden. Dieses Gebilde auf dem Monde hat allerdings ein eigenthümliches Aussehen, und Mancher, dem ich es am Fernrohr meines Observatoriums zeigte, war davon überrascht. Allein es handelt sich, wie die genauere Untersuchung darthut, doch nur um eine Naturformation, denn die Wälle sind viele Meilen lang, die Thäler, welche sie zwischen sich fassen, könnten jedes bequem eine Stadt wie Paris fassen, und endlich zeigen sich dazwischen hier und da zerstreut kleine Kraterkegel mit unregelmäßigen Felswänden, kurz alles ähnlich, wie man es auch an anderen Stellen des Mondes findet. Gruithuisen hat auch auf gewisse schmale Furchen hingewiesen, die in manchen besonders flachen Gegenden des Mondes gesehen werden können. Er hielt dieselben theils für die Betten ehemaliger Mondflüsse, theils für eine Art von künstlich erzeugten Hohlwegen. Diese Furchen, von den Mondbeobachtern „Rillen“ genannt, sind in der That überaus merkwürdige Bildungen. Man kann sie meist nur an mächtigen Ferngläsern gut sehen, und auch dann gehört eine große Virtuosität im Sehen dazu, um etwas Genaues an ihnen zu erkennen.

Die größten und leicht sichtbaren sind meines Erachtens nichts Anderes als Risse des Mondbodens, die durch vulkanische Eruptionen und Bodenstöße entstanden sein mögen. Man findet bisweilen, daß diese größeren Rillen durch einen kleinen Krater ziehen und dessen Wall gesprengt haben, auch größere Krater werden bisweilen von ihnen durchsetzt: ein Beweis, daß diese Krater schon vorhanden waren, als die Rille sich bildete. Gewisse kleine Furchen, von vielleicht 500 bis 1000 Fuß Breite, mögen die Betten ehemaliger Mondflüsse sein, die heute ausgetrocknet sind und nur ihre zerfallenen Ufer unsern Ferngläsern zeigen. Diese Rillen können, weil sie flach und anscheinend stark verwittert sind, nur unter sehr günstigen Verhältnissen gesehen werden, und die früheren Beobachter haben sie nicht gekannt, nur Gruithuisen hat einige davon wahrgenommen. Bisweilen zeigen nun solche Rillen da, wo sie einander am nächsten sind, eine flache und sehr schmale Querrille, die kanalartig beide mit einander verbindet. Ich muß gestehen, daß diese Furchen, welche zwei größere Rillen mit einander auf dem kürzesten Wege verbinden, mich bisweilen frappirt haben, und von allen Formationen der Mondoberfläche, die ich kenne, möchte ich höchstens nur bei diesen Verbindungskanälen die Möglichkeit eines künstlichen Ursprungs nicht völlig für absurd halten. Um Mißdeutungen zu vermeiden, füge ich jedoch ausdrücklich hinzu, daß ich einen solchen künstlichen Ursprung deßhalb durchaus nicht behaupte!

Je länger man sich mit der Untersuchung des Mondes beschäftigt, um so vorsichtiger wird man in seinen Schlüssen; auch ist ein wirklicher Fortschritt unserer Erkenntniß nur zu erringen, wenn man stets bedacht ist, Sicheres und Ungewisses streng zu scheiden. Wenn ich hier aussprechen soll, was sich mir nach vieljährigem Studium der Mondoberfläche, bezüglich lebender Wesen auf derselben, mehr und mehr als höchst wahrscheinlich aufgedrängt hat, so muß ich sagen, daß meiner Meinung nach die Epoche, in welcher der Mond von denkenden Wesen bewohnt wurde, längst hinter der Gegenwart liegt. In einer sehr entlegenen Zeit, als an der Oberfläche unserer Nachbarwelt noch freie Meere vorhanden waren, als vielleicht auch seine Atmosphäre eine größere Dichtigkeit besaß als heute, in einer Epoche, als unsere Erde noch nicht den Eindruck eines menschlichen Fußes empfangen hatte, da mag der Mond die Heimath intelligenter Geschöpfe gewesen sein. Dieselben starben aber nach und nach aus, als im Laufe zahlloser Jahrtausende die Mondoberfläche ihr freies Wasser und den größten Theil ihrer Atmosphäre verlor. Haben nun jene Wesen Produkte ihrer Thätigkeit hinterlassen, so können wir höchstens hoffen, dieselben theilweise noch in ruinenhaftem Zustande vorzufinden, falls unsere Teleskope bis dahin vordringen und es uns gelingt, das Wahrgenommene richtig zu deuten. Diese Ansicht, welche ich mit aller Reserve gebe, die der Gegenstand naturgemäß erheischt, scheint mir jedenfalls wissenschaftlich gerechtfertigter, als die Meinung, welche den Mond heute zur Wohnstätte eines hoch civilisirten Volkes macht, das sich möglicher Weise mit uns einmal durch optische Signale in Korrespondenz setzen könnte. Was aber immer die Wissenschaft bezüglich der etwaigen Mondbewohner dereinst ermitteln mag, stets werden die Ergebnisse Streiflichter auf die Zukunft unseres eigenen Seins werfen. Denn zuletzt durchforschen wir die Himmel wie das Dunkel der Erde nur, um etwas Aufklärung zu finden über das große Räthsel unseres eigenen Daseins. Dr. Klein.     

[605]

Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten.

Die kleine Inselwelt der deutschen Nordseeküste hat im Laufe der letzten Jahrzehnte die ihr gebührende Beachtung gefunden. Die Heilwirkung der herrlichen Seeluft und der schäumenden Seebäder ist in weiten Kreisen bekannt geworden, und die Zahl derer, welche die Nordsee-Inseln alljährlich während der Sommer- und Herbstmonate aufsuchen, um dort Gesundheit, neue Kraft und neuen Lebensmuth zu finden, ist in fortgesetztem Steigen begriffen. Auch kranke oder schwächliche Kinder bilden darunter einen nicht geringen Procentsatz, seitdem es festgestellt wurde, daß der gute Einfluß der Seebäder namentlich bei skrophulösen Kindern geradezu ein erstaunlicher zu sein pflegt. Leider konnten bis jetzt nur die Bemittelten ihre Kinder an die See schicken, während die ärmeren Klassen, in denen die Skrophulose am meisten verbreitet ist, auf eine solche Kur verzichten mußten. Noch heute müssen viele Eltern, die ihr krankes Kind vielleicht durch eine sechswöchentliche Kur an der See erhalten und dauernd gesund machen könnten, dasselbe dahinwelken sehen, weil ihnen die Mittel fehlen, den kleinen Kranken und den nöthigen Wärter im theuren Bade zu erhalten.

Seehospiz auf Norderney.
Nach einer Skizze von Ewald Drescher.

Es ist nun das eigenste und große Verdienst des für die Wissenschaft leider viel zu früh verstorbenen Professors Dr. Beneke, ein Institut ins Leben gerufen zu haben, welches diesem Uebel so viel wie möglich Abhilfe schaffen will. Am 3. April 1881 gründete Beneke zu Berlin den „Verein für Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten“ [2], welcher in kurzer Zeit in ganz Deutschland bekannt wurde und eine bedeutende Mitgliederzahl erlangte. Der Zweck dieses Vereins ist die Errichtung von Heilstätten an den deutschen Seeküsten, in denen schwachen und kranken Kindern gegen Zahlung eines geringen Verpfleggeldes, unter Umständen auch umsonst, Wohnung, Beköstigung, erziehliche Obhut und Leitung, sowie ärztliche Behandlung gewährt werden soll. Der Verein erbaute darum Heilstätten oder Hospitäler in Wyk auf Föhr, in Zoppot bei Danzig und auf Norderney, welche letztere Anstalt die beiden erstgenannten an Umfang und Bedeutung weit übertrifft.

Nach den Plänen und Kostenanschlagen, mit deren Anfertigung der Regierungsbaumeister Nienburg aus Oldenburg betraut wurde, stellte sich die Bausumme für das Norderneyer Seehospiz auf eine halbe Million Mark. Eine so bedeutende Summe konnte der Verein in kurzer Zeit nicht aufbringen, und der Bau hätte vorläufig unterbleiben oder doch bedeutend eingeschränkt werden müssen, wenn es nicht dem damaligen Vorsitzenden, dem Professor Dr. Beneke, gelungen wäre, unseren Kaiser für die Sache des Vereins zu gewinnen. In anderen Staaten, besonders in England, Frankreich und Italien hat man schon seit längerer Zeit die eminente Heilkraft der See bei so vielen Krankheiten der Menschen erkannt und Anstalten gegründet, welche ähnlichen Zwecken dienen, wie die Heilstätten an den deutschen Seeküsten, und welche auf große Erfolge zurückblicken können. Die Erwägung dieses Umstandes mag mit dazu beigetragen haben, daß dem Verein aus dem kaiserlichen Dispositionsfonds die Hälfte der Bausumme unter der Bedingung zugesichert wurde, daß die andere Hälfte bis Ende des Jahres von der deutschen Nation aufgebracht würde.

Inzwischen hatte unser stets zu thatkräftiger Hilfe bereites kronprinzliches Paar das Protektorat des Vereins übernommen, und unter dem Schutze desselben wurde eine Lotterie veranstaltet, welche dem Verein eine bedeutende Summe einbrachte. Schenkungen von Privatpersonen, welche sich für die Sache besonders interessirten, kamen hinzu; so spendete unter Anderem ein unbekannt gebliebener Deutschamerikaner allein die Summe von 100000 Mark, und am Schlusse des Jahres 1883 konnte der Verein über mehr als 600000 Mark verfügen. Die Bausumme für das Seehospiz auf Norderney war also aufgebracht, und man zögerte nun nicht mehr, an die Ausführung zu gehen.

