Die Gartenlaube (1884)/Heft 30
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No. 30. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Von diesem Menschen, der Melber hieß,“ las Raban in dem Briefe seines Vaters weiter, „ließ Melanie Tholenstein sich umgarnen, sich seine wirkungsvollsten und rührendsten
Effecte vorspielen und verirrte sich bis zur Verlobung mit ihm und zu allen möglichen Treuschwüren, denen zunächst die erregtesten Scenen mit der Tante im Stift gefolgt
sein mögen – bis diese Tante, der Leidenschaft des unglücklichen jungen Mädchens gegenüber ohnmächtig, die Mutter Melanies zur Hülfe herbeirief. Frau von Tholenstein machte sich sofort auf
den Weg – aber sie fand ihre Tochter nicht mehr in Prag – die verliebte Thörin hatte es vorgezogen, vor ihrer Ankunft mit ihrem Helden die Flucht zu ergreifen. Als die arme Frau tiefbekümmert
nach Arholt heimkehrte, waren der einzige Trost, den sie mit sich heimbrachte, ein Paar Briefe Melanie’s aus einer ungarischen Stadt. Sie versicherte darin, daß sie glücklich und
mit Melber getraut sei, daß dieser eine gute Stellung bei einem deutschen Theater in Ungarn gefunden, daß man sich um sie nicht grämen solle, und so weiter. Die Mutter hatte in ihrer
Empörung sich lange nicht zu einer Antwort entschließen können; dann gewann doch die Sorge um die Tochter die Oberherrschaft im Mutterherzen, sie nahm den Briefwechsel wieder auf, sandte
Unterstützungen – und reichlichere von dem Augenblick an, wo Melanie ihr die Mittheilung gemacht, daß sie im Begriff sei, Mutter zu werden, daß sie leidend geworden, daß ihr Mann sein
erstes befriedigendes Engagement verloren und sich unstet in neuen ungenügenderen Stellungen aufreibe und umhertreibe.
Die Mutter Melanie’s las zwischen den Zeilen dieser Mittheilungen, daß ihr armes Kind in einen unsäglich elenden Zustand gerathen. Der Entschluß, Alles zu thun, um sie diesem zu entziehen, lag nahe – es wurde mit der Tante Stiftsdame darüber verhandelt, wer von den zwei Frauen selber nach Ungarn reisen solle, um Melanie zurückzuholen – da kam ein Brief des Herrn Melber auf Arholt an, welcher dieser Frage kurz ein Ende machte. Herr Melber meldete, daß seine Gattin Melanie von einem gesunden Mädchen entbunden, aber in Folge dessen zwei Tage nach der Geburt gestorben sei. Das Kind befinde sich wohl, es habe in der Taufe den Namen Marie erhalten. Er behalte sich alle seine Rechte vor und werde seiner Zeit sich weiter darüber äußern. Damit schloß der Brief.
Frau von Tholenstein und die Stiftstante hatten, nachdem sie den Schmerz über die erschütternde Nachricht überwunden, jetzt nur den einzigen Gedanken, das Kind Melanie’s in ihre Obhut und Pflege zu bekommen. – Dieses Kind war ja jetzt, da an Martin’s Verheirathung nicht zu denken war, die einstige Erbin von Arholt, auf ihm beruhte die ganze Zukunft der Familie. Es durfte nicht in den Händen eines fahrenden Komödianten in einem fernen Lande bleiben. Durch einen Prager Geschäftsmann gelang es auch in der That, den Vater des Kindes willig zu machen, das letztere der Großmutter auszuliefern, und zwar gegen eine bescheidene Jahresrente, welche ihm dagegen zugestanden wurde. Melanie’s Kind wurde von dem Geschäftsmann und einer Kammerfrau der Stiftsdame in Prag in Empfang genommen und dann nach Arholt gebracht.
Als es heranwuchs, von der Großmutter wie ihr Augapfel gehütet, und sich in liebenswürdigster Weise entwickelte, kam jene bei unserem Könige mit der Bitte ein, daß ihre Enkelin den Namen Melber fallen lassen und den ihrer Mutter von Tholenstein auf und zu Arholt führen dürfe, was ihr um der Erhaltung eines so achtbaren historischen Namens willen ohne Schwierigkeit bewilligt wurde.
So standen die Sachen – und für die Welt stehen sie noch jetzt so – bis Marie Tholenstein neun Jahr alt geworden; in dieser Zeit bekam Onkel Martin an einem schönen Sonntagnachmittag in der Dorfschenke einen heftigen Schlaganfall, von dem er zwar leidlich genas, der sich aber nach zwei Monaten mit tödtlicher Wirkung wiederholte. Mehrere Wochen nach seinem Tode war es, als Frau von Tholenstein meine Freundschaft in Anspruch nahm und mir ihr Vertrauen in ihren Angelegenheiten schenkte. Was sie dazu bewog, war das Folgende:
Bisher hatte es in unserer Gegend geheißen, Melanie Tholenstein sei in Oesterreich irgendwo mit einem Vetter desselben Namens verheirathet gewesen und mit Hinterlassung der jetzt von der Großmutter erzogenen einzigen Tochter gestorben. Bei dem Familienstolze der alten Dame war dieser alles daran gelegen, daß diese landläufige Deutung der Dinge, mit der man sich in einem so arglosen Lande, wie dem unserigen, gern zufrieden gab, unangetastet und ununtersucht bleibe. Nun aber war plötzlich und ganz unerwartet die seit langem verschollene Größe, der Heldenspieler Herr Melber, blühend und daseinsfroh, wie es nur von solch einer ehrenwerthen Persönlichkeit vorausgesetzt werden kann, bei der erschrockenen alten Dame auf Arholt erschienen. Er hatte von dem Tode Martins vernommen und mit den verworrenen Rechtsbegriffen, welche die Köpfe solcher Menschen erfüllen, sich eingebildet, Martin, als männlicher Sprosse des Hauses, sei der [490] Herr und Eigenthümer von Allem gewesen, und nach dessen Tode gehöre Alles seinem Kinde, in dessen ausschließlicher Vormundschaft er zu schwelgen sich bereit hielt. Frau von Tholenstein hatte nicht vermocht, ihn von seinen Wahnvorstellungen zu heilen, und gepeinigt von der Sorge, durch die Einmischung von Advocaten und gerichtliche Verhandlungen die wunde Stelle der Welt preisgegeben zu sehn, flüchtete sie zu mir. Sie bat mich, mit diesem Herrn Melber zu verhandeln, ihm Vernunft beizubringen und einen erträglichen Vergleich mit ihm zu schließen. Die Zumuthung war nicht angenehm, aber sie war nicht abzulehnen. Herr Melber erschien eines schönen Abends bei mir, und ich hatte die Genugthuung, einen Menschen in ihm zu finden, welcher Vernunftgründen nicht unzugänglich war. Anfangs freilich war es nicht gar leicht, seine falschen Vorstellungen über die Rechtsverhältnisse zu berichtigen. Er habe lange geglaubt, sprach er, nur ein Knabe könne erben; man habe ihm aber gesagt, wenn kein Knabe da, erbe auch eine Tochter: also jetzt Melanie’s Tochter Marie. Und er sei gekommen mit dem festen Entschluß, seine natürlichen Rechte als ihr Vater geltend zu machen, als ihr zunächst berufener Vormund.
