Die Gartenlaube (1885)/Heft 35
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No. 35. | 1885. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Unterm Birnbaum.
Es war Ende November, als an einem naßkalten Abende der von der Krakauer Firma angekündigte Reisende vor Hradschecks Gasthof vorfuhr. Er kam von Küstrin und hatte sich um ein paar Stunden verspätet, weil die vom Regen aufgeweichten Bruchwege beinah unpassirbar gewesen waren, am meisten im Dorfe selbst. Noch die letzten dreihundert Schritt von der Orth’schen Windmühle her hatten ein gut Stück Zeit gekostet, weil das ermüdete Pferd mitunter stehenblieb und trotz allem Fluchen nicht weiter wollte. Jetzt aber hielt der Reisende vor der Ladenthür, durch deren trübe Scheiben ein Lichtschein auf den Damm fiel, und knipste mit der Peitsche.
„Halloh; Wirthschaft!“
Eine Weile verging, ohne daß wer kam. Endlich erschien der Ladenjunge, lief aber, als er den Tritt heruntergeklappt hatte, gleich wieder weg, „weil er den Knecht, den Jakob, rufen wolle“.
„Gut, gut. Aber flink … Is das ein Hundewetter!“
Unter solchen und ähnlichen Ausrufungen schlug der jetzt wieder allein gelassene Reisende das Schutzleder zurück, hing den Zügel in den frei gewordenen Haken und kletterte, halb erstarrt und unter Vermeidung des Tritts, dem er nicht recht zu trauen schien, über das Rad weg auf eine leidlich trockene, grad’ vor dem Laden-Eingange durch Aufschüttung von Müll und Schutt hergerichtete Stelle. Wolfsschur und Pelzmütze hatten ihm Kopf und Leib geschützt, aber die Füße waren wie todt, und er stampfte hin und her, um wieder Leben ins Blut zu bringen.
Und jetzt erschien auch Jakob, der den Reisenden schon von früher her kannte.
„Jott, Herr Szulski, bi so’n Wetter! Un so’ne Weg’! I, doa kümmt joa keen Düwel nich.“
„Aber ich,“ lachte Szulski.
„Joa, blot Se, Herr Szulski. Na, nu geihen’s man in de Stuw’. Un dat Fellisen besorg’ ick. Un will ook glieks en beten wat inhöten. Ick weet joa: de Giebelstuw, de geele, de noah de Kegelboahn to.“
Während er noch so sprach, hatte Jakob den Koffer auf die Schulter genommen und ging, dem Reisenden vorauf, auf die Treppe zu, als er aber sah, daß Szulski, statt nach links hin in den Laden, nach rechts hin in das Hradscheck’sche Wohnzimmer eintreten wollte, wandt’ er sich wieder und sagte: „Nei, nich doa, Herr Szulski. Hradscheck is in de Wienstuw … Se weeten joa.“
[566] „Sind denn Gäste da?“
„Versteiht sich. Wat arme Lüd’ sinn, na, de bliewen to Huus, awers Oll-Kunicke kümmt, un denn kümmt Orth ook. Un wenn Orth kümmt, denn kümmt ook Ouaas un Mietzel. Geihen’s man in. Se tempeln all wedder.“
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Eine Stunde später war der Reisende, Herr Szulski, der eigentlich ein einfacher Schulz aus Beuthen in Oberschlesien war und den National-Polen erst mit dem polnischen Sammtrock sammt Schnüren und Knebelknöpfen angezogen hatte, der Mittelpunkt der kleinen, auch heute wieder in der Weinstube versammelten Tafelrunde. Das Geschäftliche war in Gegenwart von Ouaas und Kunicke rasch abgemacht und die hochaufgelaufene Schuldsumme, ganz wie gewollt, durch Barzahlung und kleine Wechsel beglichen worden, was dem Pseudo-Polen, der eine so rasche Regulirung kaum erwartet haben mochte, Veranlassung gab, einiges von dem von seiner Firma gelieferten Ruster bringen zu lassen.
„Ich kenne die Jahrgänge, meine Herren, und bitt’ um die Ehr’.“
Die Bauern stutzten einen Augenblick, sich so zu Gaste geladen zu sehen, aber sich rasch erinnernd, daß einige von ihnen bis ganz vor Kurzem noch zu den Kunden der Krakauer Firma gehört hatten, sahen sie das Anerbieten schließlich als einen bloßen Geschäftsakt an, den man sich gefallen lassen könne. Was aber den Ausschlag gab, war, daß man durchaus von dem eben beendigten polnischen Aufstand hören wollte, von Diebitsch und Paskewitsch, und vor allem, ob es nicht bald wieder losgehe.
Szulski, wenn irgendwer, mußte davon wissen.
Als er das vorige Mal in ihrer Mitte weilte, war es ein paar Wochen vor Ausbruch der Insurrektion gewesen. Alles, was er damals als nah bevorstehend prophezeit hatte, war eingetroffen und lag jetzt zurück, Ostrolenka war geschlagen und Warschau gestürmt, welchem Sturme der zufällig in der Hauptstadt anwesende Szulski zum mindesten als Augenzeuge, vielleicht auch als Mitkämpfer (er ließ dies vorsichtig im Dunkel) beigewohnt hatte. Das alles traf sich trefflich für unsere Tschechiner, und Szulski, der als guter Weinreisender natürlich auch ein guter Erzähler war, schwelgte förmlich in Schilderung der polnischen Heldenthaten, wie nicht minder in Schilderung der Grausamkeiten, deren sich die Russen schuldig gemacht hatten. Eine Haus–Erstürmung in der Dlugastraße, just da, wo diese mit ihren zwei schmalen Ausläufern die Weichsel berührte, war dabei sein Paradepferd.
„Wie hieß die Straße?“ fragte Mietzel, der nach Art aller verquienten Leute bei Kriegsgeschichten immer hochroth wurde.
„Dlugastraße,“ wiederholte Szulski mit einer gewissen gekünstelten Ruhe. „Dluga, Herr Mietzel. Und das Eckhaus, um das es sich in meiner Geschichte handelt, stand dicht an der Weichsel, der Vorstadt Praga grad’ gegenüber, und war von unseren Akademikern und Polytechnikern besetzt, das heißt von den Wenigen, die von ihnen noch übrig waren, denn die meisten lagen längst draußen auf dem Ehrenfelde. Gleichviel indeß, was von ihnen noch lebte, das steckte jetzt in dem vier Etagen hohen Hause, von Treppe zu Treppe bis unters Dach. Auf dem abgedeckten Dach aber befanden sich Frauen und Kinder, die sich hier hinter Balkenlagen verschanzt und mit herangeschleppten Steinen bewaffnet hatten. Als nun die Russen, es war das Regiment Kaluga, bis dicht heran waren, rührten sie die Trommel zum Angriff. Und so stürmten sie dreimal, immer umsonst, immer mit schwerem Verlust, so dicht fiel der Steinhagel auf sie nieder. Aber das vierte Mal kamen sie bis an die verrammelte Thür, stießen sie mit Kolben ein und sprangen die Treppe hinauf. Immer höher zogen sich unsere Tapfern zurück, bis sie zuletzt, mit den Frauen und Kindern und im bunten Durcheinander mit diesen, auf dem abgedeckten Dache standen. Da sah ich jeden Einzelnen so deutlich vor mir, wie ich Sie jetzt sehe, Bauer Mietzel!“ – dieser fuhr zurück – „denn ich hatte meine Wohnung in dem Hause gegenüber und sah, wie sie die Konfederatka schwenkten, und hörte, wie sie unser Lied sangen: ‚Noch ist Polen nicht verloren.‘ Und bei meiner Ehre, hier, an dieser Stelle, hätten sie sich trotz aller Uebermacht des Feindes gehalten, wenn nicht plötzlich, von der Seite her, ein Hämmern und Schlagen hörbar geworden wäre, ein Hämmern und Schlagen sag’ ich, wie von Aexten und Beilen.“
„Wie? Was? Von Aexten und Beilen?“ wiederholte Mietzel, dem sein bischen Haar nachgerade zu Berge stand. „Was war es?“
„Ja, was war es? Vom Nachbarhause her ging man vor; jetzt war ein Loch da, jetzt eine Bresche, und durch die Bresche hin drang das russische Regiment auf den Dachboden vor. Was ich da gesehen habe, spottet jeder Beschreibung. Wer einfach niedergeschossen wurde, konnte von Glück sagen, die meisten aber wurden durch einen Bajonettstoß auf die Straße geschleudert. Es war ein Graus, meine Herren. Eine Frau wartete das Massacre, ja, vielleicht Schimpf und Entehrung (denn dergleichen ist vorgekommen) nicht erst ab; sie nahm ihre beiden Kinder an die Hand und stürzte sich mit ihnen in den Fluß.“
„Alle Wetter,“ sagte Kunicke, „das ist stark! Ich habe doch auch ein Stück Krieg mitgemacht und weiß wohl, wo man Holz fällt, fallen Spähne. So war es bei Möckern, und ich sehe noch unsren alten Krosigk, wie der den Marinekaptän über den Haufen stach, und wie dann das Kolbenschlagen losging, bis alle dalagen. Aber Frauen und Kinder! Alle Wetter, Szulski, das is scharf. Is es denn auch wahr?“
„Ob es wahr ist? Verzeihung, aber ich bin kein Aufschneider, Herr Kunicke. Kein Pole schneidet auf, das verachtet er. Und ich auch. Aber was ich gesehn habe, das hab’ ich gesehn, und eine Thatsache bleibt eine Thatsache, sie sei, wie sie sei. Die Dame, die da heruntersprang (und ich schwör’ Ihnen, meine Herren, es war eine Dame), war eine schöne Frau, keine 36, und so wahr ein Gott im Himmel lebt, ich hätt’ ihr was Bessres gewünscht, als diese naßkalte Weichsel.“
Kunicke schmunzelte, während der neben anderen Schwächen und Leiden auch an einer Liebesader leidende Mietzel nicht umhin konnte, seiner nervösen Erregtheit plötzlich eine ganz neue Richtung zu geben. Szulski selbst aber war viel zu sehr von sich und seiner Geschichte durchdrungen, um nebenher noch zu Zweideutigkeiten Zeit zu haben, und fuhr, ohne sich stören zu lassen, fort: „Eine schöne Frau, sagt’ ich, und hingemordet. Und was das Schlimmste dabei, nicht hingemordet durch den Feind, nein, durch uns selbst; hingemordet, weil wir verrathen waren. Hätte man uns freie Hand gelassen, kein Russe wäre je über die Weichsel gekommen. Das Volk war gut, Bürger und Bauer waren gut, alles einig, alles da mit Gut und Blut. Aber der Adel! Der Adel hat uns um dreißig Silberlinge verschachert, bloß weil er an sein Geld und seine Güter dachte. Und wenn der Mensch erst an sein Geld denkt, ist er verloren.“
„Kann ich nicht zugeben,“ sagte Kunicke. „Jeder denkt an sein Geld. Alle Wetter, Szulski, das sollt’ unsrem Hradscheck schon gefallen, wenn der Reisende von Olszewski-Goldschmidt und Sohn alle November hier vorspräch’ und nie an Geld dächte. Nicht wahr, Hradscheck, da ließe sich bald auf einen grünen Zweig kommen und brauchte keine Schwester oder Schwägerin zu sterben und keine Erbschaft ausgezahlt zu werden.“
„Ah, Erbschaft,“ wiederholte Szulski. „So, so; da her. Nun, gratuliere. Habe neulich auch einen Brocken geerbt und in Lemberg angelegt. Lemberg ist besser als Krakau. Ja, das muß wahr sein, Erbschaft ist die beste Art zu Gelde zu kommen, die beste und eigentlich auch die anständigste …“
„Und namentlich auch die leichteste,“ bestätigte Kunicke. „Ja, das liebe Geld. Und wenn’s viel ist, das heißt sehr viel, dann darf man auch dran denken! Nicht wahr, Szulski?“
„Natürlich,“ lachte dieser. „Natürlich, wenn’s viel ist. Aber, Bauer Kunicke, denken und denken ist ein Unterschied. Man muß wissen, daß man’s hat, soviel ist richtig, das ist gut und ein angenehmes Gefühl und stört nicht …“
„Nein, nein, stört nicht.“
„Aber, meine Herren, ich muß es wiederholen, denken und denken ist ein Unterschied. An Geld immer denken, bei Tag und bei Nacht, das ist soviel, wie sich immer drum ängstigen. Und ängstigen soll man sich nicht. Wer auf Reisen ist und immer an seine Frau denkt, der ängstigt sich um seine Frau.“
„Freilich,“ schrie Kunicke. „Quaas ängstigt sich auch immer.“
Alle lachten unbändig, und nur Szulski selbst, der auch darin durchaus Anekdoten- und Geschichten-Erzähler von Fach war, daß er sich nicht gern unterbrechen ließ, fuhr mit allem erdenklichen Ernste fort: „Und wie mit der Frau, meine Herren, so mit dem Geld. Nur nicht ängstlich; haben muß man’s, aber man muß nicht ewig [567] daran denken. Oft muß ich lachen, wenn ich so sehe, wie der oder jener im Postwagen oder an der Table d’hôte mit einem Male nach seiner Brieftasche faßt, ‚ob er’s auch noch hat‘. Und dann athmet er auf und ist ganz roth geworden. Das ist immer lächerlich und schadet blos. Und auch das Einnähen hilft nichts, das ist ebenso dumm. Ist der Rock weg, ist auch das Geld weg. Aber was man auf seinem Leibe hat, das hat man. All die andern Vorsichten sind Unsinn.“
„Recht so,“ sagte Hradscheck. „So mach’ ich’s auch. Aber wir sind bei dem Geld und dem Einnähen ganz von Polen abgekommen. Ist es denn wahr, Szulski, daß sie Diebitschen vergiftet haben?“
„Versteht sich, ist es wahr.“
„Und die Geschichte mit den elf Talglichten auch? Auch wahr?“
„Alles wahr,“ wiederholte Szulski. „Daran ist kein Zweifel. Und es kam so. Constantin wollte die Polen ärgern, weil sie gesagt hatten, die Russen fräßen bloß Talg. Und da ließ er, als er eines Tages elf Polen eingeladen hatte, zum Dessert elf Talglichte herumreichen, das zwölfte aber war von Marzipan und natürlich für ihn. Und versteht sich nahm er immer zuerst, dafür war er Großfürst und Vicekönig. Aber das eine Mal vergriff er sich doch, und da hat er’s runter würgen müssen.“
„Wird nicht sehr glatt gegangen sein.“
„Gewiß nicht … Aber, Ihr Herren, kennt Ihr denn schon das neue Polenlied, das sie jetzt singen?“
„Nein, das ist alt. Ein neues.“
„Und heißt?“
„Die letzten Zehn vom vierten Regiment … Wollt Ihr’s hören? Soll ich es singen?“
„Freilich.“
„Aber ihr müßt einfallen …“
„Versteht sich, versteht sich.“
Und nun sang Szulski, nachdem er sich geräuspert hatte:
Zu Warschau schwuren tausend auf den Knieen:
Kein Schuß im heilgen Kampfe sei gethan,
Tambour, schlag’ an, zum Blachfeld laßt uns ziehen,
Wir greifen nur mit Bajonetten an!
Und ewig kennt das Vaterland und nennt
Mit stillem Schmerz sein viertes Regiment.
„Einfallen! Chorus.“ „Weiter, Szulski, weiter.“
Ade, ihr Brüder, die zu Tod getroffen
An unsrer Seite dort wir stürzen sahn,
Wir leben noch, die Wunden stehen offen,
Und um die Heimath ewig ist’s gethan;
Herr Gott im Himmel, schenk’ ein gnädig End’
Uns letzten Zehn vom vierten Regiment.“
Chorus:
Alles jubelte. Dem alten Quaas aber traten seine schon von Natur vorstehenden Augen immer mehr aus dem Kopf.