Heute steht das umfangreiche Institut bis auf den inneren Ausbau fertig da und wird voraussichtlich zum Schluß der diesjährigen Bauperiode vollendet sein.

Die aus 12 größeren Gebäuden bestehende Anstalt liegt in einem Thalkessel, geschützt durch hohe Dünenketten gegen die rauhen Winde, in geringer Entfernung vom Inseldorfe und doch nahe am Badestrand. Sie bietet Raum für 400 kranke Kinder und entspricht in ihrer praktischen Einrichtung allen den Anforderungen, welche die medicinische Wissenschaft an ähnliche Institute stellen muß.

Nach dem Tode des Professors Dr. Beneke, welcher sich in dem Seehospiz auf Norderney ein bleibendes Denkmal gesetzt hat, in welchem sein Streben und Wirken für die leidende Menschheit den schönsten Ausdruck gefunden, übernahm der hanseatische Gesandte zu Berlin, der Ministerresident Dr. Krüger, die Leitung des Vereins und setzte das angefangene Werk thatkräftigst fort. Unter dem Vorsitze desselben wird der Verein für Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten bald die Norderneyer Anstalt der öffentlichen Benutzung übergeben können und als dirigirender Arzt ist der durch seine Wirksamkeit an dem Luftkurorte Lippspringe in weiten Kreisen bekannt gewordene Dr. Rohden in Aussicht genommen. Die Zeit der Kämpfe hat jedoch für dieses gemeinnützige Institut ihr Ende noch nicht erreicht. Es müssen noch Mittel für den Betrieb und namentlich für Schaffung von Freistellen gesammelt werden. Hoffen wir, daß die werkthätige Hilfe des deutschen Volkes auch künftighin der edlen Stiftung nicht versagt bleibe! D.     


  1. Eine ausführliche Wiedergabe dieses Gespräches findet der Leser in den höchst interessanten Artikeln, die M. M. v. Weber unter dem Gesammttitel „Im Hause Robert Stephenson’s“ im Jahrg. 1868 der „Gartenlaube“ veröffentlicht hat.
  2. Vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1882, Nr. 8, S. 127.

[606]

Unruhige Gäste.

Ein Roman aus der Gesellschaft.
Von Wilhelm Raabe.
(Fortsetzung.)


Der Abend war gekommen über Gebirge und Thal. Auch diesmal unhold – kalt und windig; ein Abend, an dem man überall gern am Herde, am Familientische oder in der Schenke zusammenrücken durfte.

Drunten im Thale, im gemüthlichen Honoratiorenzimmer von Bremer’s Hofe sagte Doktor Eberhard Hanff, die lange Pfeife von Neuem in Brand setzend:

„Meine Herren, da kommen Sie eben wieder auf das, was Sie meine Beguinengeschichte nennen, die ganz hauptsächliche Historie von meinem armen kleinen Mädchen aus Halah und meinem merkwürdigen Baron, meinem Hauptpatienten der Saison. Und da möchte ich mir jetzt eine letzte – eine allerletzte Bemerkung gestatten. Nämlich Sie wissen, ich bin kein Kostverächter; ich halte ganz gern mit bei guten und schlechten Witzen und Schnurren, kein urältester Meidinger thut mir was an, ich wirke gern selber fröhlich mit dem alten Klassiker, wenn’s nicht anders sein kann, nach besten Kräften zur Auffrischung der Unterhaltung; aber – was das eben wieder aufs Tapet gebrachte Thema betrifft, bitte, so lassen Sie mich dabei aus der Konversation. Begutachten Sie das Ding, wie Sie wollen, reden Sie, was Sie wollen, aber lassen Sie mich einfach bloß zuhören. Kinder, unser Herrgott ist uns so gnädig gewesen in Zuführung von kostbarstem Unterhaltungsstoff fürs Winterhalbjahr; wie wär’s nun, wenn wir in Hinsicht auf diesen einzigen Punkt seine Güte ’mal nicht mißbrauchten? Es ist ja richtig; anlockend ist die Geschichte auch für uns hier bei Bremer; aber was meinen Sie zu dem Vorschlage, dieselbige diesmal gänzlich unseren Weibern zu überlassen und uns selber meinetwegen lieber an alles Andere zu halten? Doch, wie gesagt, thun Sie, was Sie wollen laut Paragraph Neunhundertneunundneunzig unserer ungedruckten Statuten: Zwang is nich! Sagen und singen Sie, ventiliren Sie, wenn Sie’s nicht lassen können; doch den Doktor Hanff lassen Sie gütigst diesmal als Berufungsinstanz aus dem Spiel. Diesen Kreisel treibe ich nicht mit. Warum? Darum! Dixi!“

Wir brauchen wohl nicht mitzutheilen, was der winterliche Stammgastkreis bei Bier und Tabak in Bremer’s Hofe hierzu meinte. Nur das wollen wir noch sagen, daß Alle, die weibliche Angehörige hatten, mit denen die Sache noch einmal durchsprachen, und zwar gründlicher als je vorher. Ob freilich die Sommergeschichte von Phöbe Hahnemeyer und ihrem „Baron“ und der schönen Valerie des Professors von Bielow dadurch mehr ins Klare gebracht wurde, müssen wir dahin gestellt sein lassen. Derartiges soll ja immer gut aufgehoben sein in den Herzen und Händen der Frauen, und das ist wenigstens eine Beruhigung. –

Ein ander Gewölk, ein anderer Erdendunst umfängt uns ein wenig weiter oben, im Kruge des Bergdorfes, an dem Tische, an welchem um dieselbe Abendstunde der Räkel das Wort nahm, nachdem der Vorsteher es vor ihm gehabt hatte.

„Sakerment, so schweigen Sie doch endlich mal still mit Ihrer ewigen Anspielung auf meine besseren Zustände, meine – Herren! Wie oft soll ich’s denn noch der Kameradschaft breittreten, daß sie wahrhaftig nicht schuld dran ist, wenn Unsereiner auch noch mal an den Tisch rücken kann in der honorigen Gesellschaft und Trumpf aufspielen? Na, daran rührt lieber gar nicht, Freundschaft, wenn es bei einem fernerweitigen guten Auskommen mit ’nander bleiben soll! … Hier, auf ihr Wohlsein! ich meine das liebe Fräulein aus dem Pastorhause. Wäre die nicht bei meiner Wuth und Tollheit, nach meiner Alten jammerhaftem Eingehen im Busch, so vernünftig und nachgiebig gegen den Herrn Professor, den Herrn Baron gewesen, so läge ich für Euch, Gevattern, wohl heute noch lange gut im Walde mit meinen Bälgern. Ihr hättet uns sicher nicht aus der Wildniß ins Dorf hereingeholt und freiwillig ’nem ordentlichen Kerl nach seinem Verdienst seine Ehre gegeben. Das Dach, das Futter, das Leben, das Ihr dem Volkmar Fuchs und seinen Angehörigen gönntet, das war was Rares; aber Ihr selber mochtet es freilich nicht geschenkt! Na, aber wie gesagt, darum keine Feindschaft mehr, denn wer die Menschheit in dieser Hinsicht kennt, der kennt sie. Wer in die Welt hinaus gewesen ist, weiß, wie es in ihr zugeht, und läßt nachher der angenehmen Unterhaltung wegen schon Fünfe gerade sein, wenn er wieder obenauf gekommen ist. Noblesse bleibt Noblesse, sagte mein Herr Graf, und Lümmel bleibt Lümmel, und Unsereiner bleibt Unsereiner, sage ich. Prost! Jawohl – Prost auf die Weibsleute, Gevatterschaft! denn wer anders als die Weiber haben dem Räkel wieder zu seiner Aestimation unter der Menschheit verholfen? Legt die Eine sich hin und wird von Euch aus dem Dorfe geschmissen, und stirbt ihm ab in der Wildniß, so kommt die Andere heraus und will sich zu ihr betten in ihrem Gottesherzen, pure um so ’nen räudigen Lumpen wie den Fuchs nicht länger lästern zu hören und in seinem Gift und verrückten, tollen Sinn zu lassen. Und die Dritte, na die Dritte, ja die Dritte, die Vornehmste, die reitet gar auf Visite zu dem Räkel unter den Windbruchhölzern und tunkt ihre Semmel zu Mittage in seine Igelsuppe auf Du und Du, bloß weil sie drunten im Bad von seinen Meriten und seinem Elend vernommen hatte. Gott segne es ihr vor allen, was sie und der Herr Baron, der Herr Professor durch ihre Konnexion am Volkmar Fuchs – dem Räkel vollbracht haben, nachdem sie in genauere Erfahrung gebracht hatten, wie sauber ihm mitgespielt worden war.“

„Das war eben der Glücksfall für Dich, Forstwart!“ meinte die Dorfkruggenossenschaft im Kreise. „Deiner Suppe wegen allein ist sie wohl nicht zu Dir im Windbruch gekommen, aber bedanken kannst Du Dich dafür, da hast Du Recht.“

„Die Frau Professorin soll leben, die Frau Baronin von Bielow soll leben, und wer da nicht mithält, der ist ein ungebildeter Mensch und socialer Lump und Hallunke. Warum? Darum! Das sage ich !“ rief der Räkel, auf den Tisch schlagend, daß alle Bier- und Branntweingläser aufhüpften.

