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Die Gartenlaube (1885)/Heft 10

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[157]

No. 10.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Einen Moment noch horchte Grete nach der verriegelten Thür hin – es blieb todtenstill dahinter - dann stieg sie mit zitternden Knieen aus ihrem Versteck, raffte ihre vorhin abgeworfenen Oberkleider zusammen und flog nach einem der vorderen Zimmer, um dort ihren Anzug schleunigst wieder in Ordnung zu bringen. ... Welch ein Glück, daß der Papa nicht zehn Minuten früher nach Hause gekommen war! Versetzte ihn schon die gemalte leblose Leinwand in eine so hochgradige Aufregung, was wäre da wohl geschehen, wenn er das unselige Weib scheinbar leibhaftig jählings vor sich gesehen hätte! Daß die Mummerei bereits ein anderes Unheil angerichtet, daran dachte ihre Seele nicht.

Seit einer halben Stunde saß er drunten auf der Küchenbank, der erschrockene Hausknecht. Die zitternden Beine trugen ihn noch immer nicht, und die sonst so schön roth lackirten Backen blieben blaß. Die ganze Küche roch nach Liquor – „nichts Besseres als das!“ hatte Bärbe gesagt und ihm ein beträufeltes Stück Zucker um das andere in den Mund geschoben. Und das ganze Hausgesinde stand um ihn her und konnte sich nicht satt hören und „graulen“.

„Nein, nein, nein - ein- für allemal nicht!“ wiederholte er zum so und so vielten Male entschieden. „Ich rühre sie nicht wieder an - nicht um die Welt! Mag sie doch sehen, wie sie wieder hinaufkommt an ihren Haken. ... Ich und Etwas zerbrechen! - Du lieber Gott, meinen Pfeifenkopf hab’ ich nun schon an die vierzehn Jahre, und soll nur ’mal Einer herkommen und auch nur ein Ritzchen daran finden! Und zeigen Sie mir den Teller oder das Glas, das ich beim Abtrocknen hier in der Küche zerbrochen hätte, Bärbe! Sie können’s nicht, mit dem besten Willen können Sie’s nicht - so ’was giebt’s nicht bei mir! Und da oben fliegt mir das Ding, die Vase, nur so aus der Hand! So ein heimlicher Puff von hinten an den Ellenbogen und, krach, da lag die Bescheerung am Erdboden! Und das war die Strafe, weil ich sie von ihrem Platze genommen hatte, die Boshaftige! ... Ich dachte mir’s gleich und wollte nicht. ‚Die Stube wird ja nicht


Oberbayrisches Mädchen. 0Studienkopf von Hans Fechner jun.

[158] tapeziert, Fräulein,' sagte ich. ,Das Bild könnte am Ende hängen bleiben' – Aber Fräulein Sophie glaubt ja an nichts – das Bild mußte ’runter, absolut ’runter, und ich armer Teufel kriegte die Prügel. Ja, den Schreck verwind’ ich in meinem Leben nicht! Und wie sie nachher auf mich zukam, just aus dem Rahmen ’raus, und das grüne Kleid rauschte und brauste, und die Karfunkelsteine glühten ihr auf dem Kopfe, wie Funken aus dem höllischen Feuer, da dacht’ ich: ,Jetzt ist Dein Brot gebacken, ’s ist aus mit Dir!‘ Die Thür hab’ ich noch glücklich erwischt, und sie krachte fürchterlich hinter mir zu; aber auf der Treppe hat’s mir doch noch eiskalt an den Hals gegriffen –“

„Unsinn, Friedrich! Auf der Treppe that sie Ihnen nichts mehr – sie kann ja nicht über die Thürschwelle!“ sagte Bärbe und reichte ihm ein Likörgläschen hin. „So – und nun nehmen Sie ’mal den Schluck Pfefferminzschnaps da, der bringt Sie auf die Beine! … Und daß ich’s Euch sage, Ihr Leute – die Geschichte bleibt unter uns! Bei der Herrschaft findet man ja doch keinen Glauben, und wenn man’s schwarz auf weiß brächte. Da wird allemal zuerst gelacht und nachher gezankt, und man kriegt seine Todtenunke und Jammerbase nur so an den Kopf geworfen und hat seinen Aerger weg. Und den Leuten in der Stadt dürfen wir auch die Mäuler nicht aufsperren – beileibe nicht! Die sind uns Lamprechts ohnehin nicht grün; unser großes Geschäft und das Ansehen und der unmenschliche Reichthum – das Alles paßt den Neidhammeln nicht; für die ist ein Unglück in unserem Hause so gut wie Zuckerbrot – und ein Unglück giebt’s, das steht fest. Dazumal, wie unser Gretchen beinahe gestorben ist, da hat es da oben auch so lange rumort, bis sie uns das Kind halbtodt ins Haus brachten … Da heißt’s nun, die Ohren steif halten und aufpassen. Ich sage Euch, nehmt Feuer und Licht in Acht – das ist unsere Sache! Was freilich sonst geschehen soll, daran kann Unsereiner nichts ändern. … Mich überläuft eine Gänsehaut“ – sie streifte zur Beweisführung den Aermel vom Arme zurück – „Jeden Augenblick kann’s kommen – jeden Augenblick!“


13.

Und in der darauffolgenden Nacht war es wirklich, als heule eine wehklagende Stimme diese Prophezeiung nach, auch über den Markt und die ganze Stadt hin – der erste Oktobersturm brauste durch das Land. Die Raben hatten den ganzen Nachmittag in großen Schwärmen wie toll über der Stadt gekreist, und Abends war die Sonne wie in einem Blutmeer untergegangen; der Gluthschein hatte noch lange ganz unheimlich auf den Thurmspitzen und Kirchendächern gelegen. Und nun kam’s. Die ganze Nacht hindurch fauchte und johlte es in den Lüften und gönnte sich selbst kein Aufathmen, und als es wieder Tag wurde, da pfiff die Sturmmelodie erst recht durch die Straßen. Die Leute, die über den hochgelegenen Markt gingen, konnten sich kaum auf den Füßen erhalten, und um die Straßenecken flogen Hüte und Mützen in förmlichem Wirbeltanz.

Die Frau Amtsräthin ärgerte sich. Ihre zarten Füßchen waren ein wenig unsicher und wackelig geworden. Bei starkem Winde traute sie sich nicht mehr auf die Straße, und so mußten die auf den heutigen Tag festgesetzten Besuche mit der heimgekehrten Enkelin in der Stadt unterbleiben.

Margarete war desto zufriedener. Ihr erschien der freigewordene Nachmittag wie geschenkt. Sie saß droben im Wohnzimmer der Großmama und half der alten Dame mit flinken Fingern an einer großen, prachtvollen Stickerei. Der Teppich solle auf Herbert’s Weihnachtstisch kommen, wurde ihr geheimnißvoll zugezischelt, eigentlich aber sei er dazu bestimmt, im künftigen jungen Haushalte vor dem Damenschreibtisch zu liegen. Und Margarete stickte unverdrossen an den Blüthenbüscheln, auf welche der Fuß der schönen Heloise treten sollte.

Um vier Uhr kam auch der Herr Landrath vom Amte heim. Er hatte nebenan sein Arbeitszimmer. Eine Zeitlang hörte man drüben Leute kommen und gehen; der Amtsdiener brachte Aktenbündel, ein Gendarm machte eine Meldung und bittende Stimmen wurden laut, und Margarete mußte denken, wie doch die tiefe, behütete Stille in den oberen Regionen des alten Kaufmannshauses völlig verscheucht sei durch Bewohner, die den Namen Lamprecht nicht führten. Das hätten sich die alten Kaufherren auch nicht träumen lassen! Es war immer ihr Stolz gewesen, das mächtige Vorderhaus allein zu bewohnen und das obere Stockwerk lieber leer stehen zu lassen, auf daß kein fremder Fuß das Recht habe, ihre schöne breite Treppe auf- und abzuwandern und profanen Lärm zu machen.

Trotz des Sturmes, ja, gerade in einem Momente, wo die Fenster unter heftigen Windstößen klirrten, wurde auch ein reizend arrangirter Korb voll köstlichen Tafelobstes aus dem Prinzenhofe gebracht. Der Frau Amtsräthin zitterten die Hände vor Freude über die Aufmerksamkeit. Sie breitete schleunigst ein verhüllendes Tuch über den Weihnachtsteppich und rief den Sohn herüber, nachdem sie den Boten mit einem reichen Trinkgeld entlassen.

Der Landrath blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, als sei er betroffen, noch Jemand außer seiner Mutter im Zimmer zu finden; dann kam er näher und grüßte nach dem Fenster hin, an welchem Margarete saß.

„Guten Tag, Onkel!“ erwiderte sie seinen Gruß freundlich gleichmüthig und stickte an dem Teppichende weiter, das unter dem Tuch hervorsah.

Er zog flüchtig die Brauen zusammen und warf einen zerstreuten Blick auf den Obstkorb, den ihm seine Mutter entgegenhielt. „Seltsame Idee, bei solchem Wetter einen Boten in die Stadt zu jagen!“ sagte er. „Das hatte doch Zeit –“

„Nein, Herbert!“ unterbrach ihn die Frau Amtsräthin. „Das Obst ist frisch gepflückt und sollte seinen Duftanhauch nicht verlieren. Und dann – Du weißt ja, daß man draußen nicht gern einige Tage vergehen läßt, ohne daß gegenseitig Lebenszeichen ausgetauscht werden ... Welch köstlicher Duft! Ich werde Dir gleich einen Teller voll Birnen und Trauben arrangiren und hinüberstellen –“

„Danke schön, liebe Mama! Freue Dich nur selbst daran. Ich erhebe keinen Anspruch – die Aufmerksamkeit gilt einzig und allein Dir.“

Damit ging er wieder hinüber.

„Er ist empfindlich, weil das Liebeszeichen nicht direkt an ihn selbst adressirt war,“ flüsterte die Frau Amtsräthin der Enkelin ins Ohr, während sie nach ihrer Brille griff und die Arbeit wieder aufnahm. „Mein Gott, noch kann und darf ja Heloise nicht in der Weise vorgehen! Er ist so scheuverschlossen, so unbegreiflich wenig kourageuse und scheint fast zu hoffen, daß sie zuerst das entscheidende Wort herbeiführen soll. Dabei ist er furchtbar eifersüchtig, selbst auf mich, auf seine selbstlose Mama, wie Du eben gesehen hast. … Ja, Kind, darin wirst Du nun auch Deine Erfahrungen machen!“ setzte sie laut in neckendem Tone hinzu und war damit wieder bei dem Thema angelangt, das der Bote vorhin unterbrochen. Sie versuchte, die Fensternische zum Beichtstuhle zu machen – es handelte sich um das Schreiben des Herrn von Billingen-Wackewitz. Margarete hatte das Papier gestern Abend noch verbrannt, und die ablehnende Antwort war bereits unterwegs. Darüber entschlüpfte ihr aber kein Wort. Sie antwortete diplomatisch einsilbig und war innerlich empört, daß die alte Dame den Namen des Zurückgewiesenen einige Male so laut und ungenirt nannte, als gehöre er bereits zur Familie. Es verletzte sie um so mehr, als die Thür des Nebenzimmers vorhin nicht fest genug geschlossen worden war; der klaffende Spalt erweiterte sich zusehends, und wer drüben aus- und einging, konnte jede dieser indiskreten Bemerkungen hören.

Die Großmama hatte die Thür freilich im Rücken und konnte nicht wissen, daß sie offen stehe, bis sie durch ein Geräusch drüben aufmerksam wurde und sich erstaunt umdrehte. „Wünschest Du Etwas, Herbert?“ rief sie hinüber.

„Nein, Mama! Erlaube nur, daß die Thür ein wenig offen bleibt; man hat mein Zimmer überheizt!“

Die Frau Amtsräthin lachte leise in sich hinein und schüttelte den Kopf. „Er denkt, wir sprechen von Heloise, und das ist selbstverständlich Musik für sein Ohr,“ raunte sie der Enkelin zu und sprach sofort vom Prinzenhof und seinen Bewohnern.

Nicht lange mehr, da fing es an zu dämmern. Die Arbeit wurde zusammengerollt und weggelegt, und damit waren auch die überschwenglichen Schilderungen der Großmama zu Ende. Margarete athmete auf und verabschiedete sich schleunigst. Sie brauchte auch nicht einmal in das Nebenzimmer zu grüßen – die Thür war längst wieder leise von innen zugedrückt worden.

[159] Im Treppenhause fing sich der Zugwind – kein Wunder! – in der Bel-Etage stand ein Flügel des großen nach dem Hofe gehenden Fensters offen, und der Sturm, der von Norden herüber das Dach des Packhauses kam, schnob direkt herein und zog wie Orgelton an den hallenden Wänden hin.

Beim Herabkommen sah Margarete ihren Vater an dem Fenster stehen. Der Sturmwind fuhr ihm gegen die breite Brust und zerwühlte das volle Kraushaar auf seiner Stirn.

„Willst Dir wohl heruntergehen!“ rief er heftig in das Tosen und Klingen hinaus und winkte mit dem Arm über den Hof hin.

Die Tochter trat an seine Seite. Er schrak zusammen und wandte ihr hastig sein tieferregtes Gesicht zu.

„Der Tollkopf dort will sich wahrscheinlich das Genick brechen!“ sagte er gepreßt und zeigte nach dem offenen Gang des Packhauses.

Dort stand der kleine Max auf dem Geländersims des Ganges. Er hatte den linken Arm leicht um den einen der Holzpfeiler gelegt, welche das weit hervorspringende Dach trugen; den anderen streckte er deklamatorisch in die brausenden Lüfte hinaus und sang; aber es war keine zusammenhängende Melodie; er schlug nur die einzelnen Töne der Scala an und ließ sie schwellen und aushallen, als wolle er übermüthig die Kraft seiner kleinen Lunge mit der des Sturmes messen. Das waren die vermeintlichen Orgeltöne gewesen. Uebrigens mochte er den Zuruf aus dem Vorderhause nicht gehört haben, denn er setzte von Neuem ein.

