Die Gartenlaube (1885)/Heft 30
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No. 30. | 1885. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Trudchens Heirath.
Frau Baumhagen hatte ihre Abneigung gegen „Villa Waldruhe“
überwunden und war gekommen, um mit ihrer jüngsten
Tochter zu sprechen; irgend etwas mußte geschehen, jedenfalls
war sie nicht im Stande, die theilnehmenden Fragen nach dem
Befinden der jungen Frau länger zu ertragen. Entweder – oder!
Trudchen saß am Fenster in ihrem dämmerigen kühlen Zimmer und las, wenigstens hielt sie ein Buch in der Hand; zu ihren Füßen schlief Linden’s Hund. Sie erhob sich erschreckt, als sie Tritte auf dem Korridore hörte, und einen Moment überzog ein helles Roth das blasse Gesicht. „Ach, Mama,“ sagte sie müde, als Frau Baumhagen über die Schwelle rauschte in lichtgrauer Toilette, den Hut der Halbtrauer wegen verschwenderisch mit Veilchen geschmückt, das runde Gesicht von der Frühlingssonne und Erregtheit noch lebhafter gefärbt, als sonst.
„Aber Kind, so geht es nicht länger!“ begann sie und küßte die Tochter zart auf die Stirn, „wie Du aussiehst, und wie kalt es hier ist! Jenny läßt Dich grüßen, sie ist heute früh nach Paris, um mit Arthur dort zusammen zu treffen; warum bist Du nicht mit gereist, wie ich Dir vorschlug?“
„Ich fühlte mich nicht wohl genug,“ erwiderte darauf Trudchen.
„Du siehst blaß aus. Es ist ja kein Wunder, ich habe auch nie Rücksichtslosigkeiten vertragen können.“
Die junge Frau hatte ihren Platz wieder eingenommen.
„War Onkel Heinrich einmal hier?“ fragte Frau Baumhagen.
„Gestern erst.“
„Nun, da weißt Du ja, daß Linden sich einfach seine Einmischung bei Wolff verbeten hat?“
„Ja, Mama.“
„Und daß dieser Herr Wolff seit drei Tagen mit dem Tode ringt? Es könnte wohl nichts Besseres passiren, als daß er stirbt, die Angelegenheit wäre damit natürlich zu Ende. Ob man in der Stadt schon eine Ahnung hat von dem wahren Sachverhalt, weiß ich nicht, aber irgend etwas ist in der Leute Mund, man überstürzt sich mit Erkundigungen nach Dir.“
Trudchen nickte leise mit dem Kopfe; sie wußte das Alles schon vom Onkel.
„Und er war nicht hier? bat nicht um Verzeihung, suchte keine Annäherung?“ fragte athemlos Frau Baumhagen.
„Nein!“ klang die Antwort, halb erstickt.
„Armes Kind!“ Die Mutter führte das Battisttuch an die Augen. „Es ist roh, geradezu roh! Danke Gott, daß Du so bald zur Einsicht gekommen. Aber Du kannst doch nicht die ganze Zeit, die der Scheidung vorangeht, hier zubringen?“
[486] Trudchen zuckte zusammen und sah mit starren Augen die Mutter an. Sie selbst hatte ja an weiter nichts gedacht, als an Trennung. Jetzt, wo sie das furchtbare Wort aussprechen hörte, traf es sie wie ein Donnerschlag. „Doch!“ sagte sie dann und wand die Hände unmerklich in einander, „wo sonst?“
„Und was machst Du hier, um Gotteswillen, von früh bis spät?“
„Ich lese und gehe spazieren, und –“ ich gräme mich, wollte sie hinzusetzen, aber sie schwieg. Was wußte Mama von Gram!
„Mein armes Kind!“ Frau Baumhagen weinte jetzt wirklich. Der Aufenthalt hier fiel ihr auf die Nerven, es lag etwas Beängstigendes in der Luft, und es war doch im Grunde eine schreckliche Zeit, die nun bevorstand. Wie, wenn er nicht in die Trennung willigte? Warum hatte Gott dem Kinde einen so unbeugsamen Charakter gegeben, der sie in dies Elend gebracht! Wäre sie doch dem mütterlichen Rath gefolgt! Frau Ottilie hatte vom ersten Moment an einen Widerwillen gegen diesen Menschen gefaßt.
„Ich glaube, ich muß heim, meine Migräne,“ stammelte sie und schraubte ihr Büchschen mit englischem Salz auf. „Wenn Du irgend etwas wünschest, Gertrud, schreibe oder schicke. Willst Du ein Instrument oder Bücher? Ich habe den neuesten Roman von Daudet; ach Kind, es geht bunt her im Leben, und in der Ehe besonders; Du hast noch nicht das Traurigste erfahren.“
„Ich danke, Mama!“ Die junge Frau folgte der Mutter den Korridor entlang und die Treppe hinunter bis in die Hausthür. Frau Baumhagen nahm mit heiterem Lächeln Abschied; der Kutscher brauchte ja nichts zu wissen. „Gute Besserung, Trudchen,“ sagte sie laut, „laß Dir Deine Brunnenkur wohl bekommen!“
Die Zurückbleibende schritt in den Garten hinein. Am Ende der Mauer, da wo der Weg umbiegt, war ein kleines Belvedere angebracht, darüber aus Borke ein pilzförmiges Dach. Dort stand sie nun wieder und schaute in das Land hinein, das im Abendgold und Duft vor ihr lag. Hinter den bewaldeten Ausläufern des Thurmberges, da wußte sie traut und lieb das alte Haus. Sie schritt im Geiste durch alle seine Räume, nur an einer Thür zwang sie die Gedanken vorüber, das Zimmer mit den alten Mahagonimöbeln in das sie zuerst getreten am Hochzeitsabend. Und sie lehnte sich fester auf die Mauer und schaute in die untergehende Sonne, die wie ein feurig rother Ball am Himmel stand, bis ihr die Thränen aus den Augen flossen, und das Herz that ihr weh vor Scham und Demüthigung. Warum nur kam immer wieder dieser Tag herauf und der Abend, der erste, in eben dem Zimmer? Der Abend, wo sie aus seinem Arm geglitten war ihm zu Füßen, ihr Antlitz in seine Hände geborgen, vergehend in heißer Dankbarkeit? Mußte er nicht heimlich gelächelt haben über das thörichte leidenschaftliche, blindlings glaubende Weib? Und der Zorn trieb die Thränen aus den Augen über die blassen Wangen, die Hände zitterten, und riesenhaft bäumte sich der Stolz in ihr.
Sie wandte sich nun und ging dem Hause zu, immer der Hund auf ihren Fersen und in der Stube hockte sie sich wie ein Kind zur Erde und faßte den braunen Gesellen um den Hals. Sie konnte ja weinen, laut weinen, es hörte keines Menschen Ohr, Johanne war nach Niendorf und holte Bücher und allerhand Kleinigkeiten.
Als Johanne endlich kam, saß Gertrud, still wie immer, in der Sofa-Ecke, die Lampe brannte, und sie las. Die behende kleine Person bot einen schüchternen „guten Abend!“ was mit einem stummen Kopfnicken erwidert wurde. Sie legte neben das Buch ein paar Rosenknospen. „Die Ersten aus dem Niendorfer Garten, gnädige Frau.“
Und als keine Antwort darauf kam, sprach sie weiter, während sie die Wäsche aus dem Korbe nahm und in einen Schrank packte: „Die Dore ist fort, Frau Linden, sie hat sich mit Fräulein Adelheid gezankt, da hat der Herr sie hinausgejagt. Er ist so böse. Herr Baumhagen, der grad draußen war, hat sich bitter beklagt über das Essen heute Mittag; ich stand in der Küche, da kam er herein und sagte, er hätte in seinem ganzen Leben noch nicht solch’ miserable Schoten bekommen, und der Schinken sei nach der verkehrten Seite geschnitten. Da hat dann Fräulein Adelheid geweint und lamentirt und erklärt, sie thäte das Alles nur aus Gefälligkeit. Und der Herr Amtsrichter wollte sie trösten und sagte, es wäre schade um ihre schönen Augen. – Ich soll auch vom Herrn Amtsrichter eine Empfehlung ausrichten, und er käme noch, um der gnädigen Frau Adieu! zu sagen; er reist ja wohl in den nächsten Tagen ab. Herr Baumhagen läßt auch grüßen, und Fräulein Rosa und die kleine Adelheid –“
„Bitte, Johanne, besorge mir den Thee!“ unterbrach die junge Frau den Redestrom.
„Ich hatte eigentlich saure Milch, gnädige Frau, aber gelt, es ist kühl. Ach Gott, und wie sieht’s im Milchkeller aus! Es verkommt Alles, es wäre wirklich besser, wollten die Herrschaften sich dahin einigen, daß das Fräuleiu Adelheid hierher kommt, und ich gehe zum Herrn.“
„Du bleibst hier!“ erklärte Trudchen und senkte die Augen auf ihr Buch.
„Der Herr sieht so blaß aus,“ fuhr die redselige Frau fort. „Der Herr Baumhagen erzählte ihm im Gartensaal, daß es mit dem Wolff zum Sterben kommt; da schlug er mit der Hand auf den Tisch, daß die Kaffetassen klirrten, und sagte: ‚In dieser Geschichte geht mir Alles gner!‘“
Trudchen sah empor; in ihr blasses Gesicht kam Farbe und sie athmete tief auf. „Zum Sterben?“ fragte sie.
„Ja! Ich hörte noch, wie Herr Baumhagen ihn zu beruhigen suchte: es sei wohl so am besten, und er hoffe, es werde sich nun Alles in Frieden arrangieren.“
„Was wollte denn mein Onkel draußen?“ forschte Trudchen.
Johanne ward verlegen. „Ich weiß es nicht, Frau Linden, aber wenn mich nicht Alles täuscht, so redete er Herrn Linden zu – daß – – Ach Gott, gnädige Frau –!“ die schmucke Person kam herüber und blieb vor dem Tische stehen, den sie zierlich gedeckt.
„Was Sie mit einander gehabt, die Herrschaft, das weiß ich nicht, es kommt mir auch nicht zu, darüber nachzudenken. Aber sehen Sie, gnädige Frau, ich hatte auch einmal einen Mann, dem ich herzlich gut war – das Leben ist so kurz, meine ich – man sollte sich keine Stunde verbittern, gnädige Frau; was todt ist, kommt nicht wieder. Aber wüßte ich, mein Fritze wäre noch auf der Welt und säße drüben hinter den Bergen, so gar nicht weit von mir – Herr Jesus, wie wollte ich laufen, daß ich hinüber käme, und wäre er auch bitterböse auf mich! Um den Hals fiel’ ich ihm und sagte: ‚Fritze, nun schilt mich und schlage mich, es ist Alles Eins, wenn ich Dich nur habe!‘ Und die junge Wittwe vergaß den Respekt vor der Herrschaft und schlug den Zipfel der sauberen Schürze vor die Augen und begann bitterlich zu weinen.
„Weine nicht, Johanne,“ sagte Trudchen. „Du verstehst das nicht. Mir wäre es schon lieber so – als daß er mich –“ Sie stockte, es war ein Gefühl herzbeklemmender Angst, das sie überkam.
Johanne schüttelte den Kopf. „’s ist nicht recht!“ sprach sie und ging hinaus.
Und Trudchen ließ den gedeckten Tisch und stellte sich ans Fenster und legte die Stirn an das kühle Glas. Ob es nicht Menschenworte giebt, so gewaltig, als hätte Gott selbst sie gesprochen?
Als Johanne nach langer Zeit wieder das Zimmer betrat, fand sie es leer und den Tisch unberührt; und als sie sich anschickte, das bescheidene Tafelgeschirr abzuräumen, da trat die junge Frau eben wieder über die Schwelle und legte einen Schlüssel auf den Schreibtisch. Sie war in des seligen Herrn Stube gewesen, und wie versteinert sah das blasse Antlitz aus unter dem braunen Haar.
„Wenn Besuch morgen kommt, oder wann es sei – ich bin nicht zu sprechen,“ befahl sie, „es müßte denn Onkel Heinrich sein.“ Und sie nahm das Buch vor die Augen und las.
Es rührte sich schon längst nichts mehr im ganzen Hause, da ließ sie das Buch einen Augenblick sinken und starrte ins Leere hinaus. „Nein!“ sagte sie halblaut. „Nein!“
Drei Tage später fuhr die Niendorfer Equipage vor das
Gitterthor von „Waldruhe“ und hielt dort eine Viertelstunde im
grellsten Scheine der Nachmittagssonne, sodaß sich die Gärtnerkinder
nicht satt zu sehen vermochten an der aufsprühenden Farbenpracht
von Tante Rosa’s veilchenfarbenem Sonnenschirm und den
rothen Straußfedern, die auf Adelheid’s Sommerhütchen lagen
und sich effektvoll mit dem dunklen Kraushaare vermischten, das
wie in Fransen über der jungen Stirn hing. Auch dem Herrn
Amtsrichter mußte dieser Anblick behagen, denn er verwandte kein
Auge von dem anmuthigen vis-à-vis.
„Frau Linden bedauert, sie ist nicht wohl genug, um Besuch empfangen zu können,“ berichtete Johanne mit niedergeschlagenen Augen.
[487] Zwei der Insassen des Wagens sahen sich enttäuscht an, und der Amtsrichter suchte in der Brusttasche noch seinem Visitenkartenetui. „So!“ Er händigte der Dienerin die ungebogene Karte ein. „Und hier ist ein Brief, ein wichtiger Brief – verstehen Sie, Johanne? Empfehlen Sie mich, und ich wünschte gute Besserung.“
„Ich auch!“ sagte schüchtern das Fräulein.
Tante Rosa aber schwieg, und da man genauer hinsah, schlief sie, und das alte runzlige Gesichtchen wackelte seltsam über der großen Hutschleife.
„Borrmann, fahren Sie ja recht langsam, wenn wir in den Wald kommen,“ flüsterte der Amtsrichter, „Fräulein Rosa schläft.“ Und der Kutscher schnalzte mit der Zunge und fuhr auf dem weichen Graswege schier lautlos dahin; Johanne sah nur noch, daß der Herr Amtsrichter von der Mitte des Sitzes dem jungen Mädchen völlig gegenüber rückte und daß diese plötzlich so roth erglühte wie die Feder ihres Hütchens.
Johanne ging mit Brief und Karte ins Haus zurück und überreichte sie Trudchen.
„Einen Brief?“ fragte die junge Frau.
„Der Herr Amtsrichter gab ihn mir,“ erwiderte Johanne und verließ das Zimmer, in welchem, trotz der draußen herrschenden Wärme, eine feuchtkühle Luft wehte.
Trudchen öffnete langsam das Kouvert. Es war seine Handschrift; sie hatte es geahnt. Ein rasches banges Herzklopfen nahm ihr fast den Athem, und die Buchstaben flimmerten vor ihren Augen; es verging eine Weile, ehe sie lesen konnte:
„Gertrud!
Gestern Abend ist Wolff gestorben. Es ist nicht mehr
möglich, ihn auf Erden zur Rechenschaft zu ziehen, es ist nicht
mehr moglich, seine Schuld aufzudecken. Er steigt ins Grab, ohne
die Verleumdung von mir genommen zu haben. Ich bleibe als
der vermeintliche Schuldige vor Dir stehen und kann weiter nichts
thun, als noch einmal versichern, daß wir – Du und ich –
die Opfer eines Schurken geworden sind. Ich habe nie mit
Wolff über Dich, über Dein Vermögen verhandelt, noch seine
Vermittelung angerufen.