„Wenn ihn jetzt seine Frau sähe,“ rief Kunicke.
„Da hätt’ er Oberwasser.“
„Ja, ja.“
Und nun stieß man an und ließ die Polen leben. Nur Kunicke, der an anno 13 dachte, weigerte sich und trank auf die Russen. Und zuletzt auch auf Quaas und Kätzchen.
Mietzel aber war ganz übermüthig und halb wie verdreht geworden und sang, als er Kätzchens Namen hörte, mit einem Male:
„Nicht mal seiner eignen Frau,
Kätzchen weiß es ganz genau.
Miau.“
Quaas sah verlegen vor sich hin. Niemand indessen dachte mehr an Uebelnehmen.
Und nun wurde der Ladenjunge gerufen, um neue Flaschen zu bringen.
So ging es bis Mitternacht. Der schräg gegenüber wohnende Kunicke wollte noch bleiben und machte spitze Reden, daß Szulski, der schon ein paarmal zum Aufbruch gemahnt, so müde sei. Der aber ließ sich weder durch Spott noch gute Worte länger zurückhalten; „er müsse morgen um neun in Frankfurt sein.“ Und damit nahm er den bereit stehenden Leuchter, um in seine Giebelstube hinaufzusteigen. Nur als er die Thürklinke schon in der Hand hatte, wandt’ er sich noch einmal und sagte zu Hradscheck: „Also vier Uhr, Hradscheck. Um fünf muß ich weg. Und versteht sich, ein Kaffee. Guten Abend, ihr Herren. Allerseits wohl zu ruhn!“
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Auch die Bauern gingen; ein starker Regen fiel und alle fluchten über das scheußliche Wetter. Aber keine Stunde mehr, so schlug es um, der Regen ließ nach und ein heftiger Südost fegte statt seiner über das Bruch hin. Seine Heftigkeit wuchs von Minute zu Minute, so daß allerlei Schaden an Häusern und Dächern angerichtet wurde, nirgends aber mehr als an dem Hause der alten Jeschke, das grad’ in dem Windstrome lag, der, von der andern Seite der Straße her, zwischen Kunicke’s Stall und Scheune mitten durchfuhr. Klappernd kamen die Ziegel vom Dachfirst herunter und schlugen mit einem dumpfen Geklatsch in den aufgeweichten Boden.
„Dat’s joa groad’ as ob de Bös kümmt,“ sagte die Alte und richtete sich in die Höh, wie wenn sie aufstehen wolle. Das Herausklettern aus dem hochstelligen Bett aber schien ihr zu viel Mühe zu machen und so klopfte sie nur das Kopfkissen wieder auf und versuchte weiter zu schlafen. Freilich umsonst. Der Lärm draußen und die wachsende Furcht, ihren ohnehin schadhaften Schornstein in die Stube hinabstürzen zu sehn, ließen sie mit ihrem Versuche nicht weit kommen, und so stand sie schließlich doch auf und tappte sich an den Herd hin, um hier an einem bischen Aschengluth einen Schwefelfaden und dann das Licht anzuzünden. Zugleich warf sie reichlich Kienäpfel auf, an denen sie nie Mangel litt, seit sie letzten Herbst dem vierjährigen Jungen von Förster Nothnagel drüben in der neumärkischen Haide das freiwillige Hinken wegkurirt hatte.
Das Licht und die Wärme thaten ihr wohl, und als es ein paar Minuten später in dem immer bereit stehenden Kaffeetopfe zu dampfen und zu brodeln anfing, hockte sie neben dem Herde nieder und vergaß über ihrem Behagen den Sturm, der draußen heulte. Mit einem Mal aber gab es einen Krach, als bräche was zusammen, ein Baum oder ein Strauchwerk, und so ging sie denn mit dem Licht ans Fenster und, weil das Licht hier blendete, vom Fenster her in die Küche, wo sie den obern Thürladen rasch aufschlug, um zu sehn, was es sei. Richtig, ein Theil des Gartenzauns war umgeworfen, und als sie das niedergelegte Stück nach links hin bis an das Kegelhäuschen verfolgte, sah sie, zwischen den Pfosten der Lattenrinne hindurch, daß in dem Hradscheck’schen Hause noch Licht war. Es flimmerte hin und her, mal hier mal da, so daß sie nicht recht sehen konnte, woher es kam, ob aus dem Kellerloch unten oder aus dem dicht darüber gelegenen Fenster der Weinstube.
„Mien Jott, supen se noch?“ fragte die Jeschke vor sich hin. „Na, Kunicke is et kumpafel. Un dann seggt he hinnerher, dat Wedder wihr Schull un he künn nich anners.“
Unter dieser Betrachtung schloß sie den Thürladen wieder und ging an ihre Herdstätte zurück. Aber ihr Hang zu spioniren ließ ihr keine Ruh, und trotzdem der Wind immer stärker geworden war, suchte sie doch die Küche wieder auf und öffnete den Laden noch einmal, in der Hoffnung, ’was zu sehn. Eine Weile stand sie so, ohne daß etwas geschehen wäre, bis sie, als sie sich schon zurückziehn wollte, drüben plötzlich die Hradscheck’sche Gartenthür auffliegen und Hradscheck selbst in der Thüröffnung erscheinen sah. Etwas Dunkles, das er schon vorher herangeschafft haben mußte, lag neben ihm. Er war in sichtlicher Erregung und sah gespannt nach ihrem Hause hinüber. Und dann war’s ihr doch wieder, als ob er wolle, daß man ihn sähe. Denn wozu sonst das Licht, in dessen Flackerschein er dastand? Er hielt es immer noch vor sich, es mit der Hand schützend, und schien zu schwanken, wohin damit. Endlich aber mußt’ er eine geborgene Stelle gefunden haben, denn das Licht selbst war weg und statt seiner nur noch ein Schein da, viel zu schwach, um den nach wie vor in der Thüröffnung liegenden dunklen Gegenstand erkennen zu lassen. Was war es? Eine Truhe? Nein. Dazu war es nicht lang genug. Oder ein Korb, eine Kiste? Nein, auch das nicht.
„Wat he man hett?“ murmelte sie vor sich hin.
Aber ehe sie sich, aus ihren Muthmaßungen heraus, ihre Frage noch beantworten konnte, sah sie, wie der ihr auf Minuten aus [568] dem Auge gekommene Hradscheck von der Thür her in den Garten trat und mit einem Spaten in der Hand rasch auf den Birnbaum zuschritt. Hier grub er eifrig und mit sichtlicher Hast, und mußte schon ein gut Theil Erde herausgeworfen haben, als er mit einem Male das Graben aufgab und sich aufs Neue nach allen Seiten hin umsah. Aber auch jetzt wieder (so wenigstens schien es ihr) mehr in Spannung als in Angst und Sorge.
„Wat he man hett?“ wiederholte sie.
Dann sah sie, daß er das Loch rasch wieder zuschüttete. Noch einen Augenblick, und die Gartenthür schloß sich und alles war wieder dunkel.
„Hm,“ brummte die Jeschke. „Dat’s joa binoah, as ob he een’ abmurkst hett’. Na, so dull wahrd et joa woll nich sinn … Nei, nei, denn wihr dat Licht nich. Awers ick tru em nich. Un ehr tru ick ook nich.“
Und damit ging sie wieder bis an ihr Bett und kletterte hinein.
Aber ein rechter Schlaf wollt’ ihr nicht mehr kommen, und in ihrem halbwachen Zustande sah sie beständig das Flimmern im Kellerloch und dann den Lichtschein, der in den Garten fiel, und dann wieder Hradscheck, wie er unter dem Baume stand und grub.
Die hohe Rhön.
Hunger und Rhön sind im Volksmunde zwei fast gleichbedeutende Begriffe. Eine Rhöntour anrathen, erscheint fast schlimmer, als eine Kur nach Schweninger und Oertel. Der Grund liegt in dem Hungertyphus, welcher vor einigen Jahren mehrere Dörfer der Rhön befiel, und in der scheinbar unwirthlichen Außenseite des Gebirges. Was soll die Rhön auch bieten? Fährt man im Mai von Eisenach nach Frankfurt, wann der Thüringer Wald seine Schneehaube schon abgeschüttelt hat und in Frankfurt den Reisenden die ersten blühenden Obstbäume erwarten, so sieht man von Fulda gegen Osten einen langgestreckten, waldlosen Höhenzug, welcher noch mit Schnee bedeckt ist; kehren wir im Herbst von dem Süden zurück, so tragen schon oft im September die gleichen Berge ihr winterliches Gewand. Dies ist die Rhön. Dazu laden Namen wie Kaltennordheim, Wasserkuppe, Wüstensachsen gerade nicht zu einem freundlichen Besuche ein. So mag es kommen, daß die im Herzen Deutschlands gelegene Rhön zu den unbekanntesten und wenigst besuchten Gebirgen unseres Vaterlandes gehört. Jedoch mit Unrecht. Der höhere Theil ist zwar unbewaldet, aber die Bergabhänge und Vorberge sind mit den herrlichsten alten Buchenwäldern geziert, und überall findet der Wanderer genügende Erfrischungen und gutes Nachtlager nach anstrengenden Märschen. Milseburg, auch Milzenburg genannt, Wasserkuppe und Kreuzberg können in jede Konkurrenz mit anderen Gebirgsgegenden eintreten.
Die Rhön ist von Neustadt-Bischofsheim, Kissingen, Fulda oder Salzungen auf das Leichteste zu erreichen. Der Nordländer, welcher dieselbe nur auf einige Tage durchkreuzen will, verläßt in Salzungen, dem altberühmten Soolbade mit seinen großartigen Gradirwerken, die Werrabahn und gelangt an reizenden zu Sommerfrischen geeigneten Ortschaften vorüber nach Zella, einer einstmaligen reichen Benediktinerabtei. Ein kurzer, wenig anstrengender Fußmarsch führt uns hier auf einen Gebirgssattel, welcher, mit dürrem Gras und einem Gehöft bedeckt, merkwürdig gegen die bisherige fruchtbare Umgebung absticht. Dieses Plateau, „Theobaldshof“, bietet ein wunderbares Panorama der Rhön. Schroff fällt der Sattel an der anderen Seite herab. Zu unseren Füßen liegt das Städtchen Tann, Stammsitz des verstorbenen berühmten bayerischen Generals, drei große Gebäude leuchten als rothes, blaues und gelbes Schloß hervor. Hinter Tann erheben sich die breiten Rücken, Kuppen und Zacken der eigentlichen Rhön, umgeben von einem Lichte, welches die Linien der Berge merkwürdig scharf hervortreten läßt, zur Rechten begrenzt die Milseburg das schöne Landschaftsbild.
Weiter führt der Weg an nichts weniger als armselig aussehenden Rhöndörfern und Städtchen nach dem Rücken des Gebirges. Wozu man in der Schweiz Tage gebraucht, den Uebergang der Vegetation zu sehen, das erblickt man hier in Stunden. Die Bäume werden immer seltener, bevor wir den Marktflecken Wüstensachsen, wo Karl der Große besiegte Sachsen angesiedelt haben soll, erreichen. Nicht zu hoch (1700 Fuß) und in einem Thaleinschnitt gelegen, entrollt sich plötzlich vor dem Wanderer ein Bild der hohen Rhön. Naßkalte Winde und langer Winter lassen nur weniges Getreide in der Umgebung gedeihen. Die Augustsonne schickt ihre glühendsten Strahlen, kein Baum bietet Schatten, nur kurzes Rhöngras, mit der schönen Wetterdistel durchsetzt,[1] bedeckt den Boden, und dennoch wird der Wanderer nicht ermüdet, denn der scharfe Rhönwind belebt die sinkenden Kräfte. Bald beginnt ein einsames Haus aus dem Wiesenmeere aufzutauchen, es ist das Schutzhaus der hohen Wasserkuppe, des höchsten Berges der Rhön (3026 Fuß). Der in der Neuzeit nur auf alpine Genüsse trainirte Tourist lächelt in dieser Gegend bei dem Worte „Schutzhaus“, wenn er aber in einem tückischen Rhönnebel glücklich einmal ein solches Asyl erreicht, weiß er erst, welchen Dank er der umfassenden Thätigkeit des Rhönklubs zu schulden hat.
Wo findet man aber hier die Schönheit, fragt mancher Leser? Dieselbe beruht in der ganzen Eigenartigkeit des Bildes. Wie in den Hochebenen Schottlands, so erstrecken sich hier meilenweit die weiten Grasflächen, und nur wenige Dörfer und Gehöfte, in Einschnitten gelegen, erinnern an menschliche Stätten. Trotz der nicht zu großen Höhe sehen wir eine Hochgebirgslandschaft, wie sie in dieser Ausdehnung Mitteldeutschland sonst nirgends bietet. An die Schönheit des Meeres und der Wüste erinnert die Rhön. Dabei schüttelt der naßkalte Wind das eiserne mit guten Betten und sogar Telephon versehene Haus, und läßt ein Koncert erschallen, welches den frühen und langen Winter der Rhön erklärt. Die Wälder sind auf den Oberflächen der Berge verschwunden, nirgends bieten sich den Stürmen Hindernisse. Die Thäler sind breit und kurz eingeschnitten; einige in der Nähe gelegene große Torfmoore, welche gesunkene Dörfer enthalten sollen, deren jugendliche Schönen sich in den umliegenden Ortschaften als Moorjungfrauen früher öfter sehen ließen, tragen durch ihre Verdunstung noch mehr zur Kälte bei. Es klingt fast unglaublich, daß in den Kohlengruben unfern der Wasserkuppe Pflanzen gefunden wurden, welche jetzt nur in Afrika und Chile gedeihen.
Beim Abstieg nach dem freundlichen Bischofsheim erhebt sich plötzlich im einer Grasmulde ein Zeltlager, aus dem fröhliches Jauchzen schallt, vor unseren Blicken. Es ist Abend, um die Herdfeuer tanzen jugendliche Gestalten; haben wir Zigeuner vor uns oder auferstandene Moorgespenster? Das Räthsel löst sich beim Näherkommen: es sind die Bewohner der umliegenden Dörfer, welche im August wochenlang auf den hohen Triften, dieselben abmähend, zubringen, während nur Kranke und Schwache in den stundenweit entfernten Häusern zurückbleiben. Es ist ein reizendes Bild, die kräftigen Gestalten mit den biedern Gesichtszügen, die Mädchen mit den röthlich blonden, an die alten Deutschen erinnernden Haaren, umher lagert die Viehheerde, einfache Leinwandzelte schützen vor Wetter und Wind. Dies ist die Hochsaison der Rhöner. –
Von Bischofsheim führt ein kurzer Weg nach dem heiligen Kreuzberg (2800 Fuß), auf dessen Gipfel sich eines der wenigen Klöster Deutschlands befindet. Mehrfach im Jahre finden große Wallfahrten dahin statt; dann lagern überall in Kirche, Kloster, Wirthshaus und selbst im Walde die Wallfahrer, so daß der Tourist an solchen Tagen auf die nothwendigste Stärkung verzichten muß. – Bei dichtem Herbstnebel nach einigen Irrwegen tauchen endlich düstere Gebäude vor uns auf. Der schwere Klopfer schallt durch die Klosterpforte. Ein Laienbruder öffnet und fährt uns in das Fremdenzimmer, dessen Wärme angenehm gegen die rauhe Außenluft absticht. Ein vorgesetzter Vogelbeerenschnaps, welchem ein guter Imbiß mit selbstgebrautem Biere folgt, erwärmt die durchkälteten Glieder. Bald tritt der Pater Vikar ein und schildert das einsame Leben und das Wirken der Brüder. Schon wenn man im Sommer in dem auch den Damen zugänglichen Kloster übernachtet, kann man sich die Entbehrungen des Winters vorstellen.