Diese schönen Illusionen, die eine gewisse Berechtigung gehabt hätten, wenn das Vermögen, um welches es sich handelte, ein Fideicommiß gewesen, ein Majorat gebildet hätte, mußte ich ihm zerstören. Die Güter waren aus ehemaligen Lehngütern längst zu völlig freier Allode geworden, und der Ehevertrag des letzten Freiherrn und der Frau von Tholenstein, sowie das Testament des ersteren gaben den Besitz und die ganze Nutznießung des sämmtlichen Vermögens in die Hand der letzteren. Außerdem hatte Melber vor dem Geschäftsmann in Prag damals, als er Marie ausgeliefert hatte, auf die Führung der Vormundschaft über sein Kind verzichtet, diese war gerichtlich der Großmutter übertragen – und für den ehemaligen Bühnenkünstler blieb nichts zu holen.
Er sträubte sich, die Thatsache gelten zu lassen, daß Arholt nicht Majorat oder Fideicommiß sei. ‚Meine Melanie,‘ sagte er, ‚meine theure, vielbeweinte Melanie hat mir immer gesagt, daß dem so sei, daß alle adligen Vermögen hier im Lande Fideicommiß seien, daß ihr Bruder Martin als männlicher Sprosse ganz allein Alles geerbt habe . . .‘
‚Wenn sie Ihnen das sagte,‘ versetzte ich, ‚so hat sie es wohl auch geglaubt und irrte gründlich darin. Viele solche Vermögen im Lande bilden allerdings Majorate, welche stets auf den ältesten männlichen Erben übergehn, und erst dann, wenn diese fehlen, auf die älteste Tochter des Geschlechts. Viele andere werden dafür gehalten, von den Familiengliedern auch so betrachtet und anerkannt und vom Vater auf den ältesten Sohn nach dem alten Brauch vererbt, obwohl sie rechtsgültig keine Fideicommisse sind; und viele endlich sind es weder, noch werden sie dafür gehalten, und zu diesen gehören – unglücklicher Weise für Sie – die Tholenstein’schen Güter. Wenn Sie meinen Worten nicht glauben, müssen Sie sich zum Amtsgericht, dem wir hier unterstehen, bemühen; man wird Ihnen den Einblick in die Grudacten nicht verweigern.‘
Herrn Melber’s Hautfarbe hatte sich während dieser Unterredung um ein Merkbares abgeblaßt; er saß vornübergebeugt in seinem Stuhle und schwieg. In mir aber stieg die Vermuthung auf, daß Melanie selbst in ihrem Gatten eine falsche Voraussetzung genährt haben könne, um ihn abzuhalten, ihrer Familie mit Anforderungen lästig zu werden, die dem Stolze derselben widerstrebt haben würden.
,Ich habe mich,‘ hob Herr Melber nach einer langen Pause und halb wie im Selbstgespräch wieder an, ‚ich habe mich so sicher darauf verlassen, daß nur der selige Martin habe erben können – so sicher – ich habe deshalb . . .‘
‚Was haben Sie?‘
Er antwortete nicht; mit tragisch gerunzelter Braue blickte er starr den Boden an.
‚Und selbst mein Recht, über das Kind, die Marie, die Vormundschaft zu führen, kann man mir absprechen . . .‘
,Sie haben darauf verzichtet – gegen die Rente, welche Ihnen gezahlt ist und vor wie nach gezahlt werden wird . . .
‚Verzichtet,‘ fuhr er wie eben halblaut fort, ‚verzichtet zu Gunsten dieses alten Weibes auf Arholt, das Alles hat, Alles nimmt, das mich zur Thür hinauswirft! ... Es müßte eine hübsche Vergeltung, eine verdiente Strafe für ihre Habsucht sein, wenn ich ihr nun sagte: Verehrte Gnädige, Muster aller Schwiegermütter, wenn Sie in mir einen Thoren, einen Theaterhanswurst sehen, so irren Sie – die väterlichen Rechte über sein Kind giebt ein Mann von Herz und Gefühl nicht auf – über das, was Ihnen da ausgeliefert ist, über diese Marie, die Sie als Ihre Enkelin herzen, habe ich auf die Vormundschaft verzichtet . . . wer sagt Ihnen denn aber . . . wer sagt Ihnen . . .‘
Betroffen horchte ich auf. ‚Nun, was?‘ rief ich aus, als er nicht fortfuhr.
Aber er schwieg, sein Kinn nachsinnend auf den Arm stützend, mit seinen dunklen, erloschenen und tiefliegenden Augen auf das Bild unseres geharnischten Vorfahren blickend, das ihm gegenüber über dem Sopha hing.
‚Diese stolzen Narren, diese hochmüthigen Rassemenschen,‘ murmelte er, ‚mit ihrem verrückten Glauben an ihr Blut! Was wissen sie von ihrem Blut; was weiß die alte Frau, die Alles an sich gerissen hat, von dem Blut in den Adern eines Kindes, das man ihr gebracht hat?‘
‚Und das denn doch auch wohl ihrer Tochter Kind ist, Herr!‘ fuhr ich erschrocken ihn an.
‚Gewiß,‘ sagte er boshaft, und wie schadenfroh über mein Erschrecken mich anblinzelnd; ‚gewiß, gewiß! Aber wenn ich nun so schlau gewesen wäre – es wäre doch möglich, daß meine Melanie mir eigentlich und in Wahrheit einen Knaben geboren hat – wenn ich so schlau gewesen wäre, ihnen ein beliebiges, irgendwo bei ärmsten Eltern geborenes und aufgelesenes Mädchen auszuliefern, um mir dagegen vorläufig die Zahlung meiner Pension zu sichern . . . mir meinen Knaben aber reservirt hätte – Sie wissen, ich habe lauge in der Voraussetzung gelebt, daß ein Knabe nur erben könne, erben müsse . . .‘
‚Aber Martin war ja da,‘ rief ich in wachsendem Erschrecken aus.
‚Martin? Nun ja – aber er konnte sterben. Eben deswegen!‘
,Und also – gehen Sie heraus mit der Sprache – heraus damit, Herr – haben Sie oder haben Sie nicht der Frau von Tholenstein ein Kind untergeschoben, das gar nicht ihrer Tochter Kind ist?‘
Er lächelte – er lächelte mit einem Gesicht, das ich in diesem Augenblick hätte ohrfeigen mögen, so unaussprechlich gemein, widrig, boshaft erschien es mir. Und mit diesem schadenfrohen Lächeln sagte er:
‚Wenn ich es gethan hätte und jetzt den Knaben brächte, würde es nicht gründlich die Sachlage ändern? Würde es nicht heillos der Alten auf Arholt die Rechnung verderben?‘
‚Es wäre denn doch zu ungeheuerlich, Herr – es wäre ein Bubenstück, das die alte Frau tödten müßte . . .‘
‚Man könnte,‘ fuhr er mit seinem dämonischer Lächeln fort, ‚man könnte mir dann doch die Führung der Vormundschaft nicht verweigern! Oder könnte man es dennoch, wie? Ich habe auf die Vormundschaft des Mädchens, das ihnen ausgeliefert ist, verzichtet. Schriftlich und für immer verzichtet. Und die Gerichte haben der Alten alle Macht über das Mädchen gegeben. Gesetzt aber nun, ich brächte den Knaben herbei – mein und Melanie Tholensteins echtes richtiges Kind? Wie dann? Auf meine Rechte über dieses habe ich nicht verzichtet; auf die Vormundschaft über den Knaben niemals!‘
‚Also Sie haben wirklich – in der That die unglaubliche Schlechtigkeit begangen‘ – rief ich erhitzt und diesem Menschen gegenüber ganz außer mir gerathend aus – ‚Sie haben den furchtbaren Frevel begangen, das Mädchen auf Arholt der Großutter unterzuschieben – es ist unerhört, es ist schrecklich . . .‘
,Wie Sie sich erhitzen,‘ sagte er, wie mit dem ruhigsten Gewissen von der Welt sein Kinn streichelnd – ‚sagen Sie mir lieber, was ich wissen möchte: ob es nicht die Lage der Dinge gründlich zu meinen Gunsten änderte?‘
‚Zu Ihren Gunsten? Sie wähnen das? Sie wähnen, daß eine solche That für Sie glückliche Folgen haben könne? Man würde einfach . . .‘
Ich unterbrach mich. Ich fühlte, daß ich im Begriffe stand, etwas sehr Unheilvolles auszusprechen. Ich hatte die Worte auf den Lippen: ‚man würde Sie einfach wegen des Verbrechens der Unterschiebung eines Kindes ins Zuchthaus bringen! Aber ich begriff im selben Augenblicke, daß solch eine Ankündigung ihn [491] erschrecken und bestimmen mußte, in seinen Geständnissen inne zu halten, sie zurückzunehmen. Und es kam doch Alles darauf an, ihn sich ganz erklären und aussprechen zu lassen.