„Der fällt nicht, Papa!“ sagte Margarete lachend. „Ich weiß am besten, was man in diesem Alter riskiren kann. Das Gebälk auf unserem obersten Hausboden könnte ganz andere Dinge von meinen Seiltänzerkünsten erzählen … Und der Sturm kann ihm nichts anhaben, er hat ihn im Rücken … Freilich dem alten Holzwerk da drüben ist nicht zu trauen –“ sie zog ihr Taschentuch hervor und ließ es zum Fenster hinausflattern.

Dieses Signal bemerkte der Kleine sofort. Er verstummte und sprang von seinem hohen Posten. Sichtlich erschrocken und verlegen, machte er sich allerhand auf dem Gange zu schaffen; er mochte sich schämen, beobachtet worden zu sein.

„Das Kerlchen hat Gold in seiner Kehle,“ sagte Margarete. „Aber er ist ein kleiner Verschwender. Mit zwanzig Jahren wird er wohl nicht mehr so unsinnig in den Sturm hineinsingen, dann wird er das kostbare Material zu schätzen wissen … Den bekommst Du nicht in Deine Schreibstube, Papa – das wird einmal ein großer Sänger.“

„Meinst Du?!“ Sein Auge funkelte sie eigenthümlich, fast feindselig an. „Ich glaube nicht, daß er dazu geboren ist, Andere zu amüsiren.“

Damit griff er nach dem Fenster, um es zu schließen; aber in demselben Augenblick riß ihm ein heulender Windstoß den Fensterflügel aus der Hand, ein Stoß von so erschütternder Wucht, wie er selbst in der vergangenen wilden Nacht nicht die Hausmauern erzittern gemacht hatte. Was in den nächsten Sekunden vorging, die beiden vom Fenster Zurücktaumelnden sahen es nicht – sie meinten, der Orkan fege das alte Kaufmannshaus und Alles, was in ihm lebe und athme, mit einem einzigen Ruck vom Boden weg – ein furchtbarer Krach, ein nervenerschütterndes Getöse von stürzendem Trümmerwerk, dann ein momentanes Verbrausen, als erschrecke der Wütherich selbst vor der Zerstörung und wage es kaum, an die undurchdringliche, graugelbe Wolke zu rühren, die plötzlich den Hof füllte!

Das Packhaus! Ja, von dorther wogten und wallten die Staubmassen!

Mit einem wilden Satze sprang der Kommerzienrath an der Tochter vorüber und die Treppe hinab. Margarete flog ihm nach, aber erst im Hofe gelang es ihr, seinen Arm zu umklammern – stumm vor Entsetzen, konnte sie ihm nicht sagen, daß er sie mitnehmen solle.

„Du bleibst zurück!“ gebot er und schüttelte sie von sich. „Willst Du auch erschlagen werden?“

Das waren Laute, die ihr durch Mark und Bein gingen, und sie meinte zu sehen, wie sich ihm das Haar über dem verzerrten Gesicht sträube.

Er stürmte fort, und sie griff nach dem nächsten Lindenstamm, um sich auf den Füßen zu erhalten; denn eben brauste es wieder über den Hof hin. Ein Wirbel fuhr in die Staubwand, trieb die kämpfenden Wolken erstickend nach dem Vorderhause und schleuderte sie dann hoch hinauf gegen den dämmernden Himmel.

Nun traten auch wieder feste Umrisse aus dem schleierhaften Gemenge. Das Packhaus stand noch, aber als kaum zu erkennende Ruine. Die untere Hälfte des schweren Ziegeldaches, die den offenen Gang schützend und verdunkelnd weit überragt hatte, war in ihrer ganzen Länge herabgestürzt und hatte die Stützpfeiler und das Ganggeländer mitgerissen. Drunten thürmten sich die Trümmer bis über die Fenster des Erdgeschosses, und noch rutschten gelockerte Sparren und Ziegel nach und stürzten prasselnd herab.

Es war ein lebensgefährlicher, von den niederregnenden Nachzüglern schwer bedrohter Weg über den Trümmerhaufen – Margarete sah angsterfüllt ihren Vater über das Chaos hinklettern, hier versperrende Balken zur Seite schleudernd, dort bis über die Kniee zwischen Sparrwerk und Ziegelscherben einsinkend, aber er kämpfte sich binnen wenigen Sekunden durch und verschwand im Dunkel des Thorweges.

Verschiedene Aufschreie von den Fenstern des Vorderhauses her hatten seine Anstrengungen begleitet, und nun stürzten alle Insassen des Hauses in den Hof heraus – Tante Sophie, das gesammte Dienstpersonal, und fast zugleich auch die Herren aus der Schreibstube. Sie alle scheuchte der Sturm sofort dahin, wo Margarete stand, unter die Linden, an die festen Mauern des Weberhauses.

Nun, dem Herrn konnte nichts mehr geschehen! Die mächtige Thorwölbnng dort, welche ihn aufgenommen, rüttelte auch der wüthendste Orkan nicht um; aber das Kind, das arme „Jüngelchen“, das war mit heruntergerissen, das lag erschlagen unter der grausen Last! Eben noch hatte es Bärbe von ihrem Küchenfenster aus auf dem Gange stehen sehen.

Das Gesicht der alten Köchin war fahl vor Entsetzen, wie das eines Gespenstes; aber noch im Laufen und gegen den Sturm kämpfend sagte sie mit zitternden Lippen: „Na, Ihr Leute da ist’s ja! Hat nun die alte Bärbe Recht oder nicht?“

Es war kaum zu verstehen, so erstickt von Staub, Sturm und Schrecken klang die Stimme; aber gesagt mußte es werden.

Tante Sophie band ihr Taschentuch um die flatternden Haare und nahm ihre Röcke fest zusammen. Ihr standen die Worte noch nicht wieder zur Verfügung, aber Hand und Fuß waren flink zum Handeln geblieben. Trotz der immer noch fallenden Ziegel und Holzstücke und des sie wüthend umfauchendcn Sturmes eilte sie über den Hof, nach dem Trümmerhaufen, unter welchem das arme, erschlagene Jüngelchen liegen sollte, und die Anderen folgten ihr unverweilt. Aber fast zu gleicher Zeit erschien auch der Kommerzienrath droben in der offenen Küchenthür, welche auf den Gang herausführte. Er winkte abwehrend mit der Hand. „Zurück! Es ist Niemand verunglückt!“ rief er hinab.

Nun Gott sei Dank! Die Gesichter hellten sich auf. Mochte doch nun noch von dem wackeligen Dach herabfallen was wollte – es that Niemand weh, und den sonstigen Schaden heilten Zimmermann und Dachdecker. Man konnte getrost in den schützenden Hausflur retiriren.

„Na ja – um ein Haar war’s geschehen!“ sagte Bärbe in resignirtem Tone und rieb sich mit der Schürze den Staub vom Gesicht. „Es ist mir unbegreiflich, daß der Junge davon gekommen ist – rein unbegreiflich! Im allerletzten Augenblicke stand er doch gerade noch beim Geländer.“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

„Na, es hat doch so sein sollen, und es ist ja ein Glück, ein Tausendglück, daß nicht das Allerärgste passirt ist. Für unser Haus wär’s ja auch ganz schrecklich gewesen, und Niemand von uns hätte in seinem ganzen Leben wieder froh werden können –“

„Sei nicht so einfältig, Bärbe!“ fuhr Reinhold auf sie hinein. Er war vorhin in dem Hausflur zurückgeblieben, weil er im Sturm mit Recht seinen gefährlichsten Feind fürchtete. „Du thust ja wirklich, als sei Eines von unserer Familie in Gefahr gewesen, und die Lamprechts hätten womöglich Trauer anlegen müssen, wenn der Malerjunge verunglückt wäre. Albernes Gewäsch! – Aber so seid Ihr Alle! Nur was Eures Gleichen angeht, kann Euch alteriren; der Schaden aber, den die Herrschaft von der dummen Geschichte hat, der ist für Euch Lappalie! Ihr denkt, wir haben das Geld scheffelweise, und da kann drauf und drein gehaust und gewüstet werden – ich kenne Euch!“

[160]

Kaiserliche Werft.      Schwimmdock.      Ellerbecker Einbaum.  Torpedoboot.      Panzerfregatte. 
Der Kieler Hafen. 0Originalzeichnung von Hans Olde.

[161] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [162] Er hob seine Hand mit den langen, dürren Fingern schüttelnd gegen das bei einander stehende Gesinde und wandte sich mit einem geringschätzenden Achselzucken von den Verblüfften ab.

„Der Spaß da drüben wird uns einen schönen Thaler Geld kosten,“ sagte er zu den Herren der Schreibstube, indem er mit dem Kopfe nach dem Packhause hinnickte. „Es ist unverantwortlich vom Papa, daß er die Hintergebäude so verfallen läßt. Mir passirt so etwas später einmal ganz gewiß nicht; mir entgeht kein verschobener Ziegel – darauf können Sie sich verlassen – und sollte ich auf allen Vieren in die Bodenecken kriechen und nachsehen! Ja, und“ – er verstummte plötzlich, schob die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich, die langen Beine vorstreckend, mit dem Rücken gegen die windgeschützte Flurwand – der Kommerzienrath kam eben über den Hof zurück.

Noch sah er tief alterirt aus, und sein sturmzerwühltes Haar, das ihm wild in die Stirn hing, verstärkte den Eindruck. Aber beim Erblicken des noch in dem Hausflur zusammenstehenden Menschentrupps nahm er sich sichtlich zusammen und reckte seine Gestalt zu ihrer ganzen Höhe empor. Sein Auge begegnete kalt abweisend den gespannten Blicken der Leute; es schien, als wolle er von vornherein jede Frage abwehren – das Sprechen mit seinen Untergebenen war ja überhaupt seine Sache nicht.

Er winkte dem Hausknecht, gab ihm ein Medicingläschen, welches er in der geballten Hand mitgebracht, und schickte ihn nach der Apotheke.

„Der alten Frau drüben hat der Schreck geschadet; sie ist sehr unwohl, und von dem helfenden Mittel war kein Tropfen mehr im Glase,“ sagte er kurz, fast barsch und doch wie verlegen entschuldigend zu Tante Sophie, und eine leichte Röthe lief über seine Stirn – es war ja nur ein kleiner Samariterdienst, eine selbstverständliche Hilfeleistung einem erkrankten Mitmenschen gegenüber, aber von Seiten des unnahbaren, hochmüthigen Mannes war und blieb es eine unbegreifliche Herablassung, und wie es schien, am meisten in seinen eigenen Augen.

Margarete machte es in diesem Augenblick wie vorhin Tante Sophie, sie band mit flinken Händen ein Tuch über den Kopf und ging schweigend nach der Hofthür.

„Wohinaus, Gretchen?“ fragte der Kommerzienrath und griff nach ihrem Arm.

Sie strebte nichtsdestoweniger weiter. „Ich will nach der kranken Frau sehen, wie es sich ja ganz von selbst versteht –“

„Das wirst Du bleiben lassen, mein Kind,“ sagte er gelassen und zog sie näher an sich. „Es versteht sich durchaus nicht von selbst, daß Du Dich um eines Krampfanfalles willen in die Gefahr begiebst, selbst schwer verletzt zu werden … Frau Lenz soll an derartigen Anfällen sehr oft leiden, und es ist noch Niemand im Vorderhause eingefallen, ihr beizustehen. Ein solches ‚Hinüber und Herüber‘ ist überhaupt nie Brauch bei uns gewesen, und ich wünsche durchaus nicht, daß darin etwas geändert werde.“

Bei diesem sehr bestimmt ausgesprochenen Wunsch und Willen löste Margarete schweigend die Tuchzipfel unter dem Kinn. Die Dienerschaft verschwand lautlos hinter verschiedenen Thüren, und die Herren zogen sich schleunigst in die Schreibstube zurück. Nur Reinhold blieb.

„Etsch, das geschieht Dir recht, Grete!“ machte er schadenfroh. „Ja, eine blaue Schürze vorbinden und in die armen Häuser gehen, um kranke Leute zu pflegen und schmutzige Kinder zu waschen, das ist jetzt so Mode bei den jungen Mädchen; und da denkst Du natürlich auch, wunder wie schön sich Grete Lamprecht als so eine heilige Elisabeth ausnehmen müßte! Es ist nur gut, daß der Papa solchen Unsinn nicht leidet! Und morgen hört auch die Gelegenheit zu solch abgeschmacktem Gethue von selbst auf, gelt, Papa? Die Leute können doch unmöglich im Packhause bleiben, wenn gebaut wird? Die müssen doch heraus?“

„Das ist nicht nöthig – die Leute bleiben, wo sie sind!“ versetzte der Kommerzienrath kurz, worauf sich Reinhold, die Hände tiefer in die Hosentaschen vergrabend und die hohen Schultern noch höher hebend, in wortlosem Aerger umdrehte und nach der Schreibstube ging.

Der Kommerzienrath legte seinen Arm um die Tochter und führte sie nach der Wohnstube. Er rief nach Wein, und die ersten Gläser des schweren Burgunders wurden hinabgestürzt, als bedürfe es der ganzen Feuergluth des Weines, um eine innere Stockung zu lösen.