[569][570] Strömender Regen, welcher am andern Morgen keine Aussicht ermöglichte, führte uns in die Kirche, in welcher der Pater einer Anzahl Wallfahrer darlegte, daß nur Der die wahre Vergebung der Sünden hier erlange, welcher den festen Entschluß mitbrächte, dieselben zu meiden.
Nach mehreren Jahren wiederholte ich von Kissingen aus meinen Besuch. Bis zu dem Dörfchen Sandberg fährt uns ein Wagen, von hier aus bringt uns ein kurzer Marsch durch den Wald nach der Kuppe. Die Aussicht nach Kissingen, den Ruinen der alten Salzburg, in welcher Karl der Große Hof hielt, ist ebenso schön als gegen Norden, nach der Einöde der Rhön. Im Kloster bewirthete uns wieder, aber stiller als sonst, der bekannte Laienbruder, doch erst beim Weggange erschien der Pater Vikar. Es war ein eigenartiges, unseren Zeiten so fremdes Bild, als er uns beim Abschied unter der von hohen Bäumen beschatteten Klosterpforte den letzten Gruß zuwinkte.
„Wir haben die Sachsen so gern," erzählte er, aber dieses Jahr war einer hier, das war ein böser Mann, der gab uns Allen Spitznamen." Uebel angebrachte Ausnutzung der Gastfreundschaft, denn als Gast muß man sich hier betrachten, eine freiwillige Spende entschädigt die Wirthe.
Doch wir müssen eilen, um durch das als Sommerfrische sich hebende Gersfeld unser Endziel Kleinsassen zu erreichen. Es ist finster geworden, als wir zum Wirthshaus gelangen: bei dem Oeffnen der Thür bietet sich ein Defregger-Bild unsern Augen dar. Im hohen Lehnstuhle sizt der weißhaarige Wirth an dem altmodischen Ofen, im Vordergrunde betrachtet seine jugendliche Tochter und jetzige Wirthin, die Wittwe eines bekannten Malers, mit Kennerblicken eine eben gefertigte Skizze, welche ihr ein stattlicher Mann hinreicht, dessen Künstlerkopf allein, ohne daß wir Sammetrock und Stulpenstiefel zu betrachten brauchen, den Maler verräth. Wir befinden uns in einem Künstlerheim, wie es nur noch wenige in unserem prosaischen Zeitalter giebt, das einfache Wirthshaus zeigt an Thüren und Wänden bis zum kleinen Leiterwagen herab den Humor und Ernst seiner Sommerbewohner.
An die Milseburg, den größten Felsen der Rhön, lehnt sich unser Dörfchen, prächtige, mit Tannen durchsetzte Buchenwälder umsäumen es von allen Seiten, eine Sommerfrische, wie es nur wenige Orte giebt, zumal ein zweites Gasthaus hinreichenden Platz sichert.
Aehnlich dem Kreuzberge umfaßt die Aussicht der Milseburg, welche an Stelle der verschwundenen Schloßruine jetzt eine Kreuzigung mit Kapelle trägt, auch ein Stück ebenes Bild: in der Ferne liegt Fulda mit seinem Dome, von wo aus Kleinsassen am schnellsten zu erreichen ist, in der Nähe leuchtet auf einem waldigen Hügel das große Schloß Bieberstein, der beliebte frühere Sommeraufenthalt der Fuldaer Bischöfe. Den Blick gegen Südosten zeigt das unterste Bild unseres Rhöntableaus. Eine echte, wilde Rhönlandschaft mit einem Lichteffekt, wie ihn der Maler selten in anderen Gegenden findet. Ein kleiner Teich im Vordergrunde soll den Milseburger Rittern als Schwimmbassin gedient haben, daher Bubenbad und Bubenbader Stein, der schroffe Fels dahinter. Die kleine Wiese daneben leitet ihren Namen Danzwiese von den fröhlichen Tänzen der Ritter her; im Hintergrunde beschließt der langgestreckte Rücken der Wasserkuppe das Bild.
Am Abend versammeln sich Meister und Jünger unter dem Vorsitze der angenehmen Wirthin zu dem gemeinschaftlichen Mahle, neue Ankömmlinge erweitern den Kreis, eine kräftige Gestalt tritt ein, nach Jahren sofort wieder erkannt, es ist Kanold, dessen prächtiges Bild „Antigone" die „Gartenlaube" vor Kurzem (Nr. 28) wiedergab.
Ich habe unseren Lesern eine kleine Idylle verrathen, möchten mir die künstlerischen Insassen deßhalb nicht grollen, jeder Besucher muß fest versprechen, den poetischen Zauber ihres Heims zu bewahren.
Neunzig Jahre gemeinnütziger Thätigkeit.
Ein volkswirthschaftlicher Schriftsteller hat vor etwa 20 Jahren die damaligen Herzogthümer Schleswig-Holstein ein wahres Kalifornien für Studien auf dem Gebiete praktischer Socialwirthschaft, des Staats- und Privatrechts genannt. Dieses Wort gilt bis zum heutigen Tage. Wir brauchen nur ein paar Thatsachen hervorzuheben, um dafür den Nachweis zu liefern. Schleswig-Holstein besitzt zweifellos die buntesten Güter- und Erbrechtsverhältnisse in Staat und Reich. Die Zusammensetzung seiner Bevölkerung ist von außerordentlicher Mannigfaltigkeit, und die Sprachdialekte weichen so sehr von einander ab, daß der gemeine Mann sich oft kaum mit seinem zehn Meilen von ihm entfernt wohnenden Landsmann verständigen kann. Der schmale Streifen Land, den die Provinz von Osten bis Westen bildet, enthält ganz verschiedenartige Bodenverhältnisse, und kaum minder wechseln die klimatischen Bedingungen ab. Die Provinz zählt unter allen preußischen Provinzen die wenigsten Analphabeten, ebenso nimmt sie die günstigste Stellung im Staate in der Verbrecherstatistik ein. Gleichzeitig aber liefert sie das größte Kontingent für das – Irrenhaus; nicht weniger zählt sie die meisten – Selbstmörder.
Schleswig-Holstein finden wir dann aber gleichfalls obenan in Preußen durch die Zahl seiner Sparkassen, die Zahl der Sparer und die Höhe des von diesen jährlich zurückgelegten Vermögens. Dabei ist zu bemerken, daß die Entwickelung der Sparkassen in Schleswig-Holstein eine durchaus andere gewesen und in der Hauptsache auch geblieben ist, als in allen übrigen Theilen des Staates und in manchen andern Landen des Reiches. Ein von jeher lebhaft entwickelter Sinn für genossenschaftliches Handeln[2] hat sich hier schon fast ein Jahrhundert hindurch glänzend bewährt. Vollständig aus der eigenen Initiative der Bevölkerung ohne jede gesetzliche Regelung, ohne alle behördliche Kontrole, so sind die allermeisten schleswig-holsteinischen Sparkassen entstanden, von denen 1796 die erste errichtet wurde und deren es nach und nach über 200 geworden sind. Keine städtische Gemeinde giebt es ohne Sparkasse, und über 150 ländliche Gemeinden können wir nennen, die sich ebenfalls einer solchen Anstalt erfreuen.
Speciell auf diesem Gebiete der gemeinnützigen Thätigkeit wollen wir eine der bemerkenswerthesten Schöpfungen, die in vielfacher Richtung zur Lehre dienen mag, unsern Lesern kurz vorführen: „Die Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ in Kiel. Vor mehr als 90 Jahren wurde diese Institution durch den traurigen und unleidlichen Zustand hervorgerufen, in welchem sich damals die öffentliche Sorge für die Armen und den Unterricht der armen Kinder in Kiel befand. „Gebrechliche und Brotlose, aber zugleich auch Faule und Lüderliche belästigten die Einwohner auf den Straßen und in den Häusern, und die ohne Unterricht aufwachsenden Kinder der Armen wurden von früh an zu allen Bettlerkünsten erzogen,“ so hieß es in einem Aufruf der neu errichteten Gesellschaft.
Den ersten Anstoß zur Abhilfe dieser Mißstände gab eine am 1. November 1791 veröffentlichte Ansprache des Armendirektoriums der damals kaum 7000 Einwohner zählenden Stadt, in welcher der Wunsch nach Errichtung eines „Instituts zur Unterweisung der armen Kinder in der Religion und anderen nützlichen Kenntnissen, zur Bildung ihres Fleißes, sowie zur Arbeit der erwachsenen Armen“ ausgesprochen war. Lebhaften Anklang fand diese Aufforderung sofort bei einer kleinen Anzahl wohldenkender Männer, welche am 16. Juni 1792 sich erboten, die Ausführung der Sache in die Hand zu nehmen, die Einwohnerschaft für dieselbe zu interessiren und zu versuchen, durch eine freiwillige Subskription die Mittel für eine Arbeitsanstalt und eine Schule für arme Kinder aufzubringen. Die Armenbehörde nahm das Anerbieten dankbar an, und schon am 27. Juni 1792 konnte für die obigen Zwecke ein Verein gebildet werden, der sich „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ nannte und am Schluß des Jahres bereits 66 Mitglieder aus allen Ständen der Stadt zählte.
[571] Für ihre Wirksamkeit theilte die Gesellschaft die Stadt in Bezirke, an deren Spitze ein „Vorsteher“ gestellt wurde, unter welchem mehrere „Pfleger“ wirkten. Vier Ausschüsse: eine Versorgungs-, eine Arbeits-, eine Schul- und eine Krankenkommission wurden gewählt. Schon 1793 erwarb man ein großes Haus und richtete in demselben eine Lehr- und Arbeitsanstalt ein. Nachdem am 24. Mai 1793 der Gesellschaft die staatliche Anerkennung ertheilt war, wurden am 3. Juni desselben Jahres die neue Armenanstalt und das Freischulhaus feierlich eingeweiht.
Freilich waren damals die Zeiten für derartige Bestrebungen ungemein günstig. Humanitätsfragen beschäftigten lebhaft die gebildeten Kreise, und so entfalteten auch die Kieler Gelehrten und Universitätslehrer eine aufopferungsvolle Thätigkeit für die neugegründete Gesellschaft, die selbst über eine eigene Zeitschrift verfügte, die „Kielische gemeinnützige Nachrichten“ (1776 gegründet), welche dann als „Wochenblatt zum Besten der Armen in Kiel“ bis 1879 bestanden hat.
Das Bestreben der Gesellschaft ging vor Allem darauf hin, die Armen womöglich wieder zur Selbständigkeit zu bringen, die Kinder derselben aber durch Ausbildung und Erziehung zu brauchbaren Mitgliedern des menschlichen Gemeinwesens zu machen.
Die Arbeitskommission hatte darum die Aufgabe, arbeitsfähigen eingezeichneten Armen durch Spinnen und Stricken Arbeit zu verschaffen und den Kindern in der Arbeitsschule Anleitung zu dieser Beschäftigung geben zu lassen. In richtiger Würdigung der Verhältnisse wurde im Jahre 1795 außerdem eine Sonntagsschule für Erwachsene eingerichtet, welche Gesellen, Lehrlinge und Dienstmädchen aufnahm, um deren Schulunterricht zu vervollständigen. Zur Aufsicht über die aus der Freischule entlassenen Knaben und Mädchen, namentlich solche, die elternlos waren oder deren Eltern nicht zur Erfüllung ihrer Pflichten geeignet erschienen, setzte man ferner 1798 eine Aufsichtskommission ein, deren Mitglieder schon in den beiden ersten Jahren bei 54 Knaben und 70 Mädchen Elternstelle vertraten.
Hand in Hand mit diesen Bestrebungen ging alsbald die Ausführung eines anderen Planes. Schon im Jahre 1793 beschäftigte sich die Gesellschaft mit der „Erwägung der zweckdienlichsten Vorschläge, um die Quellen der Verarmung am Orte zu verstopfen“. Man berief wiederum eine Kommission zur näheren Prüfung dieser Angelegenheit, die namentlich zwei Wünsche formulirte: „Erstens um zu verhüten, daß Dienstboten, Arbeiter und Andere ihr Erworbenes verschwenden oder durch unsicheres Ausleihen verlieren möchten, solle eine Sparkasse, bei der die kleinsten Summen sicher zinsbar untergebracht und im benöthigten Falle jederzeit wieder erhoben werden könnten, errichtet werden, und zweitens eine Leihkasse für gewerbtreibende Bürger ins Leben treten, um diesen in vorkommenden Fällen aus der Verlegenheit zu helfen, damit sie nicht durch Verpfändung des Ihrigen oder durch abgedrungene wucherische Zinsen muthlos gemacht und außer Thätigkeit gesetzt werden möchten.“ Im Laufe der Jahre 1794 und 1795 wurden dem Publikum mehrere hierauf bezügliche Vorschläge unterbreitet. Endlich konnte unterm 27. Mai 1796 die Kieler Sparkasse, die erste ihrer Art in Schleswig-Holstein, als eröffnet angekündigt und die Leihkasse als baldigst folgend versprochen werden. Gleichzeitig wurde für die Thätigkeit eine Reihe wohldurchdachter Festsetzungen getroffen, die in den Hauptgrundzügen bis auf den heutigen Tag maßgebend geblieben sind – Regeln, so gründlich erwogen, daß sie noch jetzt für jede kleinere Sparkasse als Basis gebraucht werden könnten. Schon der erste veröffentlichte Jahresbericht hebt hervor: „Bald darauf (nach dem Inslebentreten der Sparkasse) sahen wir mit großer Freude, wie uns so reichlich kleinere und größere Summen als Darlehen gebracht wurden. Die Meisten gaben ihr Geld auf Zins und Zinseszinsen hin.“
Ganz langsam ging die Entwickelung im ersten Jahrzehnte, aber beständig fortschreitend. Die Leihkasse ließ nicht lange auf sich warten. Gemeinsinnige Männer zeichneten Verlustaktien zur Deckung etwaiger Verluste; unterm 4. Juni 1798 erschien ein königliches „Placet“, welches der neuen Schöpfung gewisse Vorrechte einräumte, und am 4. März nächsten Jahres begann dieselbe ihre Thätigkeit. Auch hierfür trat sofort ein umfangreiches Statut in Kraft, welches ebenso sehr für die Vorsicht und den klaren Blick der Verwaltung wie für den humanen Geist derselben spricht.
So steht bereits die Spar- und Leihkasse zu Kiel als eine vollständig abgeschlossene Organisation vor Schluß des letzten Jahrhunderts da – zu einer Zeit, wo im Uebrigen nur sechs Sparkassen überhaupt bekannt waren. Bei Ablauf der ersten drei Jahre schloß die Verwaltung mit einem Verluste von einigen hundert Mark. Wie hat sich indeß im Laufe der Zeit gerade diese Einrichtung entwickelt! Am Schlusse des neunundachtzigsten Rechnungsjahres, ultimo März 1885, enthielt die Sparkasse über 17 Millionen Mark Einlagen, und es hatte dieselbe gegen 19 Millionen Kapitalien ausgeliehen. Das Reinvermögen derselben stellte sich auf rund anderthalb Millionen, der Reingewinn für das Vorjahr auf 154 234 Mark.
Den Fortgang der Gesellschaft im Einzelnen zu schildern, würde den uns bemessenen Raum weit überschreiten. Zu einer Umgestaltung des Kieler Armenwesens kam es erst 1871 in Folge Ausführung des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz, durch welches das Armenwesen ausschließlich den Gemeindebehörden zufiel. Nur die 1793 errichtete Freischule war schon vorher, 1861, in die städtischen Schulen Kiels eingegliedert worden.