‚Was würde man einfach?‘ fragte er.
‚Als Vater des Knaben Ihre Rechte achten müssen,‘ antwortete ich, ‚aber man würde Sie vielleicht zur Rechenschaft ziehen wegen der von Ihnen ausgeübten bisherigen Täuschung der Großmutter, der obervormundschaftlichen Behörde . . .‘
‚So, so – das würde man? Und würde das so schwer genommen werden?‘
‚Hinreichend,‘ entgegnete ich, ‚um mir für Sie räthlich erscheinen zu lassen, den Knaben auszuliefern und dagegen sich eine Erhöhung Ihres Jahrgelds versprechen zu lassen, welche Sie dann am besten thäten, im Auslande zu verzehren, außerhalb des Bereichs der Gerichte, welche Ihnen Schwierigkeiten bereiten könnten . . .‘
‚Hm,‘ meinte er darauf hin. ,Das wäre doch nicht, was ich wollte. Das könnte mich nicht locken, mein Herr von Mureck, durchaus nicht . . .‘
‚Ueber das, was am räthlichsten für Sie wäre,‘ fuhr ich fort, ‚läßt sich ja aber später sprechen; es läßt sich überlegen – das Nöthigste ist jetzt, daß Sie mir sagen, wo sich der fragliche Knabe befindet, wo Sie ihn haben.‘
‚Wo ich ihn habe?‘ entgegnete er, mich lange sinnend und wie zerstreut anblickend. Und dann lachte er kurz und gezwungen auf: ‚ja, wo ich ihn habe! Das möchten Sie wissen!‘
‚Freilich möcht’ ich das wissen, muß es wissen!‘
‚Ich bedaure, Ihre Neugier nicht befriedigen zu können,‘ sagte er mit einem Seufzer und plötzlich aufstehend.
‚Und Sie glauben, ich würde Sie gehen lassen – jetzt gehen lassen, ohne von Ihnen gehört zu haben . . .‘
‚Sie werden nichts mehr von mir hören. Das, was ich von Ihnen gehört habe, genügt mir fürs Erste. Ich sehe, daß vorläufig für mich hier nichts zu holen ist. Wann Sie Weiteres von mir hören werden, müssen Sie abwarten, mein Herr von Mureck. Damit empfehle ich mich Ihnen und lasse die respectvollsten Grüße an meine verehrte Schwiegermutter vermelden. Leben Sie wohl!‘
‚Halt – ich kann, ich darf Sie nicht gehen lassen, bevor Sie gestanden haben, wo . . .‘
‚Vertreten Sie mir den Weg nicht, Herr,‘ rief er, zornig auffahrend, aus – ‚Sie können mich zu Ihrem Hause hinauswerfen lassen, dazu bestreite ich Ihnen das Recht nicht, aber Sie haben kein Recht, mich darin gefangen zu halten – fort da!‘
Ich hatte freilich kein Recht, ihn gewaltsam zurückzuhalten, ich mußte ihn seines Weges ziehen lassen. Er verschwand und ließ mich in der größten Aufregung zurück. Was sollte ich thun – sofort zu der alten Dame auf Arholt fahren und ihr die Andeutungen, welche er mir gemacht, mittheilen? Die arme Frau, welche mit so unendlicher Zärtlichkeit an ihrer Marie hing, hätte den Tod davon haben können. Mich an die Gerichte wenden, an die Polizei, damit dieser Melber zurückgehalten werde? Er konnte die ganze Unterredung, welche er mit mir gehabt, ableugnen. Nein – ich konnte nichts thun, als mir selber Vorwürfe machen, daß ich in der Aufregung, in welche mich seine Geständnisse versetzt, ein so jämmerlich schlechter Diplomat gewesen. Mit einiger Klugheit und Gewandtheit hätte ich meine Antworten so eingerichtet, um ihn zu ermuthigen, sich rückhaltlos und ganz auszusprechen, um mir Alles zu gestehen. Statt dessen hatte ich ihn erschreckt, sein offenem Herausgehen zurückgescheucht, ihm Furcht vor den Folgen seines Verbrechens eingejagt – ich war sehr dumm gewesen. Aber freilich war ich auch so völlig unvorbereitet auf das, was ich zu hören bekommen hatte.
Ich konnte als discreter und behutsamer Mensch trotz allen Kopfzerbrechens über die Sache nichts thun, als am andern Tage Frau von Tholenstein die Kunde zu bringen, daß die Unterredung mit Melber stattgefunden habe und daß sie befriedigend verlaufen sei, insofern der ehemalige Schauspieler eingesehen, daß sein Verhältniß zu der Familie durch den Tod Martin’s in nichts verändert sei, daß er gegangen, ohne mit weiteren Anforderungen, wie etwa dem Verlangen einer Erhöhung seines Jahrgehalts, lästig zu werden. Frau von Tholenstein wurde nun durch diese Anspruchslosigkeit ihres Schwiegersohns gerührt. Ihre Melanie habe doch diesen Menschen einst geliebt, sagte sie, und er müsse sich doch unglücklich fühlen, da er so allein stehe in der Welt, geschieden von seinem Kinde, welches er jetzt nicht einmal zu sehen bekommen habe, welches nicht einmal seinen Namen trage. Ich hatte Mühe, Frau von Tholenstein abzuhalten ihm aus freien Stücken sein Jahrgehalt zu vermehren. ‚Eben dadurch,‘ sagte ich ihr, ‚daß er gar nicht verlangt hat, sein Kind zu sehen, zeigt er am besten, daß er sein Alleinstehen in der Welt und sein Lebensloos guten Muths erträgt!‘
Woher die Gleichgültigkeit gegen Marie, nach der er bei der alten Frau auf Arholt nicht einmal gefragt zu haben schien, bei ihm rührte – das wußte ich ja jetzt nur zu gut mir zu deuten.