Margarete setzte sich auf den Fenstertritt, auf den Platz zu Tante Sophiens Füßen, wo sie als Kind immer gesessen. Sie verschränkte die Arme um die Kniee und lehnte den Kopf an das Sitzpolster des Armstuhles … Sie war allein mit dem Papa. Inmitten dieser vier Wände war es heimlich und behaglich; vom Fensterbrett herab durchwürzten die Topfblumen die reine, sanfterwärmte Zimmerluft; die Uhr hatte sich durch den Aufruhr im Hause nicht irre machen lassen, sie tickte nach wie vor, und die Schritte des schweigend auf- und abgehenden, ganz in sich versunkenen Mannes hielten gleichmäßig Takt mit dem sachtgehenden Pendel. Aber draußen in den Lüften brauste es schauerlich; die Fenster klirrten, und dann und wann kam über den Markt her der Lärm zuschmetternder Hausthüren oder zurückgeschleuderter Fensterläden.

„Das wird schließlich noch den ganzen Dachstuhl vom Packhaus rütteln,“ sagte Margarete und hob den Kopf.

„Ja, es werden noch Ziegel in Menge herabfliegen, aber das Dachgerüst nicht!“ entgegnete der Kommerzienrath. „Ich habe auf dem Hausboden nachgesehen. Das alte Gebälk ist wie von Eisen, stark und festgefügt. Das, was zertrümmert im Hofe liegt, ist ein elendes Flickwerk neueren Datums gewesen.“

Er blieb einen Moment ihr zugewendet stehen, und das schon stark mit grauem Dämmern gemischte Tageslicht fiel auf seine Züge. Der Wein that seine Schuldigkeit; er machte das Blut wieder rasch durch die Adern kreisen und scheuchte die Schreckensblässe von Stirn und Wangen.

„Und der kleine Max ist wirklich heil und unversehrt geblieben?“ fragte die Tochter.

„Ja – das losgerissene Dachstück ist über ihn hinweggeschossen.“

„Ein wahres Wunder! Da möchte man so gerne glauben, daß sich zwei Hände behütend über den kleinen Lockenkopf gebreitet haben – die Hände seiner todten Mutter.“

Der Kommerzienrath schwieg. Er wandte sich weg und goß Wein in sein Glas.

„Ich kann den furchtbaren Eindruck nicht loswerden – mir zittern noch die Hände und Füße,“ setzte sie nach einem augenblicklichen Schweigen hinzu. „Zu denken, daß dieser schöne Junge voll Kraft und Leben plötzlich todt oder gräßlich verstümmelt unter den Balken und Scherben liegen könnte –“ sie brach ab und legte die Hand über die Augen.

Einen Augenblick blieb es still im Zimmer, so still, daß man ein erregtes Stimmengemurmel von der Küche herüber hören konnte.

„Unsere Leute können sich auch noch nicht beruhigen, wie es scheint,“ sagte Margarete. „Sie haben das Kind gern. – Der arme kleine Schelm! Er hat eine einsame Kindheit. Der deutsche Boden ist ihm fremd, die Mutter todt, und der Vater, den er nie gesehen hat, weit über dem Meer drüben –“

„Der Kleine ist nicht zu beklagen, er ist der Abgott seiner Angehörigen,“ warf der Kommerzienrath ein. Er stand noch abgewendet, hielt das Trinkglas gegen das Fensterlicht und prüfte den dunkelglühenden Inhalt; daher klang das, was er sagte, wie halbverweht.

„Auch der seines Vaters?“ fragte das junge Mädchen herb und zweifelnd. Sie schüttelte den Kopf. „Der scheint sich sehr wenig um das Kind zu kümmern. Warum hat er es nicht bei sich, wo sein Platz ist, wohin es von Gott und Rechtswegen gehört?“

Das gefüllte Glas wurde unberührt wieder auf den Tisch gestellt, und ein schattenhaftes Lächeln flog um die Lippen des nähertretenden Mannes.

„Da geht man wohl auch mit dem Papa schwer ins Gericht, der seine Tochter fünf Jahre lang von sich gegeben hat?“ fragte er immer noch lächelnd, aber mit jenem nervösen Zucken der Unterlippe, das bei ihm stets ein Merkmal innerer Bewegung war.

Sie sprang auf und schmiegte sich an ihn.

„Ach, das ist ja doch ganz etwas Anderes!“ protestirte sie lebhaft. „Deine wilde Hummel war Dir zu jeder Zeit erreichbar, und wie fleißig hast Du sie besucht und nach ihr gesehen! Du brauchst auch nur zu wünschen, und ich bleibe bei Dir, jetzt und für immer! Der Vater des kleinen Lenz aber –“

„Für immer?“ wiederholte der Kommerzienrath. Er ignorirte die letzten Worte und sprach laut und rasch. „‚Für immer‘? – [163] Kind, wie lange noch, da kommt ein Wirbelwind aus dem Mecklenburger Lande und weht mir meine kleine Schneeflocke da fort, auch für immer!“

Sie trat von ihm weg, und ihr Gesicht verfinsterte sich. „Ach, weißt Du das auch schon? – Sie haben es ja sehr eilig, die Guten!“

„Wen meinst Du damit?“

„Nun, wen denn sonst, als die Großmama und Onkel Herbert, den gestrengen Herrn Landrath!“ Sie fuhr sich in komischem Zorn mit der Hand durch die Locken und warf sie aus der Stirn. „Schauderhaft! Nun haben sie auch schon bei Dir minirt, und es sind noch keine vierundzwanzig Stunden, seit ihnen Tante Elisens glorreiche Ausplauderei zu Ohren gekommen ist! … Nun ja, ich soll schleunigst unter die Haube! Sie brauchen gerade jetzt eine ‚Gnädige‘ in der Familie, eine fremde Namensglorie, so etliche Weihrauch-Opferwolken, die unser schlichtes Haus wohlthätig verschleiern und allerhöchsten Orts angenehm in die Nase steigen – und dazu soll das arme Opfer, die Gretel, geschlachtet werden … Aber so geschwind geht das nicht!“

Sie lächelte muthwillig.

„Vor Allem müssen sie das Mädchen haben, wenn sie es binden wollen. Onkel Herbert –“

„Was machst Du Dir für einen seltsamen Begriff vom Onkel!“ unterbrach er sie. „Der braucht uns Lamprechts nicht; ihm wird es sehr gleichgültig sein, was für einen Namen Du künftig trägst. Der will Alles durch sich selbst. Wie Mancher scheitert durch dieses herausfordernde, wenig devote Princip – gerade in unserer Zeit, wo jedes Einzelstreben in einer großen Willensmacht aufgehen soll, ist es mißliebig, fast verpönt! Aber er darf sich das erlauben. Er ist ein Sonntagskind, dem sich alle Hände ungerufen entgegenstrecken, ob er sie auch schroff zurückweist. Ich glaube, selbst bei seiner Verheirathung wägt er immer wieder ab, ob ihm die schöne Heloise nicht doch mehr zubringt, als er giebt –, daher sein Zögern.“

„Nicht möglich!“ Sie schüttelte ungläubig und erstaunt den Kopf, schlug die Hände zusammen und lachte. „Das ist ja das schnurgerade Gegentheil von dem, was die Welt über ihn sagt –“

„‚Die Welt!‘ – Den möchte ich sehen, der sich rühmen dürfte, zu wissen, was er denkt! Ja, im geselligen Verkehre hat er verbindliche, zuvorkommende Manieren; aber dies scheinbar Gefügige geht ihm kaum bis unter die Haut, soviel weiß ich! Der ist durch und durch fest und zielbewußt. Ich neide ihm seine Verstandeskühle, ach, und wie!“ – Er seufzte tief auf, stürzte auf einen Zug das Glas Burgunder hinab, und dann sagte er: „Jene Charaktereigenschaften tragen ihn und haben ihn immer über sich nach den Sternen greifen lassen –“

„Gott bewahre, Papa – nicht immer!“ unterbrach sie ihn lachend. „Es hat auch eine Zeit gegeben, wo er herabgestiegen ist und nach den Blumen der Erde gegriffen hat! Die wunderschöne Blanka Lenz mit den langen, blonden Zöpfen, weißt Du noch?“ – Sie verstummte vor dem häßlichen, höhnischen Lachen, das ihr Vater plötzlich aufschlug. Und nun ging er wieder so stürmisch und dröhnenden Schrittes auf und ab, daß die alten Dielen unter seinen Füßen kreischten.

(Fortsetzung folgt.)




Kiel und seine Umgebung.

Nur wenige andere Plätze unserer Ostseeküste sind von der Natur in Bezug auf Lage und landschaftliche Anmuth so begünstigt wie Kiel. Die Stadt liegt am Südende der Kieler Föhrde, einer der schönsten Buchten der Ostseeküste, und besitzt einen Hafen, dessen Tiefe den schwersten Schiffen Zugang gewährt und der in seinem ruhigen, geschützten Fahrwasser die Flotten der halben Welt aufnehmen könnte.

Die Vortheile dieser Lage und der Werth des Hafens kamen dem Orte von jeher zu Gute. Schon im 13. Jahrhunderte blühte Kiel in Handel und Wandel empor, und hundert Jahre später nimmt es im Bunde der allgewaltigen Hansa einen hervorragenden Platz ein. Trotzdem trat die Bedeutung, welche es in den Händen eines großen Staates und bei angemessener Pflege und Verwerthung seiner natürlichen Hilfsmittel erreichen mußte und in wenigen Jahren der Neuzeit auch erlangt hat, erst hervor, als es 1866 Kriegshafen und Flottenstation wurde. Von da an datirt der große Aufschwung der alten Küstenstadt, und heute ist Kiel mit seinem rastlos fluthenden Leben, seinen großartigen Hafenanlagen und Marinebauten, seiner prächtigen schönen Umgebung einer der interessantesten Punkte unserer Küsten, der um so größere Bedeutung gewonnen hat, je wichtiger die Rolle ist, welche unsere Marine in der Entwickelung der deutschen Kolonialpolitik spielt.

Der Fischtorpedo.

Die Stadt hat, obgleich deren Gründung bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht, wenig Alterthümliches aufzuweisen: ein paar bescheidene Holzhäuser mit hohen Giebeln, der wenig imposante Backsteinbau der frühgothischen Nikolaikirche, deren spitzer, kupfergedeckter Thurmhelm den kleinen Marktplatz überragt, und schließlich der ungegliederte Steinwürfel des im vorigen und im Anfange dieses Jahrhunderts aus- und umgebauten Schlosses, welches Residenz des Prinzen Heinrich und Sitz des Kommandos der Marinestation der Ostsee ist, dürfte so ziemlich Alles umfassen, was an älteren Banwerken noch vorhanden ist.[1] Für diesen Ausfall werden wir jedoch reichlich entschädigt durch die landschaftlichen Schönheiten, welche die Ufer der Bucht von dem Hafen bis zur Mündung in die Ostsee bieten.

Finden wir im Hafen jenes, nur in größeren Seestädten anzutreffende, stets wechselnde Bild von Segelschiffen, Dampfern, Booten und Lichterfahrzeugen, während am Ufer zwischen Schuppen, Werften, Waggons, Verladekrahnen, Holzniederlagen, Kohlen, Kisten und Ballen eine geschäftige Menge sich umhertreibt, – so entzückt uns am Gestade eine Reihe zierlicher Landhäuser und Villen, mit schmucken Gärten, die von dem dunklen Hintergrunde prächtiger Buchenwaldungen „kokett“ sich abzeichnet. Die Vegetation ist im Allgemeinen von einer erstaunlichen Ueppigkeit, wozu die günstigen Temperaturverhältnisse sowie der hohe Feuchtigkeitsgrad der Luft das Meiste beitragen mögen.

Das östliche Holstein ist ja berühmt wegen seiner Buchenwälder; – schöner, kräftiger belaubt, hochstämmiger als die des „Düsternbrooks“ bei Kiel können dieselben jedoch nirgends angetroffen werden.

Vor der Stadt, und hart beim Schlosse beginnend, führt an dem westlichen Ufer der Bucht eine herrliche Allee uralter Linden, einer langgestreckten, vielhundertsäuligen Vorhalle vergleichbar, in sanftem Anstieg zu dem genannten Buchenhaine, der

[164] bei „Belle-Vue“, einem hoch über dem Seespiegel gelegenen Hôtel, seine schönste Entfaltung erreicht; von der Terrasse dieses Hôtels bieten sich entzückende Ausblicke auf den Wald und auf die weiße Bucht mit ihrem regen Schiffsverkehre. Auf dem östlichen Ufer erheben sich die mächtigen Marine-Anlagen und die schmucken Ortschaften Ellerbeck und Neumühlen, von denen namentlich die erstere als Lieferant der berühmten Kieler Sprotten und Bücklinge weit und breit bekannt ist und deren eigenartige Boote, Einbäume (mit einem Mast) genannt, zur charakteristischen Staffage des Hafens gehören.

Die Bucht selber gliedert sich in zwei Theile, der äußere verengt sich bei Friedrichsort, dem Sperrfort des Hafens, zu einer nur 1200 Meter breiten See-Enge, und von hier streckt sich dann der eigentliche Hafen 10 Kilometer weit ins Land hinein, an seiner breitesten Stelle sich bis zu 3000 Meter erweiternd.

Die berühmten Marine-Anlagen erheben sich, wie schon gesagt, auf dem östlichen Ufer, an einer Einbuchtung bei Ellerbeck, nahe genug der Stadt und Eisenbahn, aber doch völlig getrennt vom Handelshafen. Die kaiserlichen Werften, ein gewaltiges, erst vor wenig Jahren vollendetes Etablissement, in dem jahraus, jahrein 3000 bis 4000 Menschen beschäftigt sind, enthalten zwei mächtige Bassins für Schiffsbau und Schiffsausrüstung, in denen als erstes Fahrzeug 1874 die Panzerfregatte Friedrich der Große erbaut wurde, dann drei Hellinge (zum Ablaufen neu gebauter Schiffe), vier große Trockendocks (zum Ausbessern des Schiffsrumpfes), Schwimmdocks etc., sowie zahlreiche Werkstätten, in welchen Alles zur Takelung und anderweitigen Ausrüstung der Fahrzeuge Nöthige angefertigt oder wenigstens aufgestapelt wird.