Ich überlasse Dir und Deiner Einsicht das Weitere; zwingen zur Rückkehr werde ich Dich nicht, so wenig ich mich zu einer Scheidung zwingen lasse. Komm’, Gertrud, komm’ bald, und Alles soll vergessen sein. Das Haus ist öde, und die Herzen sind es noch mehr – fasse wieder Vertrauen. Dein Franz.“
Sie war eben zu Ende mit dem Lesen dieser Worte, da trat Onkel Heinrich ein. Der kleine Herr hatte entschieden gut dinirt; er machte das lustigste Gesicht von der Welt.
„Noch immer hier?“ fragte er. Und als sie nicht antwortete, faßte er sie näher ins Auge – „nun, doch nicht schon wieder in Alteration?“
Aber die junge Frau wankte plötzlich, und Onkel Heinrich sprang noch gerade hinzu, um sie stützend zu halten und mit ängstlicher Stimme Johanne zu rufen. Sie legten die schlanke Gestalt in den Lehnstuhl und wuschen die Schläfen mit kaltem Wasser.
„So sprich doch, Kind!“ bat er, „so sprich doch!“ und daS wiederholte er, bis sie die Augen aufschlug.
„Ich kann nicht,“ sagte sie nach einer Weile.
„Was denn?“ fragte der asthmatische alte Herr.
„Zu ihm gehen! Ich kann nicht! Muß ich denn?“
„Barmherziger Gott,“ stöhnte Onkel Heinrich, „nimm doch Vernunft an! Freilich mußt Du, wenn Du ihn nicht verkommen lassen willst.“
„Ich muß?“ wiederholte sie, und wie zu ihrem Troste fügte sie hinzu: „nein, ich muß nicht! Ich kann mich nicht zwingen Vertrauen zu fassen, ich kann mich nicht verstellen. Nein, ich muß nicht!“ Und sie sprang auf und lief das Zimmer entlang bis zur Thür, bebend vor Aufregung.
„O, la la!“ Der alte Herr griff sich in die Haare. „So bleib! Laß Haus und Hof zu Grunde gehen und den Mann dazu, dem Du die Treue gelobt hast!“
„Ja, ja!“ flüsterte sie, „Du hast schon Recht, aber ich kann nicht!“ Und sie umfaßte in der Tasche die kleine Börse, in welcher das unselige Brieffragment steckte.
Es war, als ob diese Berührung ihr die völlige Besinnung wiedergab. Sie wurde still, schmiegte sich in den Sessel und lehnte den Kopf an die Polster.
„Verzeihe, Onkel – ich weiß, was ich thue.“
„Das weißt Du eben nicht!“ murmelte er.
„Doch!“ klang es trotzig zurück. „Oder meinst Du, ich müßte hinüber gehen und ihn mit gerungenen Händen bitten, mich in Gnaden wieder aufzunehmen?“ Und wie Hohn kräuselte es sich um ihre Lippen.
„Das Gescheiteste wär’s!“ erklärte Onkel Heinrich verdrießlich.
Sie beugte stolz den Kopf in den Nacken zurück. „Nein!“ kam es von ihren Lippen, „und wenn ich noch elender würde! Verzeihen kann ich, aber – hinkuschen wie – wie ein Hund – nein!“
„So soll mich Gott strafen, wenn aus Dir nicht der pure Hochmuth spricht,“ fuhr der alte Herr auf. „Wer giebt Dir ein Recht, Dich so weit über ihn zu stellen? Ein armer Kerl war er, der nicht freien konnte ohne Geld; ist es ein Verbrechen, daß er nach diesem Punkte gefragt? Bei jeder Prinzessin geschieht es. Lieblos bist Du und starr und ungerecht. Hast Du nie ein Unrecht gethan?“
Sie war schon bei den ersten zürnenden Worten zusammengefahren wie ein erschrecktes Kind, nun sprang sie auf, und als sie vor ihm niederkniete, sahen ihre Augen bittend zu ihm empor. „Onkel, weißt Du denn, wie ich ihn geliebt habe? Weißt Du denn, wie ein Weib lieben kann? Zu ihm aufgesehen habe ich, wie zu dem Edelsten auf der Welt, so hoch, so groß kam er mir vor. Zu seinen Füßen habe ich gelegen, und Abends habe ich die Hände gefaltet und Gott gedankt, daß Er mir diesen, gerade diesen Mann gegeben. Der Einzige, glaubte ich, wäre er, der nicht nur das reiche Mädchen in mir sah, und hundertmal hat er mir dies erzählt. Onkel, Du, Du bist immer allein gewesen, Du weißt nicht, wie sehr man lieben kann! Und dann hinunterzusteigen, einen gewöhnlichen Menschen vor sich zu sehen, Einen, der auch die Lüge nicht verschmäht – lieber todt, lieber todt!“ Und sie ließ seine Rechte und barg ihr Gesicht in den zitternden Händen. „Und da, wo das Glück gewesen, da soll ich mit der kargen Pflicht haushalten? Ich soll seine Frau sein, und ich weiß, daß nicht die Liebe ihn zu mir geführt? Ich soll ein zärtliches Wort hören, und nicht dabei denken: ‚Er meint’s nimmer so‘? Er sagt mir etwas, und ich zermartere mich in Zweifeln darüber, ob er es ehrlich meint? O, die Hölle kann nicht schrecklicher sein, denn ich hatte ihn lieb!“
Dem alten Herrn standen die Augen voll Wasser. Er strich verlegen über den schlichten Scheitel der jungen Frau.
„Steh auf, Trudchen,“ bat er leise; und nach einer Pause: „Man soll aber vergeben, sagt schon die Bibel.“
„Ja, von Herzen!“ flüsterte sie, „und wenn Du ihn siehst, so sage es ihm. Ach, und wenn er gekommen wäre und hätte gesprochen: ‚Verzeihe mir‘ – aber so –“
Dem Onkel Heinrich schoß ein Gedanke durch den Kopf. „Dann würdest Du nachgeben, gute Kleine?“ fragte er, „nicht wahr?“
„Ja!“ stammelte sie, „so schwer es auch ist.“
Der alte Egoist wußte, was er zu thun hatte. Er führte das weinende Trudchen zu ihrem kleinen Sofa, ließ sich von Johanne ein Glas Wein reichen und fuhr dann nach Niendorf. Er sah unterwegs immer das schöne thränenüberströmte Gesicht vor sich und hörte ihre klagende Stimme. Als er ziemlich hastig die Treppe zum Gartensaal emporstieg, erblickte er schon durch die Glasscheiben der Thür die kleine schwarze Adelheid neben dem Amtsrichter am Tische, der eben eine Weinflasche entkorkte. Beide waren so vertieft im Anblicken und Erröthen und wieder Anblicken, daß sie den alten Spion da draußen gar nicht gewahrten.
„Nun wahrhaftig, es sind auch Zeiten darnach in diesem Hause Bowlen zu machen,“ dachte Onkel Baumhagen. Er jagte das Paar beim Eintreten mit einen brummigen „guten Tag!“ in die nüchternste Wirklichkeit zurück, und der Herr Amtsrichter begann sogleich mit einem Lamento über das schauderhafte Pech, daß dieser Wolff ein halb jahr zu früh gestorben sei.
„Was ist denn hier los?“ fragte Onkel Heinrich dagegen und sog das Aroma der Waldbeeren ein.
„Die Abschiedsbowle für den Herrn Amtsrichter,“ erklärte Fräulein Adelheid.
„O, la la! Sie wollen fort?“
„Ich muß,“ erwiderte der Kleine mit einem bedauerlichen Blick zu dem jungen Mädchen. „Uebrigens, verehrter Herr, seitdem hier die frauenlose, die schreckliche Zeit angebrochen, ist es, gelinde gesagt, unheimlich in Niendorf. Linden ist seit der Todesnachricht gestern Abend so niedergeschlagen, als sei mit diesem Satanskerl sein Liebstes in die Grube gefahren. Weiß Gott, um einen [488] theuren Verwandten hätte er nicht besorgter sein können, und die Gäule haben sich die Beine abgelaufen, um Erkundigungen über das Befinden des Biedermannes einzuziehen. Ich glaube sogar, er hatte dem Leibarzt dieses ausgezeichneten Erdenbürgers eine Prämie für die Erhaltung seines so kostbaren Lebens ausgesetzt.“
Onkel Heinrich brummte etwas, das beinah wie eine Verwünschung klang. „Wo ist Linden?“ fragte er dann.
„Oben!“ scholl Fräulein Adelheid’s Stimme. „Er sitzt da schon seit heute früh, wenigstens haben wir –“ sie zeigte auf den Amtsrichter und auf sich – „allein dinirt mit Tante, dann sind wir in ‚Waldruhe‘ gewesen, aber nicht angenommen worden, und jetzt ist es die pure Verzweiflung, wenn wir eine Bowle machen. Aber bitte, Herr Baumhagen, wollen Sie nicht einmal kosten?“
Die Kleine hatte ein Glas gefüllt und bot es dem alten Herrn mit lachenden Augen.
Onkel Heinrich warf einen halb ärgerlichen, halb begehrlichen Blick auf das Kelchglas in der niedlichen Mädchenhand. „Hexe!“ sagte er dann, und stolz wie ein Spanier schritt er aus dem Zimmer. Er war zu ernst gestimmt, um auf das „Gequatsch“ einzugehen. Hinter ihm drein aber flog ein glockenhelles Lachen.
„So wollt’ ich doch. daß der Amtsrichter den kleinen Satan mit in den Koffer packte und nach Frankfürt expedierte. oder meinetwegen dahin, wo der Pfeffer wächst!“
Er schreckte den jungen Hausherrn vom Schreibtisch empor. „Linden,“ begann er, ohne sich zu setzen, „unten hält der Wagen, kommen Sie mit zu der kleinen Frau; bitten Sie sie um Verzeihung und Alles ist gut.“
Franz Linden blickte ihn ruhig an. „Wissen Sie, was ich damit thäte?“ fragte er, „ich gestände eine Schuld ein, die ich nie begangen habe.“
„Ach was, Quatsch! Lassen Sie doch Das! Hier kommt’s darauf an, wollen Sie die Frau wieder haben oder nicht?“
„Ist das die Bedingung, unter welcher meine Frau wiederkehren will?“
„Na, versteht sich. O la la! Ich weiß wenigstens genau, daß sie dann kommen würde.“
„Ich bedaure, aber das kann ich nicht,“ erklärte der junge Mann und wurde um einen Schein blasser. „Ich habe nicht um Verzeihung zu bitten.“
„Halsstarriges Volk und kein Ende!“ polterte Onkel Heinrich. „Man freut sich, daß der Hallunke todt ist, und nun sind wir auf dem alten Flecke!“
„Daß der Hallunke todt, ist für mich ein trauriges Schicksal, Onkel.“
„Sie wollen nicht?“ fragte der alte Herr noch einmal.
„Um Verzeihung bitten – nein!“
„So leben Sie wohl!“ Und Onkel Heinrich setzte den Hut auf und verließ eilig das Zimmer und Haus.
„Erlauben Sie doch, daß ich Sie hinunter begleite,“ bat Franz und folgte dem kleinen Herrn, der hastig in den Wagen stieg, als gelte es eine Flucht.
Aber ehe die Pferde anzogen, beugte sich über den Schlag noch einmal sein altes gutes Gesicht, und eine brennende ehrliche Angst stand darauf zu lesen.
„Hören Sie, Franz,“ flüsterte er, „’s ist ein thörichter Stolz von Ihnen. Die Weiber besitzen so ihre Marotten, ich habe zwar nie Eine gehabt – drei Kreuze dahinter – aber ich kenne sie doch. Sie haben so einen gewissen Korpsgeist, sie wollen Alle aus Liebe auf den Schild gehoben werden, und die Kleine ist darin besonders scharf. Sie hat mit ihrem Vater, meinem guten seligen Lebrecht, ein bischen viel in Idealen gemacht; ich sagte es immer: die Krabbe hat zu viel gelesen. Nun sein Sie der Klügere, der nachgiebt! Herr Gott, Sie sind wahrhaftig nicht auf den Mund geschlagen und – sie ist doch eine reizende kleine Frau.“
„Sobald Gertrud wiederkehrt, ist Alles vergessen,“ erwiderte Linden und schloß die Wagenthür.
„Sie kommt aber so nicht, Junge. Kennen Sie den Baumhagen’schen Trotzkopf noch nicht?“ klang es in höchster Verzweiflung.
Er zuckte die Schulter und trat zurück.
„Nach ‚Waldruhe‘!“ schrie im heftigen Zorn der alte Herr dem Kutscher zu, und ohne Gruß fuhr er ab.
„Der Monsieur spielt sich gefährlich auf als beleidigte Unschuld,“ brummte er und stieß in kurzen Zwischenräumen den Stock auf den Boden des Wagens. Und je näher er der Villa kam, desto röther färbte sich sein verärgertes rundes Gesicht. Er brauchte, in „Waldruhe“ angelangt, die Treppe nicht zu ersteigen; Trudchen war im Park. Am Ende eines dunkelschattigen Weges stand sie, und den Onkel gewahrend, kam sie ihm entgegengeschritten in ihrem einfachen weißen Sommerkleide.
„Onkel!“ stieß sie athemlos hervor, und zwei angstvolle Augen suchten in den seinen zu lesen.
„Na, komm!“ der alte Herr faßte sie an der Hand, „gehen wir den Weg vollends hinauf; es thut mir wohl, der Schlag könnte mich sonst beim Stillstehen treffen. Kurz und gut, Kind – er will nicht.“
„Onkel. was hast Du gethan?“ rief Trudchen, und die Röthe der Scham stieg ihr ins Gesicht. „Du bist bei ihm gewesen?“
Ja, ich habe gesagt: ‚Geh und bitte ihr ab, dann ist Alles gut – die Weiber sind mal so!‘ Und er –“
Sie faßte mit der Hand nach dem Herzen. „Onkel!“ stammelte sie.
„Und er sagte: Nein! Es hieße eine Schuld bekennen, die er nicht begangen. So, mein Kind. Ich hab mich da mal wieder als Friedensengel aufspielen wollen, aber – bis hieher und nicht weiter! Jetzt helft Euch allein! Der Aerger schadet mir allemal, Du weißt’s; ich habe nun wieder genug auf vier Wochen. Adieu, Trudchen!“
„Adieu, Onkel, ich danke Dir.“
Er war schon ein paar Schritte gegangen, da sah der alte Egoist sich noch einmal um. Sie lehnte an dem Stamm einer Buche, wie gebrochen, die Blicke zur Erde gesenkt, ein unheimliches Lächeln um den Mund.
„Ei du Grundgütiger!“ stammelte er, nahm den Hut von der heißen Stirn und ging mit schwerem Herzen zurück zu ihr. „Na, nun den Kopf hoch,“ sprach er freundlicher. „Da drüben in Niendorf macht der kleine schwarze Satan eine Erdbeerbowle, der Amtsrichter will abreisen. Wie wär’s, Trudchen, wollen wir mittrinken? Komm, komm, ich bringe Dich hinüber! Siehst Du, wir treten hinein in den Saal, ganz leise – ich will nicht der Egoist sein, der ich bin, wenn Ihr Euch nicht Eins – Zwei – Drei in den Armen habt, Du rufst: ‚Franz!‘, er: ‚Trudchen!‘ und alles ist vergessen. – Trudchen, alte kleine Trude, sei vernünftig. Ist das Leben denn gar so herrlich, daß man sich die paar goldenen Tage der Jugend und der Freude noch muthwillig verkümmern muß? Komm, komm, folge mir dies eine einzige Mal!“
Er hatte sie an das feine Handgelenk gefaßt; aber hastig wand sie sich los, eine förmliche Erstarrung lag über ihrem Antlitz.