Der Gesellschaft blieb jetzt keine andere Wirksamkeit übrig, als die Beschlußfassung über die Ueberschüsse der Spar- und Leihkasse. Sollte sie trotzdem als ein lebendiger Organismus weiter bestehen, so genügte es nicht, sich auf die bloße Vertheilung der Ueberschüsse und die Verwaltung der ihr verbliebenen Spar- und Leihkasse zu beschränken. Es galt vielmehr, sich neue Aufgaben zu stellen. Dies geschah nun, indem eine Anzahl von Ausschüssen neu gebildet und einige der früheren entsprechend umgestaltet wurden, und es bedarf nur einer kurzen Umschau auf das gegenwärtige Arbeitsfeld der Gesellschaft, um zu erkennen, daß die letztere durch jene Entlastung von der Armenpflege nicht nur nichts verloren, sondern im Gegentheil viel gewonnen hat.
Wie die alten Satzungen der Gesellschaft, wenn auch mit allerlei Aenderungen, noch bis zum heutigen Tage bestehen, so ist auch aus der früheren Organisation Verschiedenes übernommen. Es giebt wie dereinst eine Centralleitung, mit einem „Wortführer“ an der Spitze, und es bestehen noch immer die periodischen Plenarversammlungen. Unter diesen wirken die Ausschüsse für die Centralverwaltung und eine stattliche Reihe von Kommissionen für die gemeinnützige Thätigkeit. Und wie groß und vielgestaltig ist das Gebiet, auf dem hier der echte Bürgersinn mit unermüdlichem Eifer die Leiden der Unglücklichen zu mildern sucht! Da steht obenan die Helferkommission, welche, nach den Pfarrbezirken der Stadt in vier Abtheilungen gegliedert, in Verbindung mit dem Frauenverein für Armen- und Krankenpflege der Unterstützung verschämter Armen sich widmet. Sie verausgabt durchschnittlich 20000 Mark im Jahre, wovon ihr 14000 Mark aus Gesellschaftsmitteln zufließen. Die Aufsichts- und Erziehungskommission hat sich den Schutz der aus den Freischulen entlassenen, hier in die Lehre oder in Dienst getretenen Kinder, die sonstiger Obhut entbehren, zur Aufgabe gestellt. Die Arbeitskommission sorgt für Arbeitsbeschaffung, sei es durch Nachweis von Beschäftigung, sei es durch unmittelbare Gewährung von Arbeit, sie hat seit Jahren bereits Hausfleißkurse in den verschiedenen städtischen Schulen, ferner sogenannte offene Abende für Stopfen und Flicken – in denen 400 Mädchen aus den Freischulen in der so wichtigen Kunst des selbständigen Ausbesserns ihrer und ihrer Angehörigen Kleidungsstücke unterwiesen werden – errichtet: dieselbe Kommission hat endlich im Vorjahre den ersten Knabenhort in Schleswig-Holstein ins Leben gerufen. Die Schulkommission führt die Aufsicht über die Frauengewerbeschule – in ihrer Unterrichtsweise und ihren Erfolgen eine Musteranstalt – für welche die Gesellschaft im Vorjahre ein eignes Gebäude zum Werthe von über 60 000 Mark hat aufführen lassen. Die Kommission für die warmen Bäder erleichtert es jährlich mehr als 12 000 Personen, der Wohlthat eines Warmbades theilhaftig zu werden, indem sie von den wirklichen Kosten eines solchen (30 Pfennig) je 25 Pfennig beiträgt und die betreffende Karte für 5 Pfennig alten Unbemittelten abläßt. Für die Volksküche ist erst im April d. J. ein neues Gebäude mit einem Kostenaufwande von über 80 000 Mark fertig gestellt worden, welches durch seine ausgezeichneten Einrichtungen (es befindet sich daselbst unter Anderem der aus der Berliner Hygiene-Austellung so allgemein anerkannte Becker’sche Dampfkochapparat) eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges bildet. Hunderte von kleinen Leuten erhalten hier täglich gegen eine billige [572] Vergütung eine nahrhafte Kost; aber auch hier wird der Grundsatz beobachtet: kein Almosen. Die Volksküche hat noch alljährlich einen Reinertrag abgeworfen, der bei dem Bau des Hauses mit verwandt worden. Die Anlage des letzteren ist so getroffen, daß gleichzeitig in den oberen Stockwerken eine Mägdeherberge aufgenommen werden konnte. Die Kommission für die Ferienkolonien sendet seit 1881 während der Sommerferien Abtheilungen von armen, schwächlichen Kindern der Freischulen in die Umgegend der Stadt, um dort Stärkung ihrer Gesundheit zu finden. Bisher wurde in der Unterbringung der Kinder das Gruppensystem vorgezogen, während man diesjährig auch einen Versuch mit der Aufnahme in Familien machte, der sich glänzend bewährt hat. Die jüngste, an letzter Stelle genannte Kommission hat vor wenig Wochen gemeinsam mit dem Kieler Lokalverein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke die erste Kaffeeschenke am Platze eingerichtet.
Die Gesellschaft besitzt ein schönes, 1873 und 1874 erbautes eigenes Haus, in welchem bis jetzt die Sparkasse ihren Sitz hat und die Gesellschafts- und die meisten Kommissionssitzungen abgehalten werden. Für die Spar- und Leihkasse wird jedoch eben gegenwärtig ein großer Neubau ausgeführt.
Einzelne Kommissionen unterhalten sich selbst; die Mehrzahl dagegen ist natürlich auf die Unterstützung durch die Gesellschaft aus den Ueberschüssen der Spar- und Leihkasse angewiesen. Wie oben angegeben, betrug der Reingewinn im Vorjahre 154 234 Mark. Hiervon fließt die Hälfte dem Deckungsvermögen, der Reserve, der Sparkasse zu, während die andere Hälfte der Gesellschaft „zu gemeinnützigen Zwecken“ zur Verfügung gestellt wird. Mit der größten Gesammtsumme im Laufe der Jahre ist das Kieler Stadtkloster, eine Stiftung für alte Bürgerwittwen und Bürger, berücksichtigt worden, nämlich mit 110 600 Mark. Zum Bau einer neuen Arbeitsanstalt wurden 96 685 Mark hergegeben. Die Warteschule hat bisher 49 338 Mark, der Frauenverein 39 150 Mark, die Gewerbeschule 31 644 Mark, die Idiotenanstalt 20 895 Mark, die Pensionszulagekasse der städtischen Lehrer 18 000 Mark, das Kieler Mutterhaus zur Ausbildung von Krankenpflegerinnen [573] 14 200 Mark erhalten. Für die durch die Sturmfluth des Jahres 1872 Beschädigten in Kiel wurden seiner Zeit über 20 000 Mark bereit gestellt; behufs Gewährung von warmem Frühstück an arme Kinder während der Wintermonate (in der Volksküche) sind seit zwei Jahren die Mittel hergegeben worden etc. Es giebt kaum eine einzige Bestrebung von wahrhaft gemeinnützigem Charakter in Kiel, der die Gesellschaft nicht hilfreich beigetreten ist. Insgesammt sind solchergestalt bis jetzt rund 1 125 000 Mark zur Verwendung gelangt! Für außerordentliche Fälle hält die Gesellschaft noch einen besonderen Reservefonds bereit, der nichts mit demjenigen der Sparkasse gemein hat und zur Zeit 90 000 Mark beträgt.
In dieser Art ist die Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde in Kiel während der „neuen Aera“, seit 1871 thätig gewesen. Sie versteht eine große Zahl brauchbarer Kräfte in den Dienst des Gemeinsinnes, der christlichen Liebesarbeit zu stellen. In einzelnen Kommissionen, so in der Helfer-, Arbeits- und Volksküchen-Kommission erweisen sich Frauen als die treuen Mithelferinnen auf diesem Gebiete. Von der Gesellschaft im Ganzen darf endlich gesagt werden, daß in ihrem Kreise kein Unterschied der politischen Parteistellung und des Bekenntnisses gilt, daß als Mitglied Jeder willkommen, der an diesem schönen Werke mit arbeiten will.
Die Stadt Kiel mag mit Recht stolz darauf sein, ihren von nah und fern kommenden Gästen nicht allein die Naturschönheiten in nächster Umgegend, sondern auch die in der dortigen „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ verkörperten herrlichen Früchte fast ein Jahrhundert hindurch bewährter humanitärer Bestrebungen, die auf der Grundlage durchaus freier Initiative aufgebaut sind, zeigen zu können. Glücklich die Gemeinde, die in der Erfüllung der vielfachen wichtigen Aufgaben, welche unsere Zeit stellt, eine solch’ werthvolle Stütze findet!
Johann Dzierzon.
Zu den „Unsterblichen“ unseres deutschen Vaterlandes gehört ohne Zweifel der hochehrwürdige und verdienstvolle Mann, dessen Bildniß wir unseren Lesern hier vorführen, der Mann, dessen fünfzigjähriges Jubiläum als Bienenzüchter die Imkerwelt im Monat September dieses Jahres feiert. Wo immer in der ganzen Welt Bienen gezüchtet werden, da hat der Name Dzierzon den schönsten und besten Klang, da weiß man die hohen Verdienste des Trägers dieses Namens um die Bienenzucht zu schätzen. Letztere ist nun zwar ein Zweig der Landwirthschaft, der noch immer eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint, in der That aber reichen Segen verbreitet und in nicht zu unterschätzender Weise zum Volkswohlstand ein Schärflein mit beiträgt. Die Zucht der Bienen, der so nützlichen Insekten, die mit Recht als Sinnbild unverdrossenen Fleißes, peinlichster Ordnung und höchsten Kunstsinnes hingestellt werden, ist durch ihren indirekten und direkten Nutzen, den sie gewährt, von großer Bedeutung. Wer weiß es denn heutzutage nicht, daß die Biene einen hervorragenden Faktor im Haushalte der Natur bildet, daß sie es ist, welche im Verein mit den übrigen Honigsammlerinnen die Befruchtung der Blüthen vermittelt und die Entartung der Pflanzen in den meisten Fällen verhütet? Wem ist es nicht bekannt, daß das wundervoll ausgerüstete und veranlagte Insekt die nach vielen Millionen Mark zu schätzenden süßen Vorräthe aus den Blüthen der Pflanzenwelt sammelt, Schätze, die ursprünglich Niemand gehören und die ohne seinen Sammelfleiß verloren wären? Wer hat noch nicht davon gehört, wie so reichlich die Bienenzucht unter Aufwand eines geringen Anlagekapitals lohnt, wie sie jetzt vielfach für manche Bienenwirthe eine Hauptbeschäftigung bildet, welche ihren Mann ernährt und unendlich Vielen einen namhaften Nebenverdienst sichert. Daß die Bienenzucht selbst unter den heutigen durch die fortschreitende Kultur so sehr veränderten Verhältnissen so rentabel betrieben werden kann, das eben haben wir in erster Reihe dem Großmeister der Imker, Dr. Dzierzon, zu verdanken. Er war es, der hierzu den ersten Anstoß gegeben hat, der so recht der Pfadfinder und Bahnbrecher der Imker war. Denn was alles seit mehr als vierzig Jahren für den Fortschritt der Bienenzucht Hervorragendes, Werthvolles erfunden, entdeckt und geschaffen wurde, das hat er entweder selbst erfunden, entdeckt und geschaffen, oder er war es, der die Anfänge dazu lieferte, so daß es seinen Schülern nicht schwer fallen konnte ihm zu helfen, das Gebäude der neuen Bienenwirthschaftslehre in seinem Geiste weiter auszuführen. Dr. Dzierzon’s Hauptverdienste um die Bienenzucht gipfeln vornehmlich darin, daß es seinem Scharfsinn gelang, eine neue Bienenwohnung zu erfinden, die es möglich machte, den Bau der Bienen in leichter Weise und ohne Schädigung aus einander zu nehmen und wieder zusammen zu setzen. Infolge dessen ward es leicht, eine Einsicht in die geheime Werkstätte der Bienen zu gewinnen, das hochinteressante Bienenleben zu durchforschen und den Züchter vollständig zum Herrn des kleinen leicht erregbaren Insektes zu machen. Von jetzt an ging es Schlag auf Schlag weiter auf der Bahn des Fortschrittes.
Eine der wichtigsten Entdeckungen des Dr. Dzierzon war die durch die berühmten Professoren Leuckart in Leipzig und von Siebold in München später wissenschaftlich begründete Thatsache, daß die männlichen Bienen, die Drohnen, aus unbefruchteten Eiern hervorgehen, also keinen Vater, sondern nur einen Großvater haben.
Johann Dzierzon wurde am 11. Januar 1811 in dem ober schlesischen Dorfe Lowkowiz bei Kreuzburg geboren, studirte Theologie in Breslau und wurde im Jahre 1835 als katholischer Pfarrer in Karlsmarkt in Schlesien angestellt. 1869 ließ er sich pensioniren, lebte hier seit der Zeit bis vor einem Jahre ganz seinen Bienen und zog dann nach seinem Geburtsorte Lowkowiz, woselbst er sich ein eigenes Häuschen erbaute und wo er nun in Verbindung mit seinem Neffen fernerhin Bienenzucht betreibt. Rüstig an Geist und Körper, nimmt er den regsten Antheil an Allem, was auf dem Gebiete der Bienenzucht sich ereignet. So wird er auch der Wanderversammlung des deutschen Centralvereins für Bienenzucht, der circa 20 000 Mitglieder zählt, Anfangs September d. J. in Charlottenburg bei Berlin beiwohnen und einen Vortrag halten. Auch als Bienenschriftsteller ist er fortwährend noch thätig. Er ist ständiger Mitarbeiter der Gravenhorst’schen „Deutschen illustrirten Bienenzeitung“, welche im Septemberhefte eine mit mehreren Illustrationen geschmückte ausführliche, höchst interessante, von Dr. Dzierzon selbst verfaßte Beschreibung seines Lebens bringen wird.
Daß es einem so verdienstvollen Manne an Auszeichnungen nicht fehlen konnte, ist selbstverständlich. Wir beschränken uns jedoch darauf, dies hier nur zu erwähnen, können aber nicht umhin, noch zu bemerken, daß die deutschen Imker ihn als ihren Bismarck auf bienenwirthschaftlichem Gebiete betrachten und beschlossen haben, eine Dzierzon–Spende zu seinem fünfzigjährigen Imker–Jubiläum zu sammeln, um damit thatsächlich zu beweisen, wie sehr sie die Verdienste ihres Großmeisters anerkennen. C. J. H. Gravenhorst.
Beobachtungsstationen der Vögel Deutschlands.
Wir wenden uns wieder einmal an unsern weiten Leserkreis, um im deutschen Volke „Freiwillige“ für einen Ehrendienst bei der Wissenschaft zu werben. Wie dies schon wiederholt bei meteorologischen Beobachtungen etc. geschehen ist, wenden sich jetzt Gelehrte an das Volk, mit der Bitte um Hilfe bei der Erforschung unserer heimischen Vogelwelt. Der Kreis der Freunde und Kenner der gefiederten Sänger ist bekanntlich ungemein weit, und so können wir wohl hoffen, daß die nachfolgenden Worte eines unserer hervorragendsten Ornithologen nicht ungehört verhallen.
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Seit Anfang dieses Jahrhunderts sind hervorragende Naturforscher, durch tüchtige Mitarbeiter unterstützt, unablässig bemüht gewesen, auf Grund systematischer Forschung die vaterländische Vogelkunde zu fördern, unsere Kenntniß der einheimischen Vogelwelt zu erweitern und zu vervollständigen. Die Namen „Bechstein“, „Brehm“ und „Naumann“ sind die leuchtenden Vorbilder, nach welchen auch gegenwärtig an dem Ausbaue des von diesen ausgezeichneten Forschern begonnenen Werkes unermüdlich gearbeitet wird. Trotzdem hat die europäische, insonderheit die deutsche Ornithologie, noch zahlreiche Lücken aufzuweisen. [574] Nvch immer ist die Verbreitung vieler unserer einheimischen Vogelarten nicht mit vollständiger Genauigkeit festgestellt, noch begegnet man vielfachen Widersprüchen bezüglich der Lebenserscheinungen mancher Arten, und das Kapitel der Zugstraßen unserer nordischen Wanderer, welchem erst in neuerer Zeit ein allgemeineres Interesse zugewendet wurde, harrt noch der Bearbeitung, denn die in letzterer Beziehung bis jetzt vorliegenden Beobachtungen sind zu dürftig, um eine einigermaßen sichere Basis zu gewinnen, und vermögen noch keine thatsächlichen Stützen für die Hypothesen zu liefern, welche von Theoretikern aufgestellt wurden.