Partie bei Düsternbrook.
Originalzeichnung von F. Keller-Leuzinger.

Die Herstellung eines Kriegsschiffes ist ja längst eine so komplicirte, die verschiedenartigsten Industriezweige, und zwar in deren großartigster Ausbildung, in Anspruch nehmende Sache geworden, daß an eine vollständige Koncentrirung und einheitliche Leitung der betreffenden Arbeiten nicht mehr zu denken ist.

Das Holz, früher das wichtigste Material für den Schiffsbau, ist durch das Eisen nahezu gänzlich verdrängt worden, und im Binnenlande, meist fern von der See liegende Hochöfen, Gießereien und Walzwerke der größten Art sind es, die den Stoff liefern, aus welchem jene feuerspeienden Kolosse konstruirt werden, welche bei den modernen Seekriegen in erster Linie in Betracht kommen.

Es hat auf diesem Gebiete eine Umwälzung stattgefunden: nicht nur, daß die alten Dreidecker aus Nelson’s Zeit mit zahlreichen, aber wenig leistungsfähigen Geschützen gänzlich verschwunden sind, sondern auch jene schlanker gebauten, zum Theil schon unter Dampf gehenden Fahrzeuge aus den vierziger und fünfziger Jahren markiren einen längst überwundenen Standpunkt. Die modernen Schlachtschiffe sind riesige Zerstörungsmaschinen von verhältnißmäßig gedrungenem Bau, bei denen wenige, aber dem schwersten Kaliber angehörige Geschütze in einer durch nahezu meterdicke Panzerung geschützten Kasematte untergebracht sind, während der Rest des Schiffsrumpfes bis unter die Wasserlinie herunter durch eine leichtere Eisenverkleidung wenigstens gegen schwächere Projektile geschützt ist.

Jede unnütze Zuthat, jedes Bauwerk, jeder Schmuck ist vermieden, und nur der Reichsadler, sowie eine Kaiserkrone in goldenem Relief bezeichnen den Staat und den Kriegsherrn, dem das mächtige Gebäude zugehört. Und doch entbehrt das Ganze keineswegs einer gewissen strengen Schönheit, indem besonders die scharfen Linien des mit einem kühn geschwungenen Sporne versehenen Buges denselben befriedigenden Eindruck machen, wie gewisse Architekturformen, in denen die rein konstruktiven oder mathematischen Grundlinien ungestört zur Geltung kommen. Nur der eigenthümlich malerische Charakter, den die Kriegsschiffe älterer Konstruktion, mit den bauchigen Flanken, dem breiten Bug und dem hochansteigenden, reichgeschnitzten Hintertheil hatten, ging verloren, ebenso wie durch die Einführung des Dampfes als Triebkraft und die damit verbundene Vereinfachung der Takelage jenes graziöse,

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Blick auf den Hafen von Kiel.
Originalzeichnung von F. Keller-Leuzinger.

[166] mövengleiche und doch wieder so imposante Aussehen verschwinden mußte, welches dem alten Segler anhaftete, wenn er mit halbem Wind, keck auf der Seite liegend, brausend die Wogen theilte.

Der Wettkampf zwischen Panzerung und Geschoß, bei dem die erstere immer dicker und das letztere immer perkussionsfähiger gemacht wurde, hat schließlich auch dazu geführt, das „schwimmende Fort“ von einer Seite anzugreifen, auf der es nicht wohl gepanzert werden kann, ohne seine Schwimmfähigkeit allzu sehr zu beeinträchtigen, nämlich von unten.

Längst hat man, besonders zur Vertheidigung von Hafeneingängen etc., Minen gelegt, die entweder durch den elektrischen Funken oder in selbstthätiger Weise im gegebenen Momente springen sollten, und es giebt sogar eigene Fahrzeuge, die den Namen „Minenleger“ führen: der neuesten Zeit aber war es vorbehalten, den sogenannnten Fischtorpedo (vergl. das Bild S. 163) zu erfinden, der von besonderen Torpedoschiffen oder von jedem andern dazu hergerichteten Fahrzeuge unter Wasser losgelassen werden kann und, von einer Schraube mittels komprimirter Luft getrieben, mit Blitzeseile tausend und mehr Fuß zurücklegt, um an der Schiffswand des Gegners anzurennen, zu explodiren und denselben zum Sinken zu bringen. Es ist, wie man sieht, eine tückische, aber viel versprechende Waffe, denn sämmtliche seefahrende Nationen haben dieselbe adoptirt, und es ist alle Aussicht vorhanden, daß sie im nächsten Seekriege die ausgiebigste Verwendung finden und manches stolze Schiff in den Grund bohren wird.

Die Besucher des Kieler Hafens haben übrigens Gelegenheit, diese zierlichen, in doppelspitzer „Cigarrenform“ aus Bronze sorgfältig konstruirten Zerstörungsmaschinen aus geringer Entfernung, wenn auch nicht bei der „Arbeit“, so doch in Bewegung zu sehen. Gefahr ist keine dabei, denn geladen sind sie nicht.

Die in Berlin angefertigten Torpedos werden nämlich in der Kieler Bucht in Bezug auf richtige Gangart, respektive Trefffähigkeit geprüft, und auf unserm großen Bilde erblicken wir rechter Hand ein solches Uebungs-Torpedoboot, auf welchem deutlich die eigenartige Form der Geschosse zu erkennen ist.

So ist das Bild des Kieler Hafens ein stetig wechselndes, ein Januskopf, dessen eine Hälfte den Krieg, die andere den Frieden zeigt. Während hier im Schwimmdock der gewaltige Körper des Panzerkolosses seine wunden Stellen der untersuchenden Hand des Schiffsbaumeisters darbietet, nachdem er bis auf den Kiel seinem Elemente entrückt ist, treibt dort der Handelsdampfer der Flotille von Lichterfahrzeugen entgegen, die gegen klingenden Lohn gern bereit sind, ihn seiner Last zu entledigen. Und zwischenhindurch schießen die beweglichen Boote der Bewohner von Ellerbeck, Neumühlen und wie alle jene hübschen Ortschaften heißen, welche die Ufer der Föhrde zieren; in stolzer Ruhe liegt die Panzerkorvette vor Anker und in quecksilbriger Beweglichkeit schießt das Uebungsschiff mit 2000 jungen „Seebären“ an Bord hin und her, lavirt und kreuzt in der Bucht, und bei gutem Winde hört man von deren Deck das scharfe Kommandowort des Kapitäns, das Wirbeln der Trommeln und anderen Kriegslärm deutlich herüberschallen.

Neben diesem kriegerischen Treiben gehen aber Handel und Industrie lebhaft vorwärts. Der Kieler „Umschlag“ ist eine weitbekannte Messe, auf der große Waarenumsätze erzielt werden und wo die sehr bedeutenden Geldgeschäfte des flachen Landes ihre Erledigung finden. Die Ausfuhr von Land- und Industrie-Erzeugnissen steigt jährlich, und Dampfschiffsverbindungen nach zahlreichen deutschen Ostseehäfen, Dänemark, Schweden, England etc. vermitteln einen lebhaften Handelsverkehr. Auch die Universität, welche 1665 von Herzog Christian Albrecht gegründet wurde, bildet mit ihrer Bibliothek und ihren zahlreichen Sammlungen, die manche interessante Seltenheit aus vorgeschichtlicher Zeit enthalten, einen nicht unbedeutenden Faktor in dem wirthschaftlichen und öffentlichen Leben Kiels.

Die Festungswerke aber mit ihren starken Seeforts und zahlreichen Strandbatterien bilden einen gewichtigen Küstenschutz und gewähren die Beruhigung, daß das deutsche Vaterland auch in seinen bisher verhältnißmäßig schwachbewehrten Seeküsten zu Zeiten der Noth nicht unvorbereitet überrascht werden kann.F. K.     


Im Wartesaal.

Skizze von C. Michael.

Ein großer leerer Raum, öde und leer bis auf die Bänke von verschossenem rothen Plüsch, welche die Wände umsäumen, und die beiden großen, halberblindeten Spiegel, welche – eingefaßt von schmalen verräucherten Goldleisten – eine unzählbare Menge schwarzer Reisetaschen und grauer Plaidrollen zeigen, die, immer kleiner und kleiner, bis in die Unendlichkeit hinaus aufgestapelt scheinen, in Wahrheit aber nur die Vervielfältigung einer einzigen Tasche und Rolle sind, meines eigenen bescheidenen Reisegepäckes, das ich auf den Sims von falschem Marmor vor einen der sich gegenüberhängenden Spiegel hingelegt habe.

Doch halt, da giebt es ja noch einen Gegenstand, und zwar einen sehr bemerkenswerthen: die große Pendeluhr, deren Sekundenzeiger in hüpfender Bewegung fortschreitet, während der Minutenweiser schier wie festgewurzelt an seiner Stelle verharrt.

Zwanzig Minuten, wie rasch sind sie verflogen im emsigen Alltagsgetriebe, – – zwanzig Minuten, ein Nichts, eine kaum bemerkbar winzige Spanne Zeit, wie lang können sie sich dehnen, wenn wir der Uhr gegenübersitzen und – warten!

Ich bin zwanzig Minuten zu früh gekommen und muß hier auf den Abgang des nächsten Postzuges warten; nun, das läßt sich leichter ertragen, als wäre ich nur um eine Minute zu spät gekommen, und sicherlich habe ich schon manche Stunde meines Lebens in weniger angenehmer Lage mit – Warten zugebracht. Man braucht nur an die Vorzimmer der verschiedenen Aerzte, Zahnärzte oder Photographen zu denken, die man schon mit „bevölkern“ geholfen hat; oder an das unwirthliche Lokal des Zollamtes, oder an das tage- und wochenlange Warten auf einen Brief, der nicht kommen will. Ja, bei Licht besehen, bringen wir den weitaus größten Theil unseres Lebens damit zu, irgend Etwas zu erwarten. Man könnte die ganze Welt einen einzigen großen Wartesaal nennen, und wer nichts, gar nichts mehr daselbst zu erwarten hat, sei es nun Freudiges oder Schmerzliches, der ist reif, das Signal zur Abfahrt erklingen zu hören und diesen Wartesaal „Erde“ zu verlassen, gerüstet zur letzten, großen Reise!

Da seht das kleine Kind schon sitzen und geduldig warten auf seine Suppe, die erst abkühlen muß. Etwas größer geworden, wartet es auf den nächsten Weihnachtsabend, auf die große Puppe, die man ihm versprochen hat, dann das Mädchen auf das erste Einflechten der flatternden Haare in Zöpfchen, der Knabe auf die Knallbüchse und auf die ersten Stiefel!

Armer Junge, wenn du in diesen heiß ersehnten Stiefeln steckst, dann geht für dich erst recht das Warten an, und immer gespannter, immer aufregender wird deine Erwartung werden.

Das Schulleben hat begonnen, da gilt sie zunächst den Censuren der verschiedenen Semester, wie werden sie ausfallen? „Ich kann es kaum erwarten!“ hört man dich sagen. Dann kommen die goldenen Ferien, die du noch viel weniger „erwarten“ zu können glaubst. Dem Eintritt zum Militärdienst gilt nun deine Erwartung, dem lustigen Studentenleben, endlich gilt sie dem ersten Amte, der ersten Stellung, um welche du dich beworben hast.

Nun kommen verschiedene Beförderungen, Versetzungen oder anderweitige Veränderungen in deinem Berufsleben an die Reihe, die mit derselben Spannung erwartet werden, mit welcher der Seemann, weit draußen im stillen Ocean, auf eine günstige Brise wartet.

Du bist vielleicht ein Mann der Feder, dann weißt du, was es heißt, ruhig und geduldig, Monate lang, auf die Entscheidung der Redaktionen über deine Arbeiten zu warten. Die Liebe, der kleine geflügelte Gott, schwirrt auch wohl an dir vorüber, und wenn sein Pfeil getroffen hat, dann wird auch dir das Warten auf die Heilung nicht minder schwer, als es allen sonstigen Blessirten und Kranken fällt.

[167] „O lehr’ mich stille sein und hoffen!“ sagt das alte Lied, es könnte aber ebenso gut sagen: „Lehr’ mich stille sein und warten.“ Nicht jedes Warten schließt eine Hoffnung ein, aber ob in freudiger Erregung, ob in banger Furcht und kleinmüthigem Zagen, du hörst stets dort draußen – viele, viele Meilen weit – irgend ein heranbrausendes Ereigniß, auf das du wartest, gerade wie ich hier im dumpfen Saale auf meinen Postzug.

Und doch bist du, der Mann, stets noch mehr oder weniger Selbstlenker deiner Geschicke, du hast es oft in der Hand, das peinliche Warten durch eine energische Handlung zu kürzen; du bist in der glücklichen Lage, dir je zuweilen auch einen Extrazug heizen lassen zu dürfen auf deiner stürmischen, wirbelnden Lebensfahrt. Wir Frauen aber, wir müssen uns fein geduldig an die vorgeschriebenen billigen Fahrgelegenheiten halten, unser Hauptlebenszweck ist und bleibt das Warten. Wir sitzen immerfort da und horchen auf irgend ein erlösendes Glockensignal.

Wenn das Mädchen lange genug auf Spielzeug, Näschereien, bunte Bändchen und Kindergesellschaften gewartet hat, – dann wartet es auf das erste lange Kleid, auf die kleine goldene Uhr, auf den ersten Ball, und mit diesem kommt auch schon bald das Warten auf – einen Mann.