„Nein, nein, das ist vorbei,“ sagte sie laut und hart.
Kulturhistorische Modebilder.
Es giebt in der Weltgeschichte kein ergreifenderes Trauerspiel, als die Geschichte vom Zopf. Niemals ist Jemand bei seinem ersten Auftreten mit mehr Begeisterung empfangen worden. Niemals hat Jemand über mächtige Gegner glänzendere Triumphe gefeiert. Niemals ist Jemand schmählicher zu Grunde gegangen und mehr unter allgemeinem Spott und Hohn zu Grabe getragen worden. Niemand mehr, als der Zopf. Ich spreche natürlich nur von dem Zopfe der Männer. Denn die Zöpfe der Damen, wenngleich sie bisweilen ein wenig falsch sind, erfreuen sich auch heute noch der allgemeinen Beliebtheit und Achtung.
Der männliche Zopf wurde, als er zum ersten Mal als junger schlanker, unternehmender Gegner der alten umfangreichen,
[489][490] schwerfälligen Perücke auftrat, von dem damaligen „jungen Europa“ mit Jubel empfangen. Denn es hat in jedem Jahrhundert ein „junges Europa“, ein „junges Deutschland“, ein „Italia giovino“ etc. gegeben. Leider ist das junge Institut allemal gar zu schnell gealtert. Doch das ist ein Thema, das eine besondere Bearbeitung (zwar bis jetzt nicht gefunden hat, aber nothwendiger Weise) erfordert.
Heute sprechen wir nur von dem Zopfe.
Wenn ich deutlich machen soll, wie der Zopf gleich dem jungen Herkules in der Wiege schon Schlangen erwürgte, nämlich die Locken-Schlangen der Allongeperückc, und wie diese Heldenthat von Europa mit Beifall aufgenommen wurde, so muß ich ein wenig zurückgreifen auf die vorausgegangenen Jahrhunderte.
Vor dem Dreißigjährigen Krieg trug man kurze Haare und lange Bärte. Im 17. Jahrhundert dagegen wurden die Bärte immer kürzer und schmaler – der Kinnbart fiel ganz weg, und der Schnurrbart wurde durch Rasiren von der oberen und von der unteren Seite her zugleich dergestalt geschmälert, daß er nur noch einen dünnen Strich bildete – und die Kopfhaare wurden immer länger. Oder besser und deutlicher ausgedrückt: „Sollten immer länger werden.“ Da aber die Natur ihre Mitwirkung versagte zu den unsinnigen Plänen der Mode und der Menschen, so mußten bald die künstlichen und die todten Haare die Stelle der natürlichen und der lebendigen Haare vertreten; und das war der Ursprung der Perücken, und zwar jener Allonge-Perücken, welche sich „mit Millionen Locken“ auf dem menschlichen Haupt emporthürmten und außerdem noch die Ohren, den Rücken, die Schultern und einen Theil der Brust bedeckten.
Indessen gab es auch damals schon eine Minorität, welche es vorzog, das eigene Haupthaar zu tragen, und merkwürdiger Weise gehörten zu ihr gerade die zwei Männer, welche zu einander einen unversöhnlichen Gegensatz bildeten, so daß der eine dem andern zum Opfer fallen mußte. Das waren Kaiser Ferdinand II. und Wallenstein, richtiger „Waldstein“ geheißen. Beide haben niemals Perücken getragen.
Allein abgesehen von diesen beiden Häuptern jenes 17. Jahrhunderts, welches die Franzosen heute noch das „große“ (le grand siècle) nennen, wie sie auch ihren Haupt-Perücken-Stock, Ludwig XIV., den großen Herrscher (le grand monarque) tituliren, welches Jahrhundert für uns Deutsche dagegen unzweifelhaft das Jahrhundert des Elends, der Verarmung, des Rückganges, der Auflösung und des Verfalls war – abgesehen von so hohen Häuptern, sage ich, wagte es damals noch Niemand, den Perücken offen den Krieg zu erklären.
Man machte den schüchternen Versuch, an die Stelle der Allonge-Perücke die kurze runde Stutz-Perücke zu setzen. Allein auch das galt schon für ein Zeichen von bedenklicher Gesinnung, oder wie man es in unserer kauderwälschen officiellen Sprache ausdrückt: „von destruktiven Tendenzen“. Lord Mahon erzählt uns, daß die Königin Anna von England einen ihrer besten Minister in Ungnaden entließ, weil er sich erdreistet hatte, vor Höchstihren Augen, statt in einer großen Allonge-Perücke, in einer einfachen Stutz-Perücke zu erscheinen. Leibniz dagegen war klüger. Er war ein großer Gelehrter, aber auch ein großer Staats- und Hofmann. Er erschien nie anders, als in einer großen Perücke, und so sehen wir ihn auch heute noch in seiner vortrefflichen Portrait-Statue auf dem Platze vor der Thomaskirche in Leipzig.
Unter solchen Umständen ist es begreiflich, daß es damals selbst die Jugend noch nicht wagte, direkt gegen jeden Zwang und für die absolute, extreme und unbeschränkte Befreiung des Haupthaares aufzutreten, welche heutzutage die Regel ist und welche man vor hundert Jahren, als sie aufkam und als man in einer Art von römischem Pseudoklassicismus schwärmte, den „Titus-Kopf“ nannte. Sie wußte, daß man darin einen Angriff auf Thron und Altar, oder mindestens eine „subversive Tendenz“ gefunden haben würde. Gleichwohl wollte sie sich nicht mehr fernerhin in eine Wolke fremder Haare hüllen. Sie wollte das eigene Haarwachsthum kultiviren; aber sie wagte noch nicht, es ganz zu emancipiren, weil man darin ein „bedauerliches Zeichen von Sittenlosigkeit“ erblickt haben würde. Auf diesem Wege kam sie zu einem Kompromiß, nämlich: eigene Haare, aber in gebundener Form. Das war der Zopf – der Kompromiß zwischen Natur und Unnatur, zwischen freiem Haar und Perücke. Der Zopf war also der Fortschritt!
Schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte Moscherosch, genannt „Philander von Sittenwald“, in seinem „Alamode-Kehraus“ wider die Perücken gedonnert mit den Worten:
– „Bist Du ein Deutscher? Warum denn mußt Du ein falsches Haar tragen? Warum muß dies Haar also lang über die Schultern herabhangen? Warum willst Du das Haar nicht kurz beschneiden nach alter deutscher Sitte? Ist das nicht eine lose Leichtsinnigkeit? Diese langen Haare, also herabhangend, sind rechte Diebshaare und erdacht worden von den Wälschen, welchen um eines Diebsstückes oder einer andern Missethat willen ein Ohr abgeschnitten worden. Den Verlust möchten sie nun also mit den Haaren bedecken. Ihr aber wollt solche lasterhafte Leute in ihrer Untugend nachäffen? Eurer eigenen, ehrlichen, deutschen Haare wollt Ihr Euch schämen? Ihr wollet sie abschneiden und hingegen lieber eines wälschen Diebs- und Galgenvogels Haar Euch auf Euren Kopf setzen lassen? – Aber wer sich seines eigenen Haares schämt, der ist nicht werth, daß er einen Kopf hat.“
Der Ausdruck „Diebshaar“ erläutert sich aus dem Umstände, daß schon zur Zeit des alten Frankenreiches das Abschneiden des Haupthaars eine entehrende Strafe war und daß auch noch im 17. Jahrhundert in Frankreich und in Deutschland die Sitte herrschte, die überführten Diebe à la brebis (wie Schafe) zu scheren und zu stäupen. Das nur beiläufig.
Am deutlichsten läßt uns die preußische Dynastie erkennen, wie der Zopf die Perücke besiegt hat.
Friedrich I., der sich die Königskrone auf das Haupt gesetzt hat, war noch ganz und gar Perücke, und zwar Perücke in des Wortes verwegenster Bedeutung. Er trug Allongeperücken ausgedehntester Gattung.
König Friedrich Wilhelm I., der Vater Friedrich’s des Großen, eröffnete den Krieg wider die großen Perücken zu Gunsten – der kleinen. Anstatt der Allongeperücke führte er die bereits erwähnte kleine runde Stutzperücke ein. Zuerst trug er eine braune, in seinen letzten Lebensjahren eine schneeweiße. Beim Militär führte er den Zopf ein. Mit der Perücke für den gemeinen Mann ging’s ohnedies nicht. Das wäre schon viel zu theuer geworden, und Friedrich Wilhelm I. war, wenngleich er auf den Erwerb langer Rekruten ein großes Stück Geld verwandte, doch vor allen Dingen sehr sparsam. Daneben haßte er den französischen Luxus und folglich auch das „falsche Pathos der Haare“, die „falsche Behauptung“, das ist die Perücke. Die streng geregelte Tracht des eigenen Haares in einer gebundenen, die stramme Mannszucht versinnbildlichenden Form war sein Ideal. Seitdem begann man von dem „preußischen“ Zopfe zu sprechen.
Und Friedrich der Große war es, der diesen preußischen Zopf zu Ehren gebracht hat. Denn Friedrich trug überhaupt keine Perücke. Wie Friedrich I. ganz Perücke war, so Friedrich II. ganz Zopf, wenngleich keineswegs nur Zopf. Und es gelang ihm, dem Zopfe Bahn zu brechen, und zwar nicht nur in der Armee, sondern auch in der bürgerlichen Gesellschaft. Heute lächeln wir unwillkürlich, sobald von der „Zopfzeit“ die Rede. Aber man darf dabei Zweierlei nicht vergessen: Einmal: die Vorzüge des Zopfes vor der Perücke. Vor Allem, daß er weniger Zeit, Schonung und Pflege in Anspruch nahm, und dann, daß er weniger kostete.
Sodann, – daß die größten Männer Zöpfe getragen; ich nenne nur Gotthold Ephraim Lessing, Albrecht von Haller, Klopstock, Wieland, Herder, Kant, Winckelmann, Linné, Buffon, Voltaire etc. Auch Kaiser Wilhelm und seine Brüder haben in der Jugend noch Zöpfe getragen.
Allein obgleich der Zopf von einem großen Könige und von einer Reihe geistiger Heroen getragen und beschützt ward, vermochte er doch nicht ohne schwere Kämpfe zur Herrschaft zu gelangen. Noch im 17. Jahrhundert herrschte unter der Geistlichkeit ein heftiger Streit darüber, ob es dem Priester erlaubt sei, sich der Perücke zu bedienen. Ein französischer Doktor der Theologie Namens Jean Baptiste Thiers hat eine eben so dickleibige, als wüthende Streitschrift wider die geistlichen Perücken geschrieben. Doch die Perücken siegten. Im 18. Jahrhundert sehen wir dagegen das Schauspiel, wie die zur Herrschaft gelangten fanatisirten Perücken den Zopf als einen unberechtigten [491] Eindringling bekämpften, welcher an einem geistlichen Haupte nicht geduldet werden dürfe.
Einen höchst interessanten Beleg hierfür liefert der Proceß wider den Prediger Schulz in Gielsdorf in der Mark, später bekannt unter dem Namen „der Zopf-Schulz“. Er wurde bei dem Konsistorium verklagt unter Anderem auch deßhalb, weil er vor seiner Gemeinde im Zopf predige, anstatt in einer Perücke, oder in sorgfältig gelocktem oder gekräuseltem Haupthaar. In der wider ihn eingeleiteten sehr umfangreichen Untersuchung wurde die Thatsache des Zopfes festgestellt, im Uebrigen aber sein Wandel unsträflich befunden. Das Kammergericht sprach ihn frei. Aber der berüchtigte Minister Wöllner, der ja bekanntlich auch den großen Philosophen Kant mit „unangenehmen Verfügungen“ bedroht hat, veranlaßte König Friedrich Wilhelm II., das Urtheil zu kassiren, die gewissenhaften Richter mit der „allerhöchsten Ungnade“ heimzusuchen und den guten „Zopf-Schulz“ abzusetzen und in die Untersuchungskosten zu verurtheilen.
Noch 1742 wurde in Halle an der Saale der Doktor Franke, der Sohn des hochverdienten und frommen Pastors August Hermann Franke und Nachfolger seines Vaters in der Leitung der berühmten Stiftungen des Waisenhauses etc., mißliebig, weil er statt der Perücke einen Zopf trug, und nur sein hinreichend bekannter gottesfürchtiger Charakter und seine Stellung vermochten ihn vor der Anklage der „Freigeisterei“ zu schützen.
Und dieser Zopf, der 1741 für das Sinnbild der „Freigeisterei“ galt, galt 1841 ebenso unzweifelhaft für das Sinnbild der altfränkischen Abgeschmacktheit und des bornirten Rückschritts – kurz, für das Symbol der „Verzopftheit“. Er war derselbe geblieben, aber die Ansichten der Menschen hatten gewechselt.
Betrachten wir nun noch kurz, wie der Zopf nach und nach gesunken ist und wie er endlich gefallen.
Den ersten Todesstoß erhielt er durch die französische Revolution und dann den zweiten durch Napoleon I. Als der Letztere 1806 in dem Innern Deutschlands erschien, kam er, im Gegensatze zu der bisherigen noch vielfach herrschenden Mode, nicht in kurzen Hosen, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen, sondern in langen Beinkleidern (Pantalons) und Stiefeln. Er ging ohne Zopf, ohne Haarbeutel und ohne Puder – einfach im rund und kurz geschorenen eigenen Haare, was man damals „Titus-Kopf“ nannte. Viele Deutsche folgten seinem Beispiele. Aber erst im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ist in Deutschland der Zopf gänzlich verschwunden. Die großen Perücken sieht man auf dem Kontinente schon lange nicht mehr. Man findet sie nur noch jenseit des Kanals bei den englischen Richtern und dem Sprecher des Unterhauses.
Einer der letzten Zopfträger in Deutschland war Friedrich Nicolai, der als unermüdlicher Vorkämpfer der Aufklärung bekannte Schriftsteller und Buchhändler in Berlin (er hat auch eine ganz hübsche „Geschichte der falschen Haare und Perücken“ geschrieben, 1800), und dessen Schwiegersohn Hofrath Parthey. Der Sohn des Letzteren und Enkel des Ersteren, Gustav Parthey, hat in seinen „Jugend-Erinnerungen“, die leider nicht in den Buchhandel gekommen, uns die „Geschichte des letzten Zopfes“ sehr anschaulich und anmuthig beschrieben.
– „Das gepuderte Haar“, so erzählt Gustav Parthey von seinem Vater, dem Hofrathe Parthey, „trug er aus der Stirn zurückgekämmt und hinten in einen Zopf zusammengebunden. Er erzählte uns manchmal, daß am Ende des 18. Jahrhunderts die eleganten Herren mit ihren Zöpfen einen förmlichen Luxus getrieben. Besondere Gestalten von Zöpfen kamen in die Mode und wurden wieder verlassen. Es gab vornehme und gemeine, falsche und halbgefütterte Zöpfe etc. Lichtenberg in Göttingen verspottete Lavater’s Physiognomik in einem witzigen Aufsatze: ,Fragment von Zöpfen’, das mit vielem Beifalle aufgenommen wurde.[1]
Ein recht starker Zopf galt, wie jetzt ein starker Bart, für ein Zeichen der Männlichkeit. Der Zopf meines Vaters war so stark, daß er meist für falsch gehalten ward. In Kurland begegnete es ihm mehr als einmal, daß man seiner Versicherung über die Echtheit nicht eher Glauben schenkte, als bis er das Zopfband löste und eine gewaltige Fülle blonden Haares herabwallen ließ.