Um diese Lücken allmählich auszufüllen, Fragen zu beantworten, welche auch für andere Gebiete der Naturwissenschaft die weitesttragende Bedeutung haben, beschloß die „Allgemeine deutsche ornithologische Gesellschaft“ auf ihrer Jahresversammlung in Braunschweig im Jahre 1875, in Folge eines von Dr. Anton Reichenow gestellten Antrages, die Einrichtung ornithologischer Beobachtungsstationen. Der von dem Antragsteller ausgearbeitete und von der erwähnten Versammlung angenommene Plan ging dahin, in den verschiedensten Theilen Deutschlands Mitarbeiter zu werben, welche, mit der Vogelwelt ihres Wohngebiets vertraut, in der Lage wären, über die daselbst vorkommenden Vogelarten Auskunft zu geben, und welche ferner sich bereit erklärten, fortgesetzt das Leben der gefiederten Welt zu beobachten und über Ankunft und Abzug der Sommergäste, Durchzug der Wanderer, Nistzeit der Brutvögel, sowie über auffallende biologische Erscheinungen an eine Centralstelle, den seitens der ornithologischen Gesellschaft eingesetzten Ausschuß, zu berichten. Durch Zusammenstellung solcher gleichzeitig in verschiedenen Gegenden gesammelten Beobachtungen durfte man hoffen, ein zur Aufklärung mancher zweifelhaften Punkte der Vogelkunde geeignetes Material zu gewinnen. Es gelang damals dem „Ausschuß für Beobachtungsstationen“, die geschätzte Betheiligung von etwa 40 Mitarbeitern zu erlangen. Die auf Grund des aufgesetzten Programms regelmäßig angestellten Beobachtungen wurden in Form von Jahresberichten in dem Organ der Gesellschaft, dem von Professor Cabanis herausgegebenen „Journal für Ornithologie“ veröffentlicht.
Dem Vorgehen der deutschen Gesellschaft folgten im Jahre 1879 die Ornithologen Englands und später diejenigen Nordamerikas. In beiden Ländern wurden nach dem Muster der deutschen Einrichtung, aber unter den günstigeren Verhältnissen einer viel zahlreicheren Betheiligung gleiche Institutionen ins Leben gerufen. Die langen, in nord-südlicher Richtung sich hinziehenden Küsten Englands und Amerikas bieten besonders günstige Gelegenheit zur Beobachtung des Zuges der Wandervögel, und die Notizen, welche seitens der Leuchtthurmwächter fortgesetzt gesammelt werden, stellen, eine Reihe von Jahren durchgeführt, ein werthvolles Material in Aussicht. Auf Anregung des Kronprinzen Rudolph von Oesterreich-Ungarn wurde im Jahre 1882 durch den Ornithologischen Verein in Wien auch für die österreichischen Länder das System ornithologischer Beobachtungsstationen ebenfalls nach dem deutschen Muster eingeführt, und auf dem im Frühjahr 1884 in Wien stattgefundenen internationalen Ornithologen-Kongreß, wo diese Frage zur eingehenden Berathung gelangte, ist ein Komité gewählt worden mit dem Auftrage, für gleiche Einrichtungen in solchen Staaten zu wirken, wo dieselben zur Zeit noch nicht bestehen.
Wenngleich nun die Jahresberichte der deutschen Ornithologischen Gesellschaft, von welchen nunmehr sieben erschienen sind, manche wichtige Notiz bezüglich der Verbreitung und besonders hinsichtlich der Biologie unserer einheimischen Vögel enthalten, so hat doch der Erfolg den gehegten Erwartungen keineswegs entsprochen. Der bisher befolgte Plan, welcher auch in anderen Ländern angenommen wurde, erwies sich als nicht zweckmäßig. Insonderheit haben die aufgestellten Instruktionen und Fragen als zu umfangreich und schwierig sich herausgestellt, indem dieselben vollständig ornithologisch geschulte Beobachter voraussetzen. Mit Rücksicht hierauf wurde von dem Begründer des Beobachtungssystems, Dr. Reichenow, eine Reorganisation desselben beantragt und von der Jahresversammlung der Allg. Deutschen Ornithologischen Gesellschaft im September 1881 zum Beschluß erhoben. Die Umgestaltung betrifft ein allmählicheres, schrittweises Vorgehen, eine dementsprechende Vereinfachung der den Mitarbeitern zugehenden Instruktionen und die Aufstellung ganz bestimmter und zwar zunächst auf eine möglichst geringe Anzahl beschränkter Fragen, um so eine allgemeinere Betheiligung auch weniger geübter Mitarbeiter zu erzielen. Diesem eng begrenzten Plan liegen drei leitende Gesichtspunkte zu Grunde.
1. Feststellung der geographischen Verbreitung der Vögel Deutschlands. Zu diesem Zwecke ist der „Ausschuß für Beobachtungsstationen“ beschäftigt, Karten anzulegen, auf welchen die Verbreitung je einer oder, wenn möglich, mehrerer Vogelarten durch Eintragen der mit unbedingter Sicherheit festgestellten Wohnplätze (wie sie aus der älteren Litteratur oder den eingesandten Notizen der Mitarbeiter sich ergeben) dargestellt wird. So lange als diese Karten, welche eine klare Uebersicht über den gegenwärtigen Stand unserer diesbezüglichen Kenntnisse gewähren werden, wegen Lückenhaftigkeit noch nicht zur Veröffentlichung sich eignen, sollen die Mitarbeiter über die erlangten Resultate durch die Jahresberichte Mittheilung erhalten. Zur kartographischen Darstellung der Verbreitung sind zunächst dreißig bekanntere oder hinsichtlich ihres Vorkommens interessante Vogelarten ausgewählt worden, darunter die im Westen und Osten einander vertretenden Nachtigall und Sprosser, Raben- und Nebelkrähe, der allmählich nordwärts vorschreitende Girlitz und Andere.
2. Feststellung von Zug- oder Heeresstraßen. Da die meisten Wandervögel des Nachts oder in ungeheurer Höhe ziehen, somit meistens nur an der Stimme erkannt werden können, was oft auch für den geübtesten Beobachter schwierig ist, so wurde nur eine geringe Anzahl allgemein bekannter, nicht zu verwechselnder und dabei gewöhnlich während des Tages ziehender Arten, als Storch, Kranich, Reiher, Kiebitz, Wildgans, für die Zugbeobachtungen ausgewählt. Gelingt es durch gleichzeitige zahlreiche Beobachtungen, für die Frühjahrs- und Herbstwanderungen dieser Arten bestimmte Zugstraßen nachzuweisen, so ist eine Basis gewonnen, auf welcher erfolgreich weiter gearbeitet werden kann.
3. Feststellung biologischer Verhältnisse. In dieser Beziehung ist zunächst nur die Frage zur Beantwortung gestellt, bei welchen Vogelarten ein mehrmaliges Brüten innerhalb desselben Sommers beobachtet wurde, und zwar ob dies regelmäßig, häufiger, oder nur ausnahmsweise in besonders fruchtbaren Sommern der Fall war. Im Uebrigen bleibt es den Mitarbeitern überlassen, ihnen auffallende Erscheinungen in der Lebensweise der Vögel dem Ausschuß mitzutheilen.
Je nach der Förderung dieser zunächst in Angriff genommenen Punkte wird es möglich sein, in dem folgenden Jahre neue Fragen zur Beantwortung zu stellen. In Folge eines durch die Tageblätter veröffentlichten Aufrufs haben bereits mehrere hundert Beobachter in allen Theilen Deutschlands ihre Mitarbeiterschaft angemeldet, aber eine noch zahlreichere Betheiligung ist dringend erwünscht. Alle Kenner und Freunde der einheimischen Vogelwelt mögen darum ihre Adresse behufs Empfangnahme der Unterweisungen an den Geschäftsführer des Ausschusses für Beobachtungsstationen, Herrn Dr. Reichenow, Berlin SW., Großbeerenstraße 52, baldigst einsenden. Niemand möge seine Beobachtungen für zu geringfügig halten. Jede, auch die kleinste Notiz wird willkommen sein. R.
Orientalische Sprüche.
Willst Du die Feinheit des Goldes erkennen? Reibe es auf dem Prüfstein. – Die Kraft eines Ochsen? Belade ihn. – Das Wesen eines Mannes? Höre ihm zu. – Die Gedanken eines Weibes? Kein Mittel. Hindostanisch.
Höfliche Leute sind besonders dienstfertig, wenn ihre Liebe sich anderswohin gewendet hat. Indisch (Kalidasa).
Glückselig ist der Mann, der sein eigenes Brot ißt. Genieße Dein Eigenthum in der Freude des Herzens! Was Du nicht hast, erarbeite Dir. Altägyptisch.
Um eines Wortes willen wird ein Mensch für weise gehalten, um eines Wortes willen für thöricht. Wir sollten sorgsam sein in dem, was wir sagen. Chinesisch (Konfucius).
[575]
Unruhige Gäste.
(Fortsetzung.)
Die Weisheit Salomonis hat’s schon:
„Wo etwa ein Wind hauchte, oder die Vögel süße sungen unter den dicken Zweigen, oder das Wasser mit vollem Lauf rauschte, oder die Steine mit starkem Poltern fielen, oder die springenden Thiere, die sie nicht sehen konnten, liefen – oder der Widerhall aus den hohlen Bergen schallte: so erschreckte es sie und machte sie verzagt.“
Aber:
„Die ganze Welt hatte ein helles Licht und ging in unverhinderten Geschäften.“
So war’s freilich drunten im Bade!
Der Bergschrecken, die Angst beim Wehen des Windes, beim Singen der Vögel und dem Rauschen der Bäche war doch nur auf einen Theil der Gesellschaft, wenn gleich den „besten“, gefallen und hatte ihn in die Flucht getrieben; aber es befanden sich gegen zweitausend Fremde aller Stände im Thal, und ein Theil kann zwar unter solchen Umständen mehr sein als das Ganze, aber doch eigentlich niemals das Ganze selbst. In diesem Falle bedeutete das Bruchstück, Alles in Allem genommen, doch nur wenig. Neue Ankömmlinge, die nichts von dem Professor Bielow, der schönen Valerie, dem guten Onkel Anton, von Papa Excellenz, den Vettern und Basen und aller sonstigen Genossenschaft des uns angehenden Kreises wußten, hatten sich in die Kurliste eingetragen. Viel neue Koffer, Schachteln, Kisten und Kasten waren vor dem Aktienhôtel abgeladen worden; und andere sorglose, harmlose, ahnungslose Gäste hatten die leergewordenen Gemächer bezogen und sahen, von heimathlicher Schwüle und Sorge aufathmend, aus den hohen Fenstern auf die grünen Berge und in das fröhliche, bunte moderne Sommertreiben zu ihren Füßen.
Die Badeverwaltung hatte wahrlich das Ihrige gethan, alle verdrießlichen Folgen des betrüblichen Zufalls und jedes böse Gerücht davon im Keime zu ersticken, und Doktor Hanff hatte ihr getreulich dabei geholfen – auch ein wenig im eigenen Interesse.
Es schien Niemand fortgegangen – abgereist zu sein. Es fehlte keine Farbe, kein Ton, kein kluges und kein albernes Wort um die springenden Brunnen, in den Sälen, auf den zierlich gehaltenen Waldwegen, auf den Ruhebänken und lustigen Wiesenflächen: auch diese flüchtige „ganze Welt“ hatte ihr helles Licht behalten und ging unverhindert ihren Geschäften und ihrem Vergnügen nach. Wer nicht mehr gesehen und gehört wurde, der war eben vergessen, „wie man Eines vergisset, der nur einen Tag Gast gewesen ist.“
Da glitt von jenen freudiggrünen Bergen, wo die Vögel so süß im dichten Gezweig sangen, wo die Quellen sprudelten und die Luft so lieblich war und von wo doch manchmal ein dumpfes Rollen wie von fallendem schweren Gestein oder fernem Donner herüber hallte, eine unscheinbare, schmächtige, scheue Gestalt durch den Lärm und das Gewühl der Sommerlust. Landphysikus Doktor Hanff, die Hände unter den Rockschößen, breitbeinig hingestellt in einem lachenden Kreise seiner Saisonpatienten, hörte plötzlich leise seinen Namen hinter seinem wackeren Rücken ausgesprochen, und, sich wendend, sah er mit nicht geringem Erstaunen und mit hochgezogenen Brauen auf die Unterbrecherin einer seiner „besten Geschichten“ und behielt die Pointe der Schnurre für diesmal gänzlich für sich.
„Sie, Fräulein Phöbe?“
„Mein Bruder wäre gern mit mir gekommen, Doktor; aber er hatte so viele Amtsgeschäfte und mußte auch wieder nach dem Filial zu einem andern Kranken. So hatte er nichts dagegen, daß ich allein ging.“
„Und, mit Erlaubniß, was haben Sie denn da in dem Bündel?“
„Einige Wäsche. Spörenwagen hat’s mir bis vor den Ort getragen. Er ist aber schon umgekehrt nach Hause; denn er konnte sich auch nicht von seiner Arbeit zu lange abmüßigen.“
„Hm, allein ging? Hierher in die sündige Erdenlust? Zum Koncert der Bückeburger Jägerkapelle?“
„Zu – meines Bruders liebem Jugendfreunde.“
„Zu –“ er brachte sein Wort erst zu Ende, nachdem er das junge Mädchen fast heftig aus dem Kreise herausgezogen hatte – „zu meinem Kranken hier im alten Siechenhause? Bei Gott nicht!“
„So wahr mir der Herr geholfen hat, – immer geholfen hat, dort oben im Dorfe und im Walde und vorher in mancher bösen Stunde unter meinen lieben Kindern in Halah.“
„Ich gebe die Erlaubniß nicht, Phöbe!“
„Sie haben, gestern noch, mich Ihre Helferin und Kollegin genannt und gesagt, daß Sie gern mich zur Hilfe bei Ihrer Kunst und Wissenschaft bei sich sähen in der Noth. Sie haben mich zu sich gezählt durch Ihr Wort und haben mich froh gemacht mitten im Schrecken. Und in der Hütte auf der Vierlingswiese haben Sie mir auch nichts in den Weg gelegt, sondern mich Ihnen helfen lassen unter Gottes Schirm bis zum Ende. Und Sie wissen, daß dieser arme Fremde der Freund meines Bruders ist, und – Sie wissen – ja, Sie wissen, wie er mich an sich gebunden hat! O, er hatte wohl keine Ahnung davon, wie bald der Herr an der Kette ziehen würde; ich aber komme nicht zur Ruhe in meiner Angst, bis ich ihn gesehen habe. Es kann mich Keiner aufhalten auf dem Wege; aber Sie können mir helfen; o helfen Sie mir, Doktor Hanff! Ich komme ja nicht aus meinem Willen hieher; aber ich muß zu ihm; denn es ist kein anderer Weg aus meiner Angst heraus!“
Sie waren auf dem Promenadenplatz nach und nach immer weiter abseits getreten von dem Schwarm, in dessen Mitte Doktor Hanff eben noch so munter die Unterhaltung geführt hatte. Nicht wenige der Kurgäste blickten mit einiger Verwunderung dem vor einem Augenblick noch so heitern jovialen Badearzt nach und fragten sich, welches Aergerniß ihm wohl dieses kleine melancholische Frauenzimmer in Grau, dem man das Pastorhaus auf tausend Schritt ansah, in den guten Humor getragen haben möchte. Aber das Hin- und Herwogen der Menge zog auch diese flüchtigen Beobachter bald ab und zu anderer Unterhaltung hin, und in einem von Menschen und Lauschern leeren Baumgang konnten der Doktor Hanff und Phöbe Hahnemeyer ihre Verhandlung ungestört fortsetzen und zu Ende bringen.