Hier fängt freilich unser Vergleich an, etwas zu hinken, denn das Warten im Bahnhofslokal hat zum Mindesten Eines vor manch anderem Warten voraus: ob auch die Zeit noch so langsam verstreiche, das Erwartete trifft doch endlich sicher ein, und ginge ja heute gar kein Zug mehr in der erwünschten Richtung, so könnten wir immer noch unsere Reise auf einen andern Tag verschieben.

Mit dem Warten aufs „Glück“ ist es leider anders, das kommt nicht zur vorgeschriebenen Stunde herangebraust, oft hat es gar arge Verspätung, oder es bleibt gänzlich aus, und was dann? – –

Wer verständig ist, der wird sich bemühen, jedes Glück, ob es nun Liebe, Reichthum, Ehre, Auszeichnung oder wie sonst auch heißen möge, nur als eine freudige Ueberraschung hinzunehmen, keines dieser Erdengüter aber als ihm gebührende Gabe vom Himmel zu erwarten.

Um aber wieder zu unseren Töchtern zurückzukehren, die ihre besten Jahre damit hinbringen, müßig und gelangweilt auf einen „Mann“ zu warten, und die dann endlich jede sich darbietende Gelegenheit aufgreifen, nur einzig um dieses peinliche Warten zu enden, so ist deren Zahl groß, sehr groß und ich möchte jede Mutter bitten, ihrem Töchterlein die Liebe und Ehe zwar als ein schönes, von der Natur dem Weibe bestimmtes Ziel darzustellen, aber durchaus nicht als den einzigen Inbegriff irdischen Glückes. Wie oft hört man unsere Backfischchen sagen: „Wenn ich einmal verheirathet sein werde“ – als handelte es sich dabei nur um eine Frage der Zeit. Wie oft schon hörte ich von einem dieser jugendlichen Geschöpfe die erstaunte Frage: „Ja, warum hat denn Die oder Jene nicht geheirathet?“ – Sie nehmen stets an, daß es ganz besondere Gründe sein müßten, welche ein Mädchen unverheirathet altern lassen.

Diese irrige Auffassung sollte man mit allen Mitteln zu bekämpfen oder richtig zu stellen suchen von frühester Jugend an, statt die armen Mädchen von Ball zu Ball zu schleppen und sie förmlich gleich Waaren zur Schau zu stellen. Könnten wir nicht erreichen, daß ihnen das Liebes- und Eheglück unverhofft, als lichter Stern in den Schoß fiele, anstatt sie zu lehren, gleichsam in trauriger Dunkelheit auf diesen Stern zu – warten?

Es ist ein lobenswerther Anfang gemacht worden zur Besserung dieser Zustände, indem man den Frauen neue Erwerbsquellen erschloß und ihre Verheirathung nicht mehr als einzige Art der Versorgung ansieht, aber es muß noch viel geschehen, ehe die unglücklichen Heirathskandidatinnen gänzlich verschwinden aus dem großen Wartesaale „Leben“.

Für die andere Hälfte der weiblichen Passagiere, für jene, die nicht so lange auf die Ehe „gewartet“ haben, eröffnet sich an diesem Reiseziele eine schier unermeßliche Reihe neuer Erwartungen der verschiedensten Art. Große und kleine, frohe und traurige Ereignisse kommen in Sicht und wollen dann geduldig „abgewartet“ sein, denn:

„Ein Leben voll von kleinen Sorgen,
Und doch bedeutungsvoll und groß,
Ein Wirken, segnend still verborgen,
Das ist und sei der Gattin Los!“

Wer zählt sie alle auf, die anscheinend kleinen Sorgen des häuslichen Lebens, die doch in ihren Folgen so bedeutungsvoll groß sind! –

Da liegt das erste Kindlein, das süße Pfand der Liebe, in deinen Armen, du junge Mutter, du bietest deine zärtlichsten Liebkosungen auf, bist unerschöpflich in neckischem Tändeln, um jenes verständnißvolle Lächeln auf seine Lippen zu zaubern, das der erste beglückende Kindergruß ist. Erstaunt und aufmerksam folgen die hellen Aeuglein deinem Thun, aber keine Miene bewegt sich im Antlitz des Säuglings. Nur Geduld, warte noch einige Tage länger, und du wirst die Seele deines Lieblings erwachen sehen! Für den Augenblick hoch befriedigt, wirst du aber dann sofort das „Warten“ wieder neu beginnen.

Dem ersten Lallen des Kindes, dem ersten Zähnchen, das schon so lang schneeweiß im rosigen Mündchen leuchtet und doch nicht hervorbrechen will, gilt jetzt dein ungeduldiges Warten, dann dem ersten Schrittchen des Lieblings, dem frohen Augenblick, wo er dich zum ersten Mal beim Mutternamen nennt!

Und nun erst die tausend kleinen häuslichen Sorgen und Qualen des Wartens!

Da steht die Wäsche im Zuber, und der Himmel will keinen Sonnenstrahl senden. Grau umwölkt läßt er den feinen leisen Regen unaufhörlich niederrieseln. Nicht nur auf dein Linnen, arme geplagte Hausfrau, auch auf das schöne Getreide und Heu des Landmannes, der den Sonnenschein mit noch viel bangerem Herzen ersehnt, als du! Das ist ein Warten, bei dem es sich oft um den Verlust einer ganzen Ernte handelt, und doch kann er nicht das Geringste thun, es abzukürzen.

Du hast das Mädchen fortgeschickt, um eine dringend nöthige Zuthat für die Kocherei zu holen. Jetzt stehst du – auf Nadeln oder auf Kohlen? – und wartest, bis das leichtfertige Geschöpf den ellenlangen Klatsch mit der Nachbarin zu Ende gebracht hat und sich seines Auftrages wieder entsinnt. Soll ich an das nur zu alltägliche Warten auf säumige Handwerker erinnern, oder an das peinliche Warten der Reisenden auf günstige Witterung? Gedenket aber auch der freudigen Spannung, mit welcher ihr den Dankesäußerungen ferner Lieben entgegenharrt, wenn ihr dieselben mit Geschenken beglückt habt, oder auch der prickelnden Neugier, die sich dem Warten beigesellt, wenn es sich dabei um Ueberraschungen gehandelt hat.

So vergeht kein Tag, kaum eine Stunde des Tages, an dem die Frau nicht gar Vielerlei zu erwarten hätte. Erst wartet sie in dieser Weise noch ein Weilchen so fort für eigene Rechnung, dann aber in Angelegenheiten ihrer Kinder, und da fällt das ruhige „Abwarten“ noch viel schwerer, obgleich es gerade bei der Kindererziehung oft am nöthigsten ist, sich recht fest mit Geduld zu wappnen und Alles mehr an sich herankommen zu lassen, als es verfrüht erzwingen zu wollen. Siehst du nicht, wie geduldig Natur selbst zu warten versteht? Nicht eine Minute früher pickt das junge Vöglein die Schale seines Eies auf, als bis die Zeit dazu gekommen ist, und ruhig steht der Baum und wartet, bis all seine tausend Blüthen aufbrechen, eine nach der andern. Nur das Menschenkind meint oft, die Zeit habe Flügel, und ein andermal wieder, sie komme auch gar nicht mehr vom Fleck. Die Zeit? – Ja, wie hoch mag es wohl jetzt an der Zeit sein? – Ich fahre auf aus meiner Träumerei und blicke nach der Uhr hinauf: Ist’s möglich, so weit schon?

Im selben Augenblick ertönt ein schriller Pfiff. Dann gellendes Läuten, und zu der hastig aufgerissenen Thür herein ruft schnarrend eine Stimme:

„Der Postzug, meine Herrschaften!“

Für diesmal wäre also das Warten wieder zu Ende. Aber wird nicht schon im Koupé ein neues Warten beginnen – das Warten auf die ersehnte Ankunft bei meinen Lieben? Und wird das Warten damit aufhören? Werde ich nicht fort und fort zu warten haben bis zum letzten Augenblick, bis zum Schluß dieser ganzen Lebensreise?!


[168]

Unter der Ehrenpforte.

Von Sophie Junghans.

Zwei Reiter hielten auf einer Höhe, von welcher aus die Landstraße das weite, von hier einer Ebene gleiche Thal beherrschte, ehe sie sich senkte und den vollen Umblick nicht mehr gestattete. Man sah eine Anzahl Dörfer in der ausgedehnten, unregelmäßigen Fläche; so ziemlich in der Mitte des Gesichtskreises aber die stattlicheren Thürme und die dunklere Häusermasse der Stadt. Dieselbe hatte damals, vor dreihundert Jahren, kaum ein Viertheil ihres jetzigen Umfangs, aber der Thurm ihrer Sankt Martinskirche und unfern davon ein vereinzelter, kreisrunder Wartthurm von beträchtlicher Höhe ragten damals wie heute, und mit dem braunen Gestein der festen, in gutem Zustande befindlichen Umfassungsmauern hob sie sich kompakter und tüchtiger aus der grünen Umgebung hervor, als heutzutage, da sie sich, wie alle ihres Gleichen, mit weit hinaus liegeuden einzelnen Häusern und Häuschen unmerklich in die Landschaft verliert.

„Da liegt nun das Nest!“ sagte der Eine der Beiden mit einem halben Seufzer, bei dem er sich im Sattel dehnte und die bestiefelten und bespornten Füße in den Bügeln weit von sich streckte. „Da liegt es – drei Jahre lang bin ich fort gewesen, und wenn ich nun sagen sollte, daß mich der Anblick freut, so müßt’ ich lügen. Mich dünkt, ich schmecke schon wieder den Ofenrauch“ – er rümpfte die wohlgebildete Nase … „ich höre um mich her all das Weibergeträtsch und Gesumme, und bei Gott – die dumpfe Kellerluft in der engen Gasse … mir ist, als wehte sie mich schon hier an.“

Der Andere lachte nur zu den Worten. „Ich meine,“ sagte er nach einer kurzen Pause gleichmüthig, „Euch, als dem Bürgermeistersohn, müßte die Stadt ein ganz anderes Gesicht machen, als unser Einem. Wo ich die erste Violine spielen kann, da gefällt mir die Musik. Enge Gassen – sind sie in Padua und Bologna etwa breiter? Wo war’s, wo wir die blutigen Händel kriegten, als wir, unser vier Deutsche, Arm in Arm dergestalt den Borgo Ognissanti gesperrt hatten? Und der Winkel hinter dem Mercato Nuovo, allwo Euer letzter Schatz, Madonna Angelika, ihr Losament hatte –“

Auf eine Bewegung der Ungeduld seines Gefährten fuhr er gelassen fort: „Aber ich weiß wohl, es ist das freie, lose Leben, dessen Verlust Euch drückt, das Umherschlüpfen in diesen heimlichen, dunkeln, überbauten Ecken und Winkeln, in denen wir dahin fuhren, unserer Lust nach, und von dem, was wir begehrten, die Hülle und Fülle haben konnten, nicht anders, als die Mäuslein und Ratten auf dem Kornboden …“

Georg Philipp Tiedemars, der junge Bürgermeistersohn, lächelte ein wenig. „Du magst Recht haben, Bruder. Aber ich glaube, es war hohe Zeit, daß die Mäuse jenen Kornboden räumten, wollten sie anders das Leben oder doch eine gesunde Haut davon tragen.“

„Der Meinung war ich längst und hab’ es Euch auch, meines Wissens, nicht verhehlt,“ sagte sein Begleiter. „Und was Euch jetzt dort unten erwartet“ – er deutete mit ausgestrecktem Arm hinüber nach den Thürmen der Stadt, während sie die Gäule wieder in Bewegung setzten – „ist, dächt’ ich, so schlimm nicht. Hattet Ihr dorten, ehe Ihr auf Schulen zoget, als der erste unter den Bürgersöhnen den Vortritt bei Tanz und Spiel, so bringt Ihr jetzt mit, was Euch auch unter Männern Ansehen geben würde, selbst wenn Ihr nicht des Bürgermeisters einziger Sohn wäret. Drei Jahre habt Ihr zu Padua und zu Bologna das Jus studirt, und ich will Euch das Zeugniß geben: ganz umsonst habt Ihr Eures Vaters schwere Gulden alldort nicht verzehrt, wenn ihrer auch mehr als billig den hübschen Frauen in den Schoß gerollt sind. Bei den gelehrten Kutten und Talaren dort hattet Ihr den besten Leumund von uns allen, als ein Deutscher praeclari ingenii, morum elegantiorum – von hohem Geiste und edleren Sitten –“ er lachte – „mögt Ihr des Lobes, welches Ihr verbrieft und stattlich untersiegelt mit nach Hause bringt, so wohl und lange genießen, wie Ihr es der Wahrheit nach verdient, Georg! Aber wie gesagt, Ihr kommt keineswegs leer an juristischer Weisheit zurück, und es gebricht Euch nicht, wie manchem der Allergelehrtesten, an Witz, um dieselbe zu Ehren zu bringen. Die Jungfer Braut, oder die es doch bald sein wird, wird stolz auf Euch sein – Ihr seid von ihr und ihrer Sippe des liebreichsten Empfangs gewiß.“

Der etwas ältere Genosse sah ihn hierbei von der Seite an, als ob er von dieser Erwähnung der für den Freund geplanten Heirath vielleicht die Erklärung erwarte, weßhalb Georg mit anscheinend so geringer Freude nach dieser langen Abwesenheit die Vaterstadt wiedersah. Aber das hübsche Gesicht des jungen Tiedemars zeigte den vielleicht von dem klugen Gefährten erwarteten Ausdruck nicht, sondern blieb aufrichtig gleichgültig wie zuvor. Daher der Andere fortfuhr:

„Auch hier hat das Glück schier besser, als Ihr verdient, für Euch gesorgt. Die Rosine Külwetter ist von ehrbarem Gemüth und hat sich von jeher so gehalten, daß man sie nur loben konnte – so, wie es einer der besten Bürgerstöchter ziemet. Hübsch ist sie auch, und des ansehnlichen Heirathsguts halber, in welches ihre Person gleichsam wie ein Bild in einen vortrefflichen goldenen Rahmen gefaßt ist, werdet Ihr das anmuthige Bildniß selbst, eben ihre Person, nicht geringer achten.“