Sie hielten auch Alle mit, bis auf Einen, den Meister Spörenwagen, der diesmal ausnahmsweise auch mit unter der Gesellschaft saß, da er in der Dämmerung der Krugwirthin eine neue Wiege ins Haus geschafft hatte. Der griff in seinem Winkel hinter sich an die Wand und langte seine Mütze vom Nagel und sagte: „Guten Abend, meine Herren!“ und ging. Er wußte, trotzdem daß er nicht auf Schulen und Universitäten gewesen war, wie der Landphysikus und Bade-Arzt Doktor Eberhard Hanff, doch vielleicht noch mehr von Welt und Leben, und wußte genauer als der, daß es selten etwas hilft, darin zum Rechten zu rathen und zu reden. Man kann sämmtliche Knochen, Adern und Muskeln im menschlichen Körper, und zwar bis ins Einzelnste, ganz genau kennen und doch der Kreatur im Ganzen gegenüber recht häufig mit wenig Nutzen seinen Athem und seine Ueberzeugungsgabe vergeuden. Wie sie drunten im Thal, in Bremer’s Hofe nach des Doktors Abgang über Gott und Welt, das Universum und noch Einiges jenseit desselben die Unterhaltung weiter führten, so diskurirten sie auch oben in dem Gebirge, in der Dorfkneipe weiter, nachdem Spörenwagen seinen Abschied genommen hatte, ohne der Gesellschaft vorher eine Rede gehalten zu haben.

„Was hatte denn Der wieder?“ fragte man im Kreise, und der Forstwart Fuchs brummte verdrossen:

„Laßt ihn ja laufen; die Kumpanei, in der Der sein Pläsirvergnügen finden wird, die soll noch lange gesucht werden. Wir Zwei sind ja jetzt wenigstens in Güte aus einander, und das ist ein Trost – Sakerment. Aber das will ein Demokrate sein und ein Philosophe, so Einer, dem Alles zu einem Knorren vor seinem Hobel wird! Lieber noch mit unserem Pastor in einem Bett, als mit dem an einem Tisch oder gar noch hinter einem Glase und einem Mädchen. Mit dem Pastor weiß man doch wenigstens, wie man mit ihm dran ist; aber wenn mir von diesem Heimtücker Spörenwagen Einer sagt: Fuchs, den kenne ich genau, es ist mein bester Freund! so sage ich: Kamerad, rücke ’nen Stuhl weiter und laß ’nen Andern zwischen uns sitzen; wir Beide passen nicht nahe zusammen. Was wollten Sie sagen, Schulmeister? Sie haben das Wort.“

„Ich wollte mir nur eine Bemerkung gestatten, nämlich in Anbetracht der Philosophie, meine Herren. Das hat wohl seine Berechtigung; denn Bildung ist freilich die Hauptsache in der [607] Welt und im menschlichen Dasein. Bildung hat die Schlacht bei Königgrätz und bei Sedan gewonnen; aber sie muß auch an den Rechten gerathen, der sie mit Maß weiter mittheilt. Zum Exempel, wenn so Einer – Namen brauche ich ja nicht zu nennen – so in seinen jungen Jahren über seinen angeborenen Kreis hinausgekommen ist mit seinem Handwerk, wenn er so zum Beispiel sich von meiner Schulbank weg die Sohlen meinetwegen unter ein paar fremden Nationen abgelaufen hat – was bringt er dann nach Hause? Ueberhebung und nichts weiter. Wenn da nun der Staat einschreiten könnte und immer die Richtigen auswählen wollte und sie mit Stipendien versehen –“

„So zum Exempel zuerst vor Allen die Schullehrer! Ja, das möchtet Ihr wohl, Schulmeister,“ meinte das Dorf.

„Ich nicht, meine Herren. Ich gehöre ja noch zum alten Stil und weiß, daß man in meinen Jahren über seinen angestammten Wirkungskreis hinaus zu wenig nütze ist, und habe auch schon übergenug an meinem Kopfschütteln den Sommer durch an der Fremde drunten im Bad; aber unsere Stimme sollten wir dabei haben. Zum Beispiel, Euch Beide kenne ich doch ganz genau, Volkmar – Sie und Spörenwagen. Und da soll mir doch Keiner kommen und rathen wollen, wem ich meine Stimme zur höhern Ausbildung und zum Nutzen hätte zutheilen sollen. Nach bestem Wissen und Gewissen hätte ich auch schon ohne guten Rath gewußt, wem ich hätte wünschen müssen, daß er sich die Hörner zur richtigen Stunde abgelaufen hätte. Was meinen Sie zu meiner Ansicht, Vorsteher?“

„Daß das so eine Sache ist, und daß man nach meinem Erachten am besten thut, wenn man denkt, es ist Vorn so wie Hinten – Menschen sind wir Alle. Meines Amtes ist es, auf Ordnung im Dorfe zu halten, und da muß ich wohl sagen, da weiß ich noch heute nicht recht, mit wem ich am liebsten zu kramen habe; mit dem Räkel, ich meine da den Volkmar, wie er war, oder Spörenwagen, wie er ist. Ihr Andern Alle könnt Euch nur bedanken, daß wir von Obrigkeitswegen noch immer fürs Erste da sind und darauf sehen, daß keiner von den Zweien gleich seinen Willen kriegt: der Eine mit seiner Wüthenhaftigkeit und seinem Knüppel, der Andere mit seinem Verkehr ins Stille und seinem politischen großen Hobel, mit dem er aus seinen Büchern her die Welt glatt machen möchte. Habe ich Recht, oder habe ich Unrecht, Gevatterschaft?“

Wer sich zu den „besten“ Männern im Dorfe zählen durfte, stimmte zu; die Andern hielten das Maul und thaten bei der gegenwärtigen Stimmung in der Gesellschaft wohl daran. Auch sagte Einer von den Letztern vom untern Ende des Tisches her:

„Kurios ist’s aber, wie sich das gerade so zusammengefunden hat als Vögel aus einem Neste; Spörenwagen und unseres Pastoren Schwester. Auf das Fräulein wird doch keiner Schlimmes hinreden, und es sind keine zwei bessern Freunde im Dorfe, als Fräulein Phöbe und Spörenwagen; obgleich der Schulmeister sagt: der ist ein Gottesleugner und glaubt weder an eine Auferstehung noch eine Vergeltung; und der Vorsteher: der will ganz in der Stille Alles über’n Haufen schmeißen, und der Rä – da, der Volkmar Fuchs in seiner schlimmsten Wuth auf der Vierlingswiese ist nur ein saugend Kind gegen ihn.“

„Hierüber ließe sich freilich Manches reden,“ sprach der Schulmeister, bedächtig den Kopf schüttelnd. „Das ist die Sache, worüber sich die größten Gelehrten in der Welt noch nicht klar sind. Und hier wiederum läßt sich auch eigentlich gar nicht darüber reden. Hierüber kann Jedwedeiner sich auch nur ganz in der Stille seine Gedanken machen; gerade so wie über die andere Kuriosität auf unserm Gottesacker –“

„Wo unser Fräulein bei Gesundheit und jungen Kräften und Jahren sich ihre Stelle bei der Fee käuflich erworben und von Euch hat schriftlich geben lassen, Kantor.“

„Sie nicht, wohl aber der Herr Professor von Bielow; und dieses wäre denn zum Andern eine Art von Kameradschaft, von der Vieles zu reden wäre, über die man aber auch seine Meinung am besten bei sich behält.“

„Ja, ja, man soll auch auf der Pläsirreise seinen Spaß nicht zu weit treiben; obgleich wir damals dem Herrn Baron von Gemeindewegen dankbar genug für seinen guten Einfall sein konnten, Fuchs,“ meinte der Vorsteher.

„Ein Spaß für mich war’s gerade nicht!“ brummte der Forstwart.

„Das will ich auch nicht gesagt haben, Rä – Volkmar; aber über den Fall muß man eben die Leute drunten im Bad reden hören. Na, Todtengräber, und auch die Frau Professorin, die Frau Baronin, die Ihr ja auf unserm Kirchhof hinterm Busch vernahmet, als sie unserm Fräulein Phöbe ihre Meinung sagte. Nun, ja, sie bauen ja wohl auch im nächsten Frühjahr eine passende Unterkunft dafür, wenn wieder ’mal für Einen von der feineren Sorte Menschheit aus dem Spaß ein bitterer Ernst werden sollte. Ja, ja, Forstwart Fuchs, das hättet Ihr Euch in Euerem verrückten Sinn, als Ihr noch der Räkel waret, nicht träumen lassen, was Ihr an Unheil anrichtetet, weil Ihr nicht einfach Vernunft annehmen wolltet! Nun höre aber ’mal Einer den Wind! Ist das nicht als ob der Hackelberg große Hofjagd hielte? das ist auch Schnee am Fensterladen, nicht wahr, Krüger? Eh ja, wenn Jeder meint, er brauche nur fein oder grob seinen Mund aufzusperren, um seinen Willen zu kriegen, weßhalb sollte es der Winter nicht auch thun? Ein Glück ist’s nur, daß wir schon von unseren Vorfahren hier her wissen, was es damit auf sich hat. Die haben es uns von Urzeiten an hinterlassen, Freundschaft: Jeder für seine Kellerlöcher, und unser Herrgott fürs Ganze!“


21.

Wir haben in dieser stürmischen Winternacht von zwei Briefen zu berichten, die im Laufe des Tages in dem Pfarrhaus des Pastor Prudens Hahnemeyer abgegeben waren; der eine in Begleitung einer Kiste und mit ausländischen Poststempeln und sonstigen Signaturen, der andere ganz aus der Nähe und überschrieben und gesiegelt in einer Weise, der man es ansah, daß Absender oder vielmehr Absenderin in dergleichen Dingen nicht die geschickteste Hand hatte.