Der Doktor gab fürs Erste seine Ansicht in Betreff des Wunsches des jungen Mädchens noch nicht auf.
„Kind,“ rief er grimmig, „aber dieser Mensch, dieser unglückselige Baron, Professor der Aesthetik – der Staatswissenschaften – was weiß ich – gehört ja so wenig – wie, wie manche Andere zu Euch! Er kommt aus einer anderen Welt, aus Licht und Schatten derartiger menschlicher Naseweisheit, daß Ihr Euch fast schaudernd davor zur Seite drückt. Er ist, wenn auch kein Spötter, so doch unbedingt ein Gottloser, ein Mann ohne allen Respekt vor Gott Vater, Sohn und heiligem Geist.“
„Aehnliches sagte mein Bruder auch von dem armen Volkmar Fuchs, und er ist doch zu ihm gegangen bei Tage und bei Nacht, und hat seine bösen Worte nicht geachtet und hat sich nur mit seinem Blick gewehrt, als der unglückliche Wilde in seiner Unwissenheit mit dem Stock nach ihm schlagen wollte.“
„Aber dieser höfliche, gelehrte, feine Herr, dieser Veit von Bielow ist noch viel ärger nach Euren Begriffen als Räkel und Fee im rothen Pelz im Walde und Räkel und Fee in ihrer Hütte auf der Vierlingswiese!“
„Er hat hieran wohl nicht gedacht, als er in seiner edelmüthigen Klugheit auf seine Weise dem Volkmar aus seiner rathlosen Unbändigkeit heraushalf und sich in seiner Lebensfreude verwegen mit mir band, mitten in seiner Kraft und auf dem Wege. Er hat es aber gethan; und wenn der Herr es nicht anders will, werden wir in seinem Frieden neben einander gebettet werden und auf seinen Ruf zu seinem Gericht warten. Ich habe aber keine Ruhe zu Hause, bis ich den Weg- und Zielgenossen selbst gesehen habe, und ich hätte es auch recht von ihm gefunden, wenn er in meiner letzten Noth, zu meinem Krankenbett gekommen wäre.“
[576] „Nun denn, in drei Teuf – – in Gottes Namen! Euch aus Eurer Kinderwelt komme man einmal mit seinen Einwürfen und Bedenken aus der Receptirkunst seiner Erdenpraxis in Hinsicht auf Verstand und Anstand, Vernunft, Sitte und Gewohnheit und was sonst so für uns in der Heerde und kurz, in der Zeitlichkeit mit zu Knigge’s Umgang mit Menschen gehört. Geben Sie her Ihr Bündel, Fräulein Phöbe. Also mit dem heillosen Socialdemokraten und weitgebummelten Nihilisten Spörenwagen haben Sie auch noch gerathschlagt, ehe Sie sich auf diesen sonderbaren Weg machten? Na, eine nette Gesellschaft seid Ihr; und Staat und Kirche werden sich noch oft hinter den Ohren kratzen müssen, ehe sie mit Euch zurecht kommen. Da war ja der Racker, der Räkel ein wahres Vergnügen gegen Euch mit Eurem merkwürdigen großen Hobel; denn der Schlingel wollte doch eben nichts weiter, als was wir Andern auch wollen, bei jedem Verdruß nämlich den Knubben und Knorren in seiner Konfusion spielen, um seinem Gift Luft zu machen.“
Fräulein Phöbe gab ihr Bündel nicht her.
„Es ist leicht genug, und es würde sich auch nicht für Sie schicken,“ meinte sie.
Dagegen berichtete sie mit freudiger Treuherzigkeit, wie sich Meister Spörenwagen auch sonst ihrer, das heißt des Pastorenhauses und des Bruders Prudens drin hilfreich angenommen habe.
„Es war mir eine rechte Sorge, wie ich das einrichtete. Sonst hilft mir nur dann und wann Jemand aus dem Dorfe in der Wirthschaft, und meistens auch nur ein Kind oder junges Mädchen, dem ich das Nähen lehre. Es ist so traurig, daß sie Alle solche Scheu vor meinem Bruder tragen und immer meinen, er denke nur Zorn und Mißachtung gegen sie und suche sie nur aus Stolz seiner Seele in ihren Angewohnheiten zu stören und kränken. Und er meint es doch so gut in seinem heiligen Amte und würde sein Leben darin lassen für sie. Ohne Spörenwagen hätte ich gar nicht gewußt, was er anfangen sollte in meiner Abwesenheit. Für sich selber sorgt er ja gar nicht, und wenn ihn Niemand zum Essen holt und damit auf ihn wartet, denkt er selber gewiß nicht daran.“
„Ja, das ist so einer von den bescheidenen Kostgängern auf Erden, wenn er sonst nur seinen Willen kriegt,“ dachte Doktor Hanff. „Schade daß wir die eben verflossene Excellenz und den braven Onkel Anton, den Herrn wirklich Geheimen nicht noch ein wenig länger hier aufgehalten haben. Meinen ganzen Einfluß hätte ich angewendet, diesen jungen, versauerten Wüstenheiligen von da oben herunter zu holen und ihm anstatt seiner Kanzel in der Wüste eine gedeihlichere Stelle unter fidelen gebildeten Leuten, zum Exempel hier unter uns und vorzüglich in der Badesaison, zu verschaffen. Na, wer weiß, was unser interessanter Patient, wenn wir ihn mit Hilfe dieses wirklichen Kindes Gottes herausreißen, bei den Seinigen an maßgebender Stelle in dieser Hinsicht zu leisten vermag. Das Juchhe da oben in der Dorfidylle wegen eines günstigen Resultats möchte ich auch hören! … Nun, Kind, wen hat denn Ihr verborgener Philosoph und Schlaumeier Spörenwagen ausfindig gemacht, der es – der sich des guten Prudens während Ihrer Abwesenheit in der Weltlichkeit annehmen will?“
Nur das letzte Wort natürlich war für das Gehör der Schwester laut genug gesprochen worden, und Phöbe Hahnemeyer rief fröhlich lächelnd:
„Er will selber kochen, wenn’s nöthig sein sollte; aber er glaubt, daß es nicht nothwendig sein wird, denn er hat ja auch noch seine alte Base, die zwar nicht recht gut mehr sieht und hört, aber doch ihre Stube und Person noch ganz sauber hält.“
„Da lade ich mich womöglich morgen schon zu Tische!“ rief Ländphysikus Doktor Hanff lachend. „Morgen schon reite ich zu Mittag hinauf, um mich mit Löffel und womöglich auch Messer und Gabel zu überzeugen, daß der Herr immer noch für die Seinen sorgt.“
„O bitte, thun Sie das! ich bin Ihnen so dankbar dafür in meiner Unruhe,“ sagte Phöbe.
Sie waren während dieser Unterhaltung ein gut Stück Weges durch den lang im Thal gegen die Ebene sich hinstreckenden Ort mit seinem lustigen Sommertreiben hingeschritten. Es war ungefähr gegen sechs Uhr am Nachmittag, vielleicht auch schon ein wenig mehr gegen Sieben, gegen den Abend. Wir können das nicht genau angeben; denn nunmehr ist es, als stünde Alles, was uns die Zeit mißt, auf der Erde still, und als sei nur ein einziger ruhiger Pulsschlag durch das Weltall. Wohl gingen die ortseingeborenen Leute ihren Beschäftigungen nach; die Fremden saßen wie gewöhnlich bei so gutem Wetter an ihren behaglichen Theetischen in Lauben und Vorgärten. Ihre hübschen geputzten Kinder fingen Ball und Reifen. Herren und Damen zu Wagen und zu Fuße, zu Esel und zu Roß, zogen thalauf, thalab unter den Alleen. Die Wagen der Hôtels rollten mit neuen Gästen vom Bahnhofe daher, wo die Lokomotive ihre schrille Stimme weithin in die Berge ertönen ließ. Aber selbst dem alten abgehärteten Landarzt und behaglichen Badedoktor war es doch, als ob dieses Alles nicht sei und nur die schmächtige, schweigsame Gestalt im grauen nonnenhaften Kleide an seiner Seite wirkliches Dasein und wahrhaftige Bedeutung in diesem farbigen Schein und Getümmel habe.
Fast eine Stunde hatten Doktor Hanff und Phöbe Hahnemeyer zu gehen, ehe sie die letzten Häuser und Hütten der Ortschaft erreichten. Wie der weltbekannt gewordene Platz an allem, was Menschen für herrlich und wünschenswerth halten, zugenommen haben mochte, bis in diese Gegend war von seiner Eleganz und seinem Luxus noch nichts gedrungen. Wo die Bewohner der letzten vereinzelten Hütten für das ihnen noch immer unbegreifliche exotische Leben und Treiben nur ein stupides Hinstarren haben, steht noch das Haus, das vor zehn Jahren die Apotheke „Zum wilden Mann“ war. Dreißig Jahre lebte in ihr der gutmüthige Philipp Kristeller als glücklicher Besitzer und gedachte in Dankbarkeit eines Jugendfreundes, der ihm das Geld geschenkt hatte, mit dem er die Apotheke erworben. Dreißig Jahre haben er und seine Schwester Dorothea in dankbarer Erinnerung ihres Wohlthäters gedacht, bis dieser plötzlich als Oberst Dom Agostin Agonista aus Brasilien zurückkehrte und seinem lieben Freunde das geschenkte Geld mit Zinsen abnahm, sodaß der gute Philipp und Fräulein Dorette auf ihre alten Tage mittellos wurden.
Das Haus steht noch, es ist jedoch nicht mehr eine Apotheke und zwar die Apotheke für ein halb Dutzend gesunde Dörfer im Umkreis von vier bis fünf Meilen. Die jetzige Officin führt in der Nähe des Promenadenplatzes und großen Springbrunnens eine gedeihlichere Existenz und hat auch das alte Schild und Zeichen nicht festgehalten. Das Haus ist, seit Dom Agostin Agonista zu Gaste darin war, in wechselnden Händen gewesen und sieht recht verwahrlost und verkommen aus. Es liegt ja auch für jedwedes nahrhafte Geschäft viel zu weit ab vom Brennpunkt des neuen Lebens, das hier sonst über Alles gekommen ist. Ein Gemüsegärtner scheint es heute im Besitz und wenig Mittel für seine Instandhaltung oder gar seine äußerliche Wohlanständigkeit zu haben. Doch das geht uns nichts an. Ein Seitenpfad führt von der Landstraße an seiner Gartenmauer her, noch immer ins offene Feld, und auf diesem Wege schreiten wir jetzt rascher mit Phöbe und dem Doktor Hanff zu dem alten nun „auf den Abbruch stehenden“ Spittel des früheren Dorfes und jetzigen großen berühmten Kurorts.
Die lautesten Töne der Bückeburger Jägermusik vor dem großen Pavillon sind längst verhallt. Der Weizen steht rundum in Stiegen auf den Feldern, die Grillen zirpen in den Stoppeln; grünglänzende Goldlaufkäfer haben es wie immer eilig vor unsern Füßen, und die Gattung Aphodius ist schwerfällig und gemächlich thätig in ihrem nützlichen Geschäft auf den Pfaden der Erde wie im Anfang. Die Lerche singt in der blauen Abendluft und kümmert sich gar nicht, daß die Sense wieder über ein leeres Nest in der Ackerfurche hingefahren ist. –
„Sehen Sie nur, wie hübsch das Ding da liegt,“ brummte Doktor Eberhard Hanff. „Es giebt in dieser Hinsicht dem Fuchsbau auf der Vierlingswiese wenig nach. Und auch in anderer Beziehung nicht, nämlich, wie schon gesagt, was die Möglichkeiten des Gesundungsprocesses unseres braven Freundes anbetrifft. Es war Verständniß in seinem Willen, als er kurzab in seiner letzten lichten Minute nach der Hütte der Fee verlangte. Auch deßhalb habe ich ihm mit Vergnügen diesen seinen Willen gethan. Sehen Sie, ich habe ihm auch noch ein paar Fensterscheiben eingeschlagen, für angenehmste Undichtigkeit der Wände garantirte die Gemeinde schon seit Jahren. Im bestgelüfteten Krankensalon kann’s Niemand besser haben; und was die zärtliche Familiensorge angeht, na gucken Sie, da sitzt Fräulein Dorette in ziemlicher Ruhe mit ihrem Strickzeuge auf der Thürbank. Kein übel Anzeichen für einen alten Praktikus, der noch dazu seit langen Jahren
[577][578] die Ehre hat, die liebe alte Dame zu seinen intimen Freundinnen zu zählen. Auch eine von den Kolleginnen, Fräulein Hahnemeyer, wie sie sich Unsereiner, mit seinen sämmtlichen Barbier- und Geburtshelferdiplomen in schönster Ordnung, und all seiner Anwartschaft auf ein künftiges unausbleibliches Sanitätsrathpatent, gar nicht besser wünschen kann. Guten Abend, Fräulein Kristeller. Nun, wie steht’s da hinter Ihnen? Ja, wundern Sie sich nur, ich bringe Ihnen Gesellschaft, die beste Gesellschaft der Welt.“
Einigermaßen verwundert schob das alte Jüngferchen auf der Bank vor dem Dorfspittel die Brille auf die Stirn und legte das Strickzeug im Schoße zusammen, beim Näherkommen der Beiden und beim Erkennen des jungen Mädchens mit seinem Bündel Wäsche im weißen Tuch.
Wie sie sich erhob von ihrem Sitz und dem alten Hausfreund Hanff und seiner Begleiterin entgegentrat, war das derselbe Schritt wie der, mit welchem sie einst in der Apotheke „Zum wilden Mann“ überall war. Und die Stimme, mit welcher sie den Gruß des Doktors erwiderte, war auch noch die nämliche. Sie hatte sich ausgezeichnet gut gehalten – Fräulein Dorette Kristeller aus der bankerotten Apotheke „Zum wilden Mann“! …
„Aber, Kind? Phöbe?!“ rief sie erst; und dann, sich an den Landphysikus wendend, sagte sie: „Ganz ruhig und gelassen den Umständen nach. Ich höre ihn von hier aus eben so gut als wie bei ihm da drinnen; und es sitzt sich hier draußen doch ein bischen besser mit der Natur um sich her und dem Blick ins Freie. Sie haben doch nichts dagegen einzuwenden, Doktor?“
„Nicht das Geringste,“ brummte Doktor Hanff. „Da könnte ich meinestheils Sie doch viel eher fragen, Fräulein Dorette, ob Sie nichts gegen mich und mein Eingreifen in Ihre Praxis einzuwenden hätten? Vor allen Dingen aber: was sagen Sie hierzu?“
Er deutete bei den letzten Worten auf seine Begleiterin.