Und dann harrte ich, harrte wochenlang auf das, was ich nun erwartete, auf weitere Schritte, die Melber thun würde. Er mußte doch nun weiter von sich hören lassen, in seinem Interesse, im Interesse seines Knaben. Es hätte keinen Sinn für ihn gehabt, die Interessen seines Kindes länger auf sich beruhen zu lassen, nachdem er von dem Irrthum geheilt war, der ihn sein Verbrechen hatte begehen lassen – von dem Irrthum, daß er mit dem Knaben den künftigen Herrn und ausschließlichen Erben von Arholt in seiner Hand und in seiner Gewalt behalte. Nachdem er von diesem Irrthum zurückgekommen war, mußte es ihn drängen, die Geburtsrechte seines Kindes geltend zu machen – so bald als irgend möglich!
Aber es wurde nichts weiter von ihm gehört. In meiner Unruhe um die Sache, in die ich, und ich allein mich eingeweiht fand, that ich Schritte, um Nachforschungen nach dem Herrn Melber anstellen zu lassen. Es war nicht leicht, zu Nachrichten über ihn zu gelangen. Seine Jahresrente wurde ihm durch ein Bankhaus in Prag ausgezahlt, aber er lebte nicht in Prag. Endlich wurde ermittelt, daß er in Wien lebte, in der Familie seines Bruders, derselben, in welcher Melanie Tholenstein einst seine Bekanntschaft gemacht hatte. Die ehemalige Gesangslehrerin war schon seit Jahren kränklich und siech geworden; ihr Mann setzte in Wien sein Geschäft als Graveur fort, aber ohne Glück und viel Kundschaft; sie lebten in dürftigen Umständen; es mochte der Jahrgehalt des jüngeren Bruders da das Meiste thun müssen, um auszuhelfen. Ein Kind war da, ein Knabe – er war völlig vom selben Alter wie Marie Tholenstein, und für diesen Knaben schien der ehemalige Schauspieler eine besondere Zärtlichkeit zu hegen, auch schien er, da die kranke Mutter sich wohl nicht um ihn kümmern und der Vater sich wegen seiner Arbeit wenig seiner annehmen konnte, zur Obhut und Aufsicht dem Onkel völlig überlassen. Man sah den beschäftigungslosen ehemaligen Schauspieler gewöhnlich von dem Knaben – es war ein kräftiger, sehr hübscher Junge mit einem Kopf voll dichten dunklen Kraushaares – begleitet, wenn er kleine Vorstadttheater besuchte, oder seine Zeit damit zubrachte, im Prater mit dem Kleinen an der Hand vor den Schaubuden zu stehen und zu gaffen. Von Zeit zu Zeit, während der guten Jahreszeit, verschwanden auch Beide für mehrere Tage, oft auch wochenlang, aus Wien. Sie mochten dann irgendwie auf Streifereien durch die benachbarten Landschaften die frische Bergesluft athmen und auf ihre Weise sich der Sommerlust hingeben.
Das war es, was ich mit einiger Mühe und leidlichem Geldaufwand über den Thaliajünger ermittelte. Es genügte, um aufs Schönste Dasjenige zu ergänzen, was in seinem halben Geständnisse dieser Mann mir bekannt hatte. Ganz ohne Zweifel hatten diese Menschen ihre Kinder verwechselt; Melber hatte eine Tochter seines Bruders, des Graveurs, als Melanies Kind ausgeliefert; man hatte dadurch dem Mädchen alle Vortheile einer besten und sorglichsten Erziehung gesichert; unterdeß hatte er den Knaben Melanies in seiner Obhut bei sich behalten, um sich alle Vortheile zu sichern, welche ihm seine väterliche Gewalt über den Erben von Arholt gab.
Freilich, als immer mehr Zeit verstrich, als eine Woche, ein Monat nach dem andern verfloß, ohne daß Melber etwas hätte von sich hören lassen, um endlich zu Ergebnissen und Früchten seines verbrecherischen Handelns zu gelangen und seines Kindes Rechte geltend zu machen, mußten mir Zweifel kommen, ob die Deutung, welche ich mir machte, die richtige sei. War es denn nicht auch möglich, daß der unselige Mensch einem in ihm aufgestiegenen Gedanken, den die Unterredung mit mir in ihm hervorgerufen, Worte gegeben hatte, um in boshafter Weise zu [492] ängstigen und zu erschrecken, um sich zu rächen an Denen, welche ihn resultatlos heimschickten, und um einen Stachel in ihrer Seele zurückzulassen? Es war das möglich, immerhin möglich! Aber sich so verwegen und leichtfertig zu einem Verbrechen zu bekennen, welches man nicht begangen hat – wer thut das? Und war es nicht auch nur zu erklärbar, daß dieser Mensch sich jetzt so still verhielt? Ich selbst war ja sicherlich schuld daran – ich hatte ihn erschreckt mit meinen Reden von der Gefahr, welche ihm drohe, den Criminalgerichten zu verfallen; er mochte klug genug gewesen sein, sich bei rechtskundigen Leuten über die Folgen, denen ein Mann in seiner Lage ausgesetzt sein könne, wenn er noch weiter mit der Sprache herausgehe, Raths zu erholen, und nun war nichts natürlicher, als daß er schwieg und sich still hielt.
Still bis zu dem Tage, wo einmal die alte Dame auf Arholt die Augen schließen würde, und wo er dann freilich auftreten und reden mußte für die Rechte jenes hübschen Jungen mit dem Kopfe voll dunklen Kraushaars. –
Damit, lieber Raban, weißt Du nun Alles, was die Verhältnisse bei unsern Nachbarn betrifft. Deine eigentliche Frage – ich glaube, ich habe sie Dir mit dieser Enthüllung schon beantwortet. Marie Tholenstein entwickelte sich zu einem sehr hübschen, auffallend anziehenden jungen Geschöpfe. Und sie war das einzige hübsche junge Mädchen in den Familien unserer Standesgenossen, mit denen wir Umgang pflogen. Ich durfte Dich der Gefahr nicht aussetzen, die Dir von dieser Seite drohen konnte. Ich mußte, so lange es Zeit war, gründlich Dem vorbeugen, daß sich Dein Herz nicht mit seiner ersten schönsten Jugendliebe an Marie Tholenstein verlor. In Deiner Natur liegt die Fähigkeit tiefen und dauernden Empfindens; und von der zähen Starrsinnigkeit, welche man ein allgemeines Eigenthum unseres Stammes nennt, hast auch Du ein gutes Theil bekommen. Es hätte einen heillosen Conflict zwischen uns gegeben, hättest Du Dich in Marie Tholenstein verliebt. Es war nichts Anderes zu thun; es mußten die Beziehungen zu Arholt allmählich gelöst und endlich völlig abgebrochen werden.