Den ersten hat der Pastor Prudens auf seinem Schreibtisch liegen, er kam erst gestern Abend an. Der andere, der nur an Fräulein Phöbe Hahnemeyer allein adressirt war, ist schon am Morgen angelangt, und Fräulein Dorette Kristeller hat ihn geschrieben und er lautet:

„Mein Herzenskind, vielleicht weist Du es besser als wie ich selbst und Du kannst es mir sagen warum ich gerade heute an Dich schreiben muß! Denn es ist als ob ich nichts dazu könte, und eine Gewald mir die Feder in die Hand gäbe und mir die Feder führete. Nämlich mein Herzenskind es ist mir an den unfreundlichen Tag bei den Regen und Sturm gerade aus Deiner Gegend als passirte Dir was, wobei ich bei sein müßte zu meinem und Deinem Trost. Ist es eine Ahnung oder irre ich mich, so soll es mir lieb sein nähmlich das letzte. Aber das Herz ist mir recht schwer bei die dunkelen Tage, wo man schon um vier Uhr Licht anstechen muß, und es war so schön im Sommer, im Monat Juli mit uns Zweien. Du weißt schon wo. Bei uns in der unruhigen, bösen, argen Welt, wo jeder denkt was ich koche gilt und ist doch blos Topf und Kessel auf einem Feuer! Wo ich auch Deinen Herrn Bruder nicht ausnehmen kann, denn wie sollte ich sonst dazu kommen und Dich nicht ihm alleine lassen?

Was haben wir erlebt in dem Sommer! ich mit meinen fünfundsiebzig, Du mit Deinen zwanzig Jahren. Ich als Beilage zu meinem schon übergewichttigen Ueberdruß, Du in Deinen Kindergottesfrieden hinein. Lieber Himmel, und ich dachte, daß ich die Menschen und was sie einander gegenseitig erleben lassen können, schon in und auswendig kennte und nichts, gar nichts zu zu lernen brauchte.

Da bist Du gekommen, mein Herzensschmerzenskind. Ja da bist Du gekommen wie aus dem Abendhimmel mit Deinem Bündell und hast die alte Gifttante von weiland der Apteke ‚Zum wilden Mann‘ in die Schule genommen, und hast mich gelert, daß ich mich doch nur hätte schämen sollen die Jahre lang nachdem Oberst Agonnistah da war und meinen Bruder Philipp seligen und mir in Herzlichkeit und Vergnügen das Fell abzog und sich gar nichts Schlimmes dabei dachte. Es war ein Irthum von mir, daß dies ein Ausnahmsfall von Menschen und Menschenwerk und Thun gegen einander sei. Es ist die Regel und die Ausnahme kommt alle hunderd Jahr nur einmal und weiß gar nichts von sich und für mich heißt sie diesmal und in alle Ewigkeiten Fräulein Föbechen, meine liebe Föbe, meine Goldföbe wie aus der Kindergeschichte und auch auß dem Brief an die Römer, [608] wo schon von ihr geschrieben steht im Sechzehnten im 2. Verß, sie hat Vielen beistand gethan, auch mir selbst.

Kind, als mir mein Wohlstand genommen ist, habe ich doch Gott sei gedankt meine guten Augen behalten und mein Aufpassen was Leute thun und denken ist wohl noch genauer geworden, und auch das ist mir in meiner Vergrelltheit und Einsamkeit zu einem neuen bittern Gift geworden, bis ich auf Dich und Dein Thun und Denken habe passen dürfen in den Jullitagen im hiesigen Armenhaus, Du weist wohl bei welcher Krankenpflege. Daß must Du mir verzeihen, das ich Dir das jetzt beichte, denn es ist wohl mein letzter bester Trost in meinen letzten Tagen!

Liebe Föbe, wärest Du nicht Du und säßest Du nicht fest in Deiner Burg, so hätten der liebe, freundliche und höffliche Mann, den wir im Juli vom Tode zu Leben verhalffen, und das unhöfliche feine Frauenzimmer, die Valeri, die Dir Deinen Erdenlohn in Dein Dorf trug, Dir noch Schlimmeres zu wege bringen mögen, als meines Bruders Freund mir. Denn meines seligen Bruder Filipps Freund tatschte doch nur in unser täglich Auskommen; aber Deines Bruders Prudens Freund hätte Dir noch viel Schlimmeres angethan, ohne daß er eine Ahnung und also ein Gewissen hatte.

Gottlob, daß es so abgelauffen ist was von ihn bloß ein Einfall gewesen ist!! ein Einfall auf dem Wege, um sich selber zu helfen, zufällig auf einem Kirchhof, zufällig auf Eurem Kirchhof und gegen den Schlingel, den Räkel, den ich von meinen Bruder her ganz gut kenne und weiß das es gar nicht nöthig war. O wie gut ist, daß Dir dieses nicht biß in’s Herz gedrungen ist, sondern daß Du nur geglaubt hast, Du müßtest in Gottesnahmen Deine Flicht ausfüllen, biß zum letzten! Ueber das Mädchen, sein jetzigt Weib, den andern Besuch bei Euch, hast Du mir ja mit Deinen traurigsten Augen den Mund verbotten. Ach, Föbe, und sie betrug sich in ihrer Angst auch nur so ungerecht, alß wir andern ordinären Frauensleute in unsern Lebenßnöthen alle!

Gottlob, nun sitzst Du wieder oben bei Dir alleine, wie ich hier unten bei mir. Allein hat mans immer am besten auf Erden, denn der Besuch wie Du ist zu seltten. Nun ist der Winterschnee auch dißmal eine Mauer, die Gott um Dich aufbaut und Du bisst dahinter in Sicherheit mit Deinen lieben Herzen und denkst an den unruhigen Sommer und Deinen Gast nur als einen Traum. Du bist wieder frei von dem Mann aus der fremden Weld in Deiner Seele und auch mit Deinem sterbbligen Leibe. Es weiß Keiner wo er begraben wird und bei wem, sieh nach in der Biebel.

O wie hast Du Deine Pflicht gegen diesen freundlichen Menschen gethan! Und welch ein Seegen bist Du auch mir altem Geschöpff durch dieses auf meine alten Tage geworden!

Denn nun sitze ich hier noch in der alten Armuth und Verlassenheid; aber die Wände rundum dünken mir nicht mehr kahl und mein Bett hart und der Ofen rauchich. Und die Winterwitterung draußen macht mir viel weniger als vorig Jahr. Das ist doch, als ob die alte Mamsell Kristeller die letzten zähn zwölf Jahr an meinem bekümmerten Leben alß wie an einem Eksempel gerechnet hätte und konnte es nicht aufkriegen, biß Du gekommen bist mit Deinem Bündel und hast mir geholfen – mir die ich doch in meinem Zorn auf die Welt und Menschheid ein ganz anderer Räkel war als Euer armer Tropf da oben im Wald.

Da brauchtest Du nur eine Viertelstuhnde bei mir zu sitzen auf der Banck unterm Fenster im Abendlichte, daß ich mich an die Stirne klopffen konnte und sagen:

Es war doch so einfach, Dorette!

Nun mögte ich Dir gern von unsern damaligen acht Tagen wieder reden. Wie Dein Sterbens- und also auch Lebenskamerad, der nette, kluge, gelerte vornehme Mann alle Profezeiung des Narren, des Doktors Hanf täuschte und sich für dißmal mit dem Tod durch einen Typus von leichter Sorte abfand. Wie er aus seinem Schlaf auferwachend Dich zu seinem Staunen und will hofen auch Schrekken an seinem Bett im Siechenhaus vorfand, und wie Du ihn mir da ließest und Dein Bündel schnürtest und gingest wie Du gekommen warest, wo ich denn Gelegenheit kriegte und nahm, diesem Mann mit seiner Hafergrütze verschiedenartige nützliche Wahrheiten einzugäben.

Denn sieh mal, er mag ja wohl ein schöner Mann sein und alle Kunst und Wissenschaft und alle Avanksen in der Welt für sich haben, er ist doch nur ein armer schwacher Mensch wie wir Andern Alle und geht mit der Stunde und was darin mit ihm stimmt wie meines seligen Bruders Freund der Oberst aus Brassilien, der Don Agonistha. Er weinte Thränen, als Du ihm zum letzten Mal die Hand gabest und als ich ihm seine Briefe aus seiner Welt zu lesen gab, da ist er ein Kind gewesen, das sich an eine Tischecke gestoßen hat und einen Apfel zum Trost kriechte. Die Thränen mogten wohl aus der Schwäche von seiner schlimmen Krankheit herrühren, aber das Lachen das stammte aus seinen gesunden Tagen und aus der Welt zu der er gehört und nicht herrauskan. Wie gut, daß wir Beiden nichts mehr mit beiden zu schaffen haben. Ihm geht es wieder so weit nach seinen Wünschen in seinem Leben und uns Zwei auch.

Ja, mir auch! was ich nicht mehr geglaubt hätte und nur Dir zu verdankken habe. Die Welt ist eine harte Nus zu knakken, und wenn man sie auf hat, ist sie hohl; dieses war mir bekannt als ein altes wahres Wort. Aber nun weiß ich durch Deinen Umgang in den paar Tagen im Juli, daß das Wort doch nur halb oder auch gar nicht wahr ist. Mein liebes Herzenskind, durch Dich weis ich nun die Weld hat einen Kern, sie hat einen süßen Kern, nur aber die Zunge oder was so sonst zu der gehört, hat nichts damit zu thun, darauf schmekkt man ihn nicht. Und nun weiß ich auch wie oft mein seliger Bruder Philipp mir das gesagt hat. Nicht mit Worten, sondern mit seinem lieben, armen, sanften, guten Leben und zuletzt noch mit seinem freundlichen Abscheiden in seiner Todesstunde mit seinem zufriedenen Einverständniß mit seinem harten Loos.

Dem that wie Dir, Niemand ein Leid an; und nun verzeih, wenn ich mir geirrt haben sollte und dieser Brief heute doch ungelegen kommen sollte. Ich konnte mir gegen den Drang nicht helffen, ich mußte Dir gerade zu dieser Stunde schreiben, obgleich das immer eine schwehre Arbeid für mich gewesen ist und jetzt in meinen hohen Tagen noch viel mehr.