„Lieber Gott, Hanff, erst müssen Sie mir doch sagen, was das zu bedeuten hat. Sie wollen doch nicht gar das liebe Fräulein mir und meines seligen Bruders altem Friedrich hier zur Hilfe geben?“
„Ich sicherlich nicht!“ rief der Doktor. „Es wäre mir im Gegentheil äußerst angenehm, wenn Sie das Kind noch bewegen könnten, Vernunft anzunehmen. Ich habe sogar meine letzte Hoffnung in dieser Hinsicht auf Sie gesetzt, Fräulein Kristeller. Reden Sie nur tüchtig auf sie drein! Da, setzen Sie sich wenigstens noch einen Moment hier auf die Bank zu Fräulein Dorette, Fräulein Phöbe, während ich mir unsern interessanten Patienten da drinnen noch ’mal ansehe. Lassen Sie sich genau berichten, Fräulein Kristeller, was die liebe Seele aus den Bergen zu uns herunter bringt, was sie hier will und was sie für Recht hält! Sprechen Sie Vernunft, Vernunft – Vernunft zu ihr, Fräulein Dorothea Kristeller aus der Apotheke zum wilden Mann. Rufen Sie sofort, wenn Sie die Kleine so weit haben, daß sie sich von mir wieder nach Hause zurückbegleiten läßt. Ist Freund Fritze da drin bei unserm Mann?“
„Nein; er ist mit dem Korbe ins Bad hinauf.“
„Auch gut“, rief Doktor Hanff. „Legen Sie Ihr Bündel ab, Phöbe; setzen Sie sich nur noch einen Augenblick da zu Fräulein Kristeller auf die Bank, schütten Sie Ihr Herz aus und hören Sie Vernunft, Vernunft – Vernunft!“
Er trat in das Haus, und die hinterbliebene alte Schwester des alten Philipp Kristeller, Fräulein Dorette Kristeller, aus der Apotheke zum wilden Mann, faßte die junge Schwester aus Schmerzhausen in die Arme und rief:
„Kind, Kind, was ist denn das? was soll dies bedeuten? Du mußt mir freilich ganz genau erzählen, was dieses zu bedeuten hat!“
„O wie gut ist dies!“ schluchzte Phöbe Hahnemeyer. „Er hat mir nicht gesagt, der Herr Doktor, daß ich Sie hier finden würde; er hat wohl nicht daran gedacht, welchen Trost er mir geben konnte. Aber Gott der Herr hat immer Mitleid mit uns in unserer Angst und waltet in Barmherzigkeit. O, nun bin ich so ruhig, und ich will Ihnen gewiß Alles ganz genau sagen, und Sie werden nicht schelten und den unruhigen Gast wieder nach Hause schicken!
(Fortsetzung folgt.)
Um zehn Pfennig.
Es war im Frühsommer; die Straßen hatten das eigenthümlich sonntäglich-feierliche Aussehn, das sie immer haben, wenn die Pflastersteine vom Regen gespült und die Pfützen wieder aufgetrocknet sind. Von der Englischen Planke herunter wehte der Duft von blühenden Syringen, und unten am Hohlen Weg, wo derselbe in den Scharmarkt mündet, stand oder kauerte ein ganzer Haufen kleiner Knirpse um eine Anlage aus weißem Sand, die erste diesjährige „Ehrenpforte“. Grüne Zweige und dicke rothe Marmelblumen waren schon ringsum eingepflanzt, Lichtstümpfchen staken schon hier und da, aber noch viel mehr waren nöthig, und einer der kleinsten Jungen, ein weißhaariger stämmiger Kegel in blauweißem Leinenanzug, hatte das Amt, sich den Vorübergehenden in den Weg zu stellen und mit abgezogener Mütze Pfennige für die Ehrenpforte einzukassiren. Das war der Hamburger Kinder Recht und alter Brauch, der sich von Gott weiß welcher Festlichkeit erhalten haben mochte, und das „Sammeln“ geschah nicht etwa demüthig und bittweise, sondern mit sicher und keck in die Höhe gerichteter Stumpfnase. Nur die Fremden pflegen auf dies Ansinnen mit einem verwunderten Gesicht zu antworten und sich rechts und links nach der „Ehrenpforte“ umzusehen, wobei natürlich der bescheidene Maulwurfshaufen zu ihren Füßen ihren Blicken völlig entgeht. Ist aber der „Angesammelte“ ein Hamburger, so weiß er sogleich, um was es sich handelt; lächelnd fügt er sich dem geheiligten Brauch, zieht seinen Beitrag hervor und denkt der Zeit, da er selber Ehrenpforten baute.
Der da jetzt den abschüssigen Hohlen Weg herunterkam, hatte früher auch welche gebaut, es war aber schon ein paar Jährchen her. Es war ein älterer Mann, dick, kurzbeinig, mit breitem rothen Gesicht, in dem ein beständiges Lachen zuckte. Der schmale schwarzgraue Bartrand, der einzig dem Rasirmesser entgangen, sträubte und glättete sich abwechselnd. Aber er lachte in sich hinein, nicht über die Jungen, von denen er noch ein gutes Stück entfernt war. Das Lachen zog ihm manchmal so stark in die Beine, daß er sich an einem Beischlag festhalten mußte, um nicht hinzutorkeln. „So’n bannigen Witz“ hatte er lange nicht gehört, und die alten pensionirten Droschkenkutscher lieben bannige Witze zu ihrem Grog. Der Grog war auch steif und heiß gewesen; er war ihm noch süß auf der Zunge, und der Magen so angenehm warm und der Kopf beinah zu warm. Er nahm den etwas beuligen schwarzen Cylinder ab, fuhr sich mit dem rothen Taschentuch über den großen Schädel, der in der Mitte nackt und weiß wie eine Hand war, und drehte und striegelte dann den Hut mit seinen Händen. Dann lachte er wieder, daß die dicke goldene Uhrkette auf seiner bunten Sammetweste tanzte. So kam er in kleinen Absätzen, bald vorsichtig tappend, bald mit übereiltem Stolpern, die kleinen Ritzaugen fast zugekniffen, aber den Blick durch den Liderspalt immer auf den Hut geheftet, vollends die Straße herunter. Ehe er sich’s versah, stand der kleine Blauleinene vor ihm: „Wird gesammelt für die Ehrenpoort!“ – erscholl es plötzlich, daß der vergnügte Mann schier zurückfuhr. Der Hut entfiel seinen Händen, und bei dem unsichern Bücken danach schwoll sein Gesicht blauroth an, die Finger spreizten sich und tasteten nach einem Halt, bis sie sich zuletzt väterlich zärtlich um den Kopf des kleinen Jungen schlossen. Aber nur einen Augenblick; der „Krabauter“ schüttelte ihn trotzig ab.
„Wird gesammelt für die Ehrenpoort,“ wiederholte er. Der Mann stand schon wieder fest, aber das Experiment mit dem Hutaufheben durfte er nicht noch einmal wagen. Ein leuchtender Gedanke fuhr ihm durch den nebligen Kopf.
„Mit de paar Kröten kann min Ohlsch doch nix mehr anfangen,“ brummte er in sich hinein.
„Jung! Jungens!“ schrie er dann laut, „weet Ji wat? Ick will Ju teihn Penn’ in de Grabbel smieten, un wer se kriegt, de langt mi dafor min Hoot wedder her.“
„Hurrah,“ antworteten die Kinder, „he smitt teihn Penn’ in de Grabbel! Fix, Jungens, fix!“
[579] „Paßt op! een, twee, dree!" rief der Alte, spreizte die kurzen Beine, bog den Oberkörper nach hinten und warf das Geldstück weit ausholend über aller Köpfe weg die Straße aufwärts. Mit ausbündigem Jauchzen stürmten die Kinder darauf zu, sie stießen und drängten sich purzelnd über einander, alle Köpfe lagen am Boden, von den kleineren auch die Leiber, ein dicker Knäuel; die kleine Münze mußte in eine Ritze zwischen den Pflastersteinen gerollt sein, wo? wo? Das Lärmen und Lachen verstummte, es ward eine athemlose Suchstille; der Droschkenkutscher war fast so gespannt wie die Kinder; in seiner dumpfen Lustigkeit stand er noch immer lachend, barhaupt auf der stillen sonnigen Straße.
Da plötzlich in die lautlose Spannung hinein dröhnte ein eigenthümliches Kettengerassel vom oberen Straßenrande. Was ist das? Die Kinder rühren sich nicht, aber der alte Kutscher hat den schweren Kopf umgedreht und zwinkert unter der vorgehaltenen Hand in die volle Sonne hinein. Das Rasseln kommt näher, immer näher.
„Donnerwetter!“ schreit er auf. „Jungens! Gören! ut den Weg! De Sadel is leddig un de Peerd’ sünd dörchgahn! Jungens! Gören!"
Das war es! Ein langer schwerer Bierwagen mit vollen Fässern, an rasselnden Ketten behangen, kam in rasendem Rollen die steil abfallende Straße herunter, gerade auf den Kinderknäuel am Boden. Die hoben kaum den Kopf, die merkten nichts, die hatten ihr Zehnpfennigstück noch immer nicht gefunden. Mit einem plötzlichen Satze war der Alte vom Trottoir herunter, die wackligen Beine gewannen Riesenkräfte, noch einmal rief er hinter sich: „Ut ’n Weg!“ Dann stürzte er mit dem Rufe: „Wullt Du stahn, Du ...?“ dem schäumenden Handpferd in die Zügel, zehn Schritte vor dem jetzt schreiend zerstiebenden Kinderhaufen. Thüren wurden aufgerissen, aus den Kellern eilten die Frauen herauf, um ihre Kleinen angstvoll an Kleidern und Armen fortzureißen, ein furchtbarer Tumult entstand, aber nur auf den Trottoirs, der Fahrweg war schon wieder frei. Nur einen kurzen Augenblick hatten die Pferde gestanden, dann rasten sie die Straße vollends hinunter, um auf dem Markte zitternd und schnaufend still zu halten; das schwere Gewicht des Wagens hatte sie vorwärts gedrängt, das schwere Gewicht des Wagens war über die alte lustige Gestalt des Mannes hinweg gegangen, die da rücklings mit ausgestreckten Armen mitten auf der schrägen Straße lag, ganz still lag. Eine große Menschengruppe umstand ihn; auch die war still. Bis der Arzt kam, zu dem mehrere Personen schon geeilt waren, wollte man ihn nicht anrühren. Eine Frau weinte hörbar; ihr kleines Mädchen war mit unter den suchenden Kindern gewesen. Jetzt schlug er die Augen auf und sah die vielen Leute. „Dat ward all wedder beter,“ sagte er leise. „De Sak, de is man unbedüdend. Sünd de Gören alle heil?“
„Ja, ja!" erwiderten mehrere Stimmen.
„Dat hew ick mi ook nich dacht,“ fuhr er immer schwächer fort, „erst de bannige Witz un nu dät noch! Aber slimm is dat nich.“
Ein rothbäckiger helläugiger junger Mann von energischen Manieren trat zwischen die aus einander weichende Menge; es war der Polizei-Arzt. Er knieete neben dem Verletzten nieder und öffnete das blutige Hemd, auf dem die zerrissene Uhrkette baumelte. Er hatte schon gehört, wie es hier stand; die weinende Frau hielt mit dem Schluchzen inne, und auch die Anderen athmeten ängstlich und gepreßt. Nun erhob sich der Arzt wieder und trat schnell auf ein paar Leute zu, die auf dem Trottoir mit einem Tragkorbe zwischen zwei langen Stangen warteten.
„Lassen Sie ihn liegen bis nachher,“ sagte er flüsternd, „wir wollen ihm nicht nutzlos Schmerzen bereiten; er scheint keine zu haben; es ist gleich vorbei. Und dann nach dem Krankenhause natürlich, ich komme gegen Abend wegen des Todtenscheins vor.“
Er ging eilig. Der Schatten seiner langen Figur flog über die festtäglich saubere Straße. Festtäglich sauber auch noch, als man die schwere Leiche fortgetragen hatte und ein geringer Blutflecken zurückblieb. Er beschmutzte sie nicht.
Die Argischkirche und ihr Baumeister Manoli.
Sie ist eines der schönsten und erinnerungsreichsten Baudenkmale des Landes, diese Klosterkirche von Curtea de Argisch, eines der vollendetsten Meisterwerke der byzantinischen Renaissance und der Stolz eines jeden Rumänen. Fast verschwenderisch ist sie mit Ornamenten geschmückt, und jedes Stück der aus freier Hand in Stein gehauenen Verzierungen ist kunstvoll bis in das kleinste Detail. Die Thürme, Kuppeln und Fenstergewandungen, das prächtige Portalgesimse und die zahlreichen Ecken, Kanten und Winkel des Gebäudes ziehen die Blicke des Kunstverständigen in gleichem Maße auf sich. Trotzdem war das merkwürdige Bauwerk bis zur Zeit der österreichischen Okkupation der Donaufürstenthümer im Jahre 1856 so gut wie unbekannt. Erst Graf Coronini, der Kommandant der Okkupationsarmee, lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf dasselbe hin; seitdemt aber bildete auch das im malerischen Nordwesten Rumäniens gelegene Curtea de Argisch mit seiner Klosterkirche das Reiseziel zahlreicher Kunstjünger und Kunstfreunde.
An solche Schöpfungen der Kunst, die ungewöhnliche Menschen voraussetzen, pflegt die Nachwelt Legenden und Sagen zu knüpfen, und so webt auch um die Erker und Giebel der Kirche von Argisch seit Jahrhunderten die Volkspoesie ihre schimmernden Fäden, und der Volksmund erzählt uns eine wunderbare Geschichte von der Entstehung der berühmten Klosterkirche und ihrem Baumeister Manoli.
Fürst Neagri Bessarab war der Stifter der Kirche, die im Jahre 1518 nach mannigfachen Schwierigkeiten vollendet wurde. Mit dem Aufwande seines ganzen Vermögens soll er sie erbaut, ja seine fromme Gemahlin sogar ihre Werthsachen verkauft haben, damit das Werk zu Ende geführt werden konnte.
Einst, so erzählt die Sage, erging sich Fürst Neagri Bessarab mit dem berühmten Baumeister Manoli an dem herrlichen Ufer des Argisch, als sie einem Hirten begegneten, bei welchem sie sich nach dem wildesten Ort des Flußufers erkundigten, nach einem Orte, „wo sich das Schlimme zum Bösen gesellt". Der Hirt zeigte ihnen die Stelle, an welcher Schlangen unter Dornen lagen und Hunde und Wölfe mit einander um die Wette heulten. Hier beschloß der Fürst ein Kloster zu bauen, und Manoli begann das Werk. Aber was des Tags über gebaut wurde, fiel in der Nacht wieder zusammen. Bis zum ersten Hahnenruf stand Alles, wie die Arbeiter es hergerichtet hatten; beim zweiten Hahnenschrei aber überfiel ein Zauberschlaf alle Arbeiter und Wachen und die angefangenen Mauern stürzten in Trümmer.
Hier waltete der Böse, der Geist aus der Hölle.
Manoli wollte sein Werk nicht aufgeben, das nach seiner und des Fürsten Absicht die Krone seiner Schöpfungen werden sollte. Der Ehrgeiz verleitete den Baumeister zu einem Pakt mit dem Bösen, wobei Manoli den Preis, noch ehe er ihn kannte, für das Gelingen des Baues und den Lorbeer des Ruhmes dem Teufel zuschwor. Dieser Preis bestand darin, daß das erste Weib, welches zum Bau kommen würde, lebendig eingemauert werde. Manoli’s eigenes Weib kam zuerst. Nun wollte der Meister den Pakt rückgängig machen, aber vergeblich, der Teufel zwang ihn, sein Lebensglück zu vermauern.
Dafür hielt der Böse sein Versprechen. Die Kirche wuchs in verhältnißmäßig kurzer Zeit und zu unvergleichlicher Schönheit empor; sie wurde in der That das Meisterwerk Manoli’s, der Gegenstand staunender Bewunderung für Alle, die sie sahen. Dem Künstler wurde der Lorbeer des Ruhmes zu Theil.