Die französische Revolution hatte die Zöpfe abgeschafft, vorzüglich deßhalb, weil sie beim Guillotiniren hinderlich waren. Da nun in jener Zeit fast jeder Franzose in dieser Gefahr schwebte, so schnitt man die Zöpfe lieber vorher ab.
In Deutschland hielten sich die Zöpfe länger. Daß noch im Jahre 1800 Jean Paul den Helden seines ,Titan‘ mit einem falschen Zopfe ausstattete, kommt uns jetzt komisch vor, war es aber damals nicht. Während des französischen Krieges (1806–1807) wurden die meisten Civil-Zöpfe in Berlin abgeschnitten, vielleicht mit aus ökonomischen Gründen, um eine Ersparniß an Puder, Pomade, Zopsband, Haarbeutel und Zeit eintreten zu lassen.
Dem Frisirtwerden meines Vaters habe ich oft, auf dem Fußbänkchen am Fenster sitzend, mit Aufmerksamkeit zugesehen; es dauerte sehr lange. Zuerst trat der Bediente Wilhelm, das Frisirzeug unter dem Arme, ins Zimmer, breitete eine weiße, leinene Decke von wenigstens sechs Fuß im Quadrat auf dem Teppich aus, setzte einen Stuhl darauf und sagte: ,Herr Hofrath, wenn’s gefällig wäre‘. Mein Vater stand vom Schreibtisch auf, fuhr in den aufgehaltenen Pudermantel, nahm die Zeitung zur Hand und setzte sich. Der Zopf des vorigen Tages wurde gelöst und das volle Haar vielfach durchgekämmt. Dann nahm Wilhelm aus einer weißen Porzellanbüchse eine ansehnliche Menge wohlriechender Pomade und salbte den ganzen Kopf. Bei dieser Operation erregten seine fettglänzenden schnalzenden Hände mir immer einen innerlichen Abscheu. Hierauf drehte er mittelst eines hölzernen Cylinders, dessen technischer Name mir entfallen, über jedem Ohre eine lange horizontale Locke, Taubenflügel oder ,Aile de Pigeon‘ genannt, deren Hältniß durch besonders hinzugefügte Pomade gefestigt ward.
Nun folgte das Pudern. Wilhelm öffnete eine große blecherne Büchse voll des feinsten Weizenmehles, tauchte den aus den zartesten Federn bestehenden Puderquast hinein und verbreitete durch Auftupfen um den ganzen Kopf eine dichte weiße Staubwolke, die nicht nur an dem gefetteten Haare hängen blieb, sondern auch in weitem Kreise sich niedersenkte und von dem Zeitungsblatte durch wiederholtes Abklopfen entfernt werden mußte. Dieser trockne Qualm war mir nicht weniger zuwider als die vorher angewendete Schmiere, und ich suchte den Athem so lange anzuhalten, bis der ärgste Dunst sich verzogen.
Darauf wurde der Zopf dicht am Nacken mit einem weißen Bande, dessen eines Ende Wilhelm zwischen den Zähnen hielt, zusammengebunden, dann mit einem feinen schwarzseidenen Bande sorgfältig umwickelt.
Ein elegantes Zopfband gehörte zu den kleinen Luxusgegenständen; es war für junge Männer, wenn es als Geschenk von lieber Hand kam, ein süßes Angedenken. In Blumauer’s travestirter Aeneide erhenkt sich Dido an dem Zopfbande des geliebten Aeneas. Zu Guterletzt reichte Wilhelm meinem Vater das Pudermesser; er trat vor den Spiegel und entfernte vorsichtig mit der stumpfen Klinge den Puder von der Stirn bis an die Haarwurzeln hinauf.
Das so vollendete künstliche Gebäude war eigentlich nur auf einen Chapeaubas berechnet, den man gar nicht aufsetzte, sondern unter dem linken Arme trug. Damals wurden aber allgemein dreieckige und runde Hüte getragen, die bei jedem Aufsetzen und Abnehmen den Bau zerstörten und sehr bald von Fett starrten. Ging daher mein Vater in eine Abendgesellschaft, so wurde entweder der Puder erneuert, oder das ganze langweilige Geschäft des Frisirens bei Lichte wiederholt.
Vor dem Schlafengehn verwahrte Wilhelm die Seitenlocken in Papillotten, vertauschte das feine Zopfband mit einem weniger guten und schob den Zopf mit geschickter Wendung unter die bereitgehaltene weiße baumwollene Zipfelmütze.
Als nun während des Krieges von 1806 die Zöpfe in Berlin immer mehr in Abnahme kamen, da sprach mein Vater auch davon, den seinigen abzuschneiden. Wir waren anfangs alle dagegen: denn des Vaters Zopf gehörte mit zu seiner Person, und wer möchte an einem geliebten Wesen irgend etwas entbehren? Doch bald änderte sich die Stimmung, denn in der Schule, wo bereits die unbezopften Lehrer in der Mehrzahl waren, wurden die wenigen bezopften mit allerlei Ekelnamen belegt; da figurirte der Schreibelehrer als Selleriewurzel, der Singlehrer als Regenwurm etc. [492] Eines Sonntagmorgens wurden wir halb traurig, halb freudig überrascht, als der Vater uns seinen abgeschnittenen Zopf, der auf einem Bogen Papier kaum Platz hatte, vorlegte. Er trug nun sein volles, silberweißes, seidenweiches Haar, das ihm bis zum 77. Jahre geblieben ist, und gefiel uns nur um so besser.“
So endete der letzte Zopf!
Doch nein! Es war nicht der letzte. Als 1814 der alte Kurfürst von Hessen in Cassel wieder eingesetzt ward, da stellte er bei seinen Soldaten den Zopf wieder her. Er wußte nicht, daß der Zopf so lange als Symbol der Aufklärung, der Freigeisterei und des Fortschritts gegolten. Er hielt ihn für das Symbol der Legitimität und der guten alten „kurhäßlichen“ Zeiten.
Allein das Vergnügen dauerte nicht lange. Als sein Sohn ans Regiment kam, befahl er sofort, alle Zöpfe abzuschneiden und in die Fulda zu werfen. Und so sind sie aus der Fulda in die Weser geschwommen und aus der Weser in die Nordsee. Und wiederkommen werden sie schwerlich.
Das war das traurige Ende des vormals so lustigen Zopfes.
Burgen in Bozens Umgebung.
(Schluß.)
Von der Talferbrücke, die wir auf der Wanderung nach Gries schon einmal überschritten haben, führt die Straße durch Felder und Wiesen in einer Stunde an die breitschweifende, langsam fließende Etsch. An ihrem rechten Ufer ragt vor uns auf mächtigem Porphyrfelsen, von Eichen und Buschwerk belebt, das gewaltige Sigmundskron mit seinen massiven Mauern und runden Eckthürmen, als Ruine noch ein imposanter Bau, eine Hofburg ersten Ranges. Und welchen Alters mögen die ältesten dieser Mauern sich rühmen! Schon im 9. Jahrhundert stand hier das Kastell Formigarum, ein Bollwerk der Bischöfe von Trient. Ja, manche Forscher wollen hier das römische Pons Drusi gefunden haben. Den jetzigen Namen führt es vom Herzog Sigismund dem Münzreichen, der die hochwichtige Burg erwarb und in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts erweitern und mit den mächtigen Mauern und Thurmen befestigen ließ, – angeblich als Schutzwerk gegen die Venetianer. Großer Vorrath an Waffen aller Art fehlte nicht. Aber der zweite Gründer und Namensvater von Sigmundskron mußte auch von dieser Schöpfung und seinen anderen nach ihm benannten Burgen und Jagdschlössern Abschied nehmen und in den erlauchten Kreis seiner Vorfahren hinüber schlummern. Da sank mehr und mehr sein größtes Werk, und es bietet nur noch den Anblick einer großartigen Ruine. Wer aber an einem Sommer- oder Herbstabende droben steht und aus der verrotteten Herrlichkeit hinausblickt auf die fruchtbaren, gesegneten Gründe, auf die malerischen, an Formen so wechselnden Berge und auf den im Abendsonnenscheine hellglühenden „Rosengarten“ (vgl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1881, S. 599.) derjenige wird nie und nimmer Sigmundskron vergessen, denn die Erinnerung an dasselbe wird in ihm fortblühen, wie der magische Rosenschein der Nadeln und Thürme des feurig strahlenden Dolomitgebirges bei sinkender Sonne. – Wer Hocheppan besuchen will, der steigt durch die düstere Paulser Höhle empor und erblickt an dem Ende derselben den epheuüberrankten Thurm der kleinen Burg Wart, und entfernter die bedeutende Ruine der Altenburg. Ersteres, dem Namen nach ein Vorwerk, ein Spähethurm, gehörte den reichen Weineggern und kam nach deren Ableben 1563 in den Besitz der Herren von Künigl. Von der Altenburg berichtet Franz Ad. Graf von Brandis: „Erstlich dem Geschlecht dieses Namens gehörig, ist ein gar altes Gebäu, castrum vetus genannt, jetzt (1678) fast zerfallen, denen es anno 1276 die Grafen von Tirol zu Lehen verliehen.“
Es ward um das Jahr 1194 erbaut. Im Jahre 1469 waren die Herren von Fuchs dort als Pfandinhaber, später erwarben es die damaligen Freiherren von Thurn. Altenburg war der Sitz eines Gerichtes, und noch besitzen wir eine Ordnung desselben vom Jahre 1570. Beide Burgen sind [493] Lieblingsobjekte der Landschafter, wie überhaupt das reizende Mittelgebirge „Ueberetsch“ eine Fülle von Studien den Malern gewährt, die besonders im Herbste hier gerne verweilen.
Bald erreicht der Wanderer das wegen seiner gothischen Kirche weitbekannte Dorf St. Pauls, welches ein beliebter Herbstaufenthalt fremder Gäste, besonders ein Stelldichein von Künstlern ist. Von hier steigt man in dreiviertel Stunden nach dem herrlich gelegenen Schlosse Hocheppan empor. Die einst so mächtige Burg, die „mit dem Falkenauge nach Meran, Brixen und Salurn blickt“, liegt nun in Trümmern. Nicht weniger als achtunddreißig Schlösser erblickt man von ihrer Stelle. Leuchtete vom Wartthurme, der von der Burg etwas entfernt aufragt, das Kreidefeuer, so sah man es auf dem Schlosse Tirol bei Meran, auf der Haderburg bei Salurn, auf dem Schlosse Prösels im Eisackthale. Hocheppan war eines der stärksten Kastelle im Gebirge und galt im Mittelalter als uneinnehmbar.
Ueber das Alter der Burg gehen die Ansichten aus einander. Manche möchten hier schon ein vorrömisches Bollwerk sehen, andere mit mehr Recht ein römisches, denn der Name Appianum ist römischen Schlages. Im Mittelalter begegnen wir der Form Eppan, neben der die romanische Benennung Piano sich zeigt. Im 11. Jahrhundert saßen hier schon die Grafen von Eppan, nächst den Grafen von Tirol die mächtigsten Herren im südlichen Tirol. Beide Geschlechter rangen in blutigen Kämpfen und Fehden, mit offener Gewalt und Hinterlist um das Uebergewicht – bis endlich die Eppaner unterlagen. Einer der bekanntesten Männer dieses Geschlechtes war Egno, Bischof von Trient und Brixen, der zu Padua als Flüchtling 1237 starb. Wer sich über diesen merkwürdigen Fürsten und dessen Kämpfe genauer unterrichten will, dem empfehlen wir J. Durig’s gediegene Schrift: „Beiträge zur Geschichte Tirols in der Zeit Egno’s, Bischofs von Brixen und Trient.“ Gotschalk, der Letzte des berühmten Geschlechtes, endete sein Leben zu Trient 1300. B. Weber macht die treffliche Bemerkung: „Ein sonderbares Schicksal hatte über dem mächtigen Hause gewaltet. Ahnenfeinde des Hochstiftes Trient, wurden sie zuerst Dienstmannen, dann eifrige Verfechter desselben, endlich in ihrem letzten großen Sprossen (Egno) mit der früher verfolgten Kirche identisch. Ihr Haß gegen Tirol erlosch nur in ihrem Grabe. Ihre reichhaltige Geschichte böte dem Dichter mehr als ein Feld, den Namen des Heldengeschlechtes im Liede zu verewigen.“ – Nach meiner Ansicht gäbe der Untergang der Eppaner geeigneten Stoff zu einer Tragödie, und wie Major Freiherr von Teimer, „der Sieger von Wilten“, zum Besitze der alten Welfenburg in diesem Jahrhundert kam, die Fabel zu einem heitern Schauspiele. Wen das günstige Geschick nach dem gärtenreichen Bozen führt, der unterlasse ja nicht, das fernschauende Hocheppan zu besuchen. Es bietet eine der mannigfaltigsten und reichsten Aussichten in Tirol.
Eine Stunde südlich von Bozen liegt auf steilabfallendem Felsen die Halbruine Haselburg oder Küepach. Der Weg dahin führt theilweise durch einen Mischwald von Kastanienbäumen und Föhren. Kein zweiter Pfad in der Nähe unserer Handelsstadt kann sich kühleren Baumschattens rühmen, wie dieser, und deßhalb ist er ein Lieblingsgang aller, die sich vom Staube anderer Steige fort nach Kühle und Schatten und dem Säuseln der Bäume sehnen. Am anmuthigsten ist er aber, wenn die Erika blüht und aus dem Buschwerke die blauen und rothen Anemonen den Waldgänger begrüßen. Auf dem Burgstalle überrascht aber weitreichende Sicht. Der Blick beherrscht das gesegnete Etschthal von Meran bis Salurn mit seinen zahlreichen Dörfern, Burgen und Kirchen. Gefeierte Berge, wie Monte Baldo, Monte Róen, die Mendel, die Laugenspitzen und andere bewunderte Größen bilden die Mauern des südtirolischen Edens, das man hier erblickt. Und wie heimlich und lauschig ist es im stillen, freundlichen Burggärtchen!
Einst saßen hier die Ritter von Halbach, die schon frühe aus der Geschichte verschwanden. Ende des 13. Jahrhunderts waren die Greifensteiner und gegen 1500 die Herren von Küepach im Besitze der Burg, die vom Volke nun gewöhnlich Küepach genannt wird. Hugo von Küepach soll, ehe er nach Palästina fuhr, seine Schätze an Gold und Silber in eiserne Kugeln gegossen und diese in den Schloßgraben geworfen haben, damit sie unbeachtet und sicher wären. In seiner Abwesenheit kamen aber geistliche Herren aus Bozen zu seiner Gattin und baten um einen Beitrag zu den neuen Glocken für die Pfarrkirche der Stadt. Die milde Frau gestand jedoch verschämt, daß sie wenig Geld besitze und Nichts spenden könne, als die eisernen Kugeln im Schloßgraben. So kamen die Schätze in fromme Hände, wie es hier zu Lande sehr oft geschieht, wurden in die Glockenspeise eingegossen und deßhalb klingt die große Glocke im schönen Pfarrthurme „so voll, so hell, so rein“. Gold und Silber sind längst von Küepach verschwunden, aber tief im Thurme blinkt manchmal ein karfunkelrother Hort, den Sonntagskinder und bevorzugte Geister zu heiligen Zeiten zu sehen [494] bekommen. Kein Wunder, daß besonders Künstler gern den schattigen Waldweg nach Küepach wandeln, die Aussicht bewundern, nach dem Karfunkel im Verließe forschen oder im Hofe schallende Tjoste und Buhurte vor minniglichen Frauen aufführen. („Tjost“ bedeutete im Mittelalter ritterliches Kampfspiel, in dem Mann gegen Mann stand, „Buhurt“ dagegen ein solches, wo Haufe gegen Haufe losrannte. Gewöhnlich war Buhurt blos Spiel und Kurzweil, das man bei hôchgezîten fürstlichen Personen zu Ehren gab. Statt der Schwerter wurden dabei Stäbe gebraucht. Anm. d. Red.)