Es ist mir doch als ob ich erst seit wo Du im Siechenhaus mir Gesellschafd geleistest hast gelernt habe drauf in richtiger Weise acht zu geben, was eigentlich um einen ist, und nicht bloss mehr auff mich selber paßte. So alt mußte man werden um zu lernen, was der Wind sagt und der Schnee und der Regen an den Fenster, was mein Seliger Bruder immer gewust hat und dabei an anderer Menschen Wohl und Wehe dachte.

Schiebs also auf den rauhen Winter auch vor Deinem Fenster da oben bei Dir in den Gebirge wenn Dich Deiner ewigen Freundin und alten Griesgramm und Murrkopf Schreibkunst wundert. Ich dachte nur einfach an Dich und konnte nichts anderst.

Schreib mir auch wie es Dir geht und was Du sonst treibst und grüße Spörenwagen, und Deinen Herr Bruder wenn’s er nicht übell nimmt auch, Du kommst nimmermehr und niemals mehr aus dem Gedächtniß von Deiner Freundin Dorette Kristeller.“ 

Am Morgen war dieser Brief mit der sonstigen amtlichen und außeramtlichen Korrespondenz des Pfarrhauses angelangt, und Pastor Prudens Hahnemeyer hatte ihn seiner Schwester zugeschoben mit der Bemerkung:

„Der Handschrift nach wieder von Deiner andern Sommerbekanntschaft, dem alten Fräulein Kristeller. Willst Du meine Meinung hören, Phöbe, so sage ich Dir, daß ich eine Fortsetzung dieses Verkehrs nicht gerade gern sehe. Ich höre und weiß, daß sie keinen guten Einfluß an den Krankenbetten, zu denen sie als Pflegerin gerufen wird, ausübt. Sie ist durch früheres Unglück verbittert und trachtet nicht auf unserem Wege nach dem was allein noththut, nach dem lezten Heil und Trost. Ich bin ihr einige Male begegnet bei den Geistig-Armen, und sie hat nie den besten Eindruck auf mich gemacht.“

„Willst Du diesen Brief lesen, Prudens?“ hatte nach einer Weile Phöbe mit zitternder Stimme gefragt, doch die Antwort war nur gewesen:

„Wozu? Bei Gelegenheit. Augenblicklich bin ich anders beschäftigt, Kind.“

Und während der junge Pfarrer, der Aeußerlichkeiten seines Amtes überdrüssiger denn je, sich in ein Konsistorialrundschreiben vertiefte, hatte das Kind leise sich mit seinem Theil von den schriftlichen Eräußerungen der Zeitlichkeit in sein Stübchen gezogen, um ohne Hilfe aus der Nähe und mit wenig Beistand aus der

[609]

An der Quelle. Nach dem Oelgemälde von E. Munier.
Nach einer Photographie im Verlage von Ad. Braun u. Comp. in Dornach (Vertreter Hugo Grosser in Leipzig).

[610] Ferne auch weiterhin mit sich selber allein fertig zu werden und seinen Gottesfrieden mit dem Säkulum aufrecht zu halten.

Es mochten recht schlimme Kämpfe an diesem Tage in der Welt ausgefochten werden, sie waren nicht härter und hatten vielleicht viel weniger zu bedeuten, als der Kampf dieses jungen Mädchens, der zuletzt bloß auf das Wort hinauslief:

„Wie gut sie es doch mit mir meint! O, und wie und böse das Leben gewesen ist, das sie so klug gemacht hat, und sie gelehrt hat auf Andere so genau zu achten und in ihren Herzen zu lesen! Gott helfe ihr und mir ferner; allen uns unruhigen Gästen unter seinem Himmel und an seinem Tische helfe er zu seinem ewigen Genügen.“

(Schluß folgt.) 


Studien aus dem Leben.

Von Hermann Heiberg.
2.0 Wie schreibt man Briefe?
Und muß ich es Ihrer eigenen Beurtheilung überlassen, ob das vielleicht die Handlungsweise eines Ehrenmannes ist.
Mit vollkommenster Hochachtung etc.“ 

Nachdem ich den Schlußpassus dieses Briefes niedergeschrieben habe, kommt mir der thörichte Gegensatz zwischen Invektive und Ergebenheitsfloskel nicht einmal befremdlich vor. Gewohnheit stempelt selbst den größten Unsinn zu etwas Verständigem. Vielleicht sollte ursprünglich die Höflichkeit am Schlusse die Brücke zu einem friedlichen Ausgleiche bilden. Die eine Hand giebt einen Backenstreich, die andere streichelt. Vielleicht! Aber in den meisten Fällen denkt sich der kaufmännische Briefschreiber gar nichts bei seinem „Achtungsvoll“ und „Hochachtungsvoll“; höchstens unterscheidet er und setzt ein „Ergebenst“, um seinem Zorn Luft zu machen.

„Ich darf wohl erwarten, daß solche Unregelmäßigkeiten nicht wieder vorkommen.Ergebenst 
Mutzelheim u. Komp.“     

Die Doppelfirma spricht in der ersten Person! Kürze ist des Witzes Seele! Bei dem Versuche, diese Wahrheit in die Korrespondenz überzuleiten, ergeben sich mancherlei Geschmacklosigkeiten. Die Fortlassung von Worten wird als eine besondere Finesse angesehen. So: „Ihr Werthes habe empfangen und werde bedacht sein, den Auftrag für Sie auszuführen.“ Aber nicht die Kürze fordert zum Widerspruche heraus, nur das Motiv.

Derselbe Kaufherr, der aus Ersparniß fünf Zeilen schreibt, steht wohl eine Stunde an der Börse und – ahmt den so oft gescholtenen Frauen nach, die beim Nachmittagskaffee ihre Nebenmenschen aus Engeln zu Teufeln machen. Hierzu findet er genügende Muße.

Einer wirklich vornehmen Kürze, die aber der Wärme nicht entbehrt, befleißigt sich der Engländer. In dem „Dear sir“ und „Yours sincerely“ liegt: „Im Uebrigen bin ich dabei noch Dir gegenüber ein Mensch und nicht nur ein Geschöpf mit einer 1000 ₤-Notenseele.“

In der That ist die Durchführung des Grundsatzes: „In Geldsachen hört die Gemüthlichkeit auf,“ in der Praxis weder durchführbar noch weise. Die Menschen in ihren Beziehungen zu einander sind keine Nummerpersonen, wie in einem Aktienhotel. Rücksichtsvolle Formen geben sogar häufig die Weihe für eine dauernde Verbindung, für Ehrlichkeit in der Handhabung der Geschäfte und die Gewährung und Aufrechthaltung des Kredites.

Wie sehr die Gewohnheit Menschen beeinflußt, wie mechanisch Briefe abgefaßt werden, beweist eine kleine Geschichte, die fast unwahrscheinlich klingt, die ich aber erlebt habe.

Herr X. wurde von einerx seiner Kinder eilig zum Mittagbrot gerufen. Er kouvertirt rasch seinen eben vollendeten Brief und eilt ins Speisezimmer. Beim Braten wandern seine Gedanken ins Komptoir zurück, und es fällt ihm ein, daß er in der Eile vergessen hat, seine Firma zu unterzeichnen. Bevor er ein Schläfchen macht und die Zeitung liest, eilt er deßhalb nochmals ins Bureau zurück, öffnet den Brief und schreibt wörtlich Folgendes an den Schluß:

„Soeben bemerke ich, daß ich mich zu unterzeichnen vergaß. Entschuldigen Sie.‚Der Obige‚‘!“ 

Eine sehr bedeutende Rolle in der Privatkorrespondenz spielt die Entschuldigung wegen verspäteter Antwort. Diese füllt häufig die ganze erste Seite. Zudem seufzt das Briefpapier aller Herren Länder unter den: Herzlichen Grüßen und sonstigen Kratzfüßen am Schlusse.

Und dabei ist ein Gruß so nichtssagend! Lüften wir doch den Hut vor Menschen, deren Geburt uns in der Schöpfung der größte Mißgriff zu sein scheint. Ueberhaupt wimmelt die Privatkorrespondenz von schablonenhaften und unsinnigen Redensarten.

„Ich kam in Besitz Deiner lieben Zeilen“ heißt es, während Zeilen weder lieb noch böse sein können. Sie können nur so wirken.

Briefschreiben! Welche Kunst, und von wie Wenigen verstanden! Aber ein Brief ist gewissermaßen auch ein Kunstwerk, und deßhalb entfernen sich die Meisten von der schweren Grundbedingung aller Künste: von einfacher Natürlichkeit.

Ein Mensch, der schreibt, wie er spricht, bildet eine Ausnahme. Es soll immer etwas Besonderes sein. Der Geist wird erst zurecht geknetet, statt seine Flügel frei zu entfalten.

Die Anreden in den Briefen junger Mädchen können Hypochondern ein Lächeln entlocken: „Meine herzinnige Dora! Meine innigstgeliebte Nelly! Meine süße Amalie! Meine einzige, unvergleichliche Marie!“

In den Privatkorrespondenzen regiert die Phantasie die Feder, weniger das Nachdenken. Wo aber beide zusammenwirken, da giebt’s ein schönes Ganzes. Die Vorschriften in der Schule für den deutschen Aufsatz: Einleitung, Ausführung des Themas und Schluß sind der Originalität schlimmster Feind. Wie erfrischend wirkt es heutzutage, wenn Jemand ohne Anrede seinen Brief beginnt, gleich die Dinge an der Gurgel faßt und am Schluß nur sein Zeichen malt!

Freilich muß Anmuth der Form die Schablone der vielseitigen Betheuerungen ersetzen, denn allzu sehr hängen wir an dem, was ist. Auch das Briefschreiben hat seine Moden.

Im Rathhause zu Goslar liegen Originalbriefe deutscher Fürsten neben einander. Obgleich in verschiedenen Jahrhunderten geschrieben, zeigen diese in der Bildung der Buchstaben, in der Anwendung der Spatien und in der steifen Form der Abfassung die größte Verwandtschaft. Heute lächeln wir darüber. Aber wie wir über die Schöngeisterei der Weimarer Musenzeit häufig die Mundwinkel verziehen, so wird das nächste Jahrhundert auch über uns seine Glossen machen.