Und nun, nachdem ich Dir Alles gesagt habe, was bisher nie und gegen keine Menschenseele über meine Lippen gekommen ist – es war mir eine Wohlthat, einmal so rückhaltslos über etwas reden zu können, was einst lange Zeit mir wie eine eigene Sorge auf der Brust lag – nun zum Schlusse nur die Bitte, diesen ganzen langen Brief sofort zu verbrennen! Man weiß nicht, welches Spiel der böse Dämon Zufall mit solchen schriftlichen Mittheilungen, die eigentlich nie schwarz auf weiß gemacht werden sollten, treiben kann!Raban legte aufathmend von der Spannung, womit er gelesen, und hochgerötheten Gesichts den Brief aus der Hand. Er verbrannte ihn nicht, er verschloß nur sorgfältig dies inhaltreiche Aktenstück, das ihm ein Räthsel gelöst – so viele andere dafür aber nur dunkler gemacht hatte. Den Grund, aus welchem sein Vater ihn aufgefordert, sich nach dem Bildhauer WolfgaNg Melber umzuschauen, konnte er sich ergänzen – aus dem Knaben des Schauspielers war ein Künstler geworden; Raban’s Vater hatte ihn bis soweit im Auge und ein Interesse für ihn behalten. Aber was war weiter aus Marie Tholenstein geworden? war sie dort, in Arholt, oder war sie hier, wo Raban sie wiedererkannt zu haben glaubte? Sicherlich war sie hier, wo Raban sie ja zu Melbers hatte gehen sehen, ihren Verwandten also! Und weshalb denn war sie hier – und weshalb erschien sie wie ein weiblicher Proteus in so mancherlei und in so fragwürdigen Gestalten? Hatte sie, sie selber das Geheimniß ihrer Herkunft entdeckt – kannte es dieser Wolfgang schon, und war das junge Mädchen dadurch, wie sich selbst entfremdet, zu etwas wie einem haltlosen Blatt geworden, in eine Existenz hinabgesunken, die – – doch nein, das war unmöglich, das zu denken war ein Frevel an dem Wesen, dessen Haupt zum Modell der Charitasgruppe hatte dienen können – und all diese Räthsel mußten sich ja lösen, nach und nach, mit Geduld und Ruhe, von denen freilich in dieser Stunde und der schlummerlosen Nacht, die ihr folgte, wenig in Raban’s Seele zu finden war.
Sein eigner Leitstern ist des Menschen Geist,
Und wenn ihn dieser führt zu hohem Ziele,
So wird er mächtig mit sich reißen Viele,
Gleichviel, ob man ihn tadelt oder preist.
Jedweder von uns lebt leicht nach der Regel,
Solang ein günstiger Wind treibt seine Segel,
Doch nur, wer auch in Sturm und Meerestoben
Die rechten Bahnen einhält, ist zu loben.
Sprich gut von Andern, und die gute Kunde
Bleibt für die Hörer nur ein leerer Schall;
Sprich schlecht, und jedes Wort aus Deinem Munde
Weckt hundertstimmigen Wiederhall.
Wie Lichtgedanken im brütenden Hirn
Ziehn dunkle Furchen auf leuchtender Stirn,
So zeugt von Feuer der schwärzliche Rauch,
Und die Leuchte des Himmels wirft Schatten auch.
Jedes Menschen Fuß im Lebenslauf
Wirbelt den Staub von Jahrtausenden auf;
Der Eine schüttelt ihn ab mit Verachtung,
Dem Andern dient er als Stoff zur Betrachtung.
Weder kleine Leute noch große Herrn
Vernehmen die Stimme der Wahrheit gern,
Auch dem schönen Geschlecht gefällt sie nicht,
Wenn sie in ernstem Tone spricht.
Die Narrheit allein versteht durch Lachen
Den Menschen die Wahrheit gefällig zu machen;
Drum hat mancher Weise sich närrisch gestellt,
Damit sie nicht ganz verschwind’ aus der Welt.
Wer im verflossenen Sommer die Münchener Kunstausstellung besuchte, erinnert sich noch des großartigen Bildes von Kirchbach: „Herzog Christoph, der Kämpfer, an der Leiche des letzten Abensbergers“, das hier im Holzschnitte den Lesern vorliegt. Ein düsterer Abend über öder Landschaft, rings sinkt schon die Dämmerung nieder, nur von Westen her strahlt noch ein greller Schein empor und beleuchtet den mörderischen Ueberfall. Im Vordergrunde Roß und Reiter blutüberströmt dahingesunken, die zerbrochenen Waffen umhergestreut, im Hintergrunde abziehende Mannen, die ihre Verwundeten zu bergen eilen, ein Ritter, der hohnlachend seinem Gefangenen den Strick um’s Handgelenk schnürt – über Alle emporragend aber, das dunkle Haupt mit der Sturmhaube scharf in den hellen Abendhimmel gehoben, der streitbare Herzog im Eisengewand, der hier seine Feinde auf den Grund gestreckt hat. Er würdigt sie keines Blickes, das düstere Angesicht ist nach oben gewandt und sein herber Ausdruck scheint den Himmel zum Zeugen gerechter Rache anzurufen.
Auch dem nicht geschichtskundigen Beschauer weht aus diesem Bilde die Ahnung entgegen, daß es sich hier um Bedeutenderes handeln möge, als einen der vielen tausend Ueberfälle auf
[493][494] „breiter Haid’“, in welchen Jahrhunderte lang die beste Kraft unseres Volkes nutzlos und roh vergeudet ward. Als ob er seine Zeit selbst anklage, reckt sich hier die eiserne Hand des Herzogs aus dem Bilde hervor, eine Zeit der Rechtlosigkeit und Gewaltthat, in deren unerfreulichen Einzelnheiten das Auge des Beschauers schnell zu ermüden pflegt: Kaiser Friedrich’s III. unfähige und trostlose Regierung.
„Wer aber war Herzog Christoph?“ wird wohl mancher unserer Leser fragen.
Nun, er verdient sicher eine genauere Betrachtung, denn er gehört unstreitig zu den merkwürdigsten Figuren dieser an abenteuerlichen Existenzen so reichen Zeit. Trostlos ist ihr Hintergrund allerorten – unaufhörlicher Kampf der Großen mit den Kleinen und unter sich, das deutsche Reich ein Theilungsobject für gierige Fürstenhände, das Reichsoberhaupt fern, in eigene Hausstreitigkeiten jahrzehntelang verwickelt, immer in Geldnöthen: so sieht die romantische Zeit des „letzten Ritters“ bei genauerer Betrachtung aus.
Auch im bairischen Herzogshause, das hundert Jahre früher weit mächtiger als das Haus Habsburg dastand, rissen üble Zustände ein. Albrecht III., bekannt durch seine erste Ehe mit der unglücklichen Agnes Bernauer, hatte aus seiner zweiten fünf Söhne und wies in seinem Testamente „die zwei ältesten“ an, gemeinsam zu regieren. Johann, der Aelteste, starb rasch, sein Bruder Sigmund, ein bequemer Herr, „dem wohl war mit schönen Frauen und weißen Tauben, auch Singen und Saitenspiel“, verzichtete bald freiwillig auf die Mühen der Regierung zu Gunsten seines Bruders Albrecht. Nun, da die ursprüngliche Erbordnung durchbrochen, war es kein Wunder, wenn die beiden jüngsten, eben von der Hochschule Pavia heimkehrenden Herren, Christoph und Wolfgang, ebenfalls ihren Antheil an Land und Gut verlangten. In diesem unerquicklichen Streite vergingen Jahrzehnte, die Einzelnheiten sind heute vergessen, aber charakteristisch heben sich auch für uns noch daraus hervor die beiden Hauptfiguren: Albrecht, der kluge und feingebildete Humanist, „wohlgelehrt der lateinischen und welschen Sprach, sodaß ihn seine Brüder, in studiis minder sorgsam, in späteren Jahren noch spottweise ‚den Doctor‘ nannten“, und in starkem Gegensatze zu ihm der unbändige Christoph, der sich einer ansehnlichen Leibesgröße und herculischen Kraft erfreute, jähzornig und hochfahrenden Sinnes war, dabei prachtliebend und verschwenderisch, also zur Rolle eines fügsamen jüngeren Bruders in keinem Betracht geschaffen. Freilich ebenso wenig zu der eines Bischofs, die ihm väterliche Voraussicht bestimmt hatte – seine Tage in Pavia waren in Raufhändeln und Zechgelagen aller Art, aber ohne die mindeste Theologie verflossen.