„Gegen die Rosine habe ich nichts – und Du brauchst sie mir nicht zu loben wie eine verlegene Waare: das hat sie nicht nöthig!“ – war alles, was Georg hierauf erwiderte. Sie hatten indeß das Flurgebiet der Stadt erreicht, ritten unter dem aufgezogenen Schlagbaum durch und bogen jetzt von der Landstraße ab in eine Art unregelmäßiger Gasse, von niedrigen ärmlichen Häusern gebildet. Die kleine Niederlassung lag außerhalb der Stadtmauer und zog sich bis hart an eines der Thore. Georg Tiedemars war stillschweigend vorangeritten und bog sich jetzt im Sattel um. „Dies ist der Weg, der uns über den Ahnebach hinter dem Pfarracker her an den Bürgermeistergarten führt. Die Pforte in der Mauer weiß ich zu öffnen; es war einer von unsern Jungenstreichen, auf diesem Wege aus der Stadt und wieder hineinzukommen, wenn die Thore nach dem Abendläuten geschlossen waren. Seid Ihr’s zufrieden, Hans, so ersparen wir uns den Anruf am Thore und das Begaffen und Befragen, und kommen durch den Garten beinahe ungesehen bei meinem Elternhause an.“

„Mir kann es gleich sein, wenn es den Gäulen nur eben so recht ist,“ sagte Hans Veit, sein Begleiter. Er sah sich [169] neugierig zwischen den ärmlichen, aber augenscheinlich noch nicht lange erbauten Wohnstätten zu beiden Seiten um. „Hier sitzt also das Webervölklein, dem der Landgraf des Glaubens wegen eine Freistatt gegönnt hat,“ meinte er dann. „Seht, Georg, es sind, seit Ihr nicht hier waret, wohl noch ein Dutzend Giebel hinzugekommen.“

Georg nickte und hielt zugleich einige Schritte von einem einstöckigen Bau, der sich, wenn man aufmerksam hinsah, vor den übrigen Häusern um ein weniges auszeichnete. Die Holzschindeln, die, wie bei den meisten der Nachbarhäuser, den Oberstock auf drei Seiten grauglänzend wie Atlas umkleideten, zeigten eine gefälligere Form, und die Stütz-Balken des vorspringenden oberen Geschosses eine nicht ganz kunstlose Schnitzerei. Die kleinen bleigefaßten Scheiben der Fenster glänzten ungewöhnlich sauber, und einige der Fensterlein boten Raum für jenen anmuthigen ersten Luxus der Armuth, die wenigstens über den bittersten Kampf mit der Noth hinaus ist: eine reichliche Blumenpflege.

Georg Tiedemars hatte auf dies Alles schwerlich Acht. Er betrachtete vielmehr das Häuschen unzufrieden, indem er sagte: „Sie haben Weg und Steg verbaut … ich wußte hier zwischen den Hecken und durch die sumpfigen Wiesen hindurch Bescheid, daß mir heller Tag und Mitternacht gleich war, und jetzt kann ich mich nicht mehr zurecht finden. Gerade hier auf dem Fleck, wo das Haus steht, muß der Pfad nach dem Bache hinunter geführt haben; kommen wir hier seitwärts nicht durch, so müssen wir umwenden und auf der Landstraße bleiben.“

„Und vom Umwenden waret Ihr nie ein Freund,“ brummte Hans, während Georg an dem niedrigen Lattenzaun, der den Krautgarten neben dem Hause umfaßte, entlang ritt und dann vom Pferde herab die erste Thür in dem Zaun, an die er kam, zu öffnen versuchte. Es gelang ihm; er winkte dem Hans Veit halb lächelnd mit dem Kopf über die Schulter, und sie ritten auf einem grasbewachsenen Pfade zwischen den Kohläckern des Besitzers hin, ein Vergehen, welches der Bürgermeisterssohn verantworten mochte, da es der Bologneser Jurist schwerlich gekonnt hätte.

Eine Hand griff nach dem Zügel. (S. 170.)

Im Garten war übrigens Niemand, um die unbefugten Eindringlinge zu berufen. Derselbe grenzte auf der anderen Seite an die Wiesen, deren sich Georg vorhin erinnert hatte, und hier befand sich kein Zaun; ein schilfiger Graben bildete den Abschluß. In dem Augenblicke, als die beiden Reiter über den Graben setzten, mochte die ungewöhnliche Erscheinung zuerst bemerkt werden; eine Weiberstimme stieß einen hellen Schrei aus und eine andere rief: „Gott schütze uns, Hilde, sieh da – sie sind in Euren Garten gebrochen!“

Der erste Blick auf die Wiese hatte den Reitern gezeigt, daß sie hier im Revier der Weiber waren. Lange Stücke Leinen waren an Pflöcken zum Bleichen straff über das Gras gespannt, und links zur Seite, gegen das durchströmende Flüßchen hin stand eine Gruppe Mädchen, die eben vom Schöpfen gekommen sein mochten.

Heimlich belustigt vom Schrecken der Dirnen redete Georg sie an, indem er den Gaul im Zügel hielt und höflich das Barett lüftete. Sein Ton, der, wenn er mit Männern redete, nicht leicht die etwas hochfahrende Gleichgültigkeit des Patriziers verleugnete, ward sofort, und ohne seinen Willen, ein anderer, sobald er Frauen vor sich hatte, mochten sie selbst der geringsten Klasse angehören. Er schien dem Geschlechte eine Rücksicht, eine Achtung zu zollen, die ihm gerade da, wo sie am wenigsten erwartet, vielleicht auch am wenigsten verdient war, schon viele Herzen gewonnen hatte.

Er entschuldigte, wenn etwa die Bewohnerin des Hauses neben dem Garten zugegen wäre, die Freiheit, die er und sein Begleiter genommen. „Ich war hier herum bekannt, ehe die letzten Häuser erbaut waren,“ sagte er lächelnd, „und suchte den Weg, den ich als Knabe oft gemacht hatte, um durch ein Hinterpförtchen in meines Vaters Garten zu gelangen.“

Einem der Mädchen, welches hinter den anderen stand, mochte in ihrer gedeckten Stellung der Muth gewachsen sein; mit halber Stimme, aber doch deutlich von allen vernehmbar, fuhr sie jetzt heraus: „Ist der wieder da! Das ist ja der Jürgen Tiedemars, der übermüthige Bürgermeisterssohn!“

Georg lächelte wieder, was ihm sehr gut stand: „Der die hübsche Jungfer wohl mehr als einmal auf dem Tanzplatz geschwenkt hat,“ sagte er, unter dem Kichern der übrigen Mädchen. Diejenige, welche vorhin von einer anderen als „Hilde“ angeredet worden war, hatte indeß vorn an, den Reitern gerade [170] gegenüber, gestanden und weder mit gelacht noch ein einziges Wort gesprochen, obwohl sie, als die Bewohnerin des Hauses und Gartens, dessen Gebiet gewissermaßen durch die Fremden verletzt worden war, am meisten zum Reden berechtigt gewesen wäre. Sie war eine große Gestalt, die sich auffallend gerade trug, und Georg, dem kein äußerer Vorzug eines Weibes so leicht entging, erkannte ihr diesen im Stillen zu, während er dem Gesicht im ersten Augenblick allen Reiz absprach. Uebrigens hielt er die kleine Scene für beendigt, oder glaubte sie zu beendigen, indem er noch einmal höflich die schwarze Kopfbedeckung in die Höhe hob und dann das Pferd dem Flüßchen zuwendete. Mit flüchtiger Verwunderung schaute er dabei noch einmal in das Gesicht der Hilde, welches ihn ruhig und ernsthaft, wenn nicht gar ein wenig finster, ansah und von der halb scheuen halb dreisten Bewunderung seiner, die er an solchen Mädchen geringeren Standes gewohnt war, auch so gar nichts verrieth.

„Der Henker auch, wie sollen wir da hinüber?“ ließ sich jetzt Hans Veit ärgerlich vernehmen. Auch Georg war betroffen da er gewahren mußte, daß die Veränderung, welche drei Jahre hier hervorgebracht hatten, sich sogar auf das Bett des wohlbekannten Baches erstreckte. Derselbe mochte seitdem nach Herbst- und Frühlingsregengüssen ungewöhnlich starke Wassermassen vom Waldgebirge hernieder geführt haben. Jetzt freilich floß das Wasser seicht, aber tief im Grunde einer häßlich aufgewühlten mächtigen Rinne, deren diesseits jähe abfallender Rand mit seinem nachbröckelnden Erdreich den Pferden, selbst wenn die Rinne minder breit gewesen wäre, keinen sicheren Raum zum Sprunge bot.

„Eine Ziege kann da hinunter und jenseits wieder hinauf, aber kein schwerer Gaul,“ sagte Hans Veit. „Das Stadtthor bleibt uns nicht erspart, Georg.“

„Meint Ihr?“ sagte der Bürgermeisterssohn trocken. Er war einige Schritt am Rande des Grabens entlang geritten und jetzt an eine Stelle gekommen, wo, nicht von der Wiesenfläche aus, da dort das Bett des Baches am breitesten war, sondern in halber Höhe der Grabenwandungen eine Art Steg hinüber geschlagen worden war. Man sah denselben nicht, bis man dicht darüber stand. Von der Wiese aus ging es hier steil hinunter, und die Brücke selbst war ganz roh von Pfählen und lose darüber gelegten Balken und Bretterm hergestellt.

Hans Veit war, wie man zu sagen pflegt, starr vor Staunen, als er die Absicht seines Freundes gewahren mußte, hier hinüber zu reiten. „Seid Ihr toll, Jürgen?“ rief er endlich. „Ihr bringt das Pferd gar nicht hinunter!“

Das schien in der That so. Das Pferd Georg’s, ein ziemlich derber Brauner, aber nicht von unedlem Schlage, scheute vor dem aus der Tiefe aufblinkenden Wasser und war zu dem Abstieg, der ihm überdies mehr von der Behendigkeit einer Ziege zumuthete, als ihm genehm sein mochte, lange nicht zu bewegen.

Mit dem Widerstande des Thieres aber erwachte eine Art von zähem Eigensinn bei Georg. Unermüdlich, mit mehr Geduld und größerem Aufwand an Reitkunst, als er bei manchem glänzenden Festspiel entfaltet hatte, wiederholte er den Versuch, das Pferd erst zurückzuwenden und bei jedem folgenden Male immer näher an den Grabenrand zu bringen.

Hans Veit hielt indessen kopfschüttelnd daneben. „Der hartköpfige Satan!“ brummte er in den Bart; laut sagte er nach einer Weile: „Und wenn Ihr den Gaul unten habt, Georg, was dann? Wenn Ihr noch den Hals aufs Spiel setztet! Ein solches Stücklein hat man Euch wohl schon mehrmals wagen sehen! Aber hier ist nichts zu holen, als daß Ihr dem Pferde die Beine brecht – schade darum ... der Braune tritt fehl, er geräth zwischen die Bretter – seht die handbreiten Spalten – Ihr bringt ihn nimmermehr heil hinüber.“

„Das ist meine Sache,“ erwiderte Georg zwischen den Zähnen. Eben drehte er, zum wer weiß wie vielten Male, des Pferdes Kopf gegen das Ufer. Das Thier zitterte an allen Gliedern, aber endlich überwand der stärkere Wille des Reiters, der mit angespannten Muskeln, die Falte eines hartnäckigen Entschlusses zwischen den Brauen, nicht nachließ ... die Faust, welche den Zügel hielt, fest wie Eisen während die andere Hand der Furcht des Geschöpfes gleichsam Zugeständnisse machte und ihm schmeichelnd und ermuthigend den feuchten Hals streichelte und klopfte.

Nun aber kam erst der schwerste Theil des wunderlichen Unternehmens. Das Pferd stand, die Vorderbeine steif, die vier Hufe eng zusammengedrängt auf einem Erdfleck, der ihnen kaum Raum bot, zwischen der hinten steil aufsteigenden Uferwand und dem Steg mit seinen klaffenden Bohlen; seine Flanken flogen, und in den starren vollen Augen lag das äußerste Entsetzen. Kein schmeichelndes Zureden des Reiters half, und Gewalt gegen das Thier brauchen, hieß es ohne weiteres hinabstürzen. War auch die Tiefe nicht beträchtlich, so war doch das nach unten immer mehr sich verengende steinige Bett des Baches gerade der Ort, aus dem ein Mann und ein schweres Pferd nicht ohne Schaden wieder herauskommen würden.

Sämmtlichen Zeugen der Scene war es klar, daß sich der junge Mann durch seinen sonderbaren Eigensinn in eine fatale Lage gebracht hatte. Mit einiger Schadenfreude, aber zugleich nicht ohne Besorgniß, blickte Hans Veit, der so nahe wie möglich an den Grabenrand herangeritten war, hinunter. Die Mädchen drängten sich ängstlich herzu, um mit einem nicht ganz unangenehmen Grauen zu sehen, was dem hübschen tollkühnen Menschen da alles zustoßen werde.

„Ich bitte Euch, Georg, steigt ab,“ rief Hans Veit endlich. „Am Zügel bringt Ihr ihn vielleicht hinüber!“ Er hatte die Worte längst auf der Zunge gehabt, sie aber immer noch zurückgehalten in der Voraussicht dessen, was nun auch eintraf: daß nämlich die Mahnung ihr Gegentheil bewirken und den hartnäckigen Vorsatz seines Gefährten nur reizen werde.