Ein gut geschriebener, warm abgefaßter Brief, zumal in deutlicher Handschrift, erscheint mir stets als ein besonderes Geschenk. Er wirkt wie ein Sonnenaufgang! Und er ist auch der Sonnenaufgang einer menschlichen Seele!

Unter den Briefschreibern sind die Ausnutzer des Briefpapiers die Würgengel unserer Augen und unserer Geduld. Sie packen ihren Koffer so voll, daß Alles verdirbt und nichts zu finden ist. Wenn ein Klein- und Schlechtschreiber wüßte, welche Qualen er über uns unverdient verhängt, er würde Mitleid haben.

Wie wirkt dagegen eine große, kräftige Handschrift! Sie erscheint mir wie eine wahre Kopie, wie das freie, unmittelbare Produkt des Geistes. Ich möchte, ohne ein Anhänger der Graphologie zu sein, glauben, daß Alexander von Humboldt als Mensch ein Pedant gewesen ist. Man sehe nur eines Bismarck’s Handschrift! Als ob irgendwo eine Tanne von einem Abhang gelöst und die Spitze in die Tinte getaucht sei!

„Der Brief wiegt doppelt!“ Welch ein furchtbares Wort für die meisten Menschen! Und doch ist die Zehnpfennig-Marke etwas so Verschwindendes gegen eine Reihe bewußter, thörichter Ausgaben! Kann man sich für eine so wichtige Sache nicht zu hellem Geist, genügender Zeit, gutem, starkem Papier und großer, deutlicher Handschrift aufraffen?

„Ich schreibe nächstens mehr und ausführlicher!“ heißt es. Nur nicht 20 Pfennig für einen Brief aufs mal! Bei Leibe nicht! Und welche Anstalten machen manche Briefschreiber, bis sie an die Sache gelangen! Als ob ein Turngerüst aufgerichtet würde, an dem sie Reckübungen machen sollten!

Was ist ein Brief? Was soll er sein? Ein schöner Abdruck unseres Geistes! Aber welche Kopien dieser unsichtbaren Materie producirt der Durchschnitt! Wie viel nützlicher würde es sein, einigen Krimskrams in der Schule weniger zu lernen, aber statt dessen die Kinder zu lehren, einen Brief in geordnetem Zusammenhange zu schreiben! Wie unverfälscht ist die Sprache der Kinder und wie leicht also, sie anzuleiten, das Natürliche hier auszubilden!

Ich kann es mir nicht versagen, hier den Brief eines sechsjährigen Kindes an eine mit allen Verhältnissen unbekannte Dame wiederzugeben:

„Liebe Tante! Ich bin jetzt einen Platz heraufgekommen. Wir haben so viele Kirschen im Garten. Die Uhr ist sieben. Erna mußte gestern nachsitzen. Wir waren heute am Goldfischteich, es war sehr schön. Gustav hat sein Messer verloren. Er hat es noch nicht wiedergefunden. Unsere Wohnstube wird tapezirt. Schreibe mir recht bald wieder. Jetzt weiß ich nichts mehr. Deine liebe Else.“

Im Grunde sagt die Kleine Alles, was ihr Interesse in Anspruch nimmt, mit kurzen, knappen Worten. Kein unnützes Anhängsel, mit dem die Erwachsenen sich gemeiniglich anlügen. Lange Sätze in Briefen – ganz besonders in Briefen – schädigen die gute Wirkung. Allzuviel Unkraut steht zwischen den Blumenbeeten!

Und nun das Kapitel von der Undeutlichkeit der Namensunterschrift. Es ist ein Mangel guter Erziehung, seinen Namen zu einem Mysterium zu machen, und eine Beschränktheit, die undeutliche Schnörkelei noch dazu schön zu finden. Das gilt auch unter Bekannten. Sodann ist das Ausstreichen eine sehr böse Unart. Ein Brief, in dem viel gestrichen ist, erscheint mir stets wie ein geflickter Rock. Ein so ärmlicher Geist hat ihn producirt. Wer den fehlerlosen Brief nicht im Original schreiben kann, der möge Kladde machen. Esprit und Formgewandtheit lassen sich nicht für 5 Silbergroschen im Krämerladen kaufen.

Es ist ein Vorrecht der Frauen, ihre Briefe zu parfümiren. Bei Männern würde dies abschreckend wirken. Wenn wir uns ehrlich fragen, erfüllt uns ein parfümirter Damenbrief mit einem gewissen Mißtrauen gegen die Briefschreiberin. Im Parfüm liegt überhaupt etwas Unwahres, Gesuchtes, und nur wenige Frauen verstehen hier, wie im Schnupftuch, jene weise Beschränkung, welche die vornehme Frau unterscheidet von einer – nun, von einer nicht vornehmen.

Aber nicht minder abstoßend wirkt ein von Tabaksrauch duftendes Schreiben. Es liegt ein Mangel natürlichster Rücksicht darin, daß der Briefschreiber die Pfeife nicht so lange aus dem Munde nehmen konnte, und das gilt immer für einen an eine Dame gerichteten Brief.

Wiederholt mangelhaft frankirte Briefe zu moniren, erscheint mir eine verletzende Kleinlichkeit. Ich frage Jeden, dem ’s mal passirt ist. Der [611] übliche Hinweis mit dem Wortlaut: „Ich will nur die Reichspost nicht bereichern und lediglich deßhalb mache ich aufmerksam,“ wirkt kläglich. Aber anders ist es um die Pflichten des Absenders. Er darf sich niemals dieses Irrthums schuldig machen.

Die Postkarten sind ein Stück rohesten Materialismus unserer Zeit. Ich las neulich folgende Sätze auf einer offenen Postkarte: „Daß Emil nun doch hat Konkurs erklären müssen, wirst Du schon vor Monaten gehört haben. Er ist schrecklich herunter, und zunächst haben wir Alle zusammengeschossen, um ihm über das Schlimmste fortzuhelfen. — Und dabei sonst noch so viel Herzensleid! Peter hat in eine Besserungs-Anstalt gebracht werden müssen. Ich fürchte, er ist ein vollkommener Taugenichts.“ U. s. w.

Die Manie, Briefe aufzubewahren, führt zu den schlimmsten Konsequenzen. Zu dem Platzmangel gesellt sich der Staub und allerlei Unbehagen, den Schatz zu hüten. Die endliche Bestattung durch Anfüllung von Kisten auf dem Hausboden giebt dem ewig lauernden Teufel „Feuer“ bei Gelegenheit die beste, und schließlich doch dem Papiermüller alleine Nahrung. Ein herrliches Gesetz ist es, Privatbriefe unmittelbar zu beantworten und sie zwischen die gegenseitigen Zeigefinger und Daumen der rechten und linken Hand zu nehmen. Wer aber einen Ofen hat, der gönne diesem das Papier. Vertrauliche Briefe lediglich zu zerreißen, statt zu verbrennen, erachte ich als eine strafwürdige Vertrauensseligkeit gegen Dienstboten.

Wer einen Brief schreibt, der schüttele goldene Früchte von seinem Baume, biete sie in silberner Schale und mache sie so schmackhaft, daß das stete Verlangen nach der Wiederholung auftaucht. Solche Briefe wird der Empfänger nicht zerreißen oder verbrennen! Giebt es doch Briefe, die man nie würde vernichten können! Ich betone das Wort „können“, denn oft ist ein Brief, ein geschriebenes Wort die einzige Wohlthat gewesen, die ein nach Glück und Liebe hungernder und dürstender Mensch überhaupt in seinem Leben besaß. Welche Flammen schlagen aus Briefen, und welche sanften Beruhigungsmittel deckt das Kouvert! Liebesbriefe! Ein großes, unendliches Kapitel! Wer jemals von diesem geheimnißvollen Lebenszauber berührt ward, kennt ein Stück menschlicher Glückseligkeit!


Druschgenossenschaften in alter und neuer Zeit.

(Mit Illustration S. 600 und 601.)

Wir sind so gewohnt, die Städte als die uralten Sitze der genossenschaftlichen Thätigkeit anzusehen, in denen das Handwerk durch Zünfte und Gilden geregelt und geschützt wurde, daß wir kaum glauben können, daß der Innungsgeist des Mittelalters in früheren Jahrhunderten auch die Bewohner des platten Landes beherrschte und dort ähnliche Einrichtungen ins Leben rief. Und doch gab es Zünfte, die ihre Thätigkeit ausschließlich in den Dörfern entfalteten, wie dies unter Anderem eine streng geordnete Vereinigung beweist, die den Namen „Drescherzunft“ führte. In den Werken über das Gildewesen und die Zünfte des Mittelalters würde man vergeblich nach einer Beschreibung dieser ehrsamen Jnnung suchen, und nur durch Zufall fanden wir in einem Ausschnitte eines alten juristischen Werkes die „aufgesetzten Artikull der Drescherzunft“, die, wie unsere Quelle besagt, schon damals, im vorigen Jahrhundert, „rar geworden sind“. Heute, wo ähnliche Bestrebungen, den Bedürfnissen des modernen Lebens angepaßt, auch auf dem landwirthschaftlichen Gebiete auftauchen, dürften einige Auszüge aus diesen Statuten ein allgemeines Interesse in Anspruch nehmen.