Als dann die Kirche vollendet war, frug Fürst Neagri den Baumeister, ob er sich wohl die Fähigkeit zutraue, eine noch schönere Kirche zu bauen. „Herr!“ rief Manoli, der mit einigen Gesellen hoch oben auf dem Sims stand, „diese Kirche war nur ein Versuch; erst jezt bin ich Meister und kann wohl noch weit Größeres schaffen!“
Auf diese Antwort hin befahl Neagri Bessarab rasch die Leiter zu entfernen und das Gerüst abzubrechen, so daß Manoli und seine Gesellen, damit sie den Ruhm dieser Kirche nicht durch Neuschöpfungen in anderen Ländern verdunkeln könnten, hilflos in schwindelnder Höhe blieben. Es schien ihnen nur die Wahl zu bleiben zwischen dem Hungertod und dem Selbstmord durch einen Sprung in die Tiefe. Aber Manoli wußte Rath. Nach drei Tagen hatten er und seine Gesellen sich Flügel aus Dachschindeln verfertigt und versuchten sich auf die Erde herab zu lassen.
Die Gesellen fielen sofort zur Erde und wurden durch den jähen Sturz zerschmettert. Der Meister hatte seine Flügel geschickter gebaut, und er würde wohl glücklich zur Erde gelangt sein, wenn ihn nicht gerade an derjenigen Stelle, wo er sein Weib eingemauert hatte, die Stimme der Unglücklichen erschreckt hätte. Er hörte sich beim Namen rufen. Da verließ ihn die Besinnung und er stürzte gleichfalls zu Boden. Sein Körper verwandelte sich aber sogleich in Stein, aus welchem das beste Wasser der Umgegend floß. Der daselbst später errichtete Brunnen ist noch heute unter dem Namen Manoli-Brunnen bekannt.
Die Sage von Manoli ist ein prächtiges Erzeugniß des dichtenden Volksgeistes. Dadurch, daß der Baumeister sich dem Bösen verschreibt, verfällt er in Schuld und dieser Schuld folgt die Sühne; beide sind in einer wir müssen sagen dramatisch korrekten Art verknüpft, indem der Ruf des Weibes, dem Manoli Verderben gebracht, diesem selbst den Tod bringt. Die rächende und strafende Gerechtigkeit des Himmels hat aber Manoli zugleich aus der Gewalt des Bösen befreit: das deutet die Sage symbolisch an, indem sie reines, erquickendes Wasser aus dem versteinerten Leibe ihres Helden quellen läßt.
Bei dem hohen poetischen Inhalt dieser Sage hat es nicht fehlen können, daß dieselbe auch die Dichter beschäftigt hat, und zunächst ist als ihr Bearbeiter der moldauische Poet Alexander zu nennen; es dürfte unsere Leser aber besonders interessiren, daß auch ein Deutscher, R. Neumeister, die Sage in einem Drama zum Gegenstand dichterischer Behandlung gemacht hat. W. H.
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Blätter und Blüthen.
Ein Münchener Biergarten. (Mit Illustration S. 577.) In der schönen Stadt am Jsarstrande haben schon vor vielen Jahrzehnten die ehrsamen Bierbrauer und Gastwirthe eigene Gärten angelegt, um ihren Gästen einen friedlichen Aufenthalt im Freien zu ermöglichen und ihnen den langen Weg vor das Weichbild der Stadt zu ersparen. Daß dieser Aufenthalt durch die Gelegenheit, der Sommerschwüle mit einem frischen Trunke entgegenzuarbeiten, noch erheblich angenehmer gestaltet wurde, bedarf keiner näheren Ausführung. Sobald im wunderschönen Monat Mai die ersten Knospen springen, wird der Münchener zwischen den dumpfen Wänden unruhig, wie eine Lerche im Käfig. Die Keller- und Gartensaison ist angebrochen, und wenn die Feierstunde schlägt, gürtet der biedere Hausvater seine Lenden, Mutter sorgt für den entsprechenden Mundvorrath, und die ganze Familie bis zum Kleinsten herab zieht hinaus in irgend einen Garten, nicht etwa dahin, wo die schönsten Blumen blühen, sondern dorthin, wo die berühmteste „Quelle“ sprudelt. Bald ist ein entsprechender Platz für die Niederlassung gefunden; während die sorgsame Hausfrau ihre kalten Platten zurechtstellt, begiebt sich der Patriarch in höchsteigener Person zur Schenke; dort wählt er zuerst einen der in großer Zahl vorhandenen Krüge und begiebt sich an das Brünnlein in der Nähe, um das Gefäß nochmals auszuspülen und ihm durch das sprudelnde Wasser einen gewissen Grad von Kühle zu verleihen; dann tritt er wohlgemuth den Gang zur Stätte an, wo der Schankknecht den Zapfen regiert; es bedarf keiner Erklärung; ohne viel Worte zu gebrauchen, reicht er den Krug und das Geld, er erhält dann sein Gefäß und zieht friedlich von dannen. Dieses wichtige Geschäft überläßt der echte Münchener nicht gern einem Andern oder einem dienstbaren Geiste, denn er muß wissen, daß „nix pantscht werd“, das ist, daß nicht etwa Bierreste (Standerling) in sein Quantum eingetheilt werden oder daß er am Ende das Letzte vom Faß haben müßte.
Die Biergärten gehören ihrer botanischen Klassifikation nach zu den Ziergärten; meist sind es Kastanien- oder Lindenbäume, welche ihre Laubdächer schützend über die glücklichen Zecher breiten; von eigentlichen Gartenerzeugnissen ist nur der „Radi“ zu sehen, welcher schon um deßwillen hoch geschätzt wird, weil er die erschlaffenden Geschmacksnerven anregt und die Trinklust wesentlich fördert. So ganz materiell ist aber der Münchener auch nicht angelegt, daß er in Mitte aller leiblichen Genüsse nicht auch für geistige Erholung empfänglich wäre.
Zu einem richtigen Keller- oder Gartenvergnügen gehört denn auch eine „Musi“, und je nach dem Range der Wirthschaft sorgt eine Regimentskapelle, ein Privatorchester, ein Blechmusikkorps, ein Quintett oder gar ein Terzett mit Flöte, Harfe und Geige für den obligaten Ohrenschmaus. Der Biergarten ist das Erntefeld für den Zeitungscolporteur. „Dö Neuesten – ’s Vaterland – Süddeutsche – Fremdenblatt – Der Freie“ etc. So tönt es den ganzen Abend, und es wird in diesem Artikel ziemlich viel umgesetzt. Sonstige kleinhändlerische Unternehmungen finden hier gleichfalls ein geneigtes Gehör. Blumenmädchen mit „Veigerln“, Cigarrenhändler, die aufdringlichen Italiani mit ihren Mandoli, Mandoletli, Pfefferminz, Orangen u. dergl. zum Bier passenden Leckereien, Galanteriewaarenhändler und ähnliche Ruhestörer machen dem Bierphilister den Aufenthalt stellenweise sehr sauer. Trotzdem bleibt der Biergarten des Müncheners liebster Aufenthalt. Auf diesem Territorium giebt es keinen Unterschied der Stände; die gesellschaftlichen Vorurtheile kommen wenigstens nicht in schroffer Weise zum Ausdrucke; sollte sich Jemand auch separiren wollen, so muß er es sich doch gefallen lassen, wenn irgend ein Ungeladener den etwa noch freistehenden Platz am Tische einnimmt; Herr und Diener, die Köchin mit dem Schatz, das Kindermädchen mit den Pfleglingen, der Bureaukrat und der lustige Bruder – sie Alle sind gleich vor dem Faß, und dieses Bewußtsein trägt bei den Gästen nicht wenig dazu bei, dieses ihr Eldorado werth zu machen und die Gemüthlichkeit und Geselligkeit zu fördern. Das bunte Treiben in einem Biergarten ist auf der Illustration, welche wir nach dem trefflichen Bilde Liebermann’s unseren Lesern mittheilen, in vorzüglicher Weise dargestellt; der Beschauer mag sich damit eine getreue Vorstellung des Biergartenlebens in München bilden; von dem Durste, der dort herrscht, ließe sich jedoch höchstens in Zahlen sprechen; davon hat der Uneingeweihte gar keinen Begriff.
Eingekauft. (Mit Illustration S. 572.) Seit Kaulbach die Goethe’sche „Lotte“ verewigte, haben wir das Thema der vorsorglichen „Aeltesten“ in mannigfachster Weise variirt gesehen, aber selten mag es einem Maler gelungen sein, die „alte Geschichte“ in so fesselnder Weise „neu zu erzählen“, wie dies Hahn in seinem Bilde „Eingekauft“ thut. Die Situation bedarf kaum einer Erklärung. Das älteste, halb schon zur Jungfrau erblühte Haustöchterchen ist mit den drei kleinen Geschwistern „einkaufen“ gewesen, und mit nicht geringem Stolze rühmen sich die Schwestern der schweren Lasten an Gemüse und Obst, die ein Jedes heim schleppen durfte.
Nur das Brüderlein scheint den Zweck des „Einkaufens“, das Versorgen der Küche, nicht vollständig erfaßt zu haben. Er steckt die Rübe, die man ihm zum Tragen überlassen hat, gleich roh ins Mäulchen; seine dicken Backen beweisen, daß er in keiner Art ein Kostverächter ist!
Wenn etwas an dieser reizenden Kindergruppe einer Erklärung bedürfte, so ist es die Frage: Warum mußten die Kleinen selbst einkaufen gehen? Hinweg mit der traurigen Vermuthung, daß sie vielleicht keine Mutter mehr haben! Die fröhlichen Mienen von Allen deuten viel eher darauf hin, daß Mutter nur ganz vorübergehend von den gewohnten Marktgängen abgehalten wird. Ein lieber Besuch soll sich im Hause angemeldet haben. Und da war es rathsam, die Kleinen mit zum „Einkaufen“ zu schicken. Geärgert haben sie sich darüber sicher nicht. C. M.
Noch einmal „Frauen auf dem Lehrstuhle der Mathematik“. In Nr. 32 führt der Verfasser des obengenannten Artikels als erste der Frauen, die sich durch mathematisches Wissen auszeichneten, Maria Agnesi an (geb. 1718, gest. 1799). Allein schon aus dem Alterthume ist ein derartiger Fall bekannt und von besonderem Interesse durch das tragische Schicksal, dem die gelehrte Frau zum Opfer fiel. Es ist dies Hypatia, die Tochter des berühmten Mathematikers Theon; ihr Vater führte sie in die Wissenschaften der Mathematik und Philosophie ein. Nachdem sie darauf in Athen ihre Studien vollendet hatte, hielt sie in ihrer Vaterstadt Alexandria mit dem größten Erfolge öffentliche Vorträge über die genannten Disciplinen und war auch schriftstellerisch thätig; doch ist von ihren Werken nichts erhalten.
Ihre Zeitgenossen rühmen nicht weniger ihre tiefe Gelehrsamkeit, als ihre Schönheit und die Reinheit ihres Lebenswandels; noch jetzt existirt ein begeistertes Gedicht über sie in der griechischen Anthologie. Dennoch hatte sie sich als Heidin durch ihre Lehre, in der sie Neuplatonische mit Aristotelischen Principien zu verbinden suchte, einige der angesehensten Christen Alexandrias zu Feinden gemacht, und es gelang im März des Jahres 415 dem Bischof Cyrillus, den Pöbel dermaßen gegen sie aufzuwiegeln, daß sie auf eine höchst grausame Weise ermordet wurde. Ihr Schicksal und die der Katastrophe zu Grunde liegenden Zeitverhältnisse und Anschauungen hat Kingsley in seiner „Hypatia“ dargestellt, einem der vorzüglichsten historischen Romane, der je geschrieben wurde. F. H.
Ein Mooskampf. Auf den Blumentöpfen feuchter Gewächshäuser, sowie auf feuchten Gartenbeeten, welche selten umgegraben werden, findet sich überaus häufig ein dem Gärtner recht lästiges Lebermoos, das Schuppenmoos (Marchantia polymorpha), welches als dicker, großschuppiger, grüner Beleg die Erde wie mit einer zusammenhängenden Decke völlig überzieht. Bei näherer Betrachtung findet man auf dem natürlichen Teppich grüne stiellose Becher von einem bis vier Millimeter Breite, welche mit gelbgrünen Keimkörnchen erfüllt sind. Zu gewissen Zeiten treibt diese Moosart auch förmliche Blüthen; auf zahllosen fingerhohen Blüthenstielen sieht man alsdann äußerst zierliche, grüne bis pfenniggroße Schirme. Diese interessante Pflanze führt nun seit einer Reihe von Jahren einen erbitterten Kampf ums Dasein mit einem fremden Eindringling, mit dem Mondmoos (Lunularia vulgaris), welches zu uns aus Oberitalien eingewandert ist oder vielmehr mit ausländischen Pflanzen eingeschleppt wurde. Dasselbe trägt ähnliche Keimbecher wie das deutsche Schuppenmoos, nur sind diese völlig halbmondförmig, wovon auch der Name des Mooses herstammt. In Italien blüht es und erhebt über seinem grünen Lager ganz eigenthümliche Fruchtschirmchen. Bei uns pflanzt es sich nur durch die Keimkörnchen der Brutbecher fort und trotzt dabei der Winterkälte so gut, daß es schon an vielen Orten das Schuppenmoos völlig verdrängt hat. Es ist aber ein recht unwillkommener Gast in unsern Gärten, da es sich kaum ausrotten läßt und nicht nur Steine, sondern auch Beete und selbst kleinere Pflanzen überwuchert. P. K.
Allerlei Kurzweil.
Kleiner Briefkasten.
C. Sch. in H. Die Anforderungen, welche Sie an ein Konversations-Lexikon stellen, gehen zu weit; ein solches kann über die mehr oder minder bedeutenden Tagesereignisse der allerjüngsten Vergangenheit naturgemäß keine Auskunft geben. Wollen Sie fortlaufend über diese orientirt sein oder sich im Besitze eines Hilfsbuches finden, welches Ihnen jederzeit eine schnelle Orientirung ermöglicht, so dürfte die Vierteljahrsschrift „Der Chronist“ (Leipzig, Karl Reißner), herausgegeben von Dr. Karl Siegen, Ihren Zwecken am ehesten entsprechen. „Der Chronist“ hat sich die Aufgabe gestellt, über alle irgendwie bedeutenderen Ereignisse sorgfältig Buch zu führen und durch die alphabetische Ordnung seiner Notizen ein schnelles Nachschlagen zu ermöglichen.
Inhalt: Unterm Birnbaum. Von Th. Fontane (Fortsetzung). S. 565. – Die hohe Rhön. Eine Reiseskizze von Dr. Taube (Leipzig). S. 568. Mit Illustrationen S. 569. – Neunzig Jahre gemeinnütziger Thätigkeit. Die Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde in Kiel. Von P. Chr. Hansen. S. 570. – Johann Dzierzon. Von C. j. H. Gravenhorst. Mit Portrait. S. 573. – Beobachtungsstationen der Vögel Deutschlands. S. 573. – Orientalische Sprüche. S. 574. – Unruhige Gäste. Ein Roman aus der Gesellschaft. Von Wilhelm Raabe (Fortsetzung). S. 575. – Um zehn Pfennig. Eine Hamburger Skizze von I. Frapan. S. 578. – Die Argischkirche und ihr Baumestier Manoli. S. 579. Mit Abbildung S. 565. – Blätter und Blüthen: Ein Münchener Biergarten. S. 580. Mit Illustration S. 577. – Eingekauft. S. 580. Mit Illustration S. 572. – Noch einmal „Frauen auf dem Lehrstuhle der Mathematik“. – Ein Mooskampf. – Allerlei Kurzweil: Magisches Tableau: Die Unzertrennlichen. – Kleiner Briefkasten. S. 580.
- ↑ Auf unserer Illustration findet der Leser neben „Kleinsassen“ einen Strauß dieser originellen Disteln abgebildet.
- ↑ Dasselbe hat sich, nur noch viel früher, insbesondere auch im Versicherungswesen geltend gemacht, in welchem in Schleswig-Holstein durchaus einzigartige Verhältnisse bestehen.