In München wurde der „starke Christoph“ bald zum Volksliebling. Er machte und vertrug einen derben Spaß auf Markt und Gassen, er warf sein Geld reichlich zum Fenster hinaus, aber ebenso wohl für Almosen, als für Zechgelage und die Schulden guter Freunde.
Eine kleine Probe aus dem Aufschreibebuch seines Haushofmeisters mag als Beleg dienen:
„Item an den Koch für sein Hofhalt zahlt und die fünf essen für die frömdn ritter |
387 fl. |
Vnd in was sich der Koch irrt und verrechnet hat | 29 fl. |
Vnd ist in dem monat verschenkt worden an arm priesterleut und mönch an die |
300 fl. |
Vnd es hat uns der Welser abermals ein Darlehen geben, hat das erste noch nit zurück, tut |
1000 fl. |
Vnd nemb mein gn. Herr Christoph eine handvoll geld und verschenkts, etwan |
500 fl. |
Vnd schenkt dem türmer zu st. peter für sein schönes blasen | 1 fl. |
Item für ein gutes schwert mit silbernem griff, ein sammt mantel und jagdkoller |
24 fl. |
Item es hat mein gn. Hr. Herzog Christoph schier all dagewesenes geld genommen und mer orte hinzehlt, sagt er habs aufgeschriben und verloren. |
|
Sind in der baarschaft vorhanden | 31 fl. 27 kr. |
Es ist also wohl begreiflich, daß der lustige Herzog, dessen milde Hand sich so leicht und gern öffnete, bedeutend populärer war, als sein ernster, bedächtiger Bruder, der natürlicher Weise darnach streben mußte, die alte Erbordnung wieder herzustellen und das Regiment ausschließlich in seine Hand zu bekommen, um dem völlig unleidlichen Zustande ewiger Fehde, auch zwischen den Vasallen, ein Ende zu machen.
Fortwährende Streithändel, vergebliche Ausgleichsversuche von Seiten des naheverwandten Herzogs von Niederbaiern, ja des Kaisers selbst, füllen die Jahre von 1467 bis 1485 aus. Die beiden Brüder zerfielen vollständig, Zwischenträger aus dem Adel schürten den Haß, Christoph kam in immer ärgere Geldverlegenheit, und es kostete ihn schwere Mühe, da der Welser nicht mehr borgen wollte, bei dem Rathe dieser und jener Stadt das Geld aufzunehmen, um seine Anhänger zu bezahlen.
„Pinzenauer,“ sagte er in solcher Lage zu einem seiner Getreuen, „wir müssen die Sache anders machen, es thut’s so nicht. Wir haben Nichts und Er (nämlich Herzog Albrecht) giebt uns auch Nichts. Wir haben viel Volks und brauchen von ihm Nichts zu leiden.“
„Herr,“ erwiderte sein Gesell, „ich verstehe wohl. Ihr wollt bösen Dingen nachgehen, gedenkt, wessen Ihr Euch verschrieben habt.“
Aber Christoph’s Logik gipfelte immer wieder in dem Satz: „Wollte Gott, daß ich mich mit meinem Bruder, Herzog Albrecht, um unser Erbe hätte schlagen können, und welcher übrig blieb, der behielt Alles!“
Mochten es nun solche Reden sein, die Albrecht hinterbracht wurden, mochte, wie er fest behauptete, im Stillen Anstalten zu offenem Aufruhre und seiner eigenen Gefangennehmung gemacht worden sein – genug, er faßte jetzt den Entschluß, seinen Bruder gefangen zu setzen. Aber mit diesem Entschlusse war es einem Recken wie Herzog Christoph gegenüber nicht gethan. Er gehörte zu Denjenigen, die massive Eisenstäbe biegen, Silberthaler in der Hand zerbrechen und einem Bären mit der Faust den Schädel einschlagen. In der Residenz zu München sieht man noch heute den drei Centner schweren Stein, den er zwanzig Fuß weit schleuderte, und den zwölf Schuh hoch in der Mauer steckenden Nagel, den er im Sprunge mit der Ferse herab schlug. Einen solchen Mann fangen zu wollen, hatte also seine Schwierigkeiten, und nach langem Bedenken faßte Albrecht mit Niclas, Grafen von Abensberg, dem Christoph schon von früher verfeindet war, den einzig möglichen Plan, diesen in München im Bade zu greifen, wo er waffenlos war und man es nur noch mit seiner Körperstärke zu thun hatte. Der Ueberfall gelang. Mit einigen Genossen warf sich der Abensberger auf den Ahnungslosen, der vergebens strebte, zu seinen Waffen zu gelangen, nach kurzem Ringen überwältigt und in einen Thurm der „neuen Veste“ abgeführt wurde, am 23. Februar 1471. Dort hatte nun der hitzige Prinz Zeit zum Nachdenken, aber auch Herzog Albrecht wurde durch fortwährendes Drängen der Landstände und einen nur zufällig mißglückten Befreiungsversuch von Christophs Anhängern belehrt, daß er seinen Bruder doch nicht dergestalt nach eigenem Belieben gefangen halten könne, und so gab er ihn, obgleich widerwillig, frei. Christoph verstand sich nach einigen Jahren dazu, seine Ansprüche gegen den Besitz von Weilheim, Landsberg, Pähl und eine gute jährliche Rente abzutreten.
Aber zum Stillleben als oberbaierischer Schloßbesitzer war ein Mann von Christoph’s beweglicher Abenteurernatur nicht gemacht, er zog also nach Ungarn, um dem Könige Matthias gegen die Türken zu helfen, und theilte dort die Gewalthiebe aus, die seinen Namen zum Schrecken der Ungläubigen machten. „Denn sein Schwert,“ heißt es, „glich des Todes Sense, und wenn es zu mähen begann, war’s, als ob das Gras geschnitten würde.“
Einige Jahre später kehrte er aber wieder nach Baiern heim, und kurze Zeit darauf gingen die alten Händel wieder an. Die Weilheimer und Landsberger beschwerten sich, wohl mit gutem Grund, bei Herzog Albrecht, daß Christoph sie mit gewaltsamen Steuern presse, und der geordnete Albrecht nahm hiervon Anlaß zur Intervention. Er zog zu Ostern 1485 von München aus und besetzte des abwesenden Christophs Städte. Als dieser davon hörte, schwoll ihm das Herz vor Grimm und Rachsucht. Seinem Bruder konnte er nicht ankommen, aber zu Freising, wo er im Augenblicke lag, mußte in den nächsten Tagen der von der Expedition gegen Landsberg heimkehrende Abensberger vorbeikommen, und mit ihm, der rechten Hand Herzog Albrecht’s, dem Hetzer und Schürer zwischen beiden Brüdern, dachte der ergrimmte Christoph jetzt blutig abzurechnen.