Schönes romantisches Leben auf dieser romantischen Stätte! Doch auf dem Heimwege soll manch verkappter Ritter, wenn die Geisterstunde nahte, auf eine Irrwurzel getreten oder von neckischen Kobolden zu Falle gebracht worden sein. – Ein guter Freund weiß davon eine ganz absonderliche Geschichte zu erzählen, die aber schon in das Fach der Spiritisten gehört.
Oestlich von Bozen am Eingange des an dichten Waldungen reichen, wegen seiner alten romanischen, mit sehr werthvollen Fresken geschmückten Helenakirche berühmten Eggenthales thront das stattliche Schloß Karneid, auf senkrechter Felsenwand. Einst den Herren von Greifenstein gehörig, kam es im 14. Jahrhundert an die Lichtensteiner, ward von Friedrich mit der leeren Tasche erstürmt, blieb aber im Besitze der gedemüthigten Lichtensteiner bis 1760. Seitdem kam die schöngelegene Burg in die Hände verschiedener Herren. Nachdem jüngst der Herr von Mayer in München mit den Prädikaten von 25 Burgen selig im Herrn entschlafen ist, erwarb das wohlerhaltene Schloß Herr Erzgießerei-Direktor von Müller in München, um hier Sommeraufenthalt zu nehmen. Auch dies Schloß gewährt herrliche Rundschau, auf Bozen und dessen Gefilde, auf das weitgedehnte Eppan mit seinen Burgen und das grünende Gelände des Rittener Berges. Die gemächerreiche Burg erfreut sich selbst im Hochsommer angenehmer Kühle wegen der Luftströmung aus der Waldschlucht des Eggenthales und des weiteren Eisackthales, auf das sie so trutzig niedersieht. Karneid gehört schon in das engere Bereich der vielen Eisackburgen, deren Bekanntwerden wir bestens wünschen.
Unruhige Gäste.
(Fortsetzung.)
Nach kaum einer halben Stunde war der Doktor zurück, und zwar in einer erklecklichen Aufregung trotz aller langjährigen Praxis und Lebenserfahrung, trotz allem angeborenen und zuerworbenen Phlegma.
„So etwas ist mir doch in meinem ganzen Leben noch nicht passirt!“ rief er schon von Weitem. „Auf nichts soll man sich verschwören. Der reine, pure Satan! Und da rühmt man sich, während eines zwanzigjährigen Landphysikats einen Einblick in ihre Seelen hier gewonnen zu haben, und muß sich durch solch einen Kerl, solch einen Tollhauskandidaten angrinsen und die Faust unter die Nase halten lassen!“
Nun saß er wieder mit am Tische, schnaubend, schwitzend, ergrimmt und doch zugleich zusammengedrückt, sozusagen klein gemacht und mit bedeutend gedämpfter und klagender gewordenen Rede-Organen.
„Ja, wenn man noch behaupten könnte, daß Einem das Thier in seiner Unvernunft oder dem, was es seine Berechtigung nennt, nicht imponire!“ seufzte er. „Da rede man Sanitätspolizei, wissenschaftliche Erfahrung und wohlthätige staatliche Absichten zu solch einem Wilden im Walde. Er weiß auch mir gegenüber nichts Anderes, als was er wahrscheinlicher Weise auch den Herrschaften hier und dem Vorsteher – jedem nach dem Maße seiner Zuneigung zu ihm, vorgetragen haben wird: wir haben die Familie Fuchs im Leben nicht unter uns haben wollen, sie will jetzt im Tode nichts mit uns zu schaffen haben. Lieber auf dem Miste als auf dem Kirchhofe bei den Anderen! Jeder für sich, und der böse Feind – mit Ihrer Erlaubniß, Pastore – für uns Alle! Und Tinte und Feder? Es ist lächerlich, um Feder und Tinte sollte ich da nun den Räkel in seinem Baue auf der Vierlingswiese von Rechtswegen ersuchen, um ihm den Todtenschein seines Weibes an Ort und Stelle für das Civilstandsregister auszustellen! Papier? Es ist mir selten so deutlich gemacht worden, Herr Professor, wie wenig man dann und wann damit leistet, daß man die Papiere in Ordnung hält. Ja freilich, für mich in meiner Amtsverantwortlichkeit könnte die Sache eigentlich natürlich erledigt sein, wenn ich jetzt den Herrn Pastor um das nöthige Material anginge, ihm und dem Vorsteher bezeugte – schriftlich – daß die Fee mausetodt sei und es ihnen überließe, sich auf diesen ihren Schein zu stellen. Es ist und bleibt eine heillose Historie nach allen Richtungen, und übrlg bleiben wird nach meiner nunmehrigen Okularinspektion der Sachlage wahrscheinlich wirklich nichts weiter, als daß man ein Kommando Landjäger so rasch als möglich heraufcitirt aus dem Thale auf die Vierlingswiese, wenn dieser Wahnsinnige nicht binnen der nächsten drei Stunden noch gütlich herumgekriegt ist. Sie erlauben wohl, Pastor, daß ich den vorhin erwähnten Schein an Ihrem Schreibtische ausfertige; nachher bitte ich Sie, ihn dem Vorsteher zuzustellen. Was ich sonst hinzu thun könnte, weiß ich wahrhaftig nicht.“
Der Pfarrer nickte zustimmend, was seinen Schreibtisch und sein Tintenfaß anbetraf; dann rief er unmuthigst in seiner eigenen Rathlosigkeit:
„Dieses ist freilich schlimmer als sonst etwas, das ich bisher sah, hörte und mit zu tragen hatte! Gott habe Geduld mit uns Allen und mit diesem Wüthenden, und gehe mit ihm nicht ins Gericht um seiner Lästerungen willen. Es ist mir entsetzlich; aber es wird uns nichts übrig bleiben, als das Schwert gegen ihn anzurufen. Er hielt mir seine Flasche im Hohn hin gestern Nacht, und ich habe daraus getrunken, um mich gegen ihn stark [495] zu halten und Brüderschaft mit ihm in seinem Elend zu machen. Es hat mir nichts geholfen. Er fühlt sich jetzt zu wohl und sicher in seiner Ausgestoßenheit und triumphirt aus ihr und der Verwesung uns an wie aus der festesten Burg dieser Welt.“
„Um zehn Uhr fällt meine Sprechstunde drunten am Brunnen,“ rief Doktor Hanff nach der Uhr sehend. „Sapperment, schon Dreiviertel auf Neun! da muß ich reiten, so gern ich hier noch ferner mit Rath und That zur Hand sein würde. Wirklich helfen zur Lösung könnte ich freilich meiner jetzigen Ansicht nach nur, wenn man mich sofort die nöthige Meldung an die nächstschreibende zuständige weltliche Gewalt ausrichten ließe. Nun, jedenfalls nehme ich für meine liebenswürdigen, aber leider nicht selten mit der Länge des Tages sich mühenden Promenade-Patienten ein recht interessantes Unterhaltungsthema mit hinunter. Werde unbedingt die mannigfaltigsten politischen, socialen, religiösen und ethischen Belehrungen aus den Betrachtungen der verehrten Damen und Herren schöpfen. Eine fatale Geschichte! wahrhaftig, eine nette Dorfidylle! Nun, ich empfehle mich wenigstens dem Frieden dieses Hauses und werde unbedingt morgen früh wieder vorsprechen. Küsse die Hand, Fräulein Phöbe. Sonsten ist meine Ansicht, ceterum censeo, wie der alte Meidinger, ne, der alte Cato sprach, – wiederhole Ihnen, Pastore, dringend meine Mahnung, frühzeitig genug auch ein wenig sich Ihrer selber zu erinnern und mir vorzüglich auf Ihre Leber zu achten. Herr Professor, es ist mir ein Vergnügen gewesen; – Sie wollen uns einige Zeit dort unten im Bad die Ehre schenken; nun, dann treffen wir ja jedenfalls noch öfter mit einander zusammen – sehr angenehm dann, mit Ihnen inmitten unserer Civilisation und auf der Höhe der Saison diesen mißlichen Kasus zu bereden. Vor allen Dingen und unter allen Umständen möglichste persönliche Behutsamkeit im Verkehr mit der Vierlingswiese, meine lieben Herrschaften.“
Er war fort. Wie es schien, hatte er in der That Eile, den aufregenden Unterhaltungsstoff seinen exotischen Bekanntschaften der bessern und besten Stände drunten im Bad so frisch als möglich zu überliefern. Das Pfarrhaus mit seinem Gaste war wieder allein, der grimmigen Thatsache gegenüber, daß der Räkel an der Leiche der Fee mit der Holzaxt und dem Revolver Wache halte.
„Nun möchte ich gehen, Prudens,“ sagte Phöbe leise.
Der Pfarrer hatte in das Gebüsch der Laube ihm zur Seite gegriffen und zerbrach einen kräftigen Stammast. Er hatte die Zähne auf die Unterlippe gesetzt, es zuckte ihm durch die Schultern, und nun sagte er rauh und kurz:
„Versuche Dein Heil!“
Er erhob sich schwankend und wie zerbrochen im grimmigen körperlichen Kampf mit dem Unmuth, dem Zorn in seiner eifernden, erfolgsbedürftigen Seele.
„Der Herr hat mein Wort und meinen Willen nicht gewollt. Ich will versuchen, ihn zu bitten, daß er Dir gnädiger sei, Schwester. Gehe, Kind!“
Er ging nicht wie ein Sehender; wie ein Blinder tastete er sich durch fröhliche Licht- und Schattenspiele des Sommermorgens auf dem Gartenpfade zum Hause zurück und verriegelte sich in seiner Stube. Wie weit und glänzend die Welt vor den Fenstern derselben ausgebreitet liegen mochte, sie hatte nur Angst und Bitterkeit für ihn; und was das Schlimmste war, er wendete ihr den Rücken im gekränkten Selbstgefühl, im gedemüthigten Stolz. Er haßte in diesem Augenblick den Räkel, über den der Vorsteher und das Dorf sich nur ärgerten, und zwar in respektvoller Scheu, nachdem sie vorher ihren Spaß an ihm gehabt hatten.
Der Gastfreund hatte dem Jugendfreund mit aufrichtigem Mitleid nachgeblickt, nun sah er wieder der Schwester desselben zu. Sie hatte den Bruder mit den Augen auch bis zu der Hauspforte begleitet, aber ohne Erregung und Bangen, und jetzt setzte sie mit ruhiger Hand die Tassen, Kannen und Teller des Frühstückstisches zusammen und faltete zierlich das grobe Tafeltuch. Systematisch-nonnenhaft und doch mit aller bedachtsamen Hausfrauenerfahrung und Geschicklichkeit ordnete sie Alles in einem Handkorbe, trug denselben ins Haus und kam mit gleichruhigem Schritt im leichten Strohhut zurück und zeigte erst dann einige Betroffenheit, als sie den Gast mit seinem Hute in der Hand an der Gartenpforte zu ihrer Begleitung wartend fand.
„O nein! … ich bitte; doch lieber nicht!“ sagte sie. „Der Herr Doktor hat uns eben ja noch einmal anempfohlen, ja recht vorsichtig zu sein.“
„Und deßhalb wollen Sie die Ehre dieser Gefahr allein für sich behalten, oder sie nur mit Prudens theilen, Phöbe?“
„O nein. Und da ist auch keine Ehre. Es ist nur unrecht, daß sich Einer unnöthiger Weise in Gefahr begiebt, der vielleicht seine Verpflichtungen gegen so viele liebe Verwandte und Freunde in seinem Leben hat und morgen weit weg ist von dem armen Fuchs und seinen Kindern, während mein Bruder, und der Herr Doktor, und der Vorsteher, und das Dorf und ich bei ihnen bleiben und mit ihnen weiter leben und, wenn es Gottes Wille ist, um sie her krank werden.“
Veit von Bielow schüttelte melancholisch lächelnd den Kopf.
„Meine Familienverbindungen sind mir kein Hinderniß, Fräulein Phöbe. Ich trage zwar einen vielverbreiteten Namen, und Manche nennen mich Kousin oder Herr Vetter, aber ob sie eigentlich ein Recht dazu haben, hat kein Stammverwandtschaftshistoriograph ganz unzweifelhaft ins Klare gebracht. Jedenfalls habe ich nicht Eltern noch Geschwister und darf mich also als meiner Familie Letzten rechnen. Und meine guten Freunde draußen in der Zeitlichkeit hindern mich auch nicht, Ihnen den Volkmar Fuchs durch meine Ueberredungsgabe auf bessere Wege bringen zu helfen. Was das Uebrige anbetrifft, so habe ich aus touristischer Wißbegierde oder, wenn Sie lieber wollen, aus Neugier die Pestspitäler zu Damaskus und die Moschee der Aussätzigen in Kairo besucht; und glauben Sie mir, liebes Fräulein, der Vorsteher verläßt sich fest darauf, daß ich sein Dorfgespenst auf der Vierlingswiese mit beschwöre und mit versuche, dem Fuchs den Sarg für seine arme Fee annehmbar zu machen.“
„Ich weiß nicht, was ich Ihnen noch sagen könnte,“ sprach Phöbe leise. „Ich wußte gestern noch nichts von Ihnen, und nun sind Sie mir wie ein alter Bekannter; und ich weiß auch nicht, ob Gott Sie nicht deßhalb gerade jetzt zu uns gesendet hat, um uns in unserer Schwäche zu helfen, und ob es keine Vermessenheit von mir wäre, gegen seine Güte und Weisheit mich zu wehren.“
Sie schritten schon Seite an Seite aus dem Schatten, den die Kirche auf sie und den versunkenen Dorfgottesacker warf, in die Sonne des Sommertages. Der aber, welcher in diesem Augenblick noch Sinn und Gefühl für die Außenschönheit der Welt haben konnte und hatte, würde es für eine Heiligthumsentweihung gehalten haben, das stille sichere Herz, das auf diesem Wege neben ihm pochte, auch auf die große, schöne Gleichgültigkeit der Natur aufmerksam zu machen.
Durch den letzten Thau des Morgens gehend dachte er nur bei sich selber:
„Und demnächst werden sie nun drunten vor dem Kurhause und an dem Brunnen den Landphysikus Doktor Hanff von dieser Geschichte erzählen hören, und dieselbe wird ihnen unzweifelhaft sehr interessant sein und vielleicht auch Valerie zum Hinhorchen, über ein Zeitungsblatt oder über die Unterhaltung im näheren Kreise der Bekanntschaft weg, veranlassen.“
Sie redeten nicht weiter miteinander, Veit und Phöbe; weder zwischen den Gärten, noch unter der Schutzwand vereinzelter hoher Bergtannen, die, wie wir wissen, die Vierlingswiese von dem Dorfe trennte. Als wir diese Tannen gestern mit den Beiden durchschritten, leuchtete die Abendsonne um die braunen Stämme, und nun der helle klare Tag.
Mit der Wiese hatten sie des Räkels und der Fee letzte Haushaltung am Rande des wirklichen Waldes gleich vor sich, wie wir ebenfalls schon wissen; und schön und duftend und glanzvoll war der Platz um diese Stunde, das mußte man ihm lassen.