„Der Teufel soll mich holen, wenn ich dem feigen Racker den Willen thue,“ stieß Georg heraus. „Hinüber oder hinunter, aber ich bin auch dabei.“

Ein weiterer Versuch, das Pferd auf den Steg zu nöthigen, wobei es sich schnaubend bäumte, wurde von einem hellen Angstschrei der Mädchen begleitet. Hierdurch ganz scheu gemacht, stieg der Braune plötzlich kerzengerade auf den Hinterbeinen in die Höhe ... Die Vorderhufe hieben durch die Luft, und daß sie beim Niederfallen nicht auf die Planken des Steges treffen würden, sondern daß die nächsten Augenblicke einen gefährlichen Sturz des Reiters herbeiführen müßten, war offenbar. Allen Theilnehmern stockte der Athem; dem Hans Veit blieb ein ärgerlicher Fluch über den tollen Burschen zwischen den Zähnen stecken.

Da, als gerade das Thier das mühsam durch fortwährende Versetzung der Hinterhufe erhaltene Gleichgewicht verlor, glitt eine Gestalt pfeilschnell den Uferrand hinunter, eine Hand griff nach dem Zügel, hart ins Gebiß reißend, eine Schulter stemmte sich gegen die Flanke des Thieres und dräugte es zur Seite, auf den Weg – die Hand und die Schulter eines Weibes!

So blieb sie, dicht an den Gaul gedrängt, ohne die eisenbewehrten Hufe zu scheuen, und nur so fand sie auf den Planken Raum neben dem Thier, das ihre kräftige Hand in wenigen Sekunden hinüber geleitet hatte. Kaum fühlte das Pferd jenseits festen Grund, als es mit einem letzten Satze der Angst das steile Ufer nahm und oben zitternd stand. Das Alles war so rasch, so völlig unerwartet, vor sich gegangen, daß sämmtliche Theilnehmer bis auf die Eine, vielleicht die Hauptperson darin, den kleinen Auftritt eigentlich erst begriffen, als er schon vorüber war. Die Mädchen fanden, aufathmend, wie von einer Last befreit, plötzlich die Sprache wieder. „Hilde! Gott steh uns bei – was die alles macht! ich hätte den Tod vor Angst dabei gehabt!“ rief es durcheinander.

Hilde kam indessen ruhig über den Steg zurück, wobei sie den Kopf vielleicht nicht ganz so hoch hielt, wie sie sonst pflegte. Sie sah eher unmuthig aus, als zufrieden, und trat jetzt unter die übrigen Mädchen, wie um sich der ausschließlichen Aufmerksannkeit, die sie auf sich gelenkt hatte, wieder zu entziehen. „Kommt an die Arbeit,“ sagte sie und schnitt damit alle Ausrufungen über ihre kühne Hilfsleistung kurz ab, „oder es wird Nacht, ehe wir mit Gießen fertig sind.“

Hans Veit kam jetzt erst von seinem Staunen zu sich. „Brav, Mädchen!“ rief er halb lachend nach den Dirnen hin. „Bei Gott, der Herr Bürgermeister mag sich bei Dir bedanken, wenn ihm der Sohn heimgeritten kommt und nicht hinein getragen wird. Daß Du mir und meinem Gaul aber auch über den Teufelsweg hilfst, das wäre wohl zuviel verlangt, und ich denke, Jürgen, der längere Weg wird für mich der kürzere sein. Ich reite durchs Stadtthor hinein.“

Er grüßte nach dem Bürgermeisterssohn hinüber und wendete das Pferd um.

[171] „Ihr müßt mir schon gestatten, des Weges zurückzukehren, den wir unbefugter Maßen gekommen sind,“ sagte er, während er bei den Mädchen vorüber kam. Dabei blickte er sie aufmerksam an, um diejenige herauszufinden und noch einmal besser zu betrachten, die seinem Gefährten den wunderlichen Dienst geleistet hatte. Aber es war nicht möglich, ihrer Person gewiß zu werden, da sie sich geflissentlich zwischen den übrigen hielt.

Georg indessen hatte die letzten Augenblicke benutzt, um seines Pferdes völlig Meister zu werden. Dann spähte auch er scharf nach den Mädchen hin, lüftete das Barett und rief mit blitzenden Augen. „Meinen Dank bleibe ich einstweilen schuldig, Jungfer!“

Er folgte nun dem alten bekannten Pfad, der hier diesseit des Wassers wieder auftauchte. Hinter ihm in der Tiefe gurgelte der Bach. Er hielt sein Pferd an und sah sich um nach der Schlucht, mit der sonderbarsten Empfindung, die er je in seinem Leben gehabt hatte. Er hatte, was ihm noch selten oder nie geschehen war, einmal einen eigensinnig und tollkühn begonnenen Streich nicht auf seine Weise zu Ende gebracht. Er war sogar, so zu sagen, jämmerlich darin stecken geblieben. Und doch empfand er darüber keinen besonderen Aerger. Vielmehr beschäftigte etwas Anderes, als sein Mißlingen, seine Gedanken, und zwar auf keine unangenehme Weise. Er wiederholte sich immer von neuem die wenigen Augenblicke, da der Leib des Mädchens sich an sein Pferd gedrängt hatte, und besonders war es die Eigenheit ihrer Körperbildung, welche seine Einbildungskraft sich bemühte zu erneuern, ein schlanker Nacken und Rücken und edelgeformte Schultern. Ihr Gesicht hatte er kaum gesehen, er gedachte aber das Versäumte sehr bald nachzuholen.

(Fortsetzung folgt.)

Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Feuer und Flamme. – Miniaturblitze. – Der Ofen der Zukunft. – Blau und grün. – Keine Makulatur mehr. – Der Maschinen-Buchbinder. – Photographie wider Buchdruck.

Was ist Flamme? Wir müssen zu unserer Schande gestehen, bisher hatten wir uns die Frage gar nicht vorgelegt, und es erging uns in dieser Beziehung wie mit vielen anderen Dingen, die wir täglich sehen, ohne daß es uns einfiel, uns über das Wesen derselben Rechenschaft abzugeben. Die Flamme leuchtet, die Flamme wärmt. Das war uns genug. Wozu sich mit Weiterem abquälen? Es interessirten uns eigentlich nur die Mittel und Versuche zur Erhöhung der Wirkung dieses unfaßbaren und wechselreichen Dings, welches Flamme geheißen wird, weil das Wohlsein des Menschen, besonders in den langen Winterabenden, sehr wesentlich davon abhängt.

Da hielt vor einiger Zeit der bekannte Glasfabrikant und Erfinder der Regenerativ-Gasbrenner Friedrich Siemens in der Sitzung des Vereins für Beförderung des Gewerbfleißes in Preußen einen sehr anregenden Vortrag, der unsere Aufmerksamkeit auf das Wesen der Flamme um so mehr hinlenkte, als die von dem Genannten gegebene Erklärung zugleich ein Mittel in sich zu schließen scheint, die kostbaren Brennstoffe, die wir jetzt in der unsinnigsten Weise vergeuden, besser auszunutzen.

Elektrisch ist heutzutage Alles, auf elektrische Vorgänge wird Alles zurückgeführt, und dem wunderbaren Agens, über dessen Wesen wir so unwissend sind wie am Tage seiner Entdeckung, wird Alles zugemuthet. Hat doch die erste Autorität auf diesem Gebiete, Dr. Werner Siemens, der Ansicht Raum gegeben, es werde dereinst gelingen, selbst Nahrungsmittel auf elektrischem Wege zu erzeugen und damit Fasan und Austern auch dem flachsten Geldbeutel zugänglich zu machen. So erklärt der Bruder des großen Elektrikers auch die Flamme für eine elektrische Erscheinung. Flamme ist, nach dessen Ansicht, die übrigens von vielen Gelehrten getheilt wird, das Ergebniß einer unendlichen Zahl von äußerst kleinen Blitzen, welche durch die äußerst rasche Bewegung von Gastheilchen entstehen und ein Bombardement im Kleinen ausführen.

Soweit wäre Alles sehr schön, und wir haben gegen die Miniaturblitze absolut nichts einzuwenden. Es fragt sich nun vor allen Dingen: Welchen Nutzen können wir aus der Erkenntniß von dem blitzartigen Wesen der Flamme ziehen? Ist diese Erkenntniß praktisch verwerthbar? Friedrich Siemens bejaht diese Frage sehr entschieden und führt den überzeugenden Beweis, diese Erkenntniß werde eine erheblich höhere Verwerthung der Brennstoffe und damit eine wesentliche Verwohlfeilerung derjenigen Industrien und Gewerbe zur Folge haben, deren Betrieb vom Feuer abhängt.

Blitze gehen nicht gerade sanft zu Wege, das weiß Jedermann. Und so üben die wenn auch sehr kleinen elektrischen Entladungen, welche das Wesen der Flamme ausmachen, auf die in der Nähe befindlichen festen Körper eine rauh zerstörende Wirkung, welche nicht bloß Geld kostet, sondern auch die Kräfte der Flamme zum Theil absorbirt und deren Wirken beeinträchtigt. Hieraus ergiebt sich, daß man in dem ersten Stadium der Verbrennung, wo die Flamme eine lebhafte ist, diese Körper möglichst zu entfernen suchen müsse, damit die Flamme sich frei entfalten und nicht durch Berührung, sondern durch Strahlung wirken könne. Hieraus ergiebt sich ferner, daß wir höchst verkehrt handeln, wenn wir in Stubenöfen, Dampfkesseln, Hochöfen die Flamme gewissermaßen in eine Zwangsjacke stecken, sie nöthigen, durch schmale Oeffnungen hindurch zu kriechen und hierbei ihre Wärme an feste Körper abzugeben. Damit befördern wir nur die Rauchbildung, das ist eine unvollkommene Verbrennung, und verpesten die Luft mit Gasen, die, wenn richtig behandelt, sehr wohlthätig gewirkt hätten. Dieses Einzwängen des Feuers ist, Friedrich Siemens zufolge, nur in dem zweiten Stadium der Verbrennung am Platze, wo die Flamme ihre Lebhaftigkeit eingebüßt hat. Hier mag sie durch Berührung wirken und den zweiten Theil ihrer Lebensaufgabe erfüllen.

Wir übergehen als nicht in den Rahmen dieser Plauderei gehörend die Anwendung der neuen Flammentheorie auf den Hochofen- und Dampfkesselbetrieb, durch welche, schon weil das Material auf diese Weise nicht so stark angegriffen wird, wesentliche Ersparniß zu erzielen wäre. Uns interessirt hier hauptsächlich die Anwendung auf unsere im Argen liegenden häuslichen Heizungsverhältnisse. Der Stubenofen taugt, wenn Friedrich Siemens Recht behält, wenig; höchstens läßt er sich in dem zweiten Stadium der Verbrennung als Wärme aufnehmender Körper verwerthen, für das erste Stadium aber, in welchem sich die Flamme nach allen Seiten hin frei entfalten soll, ist nur eine kaminartige Feuerung verwendbar, deren zweckmäßigster Bau freilich noch nicht einmal auf dem Papier steht. Vielleicht beschenkt uns Friedrich Siemens auch mit seinem rauchverzehrenden Kaminofen, dem die Zukunft alsdann gehören möchte. Uns schwebt ein möglichst offener Feuerraum vor, in welchem die Flamme erst durch Strahlen wirkt, worauf die glühenden Kohlen mittelst einer natürlich elektrisch zu handhabenden Vorrichtung – der Leser sieht, wir stehen auf der Höhe der Zeit – in einen dahinter liegenden Ofen befördert werden, wo sie vollends austoben. Der Gedanke taugt wahrscheinlich nicht, weßhalb wir ihn ohne irgendwelche Ansprüche auf Erfinderrechte hiermit der Oeffentlichkeit übergeben.

Doch genug von Feuer und Flamme! Wir wollen uns nunmehr mit der edlen Kunst Gutenberg’s beschäftigen. „Schwarz auf Weiß“ ist von jeher der Wahlspruch der Jünger des bedeutenden Mainzers gewesen, und sie hielten bislang an den preußischen Farben im Allgemeinen krampfhaft fest, wenn auch die Verwendung von gelblichem oder rosaangehauchtem Papiere in den letzten Jahren Fortschritte machte. Es stellte sich indessen nach dem Ausspruche eines Holländers, dessen Name uns entfallen, heraus, daß wir damit auf Abwege gerathen sind, daß der scharfe Gegensatz zwischen Schwarz und Weiß dem Augenlichte ungemein schadet. „Dunkelblau auf Hellgrün“, das ist die Losung unseres Niederländers. Es werden mit anderen Worten die Bücher und Zeitungen künftig mit dunkelblauer Farbe auf meergrünes Papier gedruckt.

Ein Angehöriger der „großen Nation“, Namens Guichard, will den Stein der Weisen entdeckt haben. Dessen „Stein“ besteht indessen nicht in der Kunst „Gold“ zu machen, sondern in der vielleicht ebenso werthvollen Kunst, bedrucktem Papier wieder zur Farbe der Unschuld zu verhelfen, das durch aufgepreßte Litteratur verdorbene, edle Holzzeug – von Lumpen ist ja bei der Papierfabrikation wenig mehr die Rede – von Neuem marktgängig zu machen. Das Kunststück haben zwar Viele fertig zu bringen versucht; deren Verfahren erwiesen sich jedoch stets als zu theuer, die Farbe haftete zu fest. Die Litteratur wollte von der Stelle nicht weichen. Guichard versichert nun, es sei ihm gelungen, und er habe damit dem Schriftthum ungeahnte Bahnen geöffnet. Wenn erst das Papier immer von Neuem bedruckt werden kann, wird die bleiche Furcht vor dem Worte Makulatur den Verleger nicht mehr plagen, und er wird manchem Manuskript zum Dasein verhelfen, welches sonst in den Tiefen des Schreibpultes oder gar des Papierkorbes zur ewigen Ruhe verurtheilt worden wäre. Was aber die Zeitungen und Zeitschriften anbelangt, so erreichen sie damit eine unerhörte Wohlfeilheit, weil der Abnehmer sie gewissermaßen nur geliehen bekommt. Nach beendetem Lesen wandern sie wieder zur Papiermühle, wo sie von der anhaftenden Gedankenfülle befreit und in den Stand gesetzt werden, neue, zeitgemäße Eindrücke zu empfangen.