[495] Er ging zunächst, um sich und seine 62 Gesellen, „gute Reisige von Adel“, mit einem tüchtigen Reitermahl zu stärken, zum Pfleger Oswald Schönbichler und sprach:
„Lieber Gesell Oswald, thu so wohl und gib mir und den Meinigen zu essen. Denn ich habe wahrlich nicht mehr, als drei Gulden und mein Schwert mit Silber beschlagen. Glaub gewis, daß ich Dir solches vergelten will, als fromm ich ein Fürst von Bayern bin.“
Als die Herzen gestärkt waren, stiegen die Herren zu Pferde und ritten gen Weihenstephan; der Herzog setzte sich auf die Kirchhofsmauer und spähte nach dem Abensberger aus, der auch nicht lange auf sich warten ließ. Beim Abschied in München hatte ihm Herzog Albrecht gesagt:
„Fürcht’ Euch, mein Bruder Christoph ist im Lande, wir wissen aber nicht wo; wenn ihr Uns folgen wollt, so wollen Wir euch 30 Pferde mitgeben, daß ihr also sicherer heim kommt.“
Darauf erwiderte Der von Abensberg:
„Gnädiger Herr, da ist weder bei mir noch bei den Meinigen eine Forcht. Sondern frag Euer Gnaden nur, ob Ihr Euren Bruder Tod oder Lewendig haben wollt, wenn er auf uns stoßt?“
Der Herzog sagte:
„Lieber Herr von Abensberg, nicht Tod, sondern Lewendig.“
Diese Unterredung erfuhr der Harrende auf der Kirchhofmauer von einem vorausgerittenen Späher, und seine Augen flammten vor Zorn. Er rief seine Leute zusammen und hielt eine Anrede, worin er mit heftigen Worten den Abensberger, Rohrbecker und Bogner anklagte, „daß sie ihren natürlichen Herrn und Fürsten von Bayern wider Gott, Ehr und Recht zu München im Baad gefangen und Unsern Bruder, Herzog Albrecht, dahin gebracht, daß derselbe Unsere zugetheilte Erbschaft, die Stadt Landsberg eingenommen, auch sonst große Uneinigkeit zwischen uns angerichtet haben.“ Wer zu ihm stehen wolle, möge thun, wie er. Damit brach er einen Eichenzweig und steckte ihn auf die Sturmhaube.
Die Andern desgleichen. Nur ein Bedächtiger wagte zu sagen: „Gnädiger Fürst und Herr, Euer Gnaden werden uns arme Gesellen auf diesen Tag verführen.“
„Lieber Suntheimer,“ erwiderte der Herzog, „wenn Du Dich förchtest und das Herz, einem frommen Fürsten zu helfen, nit hast, so reite hinweg und bist mir lieber weit von mir, als nahe bei mir.“
Das ging dem Suntheimer doch wider die Ehre, er steckte also auch seinen Eichenzweig an.
Nun wurde der Zug sichtbar. Christoph ordnete die Seinigen, führte sie in gestrecktem Rosseslauf gegen die Anrückenden „und traffen die Armprost-Schützen so gut, daß viel Geul und Reiter wund wurden und des Abensberger’s Zug aus der Ordnung in die Flucht kam.“ Herzog Christoph stach die Herren von Bogner und Rohrbeck von den Pferden, den von Abensberg hatte der Herr von Diessen, und zwar noch lebend auf den Grund geworfen, er gedachte ihn auch zu schonen, wenigstens bis der Herzog, der die Flüchtigen verfolgte, wieder zur Stelle sei, da kam aber Seitz von Frauenburg, der von solchem Vornehmen nichts wußte, und stach ohne Weiteres den Abensberger „von Unten zu Tode.“
„Indem kam der Herzog Christoph wieder zur Wahlstatt: Und als er seine drey Feinde miteinander auf dem Grund Tod gesehen, hat er seine Hände gen Himmel gestreckt und gesagt: Wir wollten, daß allen Falschen des Adels und sonst, welche durch ungetreuen Rath die Fürsten gegen einander aufbringen also geschehen sollte!“
Was Herzog Albrecht seinerseits über diesen Ausgang der Sache empfand, berichtet uns der Chronist nicht, sondern er sieht den Finger Gottes darin, daß gerade die drei da fielen „so cristoffen in Vangnuß namben.“ Albrecht besetzte als Landesherr die erledigten Schlösser des „letzten Abensberger’s“ und nun, nachdem Christoph’s Rache gekühlt war, schlossen sie ein dauerndes Einvernehmen, das endlich, nach siebenzehnjährigem Kampf, Albrecht zum Alleinherrscher machte. Christoph aber „und seine Gesellen beichteten darnach am Auffahrtstag (Christi Himmelfahrt) auf dem heiligen Berg Andechs und empfingen das Sakrament und wurden von allen Todtschlägen geabsolvirt.“ Die Erschlagenen erhielten ein ritterliches Begräbniß und reichliche Seelenmessen unter vielem Volkszulauf, und somit war der Handel für die öffentliche Meinung damaliger Zeit befriedigend erledigt.
Christoph aber hielt es wieder nicht auf seinen Schlössern aus. Das deutsche Wanderblut und der Abenteuersinn jener Zeit, der auch ohne genaue Karten auf den Weltstraßen merkwürdig gut Bescheid wußte, zog ihn zu neuen Fahrten, durch welche er dem bedrängten Maximilian I. Hülfe brachte, und endlich nach dem Ziel seiner gläubigen Sehnsucht, nach Jerusalem. Ein frommer Christ war Christoph immer gewesen, der alle möglichen Kirchen bauen half, nun zog er als Pilger in Gesellschaft mehrerer deutschen Fürsten von der palästinischen Küste landeinwärts. Sein erhaltenes Tagebuch giebt eine Menge höchst charakteristischer Aufzeichnungen. Einige davon mögen hier stehen:
„25. Juni. Item hab ich einem Arabierherzog oder Schekh ein lang stuck scharlachseiden geben, deß war er überaus froh und ein trefflichen Dolch dafür, daß er uns den nechsten Weg gewiesen hatt. Und was der Schekh ein hübsch, tapferlich sehender mann, schier eines helden anblick und woll wert, daß er zum wahren glauben bekehrt wurd. Davon wollt er nichts wissen.
Nachher zu Fuß pilgremt und ließen etlich arminianisch Bischöf auf das kameelthier sitzen, so ihre eselein fast trutzig waren und keine last tragen wöllten.
Item ist die Gegend jäh Gebirg und von einer höh ist woll zu sehen bis Jerusalem.
Und da wir die hochheilig stadt im angesicht hatten, was fast große rührung in jedwedem, als daß wir niederknieten und des danks voll waren. Vnd kunnt ich des keinem beschreiben wie mir zu muth war, vor so viel gnad Gottes, daß ich dies erschauen durfft . . .
27. Juni. Vnd es heißt die erste pforten in der stattmauer von Jerusalem Ephraims. Dahin ließen sie uns nicht, weil wir christenleut wären: Selb schuf mir viel letz und grämte mich bitterlich. Daß ich denn von herzen gern mein gewalt erzeigt hett. Weil ich aber ein demütiger pilgrem und unser Herr viel größeres erlitten, wollt ichs woll in demut tragen.