Kaum vernehmlich rieselte der kleine Bach zwischen seinen Kressen und Vergißmeinnicht und durch das hohe Gras, und gurgelte nur hie und da leise verdrossen um einen Stein im moorigen Grunde. Im Grase hüpfte und zirpte es, und unzählbares Leben freute sich der Sonne und der heißen Luft. Die Schmetterlinge flatterten über den Blumen und tauchten ihre Saugrüssel in einen Honigkelch nach dem andern. Ob sie sich darum neideten und stritten wie Menschen, können wir nicht sagen; aber daß sie sich wie Menschen im zierlichen Liebesspiel, aufsteigend zum Blau und niederfallend ins Grün, umtanzten in den heißen Lebenslüften, das war unzweifelhaft.
Und der dunkle, böse Fleck in all dem Licht und Leben?
[496] „O wie entzückend!“ hätte bei der jetzigen Morgenfrische und Beleuchtung Fräulein Lili mit noch mehr Berechtigung als gestern Abend ausrufen dürfen: Kein ander Bauwerk der Erde hätte so hübsch ‚zum Küssen‘ da in den letzten Nebelhauch aus dem Hochwalde und in das Sonnengeflimmer der Wiese hingepaßt, wie diese Rasen- und Schindelhütte mit dem dünnen blauen Rauchwölkchen über ihrer Spitze.
Von ihren Bewohnern war nur das kleine Mädchen zu sehen, als Veit und Phöbe die Vierlingswiese betraten. Es stand an die Thürstangen gelehnt, und als es die Kommenden erblickte, hielt es erst einen Augenblick die Hand über die Augen und wendete sich dann, um, wie es schien, in das Innere der Köthe etwas hineinzusprechen. Dann wurde es wahrscheinlich von drinnen gerufen; – es verschwand rasch in dem düstern Raume, ehe man ihm zuwinken konnte; aber Niemand hinderte auch das junge Mädchen und ihren Begleiter, dieser seltsamen Verstörung so nahe es ihnen beliebte zu gehen und nun ihrerseits den Kampf mit ihr aufzunehmen.
Noch einmal, zehn Schritte von der Fieberhütte, blieb Phöbe Hahnemeyer stehen und sah den Mann neben ihr ängstlich, fragend, bittend aber stumm an; als er jedoch nur freundlich, ruhig den Kopf schüttelte, sagte sie laut: „Im Namen Gottes!“
Auf ihrem feinen Gesichte regte sich nun nichts mehr. Sie zögerte keinen Moment auf der unheimlichen Schwelle; sie zog ihre Kleider nicht fester an sich, und der Gastfreund trat ihr nach, nun doch mit dem Herzen in der Kehle, nicht aus Scheu vor dem Schrecken da drinnen, nicht aus Besorgniß um das eigene Dasein, sondern in Ehrfurcht und aus Freude. Aus stolzer menschlicher Freude an dem selbstlosen, unbewußten Heldenmuth, der ihm hier den Weg zeigte. –
Wir waren mit Prudens Hahnemeyer gestern um Mitternacht im Innern der Hütte und haben schon erfahren, wie Licht und Luft von allen Seiten Zutritt hatten. War bei der Nacht die Luft in dem schlimmen Raume rein und frisch gewesen, so war sie jetzt völlig berauschend; und daran war die wunderliche Arbeit und Thätigkeit des Räkels und seiner Jungen seit Sonnenaufgang schuld.
Trotz aller Merkwürdigkeiten, die Herr Veit von Bielow auf seinen Reisen in fernen Ländern, unter fremden Völkern gesehen haben mochte, mußte ihm doch der erste Rundblick in diesem Zeitraum inmitten der höchsten Civilisation der gegenwärtigen Menschenwelt überraschend sein.
Noch lag die Leiche der Fee eingewickelt in das schlechte, übel zusammengenähte Leintuch ihres letzten Lagers; aber der Fuchs und seine Kinder waren auch noch bei der Arbeit an ihrem allerletzten Schmuck. Auf weitentlegenen barbarischen Inseln mochten wilde Indianer so die letzte Hülle für ihre Todten, aus tropischem Rohr und aus Palmblättern und dergleichen flechten! Der wilde Mann im Bann der Natur und Kultur Europas nahm, was ihm um sein indianerhaftes Dach und Gestänge wuchs, Tannenzweige aus dem Forste, Binsen aus dem Sumpfe, Blätter und Blumen aus den Waldthälern und von der Vierlingswiese. Die Vierlingswiese hatten die Waisen der Fee um Sonnenaufgang schon halb kahl gerupft und blühende Haide und gelben Fingerhut in Strängen zu Leichenbinden für die todte Mutter gewunden. Und sie waren noch immer in dem überwältigenden Duft- und Farbenüberschwang am Geschäfte, und weder der Vater noch die Kinder wollten sich durch irgend Jemand in der Arbeit stören lassen. Es machte auch einen ganz eigenen Eindruck, daß Volkmar Fuchs, nur den fremden Herrn mißtrauisch von unten auf anschielend, ruhig, freundlich und gelassen von seinem Sitz am Herde der Besucherin zunickte und ohne eine Spur von Trotz und Widerspenstigkeit sagte:
„Sieh, sieh! Guten Morgen, Fräulein Phöbe!“
„Guten Morgen, lieber Freund,“ sagte Phöbe Hahnemeyer. „Sie müssen es aber mehr als den gewöhnlichen Gruß sein lassen, Volkmar, und Frieden mit uns machen. Sie haben mir eben keine guten Stunden zu so gutem Wunsche bereitet. Zu dem Vorsteher haben Sie gestern Abend böse Worte gesprochen, zu meinem Bruder in der Nacht noch viel bösere, und auch den Herrn Doktor Hanff, der doch ebenfalls immer Ihr Freund gewesen ist, haben Sie höhnisch angelassen, Herr Fuchs. O bitte, thun Sie nun so nicht zu mir!“
„Gewiß nicht, Fräulein; – habe ich denn das je gethan?“
„Nein. Und deßhalb habe ich auch keine zu große Angst bei den Nachrichten der Männer gehabt, die Sie von dieser Stelle weggeschickt haben. Die haben es nur nicht recht anzufangen gewußt, habe ich mir gedacht, und deßhalb bin ich jetzt auch zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen zu sprechen.“
„Es wird aber auch Ihnen nichts helfen, Fräulein Phöbe, wenn es über das alte Thema ist. Und dann – dann weiß ich auch nicht, wer der Herr da bei Ihnen ist, und weßhalb er mir die Ehre bei so gefährlichen Umständen schenkt, oder was er sonst beim Räkel zu suchen hat. Kommt er vielleicht schon vom Amte?“
Phöbe sah auf den Begleiter, wie um ihn zu bitten, sie zuerst reden zu lassen.
„Er hat, da er von Ihrem Schicksal und Verlust gehört hat, Mitleiden mit Ihnen wie so viele Andere. Auch er möchte gern Ihnen und uns zu Hilfe kommen. Er hat auf der Reise zufällig bei uns vorgesprochen und meinen Bruder als seinen Jugendfreund von der Universität her besucht und die Nacht bei uns zugebracht. Da hat er Alles von Ihrem großen Unglück gehört, und gestern, als Anna gestorben ist und ich zu spät gekommen bin, hat er vor Ihrer Thür gesessen und ist mit mir nach Hause gegangen und kennt Ihre ganze Geschichte. Und da der Vorsteher, wie Sie ja wissen, Volkmar, in allen Geschäften das Herz auf dem Aermel hat, so weiß dieser Herr, der Herr Professor von Bielow, auch in unseren Geldsachen Bescheid und weiß, daß mein Bruder und ich wohl so arm sind wie Sie, Herr Fuchs. Und so hat er aus mildem Herzen seine Aushilfe uns und Ihnen angeboten. Und nun komme ich mit ihm und bitte, daß Sie ihm erlauben wollen, daß ich meine arme liebe Anna in den Sarg legen helfe, den er für sein Geld uns anschaffen möchte.“
Der Bewohner der Köthe, ohne seine Arbeit an seiner europäischen Todtenmatte einzuhalten, betrachtete sich den Gast von Neuem von oben bis unten und wieder von unten bis oben; dann murmelte er:
„Das ist auch nur ein Reisespaß! Als mich der Herr Graf meines schönen Bartes wegen aufs Probejahr mit in die Residenz nahm, habe ich dergleichen wohl erfahren und auch selber ein paar Male dabei mithelfen müssen. Das ist mir nichts Neues, welche Späße sich die Herrschaften aus Langerweile zu machen belieben. Das hilft der Anna und mir und den Kindern gar nicht aus der Aergerniß! … Daß er, der Herr, sich auch vor der Ansteckung vom Fieber durch uns nicht fürchtet, das wäre schon etwas mehr; aber es ist doch auch nichts. So kouragierte Herren giebt es viele in der Welt. Ist Einer und bedeutet Einer in der Welt was, so macht sich das, wie ich aus meinen Kriegsherrendienstjahren in Erfahrung habe, ganz von selber. Und – Fräulein, mein liebes Fräulein Phöbe, kouragierte Frauen sind ihrer noch viel mehr. Wenn es hier und dies Mal auf die Kourage ankäme bei Tagen und Nächten, liebstes Fräulein, wen brauchten Sie da noch zur Hilfe, um den Volkmar Fuchs aus seinem Zorn und Gift zu reißen? Schönen Dank, Herr; aber die Fee will ihren Sarg nicht geschenkt.“
Phöbe legte dem Mann, mit dem sich jetzt in seiner Gelassenheit noch viel übler handeln ließ, als in seiner Wuth, die Hand auf die Schulter:
„Volkmar, Volkmar, wie unsere Todte, unsere Anna in ihren letzten schlimmen Träumen gesprochen haben mag, Sie sollen jetzt nicht so ihre armen kranken Worte festhalten und für ihren Willen eintreten. Der Herr, der allmächtige Gott, hat seinen Willen kundgethan; er hat die Gedrückte und Umgetriebene ihrer Ketten entledigt und ihrer Bangigkeit und ihren Schmerzen auf Erden Einhalt gethan: armer Mensch, wer giebt Ihnen das Recht, jetzt noch im Namen Ihrer Frau für diesen armen Staub zu sprechen?“
Der Räkel hatte sich unter der leichten Hand geduckt und den Kopf tiefer auf sein Geschäft gebeugt, nun stand er auf von seinem Sitze und stand mächtig vor den Beiden.
„O Fräulein, ich sage mir das ja selber; aber es hilft mir nichts, selbst wenn Sie es mir sagen. Es ist ja nicht der Sarg und seine Kosten, es ist der Platz! Ich bin ein wilder Mensch gewesen, aber kein Vieh; sie aber haben uns, den Räkel, die Fee und ihre Jungen lange vor dieser Krankheit zu dem Vieh gezählt, und dabei soll es nun verbleiben. Wenn es so ist, wird Ihr Herrgott, bestes Fräulein Phöbe, die Anna Fuchs am jüngsten Gerichtstage auch im Walde finden; und ist’s so nicht, so ist’s so auch recht; – mir vollständig! Und was den Herrn Professor hier
[497][498] anbetrifft, so will ich dem noch einen besseren Spaß vorschlagen; nämlich er schenkt mir heute Abend so nach zehn Uhr nochmals die Ehre. Dies bleibt aber unter uns! – nicht wahr? Das Mädchen kann mit der Laterne mitgehen, der unvermutheten ehrenvollen Begleitung wegen. Der Junge und ich brauchen das Licht nicht. Aber der Junge ist erst sieben Jahre alt und wohl noch ein wenig schwächlich für das Geschäft. Will der Herr ihm und mir mit seiner Mutter in die Wildniß helfen und auch beim Graben helfen, so will ich seine Hilfe mit Dankbarkeit annehmen, da er aus der Fremde kommt und nichts mit der Schufterei rundum zu schaffen hat. Das ist das Letzte, was ich der Polizei und dem Dorfe anbiete.“
„Ein vernünftiges Wort will ich statt dessen noch mit Ihnen zu reden versuchen, Herr Volkmar Fuchs,“ sagte Veit Bielow laut, während er im Stillen dachte: wie weit kämen wir hier mit der Vernunft? – „Mit dem Dorfe,“ fuhr er fort, „mit der Polizei, dem Vorsteher, dem Herrn Pastor, kurz was man so im Allgemeinen die ganze Menschheit nennt, wollen Sie nichts mehr zu thun haben. Sie glauben von alle Dem schlechter behandelt worden zu sein, als sich für Ihre Aufführung gebühre. Wie weit Sie zu diesem Glauben berechtigt sind, kann ich nicht wissen, da Sie eben selbst ganz richtig bemerkten, daß ich mit der hiesigen Schufterei nichts zu schaffen habe. Ich nehme an, daß Sie vollkommen in Ihrem Rechte sind und daß es sehr unrecht von den Leuten war, einen Ortsscherz aus Ihrem Namen zu machen und Sie als den Räkel im Dorfe und im – Walde herumlaufen zu lassen. Daß Sie übrigens nicht ohne Nutzen mit Ihrem Herrn Grafen Ihres schönen Bartes wegen draußen in der größeren Welt gewesen sind, Herr Fuchs, habe ich auch bereits bemerkt. Doch das ist einerlei; Sie stehen nun einmal auf dem Kriegsfuße mit Ihren Ortsgenossen, früheren besten Spielkameraden und guten Nachbarn, und Sie geben nicht nach. Sie wollen Ihr Weib im Tode nicht Hügel an Hügel, Kreuz zwischen Kreuzen in der Gemeinschaft Derer haben, die ihr vielleicht im Leben aus dem Fenster nachlachten, oder sie aus ihrer Thür stießen. Nun wohlan, Volkmar Fuchs, für den Spaß auf der Wanderschaft über diese harte Erde habe ich nie viel Geld übrig gehabt, wohl aber dann und wann einiges für den Ernst, den bittern – bittersten Ernst! Hat die Anna Fuchs in ihrer letzten Stunde gerufen, daß sie nicht zwischen ihren Feinden liegen möge, so wird sie nichts dagegen einzuwenden haben, allein gebettet zu werden mit einem freien Platz zur Rechten und zur Linken, wenn nicht für ihren Mann, den Räkel, und ihre Jungen, so für ihre Freunde – die Phöbe Hahnemeyer und den Veit von Bielow zum Beispiel! Haben Sie, Phöbe, etwas dagegen einzuwenden, daß wir Beide der Armen zu einer Schutzwehr dienen – nicht gegen ihre stillen Nachbarn dort auf jenem ruhigen Gartenfleck, sondern gegen den bellenden Zorn und verstockten, kindischen Groll dieses unzurechnungsfähigen Menschen?“
Das Wort klang hell, lebensfrisch – wie vollkommen überlegen der Stunde, dem Zustande, der Umgebung – durch den bösen Raum.
„Ich weiß nicht, wo der Herr – der barmherzige Gott mich sterben lassen will!“ flüsterte Phöbe so jäh erschreckt – bleich, die zitternden Hände vor sich erhebend.