Die Glieder dieser Zunft zerfallen, nach unsrer Quelle, in Oberälteste, Visitatores, Drescher und Lehrlinge. Letztere müssen mindestens 18 Jahre zählen und fein korpulent sein, den Flegel regieren zu können. Mehr als zwei Jungen darf Jemand nicht in die Lehre nehmen, und diese dauert zwei Jahre, denn erstens muß der Lehrling das Lehrgeld durch fleißige Arbeit abtragen; zweitens hatte er auch das Dreschen und die Satzungen der Zunft ordentlich zu erlernen, was nicht so leicht war. Denn zunächst darf man nicht, wie die Statuten besagen, über 12 Garben anlegen, dann nicht darüber hinweghuschen oder gar nach einmaligem Herumdreschen das Stroh abschieben und aufbinden; ferner soll man nicht ohne Takt und Mensur wie eine Windmühle klippen und klappen und unbedachtsam über Garben und Stroh dahinwischen; der Drescher hat die faulen Knochen vom Leibe zu halten und, wenn Drei dreschen, den Takt zu beobachten nach der alten bekannten Melodie:

„Im Winter, mein Günther,
So drischt man das Koren,
Wenn’s kalt ist,
Nicht alt bist,
Und tapfer gefrohren.“

Mehr als vier Mann durften jedoch nicht auf einmal dreschen, damit die Ernte nicht zu schnell aufgeräumt wurde und die Zunft den ganzen Winter hindurch Arbeit hatte.

Hat der Jüngling dann gezeigt, daß er tüchtig gelernt, hat er seinem Lehrherrn das Werkzeug immer gehorsamlich nachgetragen, sich gegen die Oberältesten und Visitatoren immer bescheidentlich aufgeführt, dann wird er losgesprochen. Bei diesem „Aufdingen“ darf er jedoch nicht mit überflüssigen Kosten beschwert werden, sondern sein Lehrherr soll sich mit „1 Stübgen Forderbier und bei der Zusammenkunft mit nicht mehr als 1 paar Schaafkäse, frische Semmeln nebst 2 Stübgen Bier begnügen lassen.“ Bei Empfang des Lehrbriefes muß der neue Gesell jedem gegenwärtigen Zunftgenossen zur Recreation 1 Maß Bier, einen halben Häring, 1 Quark-Käse und einen halben Pückling reichen, einen halben Batzen in die Lade erlegen, dem Visitatori aber 4 Pfennige Schreibegebühr entrichten.

So wäre also die erste Klippe überstanden. Dem jungen Jnnungsbruder stand die Welt offen, allerdings mit gewissen Beschränkungen; denn es heißt, niemand darf ohne vorhergehende Meldung bei „ehrbarer Zunnfft“ an einem Orte Kondition nehmen, es sei denn, daß alle Innungsgenossen mit sattsamer Arbeit versehen wären, bei Strafe der Konfiskation des Dreschflegels und anderen Werkzeuges. Ist aber Arbeit zur Genüge vorhanden, hat der Ankömmling seinen Lehrbrief mit beglaubigtem Attestato über Wohlverhalten vom Visitator vorgezeigt, so kann er nach Erlegung von einem Stübgen Bier und ein paar Käsen für seine Kameraden die Arbeit beginnen, vorausgesetzt, daß sein Handwerkszeug nicht weniger als er selbst den Anforderungen entspricht; dieses muß nämlich „nach der neusten Façon und dem Leipziger Fuß tüchtig befunden werden.“ Denn Pfuscher und Bönhasen schleichen sich ein mit Knöpfeln, kaum ein halb Pfund schwer, und Handhaben, dreiviertel Ellen lang, wovor doch ein Ehrliebender Drescher einen Ekel hat;“ ein rechtschaffener Dreschersknopfel hat wenigstens drei Pfund und die Handhabe mißt 31/4 Elle, so daß man einen mittelmäßigen Trippeltakt damit führen mag. Wessen Flegel minder werth ist, büßt mit vier Pfund Schmierkäse und einem Groschenbrod. Aber nicht bloß Länge und Gewicht sind vorgeschrieben, sondern auch auf Material und Qualität wird streng gehalten. Die Handhabe soll von Hasel-, Hollunder- oder Maßholderholz fein glatt ausgearbeitet sein, auch der Flegel ordentlich daran befestigt werden, damit die Nebenstehenden nicht täglich Gefahr laufen, daß ihnen derselbe an den Kopf fahre.

Zu Fleiß und Ordnung in ihrer Thätigkeit werden die Arbeiter ebenfalls angehalten und auch auf äußeren Anstand und gute Sitte wird streng gehalten. Jeder rechtschaffene Drescher geht jeden Sonnabend ins Bad und läßt sich den Bart abnehmen, damit kein Spreu darin kleben möge; wer sich aber „grob und reckelhafft gegen den Oberältesten aufführt und mit ungebalbirtem Barte, ohne Halstuch, eine Tabakspfeife im Munde oder ein Rauf Brot mit Schmier- oder anderem Käse in Händen habend und davon essend zu erscheinen sich erkühnet“, soll mit 2 Nößel Haselnüsse, im Wiederholungsfalle gar mit einem Maß Hanbutten gestraft werden. Tabakrauchen während der Arbeit war sogar mit zeitweiligem Ausschluß untersagt. Das Morgenbrot war gleich nach 8 und das Abendbrot um 4 Uhr in aller Ehrbarkeit und Stille zu verzehren, ohne sich lange dabei aufzuhalten oder gar ungebührliche Posituren mit kreuzweis über einander geschlagenen Beinen zu machen.

Auch eine Kleiderordnung war für die Drescher erlassen. Weite Pumphosen, Stolpstiefeln, große Schiebsäcke, weite Schuhe, „worin man noch ein paar Ferklein einquartiren konnte“, sollen nicht getragen werden. Wer’s zahlen kann, hat sich der Beinscheiden zu bedienen oder die Strümpfe fein glatt heraufzuziehen, „damit sie nicht wie Baßglaß oder Wachtelpfeifgen gestalt sein mögen“, sondern die Körner davon abspringen. Wer aber doch zwischen dem Futtertuch des Rockes große Taschen wie die Soldatenflaschen eingenäht hat, soll um 4 gute Groschen exemplarisch bestraft werden. Wer noch weite Pumphosen trägt, muß sich Abends beim Heimgehen untersuchen lassen, bei Strafe einer neuen Flegel-Handhabe von Wachholderholze.

Der Arbeitslohn scheint meist in Naturalien bestanden zu haben. Des Herrn Frucht wird gestrichen, wie man Salz zu streichen pflegt; der Drescher Lohn aber gehäuft. Bei jedem Aufschub bekommt die Person ein Maß Bier, einen Käse und Brot; müssen sie Gerste in die Kübel zum Mälzen tragen, haben sie für jeden Einschütt 12 Maß Bier und 4 Speisebrote zu genießen, und zu Weihnacht auch einen Eimer Bier nebst einem Gericht Kraut und Fleisch.

So war jene ehrsame Zunft beschaffen, die „nach der Regull“ arbeitete:

„Trisch deine Garben hübsch und rein,
So wird die Ehre deine sein.“

Interessant ist es vom objektiven Standpunkte aus zu betrachten, wie nach der Zersplitterung und Auflösung der alten Zünfte und Innungen und dem Uebergange zur Gewerbefreiheit sich jezt eine große Strömung wieder Geltung schafft, die in ihrer äußerlichen Gestalt ein ähnliches, nur der Neuzeit angepaßtes Gewand trägt. Es ist dies die Vereins- und Genossenschaftsbildung, welche sich in allen Ständen, in allen Schichten der Bevölkerung über die Gaue hin erstreckt.

Diese mächtige Bewegung, welche schon jetzt in voller Blüthe steht, hat sich auch auf das landwirthschaftliche Gewerbe ausgedehnt und ist mit der Grund zu der Bildung der vielen landwirthschaftlichen Vereine geworden. Unter ihnen finden wir nun einige, die man wohl mit Recht als „Drescherzunft der Neuzeit“ bezeichnen kann. Es sind dies die Druschgenossenschaften, die, wenn sie auch jezt erst vereinzelt auftauchen, sich bald mehr ausbilden werden, um das Verleihen der Lokomobilen und Dreschmaschinen von Seiten der Fabriken nach einem bestimmten Leihsysteme auf praktischere und namentlich billigere Weise zu ersetzen. Die Mitglieder der Druschgenossenschaften bestehen in erster Linie aus Landwirthen, welche nur kleinere Güter oder Bauerhöfe besitzen und die nicht in der Lage sind, für ihren eigenen Bedarf sich derartige theure Maschinen anzuschaffen. In der Genossenschaft steuert jedes Mitglied im Verhältniß der Größe seines Besitzes zum Ankauf der Dreschmaschine bei, und diese drischt alsdann in einer Reihenfolge, welche nach dem Bedarf vereinbart oder durch das Los bestimmt wird, das Getreide bei den Genossen aus. Unser Zeitalter des Dampfes, der Elektricität und der Konkurrenz verlangt gebieterisch in der Industrie und ebenso in der Landwirthschaft einen schnelleren und rationellen Betrieb.

Auch der Bauer, der sich lange gegen alle Neuerungen gesträubt, ist jetzt von dem Zuge der Zeit mit erfaßt worden, und eine treffliche [612] Illustration dieser Verhältnisse bietet uns das Gemälde von A. Kappis, welches wir heute im Holzschnitt wiedergeben. Auf dem großen Bauernhofe, wo Hühner und Enten gackernd und schnatternd nach jedem Körnlein suchen, der Pfauhahn kühn einherstolziert, Freund Truthahn kollernd sein Rad schlägt, die Täubchen sich schnäbeln, ist die Dreschmaschine in voller Thätigkeit, getrieben von der Lokomobile, die ihren bläulichen Rauch hinauf zum lichten Aether sendet. Malerisch gruppiren sich an die alte Scheune mit dem großen Strohdache prächtige, hohe Laubbäume, in denen die Singvögel nisten und ihr Lied fröhlich aus der kleinen Kehle in den weiten Himmelsdom schmettern. Ein echt ländliches, gemüthvolles Bild! Unter dem Vorsprunge des einfachen, alterthümlichen Bauernhauses steht das steinalte Großmütterchen, kopfschüttelnd denkt sie vergangener Zeiten, wo noch der Ton der Dreschflegel im munteren Dreischlag von der Tenne herüberklang anstatt des Stampfens des rußigen Ungeheuers. Ja – die gute alte Zeit mit ihrer wundersamen Einfachheit, dem harmonischen Einklange und poetischen Hauche, sie ist vorüber. – Vorwärts, mit der Schnelle des elektrischen Funkens, der auf Drähten die Erde umfliegt, ist die Losung des heutigen Tages. Niemand hält den gewaltigen Kreislauf der Dinge auf, Niemand ändert ihn, das Alte vergeht und neues, frisches pulsirendes Leben entsteht aus ihm wieder in anderer vollkommenerer Gestalt.