Wir nähern uns übrigens der gesegneten Zeit immer mehr, wo der Gedanke auf der einen Seite in eine Maschine gesteckt wird und auf der anderen Seite als fertiges Buch herauskommt. Während der Ingenieur Hagemann in Berlin die beweglichen Typen ganz abschaffen und Bücher und Zeitschriften gleich stereotypiren will, kommt der Deutsch-Amerikaner Feister mit einer Maschine, welche die Bogen nicht blos bedruckt und falzt – das leistet jede sogenannte Rotationsmaschine längst — sondern gleich heftet und mit Umschlag versieht. Andererseits prophezeite der Nestor der amerikanischen Schnellpressen-Fabrikanten, Oberst Hoe, kurz vor seinem Tode den baldigen Untergang seiner eigenen Kunst, den Ersatz der Schnellpresse durch die Photographie. Die Zeitungen werden in Zukunft nur noch in einem Exemplare abgezogen, und von diesem als Negativ zu druckenden Abzug in so unglaublich kurzer Zeit mit Hilfe der Trockenplatten und des elektrischen Lichtes positive Abzüge hergestellt, daß man in einer Stunde bequem 300000 Exemplare erhält. Die Herstellung selbst der großen Auflage der „Gartenlaube“ ist alsdann ein kleiner Spaß, und was heute in der Welt passirt, kann sie morgen ihren Lesern darbieten. G. van Muyden.     


[172]

Blätter und Blüthen.

Oberbayrisches Mädchen. (Mit Abbildung S. 157.) Die Berge! Wer wüßte von ihrer Schönheit nicht zu erzählen? Viele Tausende nützen die Sommerzeit, um in den Alpen umherzuschweifen und in der Hochlandspoesie zu schwelgen. Man streift über Höhen und durch Wälder, verweilt entzückt beim Anblick der wilden Pracht, welche die Natur hier entfaltet – man schließt aber auch die Augen nicht, wenn einem der Zufall ein so „sauberes Deandl“ in den Weg führt, wie es unser Künstler als Studienkopf gezeichnet hat. So ein natürliches, liebliches Mädchengesicht läßt auch Einen, der mit dem Stift nicht umzugehen weiß, darin studiren. Es ist keine stolze klassische Schönheit, dazu ist das Profil zu sehr abgerundet, und kein Zug erinnert an das, was wir bei der Salondame interessant finden, aber „sauba is das Deandl, bildsauba“, und das genügt. Dichte dunkle Flechten umrahmen das runde Gesichtchen, aus dem uns ein Paar feurige Augen entgegenblitzen; ein gesundes Roth färbt die Wangen, aus dem geöffneten, lachenden Munde blinken zwei Reihen blendendweißer Zähne – Friseur und Zahnarzt sind dem fröhlichen Mädchen vollständig unbekannte Größen; so zeigt sich auch das Menschenkind als eine unverkümmerte Naturerscheinung, die in den Rahmen der Alpenwelt ganz vorzüglich hineinpaßt. Freilich ist es dem Städter nicht recht zu rathen, mit dem lieblichen Kinde „anzubandeln“, denn einmal ist es nicht ohne Beschützer, dann fehlt ihm die Gewandtheit der Weltdame, Galanterien gnädig entgegenzunehmen oder mit Erfolg zurückzuweisen. Die ländliche Schöne spricht „Fraktur“, wenn man ihr zu nahe tritt, und ein angeborner Mutterwitz verstattet ihr, allerdings etwas derb in der Form, dem Vorwitzigen ordentlich heimzuleuchten. Der Hut der Schönen stammt offenbar aus Südtirol. Er ist vielleicht ein Geschenk des Schatzes, der in Südtirol daheim ist, vielleicht aber auch ein Erbstück von Vorfahren, die von tirolischen Thälern nach Oberbayern verzogen. Jedenfalls findet man in Oberbayern häufig überlieferte Kostümstücke aus andern Thälern, die, wenn praktisch, noch ihrem Zwecke dienen müssen. B. R.     


Paul Heyse. Das oberflächliche litterarische Urtheil liebt es, sich mit einem Dichter durch ein bestimmtes Schlagwort abzufinden. In der Regel kennzeichnet man ihn nach dem Werke, das zufällig zuerst die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hat. Es ist das so bequem: man kennt und nennt z. B. Otto Roquette als den rhein-, wein- und wanderfrohen Dichter von „Waldmeisters Brautfahrt“. Damit hat man ihm ein- für allemal seine Stellung angewiesen und braucht dann nicht weiter zu fragen, ob er etwa noch Anderes geschrieben habe. So blieb bekanntlich Geibel für das große Publikum und sogar für einen Theil der Kritik sein Leben lang der „Backfischdichter“, als ob keine Juniuslieder, keine Brunhild, keine Heroldsrufe erschienen wären! Ebenso pflegt man auch Paul Heyse fast ausschließlich als unseren ersten Novellisten zu nennen und anzuerkennen, ohne zu beachten, daß er bei aller Meisterschaft in der Novelle geradezu der vielseitigste unserer lebenden Dichter ist. In liebenswürdig humoristischer Weise huldigt dem umfassenden Genie Heyse’s der geist- und gemüthvolle Leipziger Dichter Edwin Bormann in einer poetischen Epistel, welche wir, zugleich als Gruß zum fünfundfünfzigsten Geburtstag des Gefeierten (15. März) unsern Lesern vorführen. Die Redaktion.     


     An Paul Heyse in München.
 Eine Epistel.

Viellieber Sänger und Fabulist,
Du weißt wohl, wie ’s einem zu Muthe ist,
Wenn einer einem was möchte sagen,
Was er jahrelang heimlich im Herzen getragen?

5
– Gelt, nicht wahr, du weißt es? Und kurz und gut:

Just so ist mir’s eben jetzt zu Muth’.

Doch, kläng’s auch ein bischen kopfüber kopfunter,
Heut’ soll es, heut’ muß es vom Herzen herunter.
So hör’ es denn fri[s]ch von der Leber weg,

10
Was meiner Epistel tiefinnerster Zweck –:

Ich möchte dir sagen zu dieser Frist,
Wie lieb du als Mensch und Poet mir bist! –

Da freut sich manches Dichterlein,
Nennt’s nur Ein Musenpferdchen sein;

15
Und meint gar Wunder was es sei,

Hat’s erst der Flügelrosse zwei.
Du aber, du reitest wahrhaftig spazieren
Einen ganzen Marstall von Pegasusthieren! –
Bald seh’ ich dich, wie du die Welt durchsprengst

20
Auf dem tragischen Musen-Trakehnerhengst,

Bald trabst du mit festem Schenkelschluß
Durchs Land auf dem epischen Pegasus,
Bald reitest du mit bedächtiger Schnelle
Den Modegaul, die Roman-Isabelle,

25
Bald – Götterschauspiel für Laien und Kenner! –

Besteigst du den Vollblut-Novellenrenner,
Bald wiedrum mit himmelhochjauchzendem Muthe
Erklimmst du die lyrische Schimmelstute,
Ja manchmal – qui mal y pense, soit honni

30
Läßt gar du dir satteln das Stegreif-Pony!


Soll ich sie dir nennen, die Weiblein und Mannsen,
Die Lottkas und Judiths, die Balder und Jansen,
Die neben mir her in hellen Haufen
Wie alte Bekannte durchs Leben laufen?

35
Wie oftmals bin ich in all den Jahren

Mit der Arr[a]bbiata nach Capri gefahren!
Wie oftmals hört’ ich in wohliger Ruh’
Mariuccia’s süßem Geplauder zu!
Wie hab’ ich allzeit in trüben Stunden

40
Ein Trostwort in deinen Sprüchen gefunden!

Wie rührt mir die Seele wieder und wieder
Der schlichte Zauber deiner Lieder! …

Und wohin ich auch immer mag lauschen und blicken,
Dein Wort ist mir Labung und Herzerquicken!

45
Fährt auch ’mal ein Hagelwetter dazwischen,

Und hört man der Leidenschaft Blitze z[i]schen –
Ein Priester bist du von jener Kunst,
Die hoch uns erhebt aus der Straßen Dunst;
Denn alle dein Denken, dein Thun und Sein

50
Ist wahre Kunst, ist Sonnenschein. – –


So, Freund, da wär’ es denn heraus.
Nun runzle die Stirne nicht zorneskraus,
Daß Schwarz auf Weiß ich es hergeschrieben,
Was mir das Herz in die Feder getrieben

55
Und was man im lieben deutschen Land

Gemeiniglich dann erst thut bekannt,
Wenn der, den’s geht am nächsten an,
Es weder mehr lesen noch hören kann. –
Du weißt ja, wenn einer erst ’mal todt,

60
Dann kommt die Nachruf-Schwerenoth,

Dann wird mit prunkenden Nekrologen
Ins litterarische Feld gezogen –
Dann kriegt man es „zeitgemäß“ zu lesen,
Was uns der theure Ent[s]chlaf’ne gewesen.

65
Ich aber, ich frage mich immerdar,

Ob’s zeitgemäßer nicht fürwahr,
Solang’ ihm noch freudig das Herzblut quillt,
Zu sagen, was uns der Lebendige gilt? –

Leb’ wohl, du Mann vom goldenen Wort!

70
Leb’ wohl! Gott schütze dich fort und fort!

Leipzig, den 10. November 1884.   Edwin Bormann.


Deutsche in Australien. In Anbetracht des unnützen Lärms, welchen die englischen Kolonien in Australien in Folge der neuen deutschen Erwerbungen in der Südsee erheben, dürfte ein Hinweis darauf zeitgemäß sein, was Australien und die dort wohnenden Engländer dem deutschen Fleiß zu verdanken haben.

In einer der neuesten Nummern des „Export“ wird diese Frage in einem interessanten Originalbericht aus Adelaide erörtert.

Die Kolonie Süd-Australien wurde vor 48 Jahren von einer englischen Kompagnie gegründet. Unter günstigsten Bedingungen wurden von dieser unermeßliche Länderstriche erworben, aber obgleich der Boden sehr fruchtbar war und gegen 22 000 Engländer, Schotten und Iren denselben besiedelten, wollte der Ackerbau nicht aufblühen und der Wohlstand seinen Einzug nicht halten. Da kam einer der Unternehmer, G. J. Anquas, auf den Gedanken, Deutsche, namentlich Schlesier, zur Auswanderung nach Australien zu veranlassen. Sein Plan gelang ihm, und seit jener Zeit trieb er kein anderes Geschäft, sondern verpachtete lediglich sein Land an deutsche Ansiedler. Der Mann brauchte seine Handlung nicht zu bereuen, denn er starb als Millionär. Die deutschen Pächter aber, die eine Reihe blühender Kolonien, wie Klemzig, Hahndorf, Lobethal, Bethanien und Grünberg, gegründet hatten, begnügten sich mit mäßigem Wohlstand, obgleich sie allein den Ackerbau Süd-Australiens geschaffen und auf die jetzige Höhe gehoben hatten. – Die Engländer verfügen über Tausende von Quadratmeilen unbewohnten Landes in Australien und besitzen „scheffelweise“ Inseln in der Südsee, und trotzdem protestiren sie heute in arroganter Weise gegen die neuesten Kolonialunternehmungen des Deutschen Reiches. Aber es wird diesmal bei dem leeren Protest bleiben, denn die Zeiten sind längst vorüber, wo wir nur dazu gut waren, den Kulturdünger für englische Weltherrschaft abzugeben. Siegfried.     


Kleiner Briefkasten.

Dr. D. in Laibach. Besten Dank für Ihre Zuschrift. Wir werden Ihren Rath befolgen.

Ch. B. in N. Ihr Gedicht kann die „Gartenlaube“ nicht abdrucken, da es weit mehr Raum in Anspruch nehmen würde, als wir für Gedichte zu verwenden haben.

(r † y)² Wenn Sie im letzten Jahrgang genau nachschlagen wollen, werden Sie sehen, daß wir Ihren Wünschen bereits Rechnung getragen haben.

A. Sch. in Nauen. Die von Ihnen ausgedachte seltsame Operation würde nichts nützen.

Ungenannt in Naumburg. Haben Sie die Güte, die betreffende Nähmaschine an die Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig abzusenden.

Frl. E. in Halle a. S. 17. Wir haben das Manuskript bereits am 3. Januar an Sie zurückgesandt.

E. B. in N. Geben Sie uns gefälligst Ihre Adresse an.



Inhalt: Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Roman von E. Marlitt (Fortsetzung). S. 157. – Lieö und seine Umgebung. Von F. K. S. 163. Mit Illustrationen S. 160 und 161, 163, 164 und 165. – Im Wartesaal. Skizze von C. Michael. S. 166. – Unter der Ehrenpforte. Von Sophie Junghans. S. 168. Mit Illustrationen S. 168 und 169. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Von G. van Muyden. S. 171. – Blätter und Blüthen: Oberbayrisches Mädchen. S. 172. Mit Abbildung S. 157. – Paul Heyse. Gedicht von Edwin Bormann. – Deutsche in Australien. Von Siegfried. – Kleiner Briefkasten. S. 172.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Eine zwar nicht sehr große, für Holstein aber hochinteressante Sammlung kleinerer Ueberreste einer längst verschwundenen Zeit, besonders Holzschnitzereien aus dem 16. und 17. Jahrhundert, enthält das sogenannte Thaulow-Museum, dessen Besuch jedem Kunstfreunde bestens zu empfehlen ist.