„Ich weiß es ja auch nicht,“ sagte der Mann aus der Zeitlichkeit gleichfalls in leiserem, scheuerem Ton, „ich weiß nicht wo und wann; – nehmen Sie es auch bloß als ein Symbol, Phöbe, daß wir uns im Grunde unserer Seele zu ein und demselben Sehnen nach ein und demselben Reiche der ungestörten Ruhe, des ewigen Friedens bekennen.“
„Ich möchte erst meinen Bruder fragen, ob dieses keine Sünde, keine schreckliche Verwegenheit von uns ist!“ rief Phöbe mit stockender, bebender Stimme. „Das liegt wie ein schwarzer Schlüssel vor mir am Boden, und ich weiß nicht, ob das recht ist, daß wir uns so, vielleicht vor der Zeit, nach ihm bücken und ihn aus der Sonne und dem grünen Grase aufheben!“
„Sie sind wieder in Halah – Schmerzhausen – unter den Idioten, liebe, gute, mitleidvolle Nachbarin im Tage, im Dasein, im Leben! Ich aber möchte Ihnen diesmal zu Hilfe kommen, um den Unmündigen zu helfen auf dieser schmerzenreichen Erde, auf der theilnahmlos in der Sommermorgensonne lachenden Vierlingswiese. Wollen Sie meine Hand dazu annehmen, Phöbe Hahnemeyer?“
„Ja!“ sagte die Schulschwester aus Halah nach einem nochmaligen kurzen Zögern vollkommen in ihrer gewohnten Ruhe und Sicherheit. Der Gastfreund streckte ihr die Hand zu, doch vergebens. Das junge Mädchen legte die ihrige auf die verhüllte Leiche ihr zur Seite; aber der Zuchthäusler, der Wilddieb, der Ausgestoßene der Gemeinde, Volkmar Fuchs, hielt die seinige her und rief:
„Herr, das ist gewißlich kein Spaß mehr! Herr, wo haben Sie das gelernt, mit Unsereinem umzugehen? Sie sollen lange leben, Meinesgleichen zur Besinnung zu bringen! … Schicken Sie den Sarg und die Träger – wenn Sie wollen, aus dem Dorfe! Und Sie, Fräulein Phöbe, grüßen Sie den Herrn Bruder, den Herrn Pastor und bestellen Sie ihm: Sie hätten den Räkel überwunden, und er gäbe seine Fee her; und wenn vorige Nacht ein Wort zu viel gesprochen wäre, so sollte das zurückgenommen sein, Volkmar Fuchs halte den Kopf auf den Knieen zwischen seinen beiden Fäusten und habe lange zu kauen, bis er’s wieder klein gekriegt habe, welch eine Jammerkreatur und armer Halunke er sei gegen die wirklichen Herrschaften da draußen in der Welt!“
Summs – ab, – bleiben einundsiebzig Mark. Davon können wir keine Reise machen!“
Könntest Du nicht Töpfer bitten, Dir einen Vorschuß zu geben?“
„Ach, wo denkst Du hin!“
Das sind die bekannten Präliminarsätze so vieler Sommerreisen, und sie enthalten, trotz ihrer Kürze, eine lange, ernste Geschichte.
Nach weiteren acht Tagen haben das lockende Beispiel Gleichgesinnter, die wirklichen oder eingebildeten Leiden der Reisesüchtigen, und nicht zum Mindesten die Modeseuche endlich doch bewirkt, daß der Mann mit der sorgenden Stirn zu einem anderen Facit seines Vermögensstandes gelangt. Und wenn’s nicht gerade Herr Töpfer war, so wurde auf ein anderes Gefäß geschlagen, das die Mittel zur Reise hergab.
Es war also beschlossene Sache: Herr Titel und Familie gingen an die Ostsee. In der ersten Woche des Juli sollte die Reise unternommen werden, und nun war noch so Mancherlei herzurichten.
„Du, Mann, hast Du einen Augenblick Zeit? Ich möchte mit Dir wegen der Anzüge der Knaben –“
„Ja, ja! Aber nur rasch! Ich habe es sehr eilig.“
„Sieh, das sind Gustav’s und Theodor’s beste Hosen. Meinst Du nicht, daß sie ein paar gute, neue Anzüge haben müßten?“
„Hm, ja!“
„Und Hüte sind allen Vieren nöthig. Und ist es Dir denn recht, daß ich die Kleider und Paletots für Anna und Edith bei Klotz bestelle?“
„Hm, ja!“
„Und sieh, bitte noch! Das ist nun mein Bestes augenblicklich. Ich wollte so gern, daß Du mit mir zu Herzog gingest und das neue aussuchtest.“
Der geplagte Mann mit seinem guten Fassungsvermögen für Zahlen überlegte nach diesen Aufzählungen rasch, welche Nebenkosten die Reise noch erheische. Das „Hm, ja“ wich bei diesen weiteren Angriffen auf seine Gutmüthigkeit und Kasse einem: „Ja, aber hast Du denn einen Ueberschlag gemacht?“ und einem hierauf folgenden zerstreuten Grübeln, aus dem sich anfänglich schüchterne und allmählich bestimmtere Einwände hervorstahlen.
„Nun, dann müssen wir’s aufgeben. So können wir nicht reisen,“ resolvirte die Frau. „Und Edith hat es so nöthig! Doktor Thedsen war gestern hier. Er will durchaus, daß sie an die See kommt.“
„Ganz gut, ganz gut! Es ist ja auch mein Wunsch, liebe Emilie, aber wir müssen vor Allem rechnen. Es geht doch nicht –“
„Hat Töpfer Ja gesagt?“
„Er will sehen.“
„Du meinst also?“
„Wohl, aber damit ist’s nicht gemacht. Ich soll doch wieder zurückbezahlen.“
Frau Titel fand diese Bemerkung etwas überflüssig. Das war ja selbstverständlich, und das fand sich. Die Hüte für die Vier, die Kleider und Paletots, die Anzüge für die Jungens, das Neue für Frau Emilie und dazu noch ein Dutzend andere Dinge – da einmal neue Kleidungsstücke die Prätension haben, mit den alten durchaus nicht mehr verkehren zu wollen – wurden angeschafft. Wenn das Alles gleich hätte bezahlt werden sollen, so wäre die Hälfte des ganzen Töpfer’schen Vorschusses draufgegangen. So wurde zunächst auf Kredit genommen.
Mit vorwurfsvollen Gedanken und in Folge dessen recht verdrießlich, rüstete sich für sein Theil Herr Titel zur Reise.
Auch sonst war die Stimmung nicht so recht fröhlich. Die Semesterzeugnisse der Knaben ließen zu wünschen übrig. Das neue Kleid der Frau war nicht fertig geworden und mußte nachgeschickt werden. – [499] Aergerlich, sehr ärgerlich! Und eine geheime Stimme flüsterte ihr überdies zu, daß es viel richtiger gewesen wäre, die so nöthigen drei Fach Gardinen, das Ueberziehen des Sofas und der sechs Stühle im Wohnzimmer, das Unterzeug der Knaben, das Bohnen der Fußböden und den restlichen Lohn für Bertha, das Mädchen für Alles, ins Auge zu fassen, als diese Reise zu unternehmen.
Ferner, wenn Edith sich täglich fleißig Bewegung machte, früh zu Bett ging und früh aufstand, konnte sie sich auch zu Hause erholen und die beiden Jungens verdienten für ihre Faulheit eigentlich gar kein Vergnügen. Wie Vieles war zudem seit Jahresfrist in der Wirthschaft nothwendig, was immer wieder aufgeschoben worden war! Und Schulden machen für im Grunde entbehrliche Dinge, und sogar Reise und Bade-Aufenthalt einer fremden Tasche entlehnen? Hm, hm –
Aber dann kam doch wieder die Erwägung, daß alle Bekannte fortreisten, und die hatten doch auch nicht mehr, und in der furchtbaren Gluth zu Hause zu bleiben, das war doch wirklich nicht zu verlangen! Nein! Einmal, einmal wollte sie auch eine Badereise unternehmen!
Als Bertha die Koffer vom Boden herbeigeschafft hatte, zeigte sich, daß nur ein einziger, ein kleiner, einigermaßen standegemäß aussah. Die anderen machten den Eindruck, als ob sie eine Reise um die Welt gemacht und dabei Kopf und Kragen verloren hatten.
„Den nehmen Sie nur gleich wieder fort!“ befahl die Frau und zeigte auf einen mit Seehundsfell bezogenen Kasten, der bezüglich des Haarwuchses dem blanken Kopfe eines alten Junggesellen glich.
„Wir können ja ein paar Koffer miethen,“ meinte Anna.
Und drei große Koffer wurden wirklich gemiethet.
Noch bis spät in die Nacht saß Frau Titel und stopfte die Sommerstrümpfe der Knaben. Nicht Einer hatte heile Fußspitzen. Was die Jungen für unglaublich energische Zehen hatten!
Als die Sonnen- und Regenschirme bemustert wurden, zeigten sich bei diesen Krankheiten, die jedenfalls intensiverer Natur waren, als Edith’s Leiden. Einer glich einem Sturmvogel, dem die Flügel angeschossen und geknickt waren; ein anderer ließ sich trotz kunstreichster Versuche nicht mehr aufklappen, und ein Sonnenschirm hatte sich so schlecht gegen die heißen Strahlen des Frühjahrs gewehrt, daß er in der Vielseitigkeit seiner Farben einem Regenbogen glich. Seltsam sah er aus, als er aufgespannt war. Zu repariren war nicht mehr viel an allen. Also neue! – Wie die Mäuse um das Kornfutter, so sammelten sich die Ausgaben um diese Sommerreise!
Endlich waren der Postbote und die Zeitungsfrau benachrichtigt, die Lektüre (zwölf Leihbibliotheksbände mit dem Neuesten von Wildenbruch, Heyse, Franzos und Lindau) eingepackt, der Kanarienvogel dem Portier übergeben, die Rouleaux heruntergelassen und Bertha „gut aufpassen“ und „wenig Umgang mit dem Füselier“ anbefohlen worden.
Da eine Reise selbst für den Sparsamsten immer ein Dritttheil mehr kostet, als er berechnete – die Zahlen wollen nie, wenn sie mit dem wahren Gesicht auftreten sollen, kommen aber ungebeten wie Waldmücken, wenn man sie zum Teufel wünscht – so begann auch diese gleich auf dem Bahnhofe mit einer freundlichen Enttäuschung. Ueberfracht 14 Mark 75 Pfennig! Herr Titel griff in die Tasche, und jene unangenehme Falte, die sich bei ihm schon während der Verlobungszeit über der Nase gezeigt hatte, wenn seine Braut ihn warten ließ, oder eifersüchtig war, oder Knöpfe an ihren Kleidern oder Handschuhen fehlten, wurde sichtbar.
Ah! Und die Hitze in dem Koupé! Das war auf der ersten Haltestation schon kein Durst mehr zu nennen, der die Familie quälte. Also Bier, Selterwasser und was sonst dazu gehört!
Als endlich nach Aussteigen, Einsteigen, Abladen und Koffertragenhelfen die Familie Titel die Sommerwohnung unweit des Strandes bezogen hatte, als sie sahen, daß die Betten kurz, die Rouleaux trotz sengender Sonnenstrahlen nicht vorhanden, die Kommoden ohne Schlüssel und die Bretterwände so dünn waren, daß man von der Nachbarschaft jedes gesetzliche und jedes ungesetzlich-intimere Geräusch zu hören vermochte, die Badekarten doch sehr theuer, das Essen sehr knapp und nur zum Theil gut, der Strand entweder gähnend langweilig, oder doch wegen besserer Toiletten anderer Lustwandelnden Aerger erregend war, fiel’s wie Staub auf das Gewissen der Frau Emilie. Aber sie schwieg. Sie vermochte schlimmere Enttäuschungen zu ertragen! Sie war eine groß angelegte Natur!
Nach einem Aufenthalt von sechs Tagen, gerade als Herrn Titel eine Wagentour in die Umgegend abgebettelt worden war, begann sich der Himmel zu umwölken, die See kräuselte auf ihrem dunklen Spiegel allerlei Unheimliches, und zufolge eines konstanten Südwestwindes begann ein Tröpfeln vom Himmel, das vermöge seiner Beharrlichkeit die ältesten Berichte über andauernde Regenperioden in den Schatten stellte.
Die Stiefel und Schuhe trotzten Morgens jeder Wichse, namentlich der in dieser Gegend fabricierten. Die beiden neuen Kleider von Anna und Edith – „Mein Gott! Hattet Ihr denn keinen Regenschirm?“ rief Herr Titel zornig, als er diese von Wasser getränkten Fahnen in Augenschein nahm – waren so gut wie hin, und die beiden Jungens, meistens auf das gemeinsame kleine Wohnzimmer angewiesen, legten Flegeleien an den Tag, die, wenn man dergleichen hätte vorher ahnen können, wohl, wie sich Frau Emilie erregt ausließ, Veranlassung hätten geben können, sie von der Vergünstigung dieser „Vergnügungsreise“ ganz auszuschließen!
Welche Drohung in diesem Ausspruch lag, zeigte sich bei Ferdinand, dem Jüngeren.
„Na, ’s ist auch was Rechtes,“ spöttelte er zähneknirschend und stützte die Ellenbogen auf die Fensterbank, legte die Hände an die Backen und betrachtete die durch den Nebel und den Regen verwischten Grenzen zwischen Himmel und Wasser.
Aber „gesund“ war der Sommerausflug! Ein Appetit hatte sich entwickelt, daß zwei Portionen „drüber“ nothwendig wurden. Nachmittags um vier Uhr stellten sich bei den Knaben Neigungen zu Butterbroten ein, die auf die kräftigste Entwickelung ihres Körpers schließen ließen. Auch war es erhebend, daß Bertha in einem sehr gut stilisirten Schreiben, von einer Regenperiode in Berlin Meldung machte. Es lautete zur frohen Ueberraschung der Jungens, denen durch dasselbe wenigstens eine frische, fröhliche Abwechselung wurde, wie folgt:
„Da Frau Rähtinn Nagricht wünschten is nichts besonderes passiehrd, nur had es hier immerzu gerechnet und von oben durggerechnet in die Spheisekahmer un die Decke is durg und durg gerechnet ob ich es mahchen lassen soll. Herr Murz war hier und frachte nag die Herschaften sonst Niehmand es waren einige mit Regnungen hier ich sachte sie sollten wiederkomm. Es grühstDer Kahnahrienhvochel is plödslig gestorhben der Pordjeh meinhte er war schon so mattdöhsig gewessen als er ihm gekriecht hadde.“
Mit dem Worte „mattdöhsig“ (Bertha war eine Hamburgerin) trieben in der Folge die Jungens ein ausdauernd vergnügliches Spiel. Bald wurden Anna und Edith damit erfreut. „Du bist wohl mattdöhsig!“ rief Ferdinand – bald bewarfen sie sich selbst damit und lachten. Bertha hatte wirklich unsterbliche Verdienste um den Ausfall der Sommerreise!
Endlich hellte sich nach einer Sturm- und Drangperiode von über zehn Tagen der Himmel wieder auf und sandte nun, gleichsam um gut zu machen, aber leider in unverständiger Ueberfülle solche Sonnenstrahlen vom Himmel, daß man selbst auf dem Wasser nach Erlösung schrie. – Wenn der Tag kam, sehnte man sich nach dem kühleren Hauch der Nacht, und da dieser, trotz geöffneter Fenster, ausblieb, wälzte sich die gesammte Badegesellschaft schlaflos und von unerträglicher Hitze geplagt, im Bett.
Ach! Wie wundervoll waren doch die kühlen Räume der Berliner Wohnung! Wie herrlich, nach Tisch ausruhen zu können im eigenen Zimmer, an den Eisschrank, ins Badezimmer gehen zu können zu jeder Zeit, um sich erfrischende Douchen auf den Kopf zu gießen! Selbst die Passion, welche Edith für einen jungen Referendar gefaßt hatte, der sich im Lesezimmer des Kurhauses Herrn Titel vorstellen ließ und sich der Familie in der Folge anschloß, litt unter solcher Hitze. Aber auch der Geldbeutel machte fortschreitend Krankheiten durch, die einen tödlichen Charakter anzunehmen drohten. Herr Referendar Munk wurde fast täglicher Gast, und da kleine Aufmerksamkeiten die Freundschaft erhalten, so wurden um seinetwillen allerlei Dinge in Scene gesetzt, die sonst unterlassen worden wären. Eine Tagespartie zu Wagen kostete Alles in Allem allein über fünfzig Mark, und bei dieser blieb es nicht.