Blätter und Blüthen.

Aus der Rumpelkammer eines Rathhauses. Daß selbst eine „Rumpelkammer“, zumal wenn sie die eines Rathhauses ist, zuweilen ganz beachtenswerthe Schätze enthalten kann, davon erzählt Professor Mohr in seinem trefflichen jüngst erschienenen Buche „Köln in seiner Glanzzeit“ (Köln, Ahn) ein interessantes Beispiel. Während der inneren baulichen Veränderungen im Kölner Rathhause, im Jahre 1859, war der damalige Archivar Dr. Ennen mit Aufräumen in der sogenannten Mittwochsrentkammer beschäftigt. Er ließ sich weder den Staub noch die Mühe verdrießen, Berge vergilbter Akten zu durchstöbern und mit kundigem Blicke zu prüfen, was ihm in die Hände kam. Aber nicht in den Akten, sondern unter denselben machte er zunächst eine interessante Entdeckung: es fand sich dort ein Richtschwert, eine ungewöhnlich schön gearbeitete Waffe aus dem 14. Jahrhundert. Da dasselbe seiner Zeit entblößt geführt wurde, so diente ein wenig ansehnliches Futteral, innen von dünnem Holze, von außen mit grauer Leinewand überzogen, als Scheide. Die Klinge, welche noch die Spuren des letzten Strafgerichtes trug, war von tadelloser Vollendung. Der schlanke, kreuzweise umwundene Griff hatte oben, entsprechend der Zeit, statt des Knaufes eine Medaille, zu beiden Seiten aber in vergoldetem Silber und in Email das Wappen der Stadt, die Kronen der heiligen drei Könige.

Dieser außergewöhnliche Fund ermunterte Ennen und den inzwischen hinzugezogenen Prof. Mohr zu weiteren Nachforschungen, und namentlich war es eine große schwere Kiste, welche sie anzog, trotzdem dieselbe dem Anscheine nach kaum mit anderem, als werthlosen Lappen angefüllt war. Da sie keinen Deckel hatte, so erschwerte der Staub von Jahrhunderten das Suchen außerordentlich. Das erste, was sich unter dem Wuste zeigte, war eine auf Leinwand gemalte unbedeutende Kirmeßfahne aus dem vorigen Jahrhundert. Doktor Ennen scherzte nicht wenig über das bescheidene Resultat und über das bestaubte Aussehen dieses Fundes. Dann aber folgte schon eine zweite, bessere Fahne auf Leinwand, mit einem wohlstilisirten Doppeladler aus dem 17. Jahrhundert, und endlich nach fortgesetztem Wühlen zeigte sich ein Fund, der selbst kühnere Erwartungen noch übertraf. Es war das ein Stück rother Seide mit einem Bruchstück der Kölner Wappenkronen des Dreikönigenbanners und zwar nicht nur in ansehnlicher Größe, sondern auch ausnehmend schön und auf goldenem Grunde gezeichnet, nach der Stilart des Kronenlaubwerks etwa der letzten Hälfte des 14. Jahrhunderts angehörig. Von dieser Fundstelle an war der ganze übrige Raum der mächtigen Kiste mit solchen, manchmal nur fingerlangen Theilen von verschiedenen Fahnen und aus verschiedenen Zeiten angefüllt. Namentlich aber zeigten sich noch so zahlreiche Stücke des Dreikönigenbanners, daß, in pietätvoller Würdigung eines solchen Schatzes, Prof. Mohr seitens der städtischen Behörde mit der Wiederherstellung dieser für die Geschichte der Stadt höchst wichtigen Fundstücke betraut werden konnte. – th.     


Nachtigal’s Grab auf Kap Palmas.

Markener Schulkinder. (Mit Illustration S. 597.) An der Westseite der Zuydersee liegen die malerischen Küstenstädte Monnickendam und Edam. Hell leuchten ihre Thürme im Morgensonnenscheine, selbst weithin sichtbar und prächtige Ausblicke gewährend bis nördlich nach Hoorn hinauf und östlich nach Marken hinüber, einer kleinen mit einem Leuchtthurme versehenen Insel. Täglich geht ein Markener Segelschiff nach Monnickendam und von dort nach der Insel zurück, und überraschend wirkt auf den Fremden der Anblick des originellen Hafens der Insel, in welchem oft Hunderte von Fischerbooten liegen, fast bewegungslos bei Sonnenschein und blauem Himmel, aber auf und ab gehoben und dumpf gegen einander gestoßen bei stürmischer See. Etwa 800 bis 1000 Einwohner zählt die Insel, ein kleines Völkchen, aber ein solches, das sich in Sitten und Gebräuchen manche Eigenart bewahrt hat. Kräftige, urwüchsige Menschen sind es, einfach und bieder, unermüdlich in ihrem Berufe als Fischer. Mit großer Liebe hängt der Markener an seiner von schilfbewachsenen Kanälen durchzogenen heimathlichen Insel, und die Stürme, die alljährlich über dieselbe dahinbrausen, die wogenden Wassermassen, die sie schäumend überschwemmen – sie schrecken ihn nicht, denn er kennt sie und weiß, daß sie fast ebenso schnell gehen, wie sie gekommen sind, und daß nach ihnen die Sonne so heiter vom Himmel hernieder lacht wie zuvor. Auf seiner Insel wird das Markener Kind erzogen, dort heirathet es, wenn es herangewachsen ist, und dort bleibt es, um in redlicher, ja harter Arbeit des Lebens Unterhalt zu erwerben.

Prächtig ist die Tracht der Markener und namentlich diejenige der Kinder. Buntfarbiger Kattun und Spitzen machen den Eindruck kostbarer Stickereien, die weiten, meist dunklen Pumphosen wirken im Gegensatz zu der helleren Gewandung des Oberkörpers überaus malerisch, ja selbst die kleinen Holzpantinen stimmen harmonisch zum Ganzen.

Zu dem Gewande dann ein fröhliches Herz und ein sinnendes oder lachendes Gesicht: kann es ein lieblicheres Bild geben? Kaum ein schöneres hätte der Maler festhalten können, als das der drei Markener Schulkinder, aus deren Augen helle Jugendlust uns entgegenlacht und deren malerische Tracht von dem dunkeln Schilfe sich nur um so wirkungsvoller abhebt. – th.     


Nachtigal’s Grab auf Kap Palmas. Nachdem die Nachricht von dem Tode des berühmten deutschen Afrikaforschers und Generalkonsuls des Deutschen Reiches Dr. Gustav Nachtigal zu uns gedrungen war, entstand bekanntlich der Plan, dem Verewigten ein Denkmal in seiner Heimath Stendal und ein anderes auf seinem Grabe an der afrikanischen Küste zu setzen. Vor Kurzem gelangten wir in den Besitz der ersten Photographie der letzteren Stätte, an die sich eine der großen Erinnerungen unserer Zeit knüpft, und obgleich wir über Kap Palmas bereits früher einen illustrirten Artikel gebracht haben (vergl. Nr. 23), so glaubten wir doch, daß das obenstehende Bild des schlichten Grabes den meisten unserer Leser willkommen sein dürfte und in den Spalten der „Gartenlaube“ einer Aufnahme werth sei. Der Tod im Dienste einer großen Idee verleiht seinen Opfern die Palme der Unsterblichkeit, und so soll uns auch jener einsame Hügel, der weit in die weiße Brandung des Oceans hinausschaut, nicht minder unvergeßlich und theuer bleiben, als die Heldengräber um Metz, Sedan und Paris.


An der Quelle. (Mit Illustration S. 609.) Tausendmal haben wohl die Künstler die in unserer Illustration wiedergegebene Scene behandelt, und doch fesseln uns stets jene Bilder der Mädchen und Frauen am Brunnen oder an der Quelle; denn in dem Wasserschöpfen durch Frauenhand liegt ein, wir möchten fast sagen tiefer, geheimnißvoller Zauber. Die Kunst braucht bei der Darstellung dieser tagtäglich wiederkehrenden Handlung nur einige poetische Lichter aufzusetzen, nur eine passende Staffage zu erfinden, um diesen Zauber vor unsern Augen bloßzulegen. Die sprudelnde Quelle erscheint uns stets als das Sinnbild des dahinrieselnden Lebens, und Dichter vernehmen in ihrem Murmeln Geschichten seltsamer Schicksale. Darum ist auch die Zahl der Lieder, die Quellen und Bäche besingen, seit uralten Zeiten eine unendliche gewesen. Aber auch die Maler schaffen Bilder, die als Gedichte aufgenommen und als Gedichte empfunden werden müssen, und ein Stück auf die Leinwand gebannter Lyrik ist sicher das von poetischem Hauch durchwehte Bild von E. Munier: jenes frohe Mädchenpaar am rieselnden Quell in der wilden Felsschlucht, deren Herzen und Seelen, von dem Schicksale des Lebens unberührt, noch klar und hell sind, wie das reine aus dem Felsen quellende Wasser.



Inhalt: [Inhaltsverzeichnis dieses Heftess, z.Zt. nicht übertragen.]


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.