Aerger erregend war auch das Benehmen einiger Berliner Bekannten, welche sich in höheren Stellungen befanden. Ihr Gruß war höflich, aber kalt, und bei dem Versuche einer Annäherung, die von Seiten Frau Emiliens gemacht ward, erfolgten herbe Enttäuschungen und stiller, heftiger Aerger dazu.
Und nun waren auch die letzten acht Tage herangerückt, in deren genußreicheren Charakter sich bereits die Gedanken der Zukunft mischten: Heimkehr – Eingewöhnung – Hauswesen – Musikstunde – Schule – Komptoirzeit – tägliche Sorge – kurz, des Lebens Pflicht mit seiner Nüchternheit und seinem kalten Athem stieg empor. Aber das war doch nun einmal, und die Veränderung brachte doch auch vielleicht Lichtblicke! Frau Emilie überlegte, daß sich möglicher Weise ein außerordentliches Resultat ergeben könne: eine dauernde Annäherung zwischen Edith und Herrn Munk. Freilich – über seine Vermögensverhältnisse war zur Zeit nichts in Erfahrung zu bringen, und vom Referendar bis zum besoldeten Assessor lag, wie zwischen Kelches Grund und Rand, ein gänzlich unbekanntes Land!
Aber die Aussichten für ein junges mittelloses Mädchen waren überhaupt sehr kläglich, und sie selbst, Frau Emilie, hatte seiner Zeit auf Herrn Titel achtundeinhalb Jahr voll sanfter Geduld gewartet! Ein charmanter Mensch war der Referendar, und was er von seiner Familie in Berlin erzahlte, gan zu den besten Hoffnungen Veranlassung. Selbst die Jungens mochten ihn. Er badete mit ihnen, schwamm weit hinaus und segelte einmal so tollkühn in die See, daß ein fremdes Fahrzeug sie ins Schlepptau nehmen mußte.
Aber am drittletzten Tage vor der Abreise ereignete sich etwas, was das stärkste Herz erschüttern konnte! Es trafen Verwandte von Herrn Munk aus Breslau ein: ein Oberstlieutenant nebst Frau und Tochter. Die letztere – des Referendars Kousine – war selbst für den ausgeprägtesten Neid eine bezaubernde Erscheinung und für Herrn Munk jedenfalls so hinreißend, daß er die Spuren der Titel’schen Familie gänzlich verlor. Die Wirkung von Edith’s Badekur war in Folge dessen völlig illusorisch geworden. Das Mädchen hatte wieder die alte, blasse Gesichtsfarbe, klagte über Schreckliches Kopfweh und Abspannung und saß da, wie der inzwischen verstorbene „mattdöhsige“ Kanarienvogel, wenn er krank gewesen war und Futter verweigert hatte. Drei Tage nach der Rückkehr – es war an einem Sonntage – saß Herr Titel in seinem Zimmer und rechnete: Fünfhundert Thaler waren im Ganzen draufgegangen, beiläufig der vierte Theil seiner ganzen Jahreseinnahme als Beamter. Und das Aequivalent? Das Einfangen von anderer Luft und vielem heftigen Aerger erforderte ein Jahr der größten Einschränkung, wenn die monatlichen Abzahlungen an Herrn Töpfer innegehalten werden sollten.
Herr Titel, ein braver Mann, zahlte ab, aber es berührte ihn doch recht unangenehm, wenn er Sonntags mit der Familie hinausging und Alle nur so eben, eben herausgeputzt waren, zu Fuß laufen mußten und – und –
„Nein, Frau, in den Zoologischen, das kostet zu viel! Wir müssen ‚sparen!‘“
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Blätter und Blüthen.
Liebesgaben. (Mit Illustration S. 489.) Die Liebe macht erfinderisch – gewiß. Sie beflügelt die Phantasie und läßt Menschen, Dinge und Verhältnisse oft anders erscheinen, als das nüchterne Menschenkind sie sieht, und so mögen die Gaben der Liebe für Geber und Beschenkte oft auch einen Reiz haben, der ihnen an und für sich nicht innewohnt. Ein ärmliches Band, eine welke Blume – wie lange bewahrt man sie nicht und wie zärtlich betrachtet man sie nach Jahren wieder und wieder! Der Skeptiker aber wird von solchen Sachen nicht ohne Ironie sprechen und unserem Soldatenliebchen seinen Beifall zollen. Soldaten sind praktische Leute, und sie wissen ihre Herzdamen auch praktisch zu erziehen. Wenn unser wackerer Bursche so liebevoll und dankerfüllt zu seinem Schätzchen aufblickt, während draußen der Trompeter schon zum Sammeln bläst, so wird ihn auch der Skeptiker begreifen. Das Wurstzipfelchen, das aus dem Bündel hervorragt, beweist zu deutlich, daß die schmucke Dirne das Richtige getroffen hat, und was mag erst der Liebste empfinden, der das Bündel in beiden Händen hält und also auch bereits das Vollgefühl des ganzen Inhalts hat! Das sind Liebesgaben, die auch selbständigen Reiz haben, und wie mögen sie schmecken draußen im Bivouak nach des Tages Last und Mühen!
Pferdetransport in Ungarn. (Mit Illustration S. 497.) Für den Thierfreund im allgemeinen, wie für den Sportmann im besonderen, dürfte es kaum eine interessantere Scene zur Ergötzung wie zum Studium geben, als jene, welche die Künstlerhand H. Lang’s auf unserem Bilde mit nahezu photographischer Treue fixirt hat. Von dem klug um sich blickenden Milchschimmel, dem intelligenten, selbstbewußten Führer der Schar, bis zum Mutterfohlen, das trotz des stürmischen Laufes Zeit zu jugendlich muthwilligen „Seitensprüngen“ findet – welche Fülle, und zugleich welch reiche Variation von ungebändigter Kraft, anmuthiger Wildheit, ungestünmem Freiheitsdrange! Und welche Harmonie des Schauplatzes mit dieser Staffage! Ist’s nicht, als ob Wind und Wolken einen Wettlauf anstellen wollten mit ihren wie toll einher wirbelnden vierfüßigen Konkurrenten, als wäre dieser Boden in seiner end- und hemmnißlosen Monotonie von der Schöpfung eigens bestimmt zum Tummelplatz von Roß und Reiter? Ja ja, Held Arpad und sein Volk hatten guten Grund, gerade hier die lustigen Zelte aufzuschlagen, und weiset auch heute der Magyare mit stolzem Selbstgefühle auf den ungeahnten Aufschwung seiner glänzenden Metropole, eine kurze Stunde genügt, um fast ohne Uebergang aus dem Gewühle der modernen, von deutscher Bildung und Kultur durchtränkten Großstadt in die alte menschenleere Wildniß zu gelangen und die Urenkel derselben kleinen, windschnellen, unermüdlichen Rosse, wie jener schnurrbärtigen, krummbeinigen, kulturfeindlichen Reiter zu schauen, welche vor tausend Jahren Europa verheerend heimsuchten, nach Pest und Heuschrecken die dritte asiatische Plage jener plagereichen Zeit. Gott sei Dank, sie ist vorüber, und was davon geblieben, hat neben dunkeln Schatten auch seine Lichtseiten. Aus den Nachkommen dieser wilden Reiter und Rosse bezieht der österreichische Staat zum großen Theile jenes kraftstrotzende, urwüchsige Material, welches einen nicht zu verachtenden Faktor seiner Wehrmacht bildet. Tausende solcher halbwilder Pferde werden daher alljährlich den verschiedenen Assentplätzen zugeführt, und – irren wir nicht – steht oder galoppirt vielmehr auch die ganze ungeberdige Gesellschaft am Wendepunkt des Lebens; was da noch so übermüthig gährt, schäumt und übersprudelt, unter dem „eisernen Muß“ wird es sich bald geduldig regelrechter Arbeitsleistung beugen. Unerbittlich wie das Schicksal zeigt der Reiter mit der Peitschenspitze die Richtung des neuen Weges, der die stolze Schar leider nach kurzer Herrlichkeit unter Waffenschimmer und Trompetenklang einem nur allzu dunklen Endlose entgegenführt.
Der neue „Gartenlaube-Kalender“. Schon der Begründer unseres Familienblattes, der unvergeßliche Ernst Keil, hatte sich mit dem Gedanken getragen, zunächst für die Abonnenten der „Gartenlaube“ einen Familienkalender zu schaffen, welcher, im Geiste der „Gartenlaube“ geschrieben, gewissermaßen eine Ergänzung derselben bilden und in handlichem Oktavformat zu billigem Preise alle jene zahlreichen Nachweise und Notizen enthalten sollte, deren Jedermann im täglichen Leben benöthigt ist. Daran sollten sich, so weit es der Raum gestattete, noch allerhand Gaben für Herz und Gemüth, hübsche Erzählungen, Humoresken, Gedichte etc. und endlich gute belehrende Artikel populär-wissenschaftlichen Inhalts reihen, damit der Kalender einen dauernden Werth als Familienbuch erhalte. Diesen Plan, welcher sich unter den nachgelassenen Papieren Ernst Keil’s vorfand, haben nun seine Nachfolger aufgenommen und ausgeführt. Schon im vorigen Jahre begannen die Vorbereitungen dazu. Beschleunigt wurde die Ausführung in diesem Jahre dadurch, daß von anderer Seite – wie wir unsern Lesern bereits mittheilten – ein sogenannter „Gartenlauben-Kalender“ angekündigt wurde, welcher außer seinem usurpirten Titel lediglich nichts mit der „Gartenlaube“ gemein hat. Gegen eine solche Titel-Aneignung, welche doch ganz dazu angethan ist, in dem Publikum die falsche Vorstellung zu erwecken, daß ihm hier ein von der „Gartenlaube“ ausgehender neuer Kalender geboten werde, gewähren unsere Gesetze leider keinen Schutz. Das Einzige, was wir dagegen thun können, ist, unsere Leser auf die Thatsache aufmerksam zu machen und sie zu ersuchen, beim Kauf des Kalenders wohl darauf Acht zu haben, daß sie den richtigen, vom Verlag der „Gartenlaube“ (Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig) herausgegebenen erhalten. Derselbe zeigt auf der Einbanddecke die allbekannte Titelvignette der „Gartenlaube“.
So empfehlen wir denn unsern neuen „Gartenlaube-Kalender“ der Gunst und freundlichen Aufnahme unserer Leser. Findet er die, so soll er im nächsten Jahre und so fort alljährlich wiederkehren.
Inhalt: Trudchens Heirath. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 485. – Angelika. Illustration. S. 485. – Kulturhistorische Modebilder. 1. Die Geschichte von Zopfe. Von Karl Braun-Wiesbaden. S. 488. – Burgen in Bozens Umgebung. Von Ignaz Zingerle. S. 492. Mit Illustrationen S. 492, 493 und 494. – Unruhige Gäste. Ein Roman aus der Gesellschaft. Von Wilhelm Raabe (Fortsetzung). S. 494. – Studien aus dem Leben. Von Hermann Heiberg. I. Eine Badereise. S. 498. – Blätter und Blüthen: Liebesgaben. S. 500. Mit Illustration S. 489. – Pferdetransport in Ungarn. S. 500. Mit Illustration S 497. Der neue „Gartenlaube-Kalender“ S. 500.
Von dem reichen Inhalt, welcher, außer einem vollständigen Kalendarium, den üblichen Kalender-Notizen, zahlreichen praktischen Nachweisen und Tabellen, guten populär-wissenschaftlichen und überhaupt belehrenden Artikeln, besonders auch gute Erzählungen, Humoresken, Gedichte etc. bringt, geben wir im Nachstehenden einen kurzen Auszug:
Kalendarium, statistische Nachweise, Tabellen etc. etc. – Schloß Grimnitz. Eine Erzählung aus alter Zeit von M. Eichler. Mit Illustrationen von K. Weigand. – Orientalische Sprüche. Uebersetzt von H. Sommer. – Großmütterchen. Von W. Heimburg. Mit Illustrationen von Alexander Zick. – Leiden eines Kellners. Schilderungen aus dem Leben einer Großstadt. Von Hermann Heiberg. Mit Illustrationen von Fritz Bergen. – Papa muß sitzen. Humoreske von Emil Peschkau. Mit Illustrationen von Fritz Bergen. – Die Schwestern. Ein Bild aus engem Rahmen von M. Lenz. – Der Straßenräuber. Eine wahre Geschichte von Karl Braun-Wiesbaden. Mit Illustrationen von Fritz Bergen. – Sprüche von Emil Rittershaus. – Gedichte in deutschen Mundarten: Steirisch von P. K. Rosegger. Wienerisch von V. Chiavacci. Schweizerisch von Arnold Halder. Oberbayerisch von Karl von Leistner. Pfälzisch von M. Barack. Elsässisch von Ludwig Schneegans. Schwäbisch von A. Grimminger. Frankfurterisch von Friedrich Stoltze. Plattdeutsch von Klaus Groth und von Adolf Hinrichsen. Koburgisch von Fritz Hofmann. Sächsisch von Edwin Bormann. Voigtländisch von Gottfried Doehler. Schlesisch von Olga Seiffert. – Blätter und Blüthen. – Trost bei allen schweren körperlichen Leiden. Von Geheimrath von Nußbaum in München. – Wetter und Wetterprognosen. Von Dr. H. J. Klein. – Der Bürger und Geschäftsmann vor Gericht. – Ein Kapitel für den deutschen Staatsbürger. – Das Versicherungswesen der Neuzeit. Von Dr. W. Gallus. – Vom Büchermarkt. Von Rudolf von Gottschall. – Umschau auf dem Gebiete der Technik. Von G. van Muyden. – Deutsche Thätigkeit auf dem Gebiete der Kolonisation und Entdeckung. Von Dr. Emil Jung. – Rückblick auf die Tagesgeschichte (mit Illustrationen). Von Arnold Perls. – Todtenschau (mit Portraits). – Herzblättchen. Illustration von Br. Piglhein. – Jägers Rast. Illustration von Eduard Grützner. – Der kleine Rubens. Illustration. – Mädel ruck! Illustration von Ad. Lüben etc. etc.
Der Kalender, im Geiste der „Gartenlaube“ geschrieben, wird sich hoffentlich rasch Eingang verschaffen und ein gern gesehener treuer Hausfreund in der deutschen Familie werden.
Ein dieser Nummer beigelegter Bestellzettel kann zur Bestellung in derselben Buchhandlung, von welcher man die „Gartenlaube“ bezieht, benützt werden. – Postabonnenten wollen sich gefl. an die nächstgelegene Buchhandlung, oder wo dies, wie z. B. im Auslande, auf Schwierigkeiten stößt, unter Beifügung des Betrags incl. Kreuzbandporto in Briefmarken direkt an die unterzeichnete Verlagshandlung wenden.
Leipzig, 21. Juli 1885. Ernst Keil’s Nachfolger.
- ↑ Dies ist ein Irrthum. Allerdings hat der witzige Göttinger Lichtenberg die Physiognomik Lavater’s verspottet, aber nicht mit „Zöpfen“, sondern mit „Schwänzen“, namentlich von Schweinen, aus welchen er schließt, wie die Mettwurst wird, die man aus dem Fleisch jedes dieser Thiere bereitet. Siehe Lichtenberg’s „Vermischte Schriften“ (Göttingen 1844), Band III, S. 79; Band IV, S. 111 u. ff.