O hett ich etliche zehen ritter meiner krafft und ein mittler kriegsheer, also möcht ich woll allen künftigen pilgersleut solche schmach benehmen und dem türkischen bluthund eine harte Nuß zu beißen geben, daß er ersticket.“
In tiefer Andacht besucht dann der Herzog alle heiligen Stätten und berührt mit Hand und Mund die Steine, wo der gebenedeite Fuß des Erlösers gewandelt. Dann rüsten die Genossen zur Heimfahrt und hier, des Pilger-Gelübdes entledigt, findet unser Herzog endlich Gelegenheit, dem Drang seines Herzens Luft zu machen und die schweren Schläge wirklich auszutheilen, die er den Türken in Jerusalem so oft in Gedanken aufmaß. Herzog Friedrich von Sachsen marschirte der kleinen Karawane etwas unvorsichtig voraus und wurde von einem Haufen Beduinen angegriffen. Christoph spornte auf das Hülfsgeschrei sein Roß, fiel wie ein Wetterstrahl in die Feinde, hieb die zwei nächsten in der Mitte entzwei, packte, würgte, stieß und schlug dermaßen in lang angesammelter Wuth, daß die entsetzte Feindesschaar aus einander stob, zwölf noch von dreißig. Die Andern rührten sich nimmer. „Wie mir meines schwähers sohn dankt sag ich zu Ime: das verflucht Türkenvolk hatt woll vermeint, ich wollt es halten heimwärts, wie auf der Hinfahrt und Pilgramschaft!“
„Ueber das gefecht und hin und her was mir großer Durst ankommen, daß ich mich an der Cisterne niederkniet und in mein sturmhaub wasser schöpf und trinks begierig. Da ich das gethan, überzog mich ein großer Frost und was um das Herz gar beklommen, daß ich schier vermeinte, ich hätt den Tod getrunken und es wär aus mit mir. Da ist mir nun doch wieder anscheinend besser zu mut worden . . .“
Er hatte sich den Tod getrunken. Bis Rhodus kamen sie noch, dort, in den Armen des Johanniter-Großmeisters gab der Herzog als standhafter Ritter und fromwer Christ seinen Geist auf, seine Gebeine ruhen bis heute auf der Insel.
Sein Schwert aber kam nach München zurück und dient noch heute bei der Cerewonie des alljährlichen Georgi-Ritterfestes.
Wer wehr erfahren will, der nehme Franz Trautmann’s höchst anziehendes Buch: „Die Abenteuer des Herzogs Christoph von Baiern“ zur Hand, dort findet er neben einer Menge urkundlicher
Belege, welchen die vorstehenden Notizen zum großen Theil entnommen sind, ein poetisch und patriotisch gezeichnetes Bild des starken Herzogs, auf dem sehr ansprechenden Hintergrund
des alten München, seiner Denkmäler und Wahrzeichen.
R. Artaria.
[496]
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
In der gewaltigsten Tragödie des Aeschylos wird Prometheus zur Strafe für den olympischen Feuerraub an die meerbespülten Felsen des Kaukasus geschmiedet. Vielleicht wählte der Dichter diesen Schauplatz, weil der hellenische Mythos von der Voraussetzung ausging, daß der Titane vom grollenden Zeus an dem Ort bestraft wurde, wo er den Raub zur Erde gebracht hatte. Die ewigen Feuer des Kaukasus aber mögen zu der Vorstellung Anlaß gegeben haben, daß das dem Olymp entrissene Feuer, welches Zeus den Menschen ließ, in jener Felsenwildniß seinen ersten Herd gefunden, denn die ewigen Feuer an der Ostseite des Kaukasus waren sicher schon in vorgeschichtlichen Zeiten berühmt. In jener Gegend, zwölf Werst von Baku, in Surakhani, liegt auch der älteste Altar der Welt, auf dem nie verlöschende Flammen noch heute emporlodern und vor dem einst die Parsen ihre Andacht verrichteten. Dieses Feuer wird von Gasen genährt, die von unterirdischen Erdölschichten herstammen und einem Erdspalt entfliehen. Aelter aber als die Geschichte der Feueranbeter und der Tempel des Zoroaster sind die ewigen Feuer der Halbinsel Apscheron.
Auf diesen einst durch religiösen Cultus geheiligten Stätten hat sich in unseren praktischen Tagen eine bedeutende Petroleum-Industrie entwickelt, deren Mittelpunkt die Stadt Baku bildet, welche den vortrefflichsten Hafen des Kaspischen Meeres besitzt und im Lauf des letzten Jahrzehnts einen ungeahnten Aufschwung genommen hat.
Die Oelregion des Kaukasus, deren Ausläufer man in westlicher Richtung bis nach Tiflis und in östlicher bis zum Fuß des Himalaya verfolgen kann, ist weit reicher als jene Amerikas – sie scheint völlig unerschöpflich zu sein – und doch beträgt gegenwärtig die Oelproduction daselbst jährlich nur ein Sechstel der amerikanischen. Wie kam es nun, daß auf allen europäischen Märkten, ja in Rußland selbst amerikanisches Petroleum in ungeheuren Massen Absatz fand, während man bis vor Kurzem das kaukasische kaum beachtete?
Zunächst erleichterte die russische Regierung den Amerikanern den Sieg dadurch, daß sie die Naphthaquellen verpachtete. Dank dieser Einschränkung betrug im Jahre 1863 die ganze Naphthaproduction nur etwa 100,000 Centner. Im Jahre 1872, als sich das amerikanische Petroleum bereits in der ganzen civilisirten Welt eingebürgert hatte, kam die Regierung des Czaren zu der Einsicht, daß sie die Industrie freigeben müsse, sie parcellirte daher ihre Naphthaländereien, verkaufte die Landtheile und ermuthigte Capitalisten zur Ausbeutung der natürlichen Schätze dieser schwarzen wüstenähnlichen Erde. Im Jahre 1877 betrug die Ausbeute bereits mehr als 3 Millionen Centner, trotzdem aber konnte das kaukasische Petroleum auf den europäischen Märkten mit dem amerikanischen noch nicht in die Concurrenz treten, weil die Transportmittel zu unvollständig und zu kostspielig waren. Die Amerikaner besaßen dicht neben der Oelregion Pennsylvaniens ungeheure Wälder und Sägemühlen mit sinnreich construirten Maschinen, sodaß sich Fässer zur Verschickung des Petroleums billig herstellen ließen. Die amerikanischen Raffinerien lagen zumeist am Erie-See oder an bequemen Wasserläufen und waren mit den Oelquellen durch eiserne Röhren verbunden. Auf diese Weise konnte das Petroleum in Fässern mit geringen Kosten von den Raffinerien aus zu Schiff auf’s atlantische Meer und nach den europäischen Hafenplätzen gebracht werden. Der Kaukasus dagegen lag vom Weltverkehr abgeschnitten. Das der Erde entströmende Naphtha wurde hier bald an Ort und Stelle billiger verkauft als das Trinkwasser in Baku, allein die Transportkosten vertheuerten es ungeheuer. Aus den Bohrlöchern ließ man das Erdöl in große Reservoirs fließen, und oft brach der Oelstrahl mit solcher Mächtigkeit aus dem Bohrloch, daß man weder ein Mittel fand, dies wieder zu schließen, noch auch Reservoirs schaffen konnte, um die Naphthafluth aufzunehmen. Jene überschwemmte darum das Land und bildete Oelteiche und Lachen. Aus den Reservoirs mußte man nun das Naphtha auf zweirädrigen Karren 11 Werst weit zur Destillation transportiren, und dieser Transport kostete 9 Kopeken pro Pud.[1] Da nun 3 Pud Naphtha dazu gehören, um durch die Destillation 1 Pud Petroleum zu erhalten, so betrugen die Kosten für dies 1 Pud Petroleum schon 27 Kopeken, noch bevor dasselbe zu weiterer Verschickung bereit lag.
Mit den Rückständen, welche bei der Abklärung des Naphtha zum Petroleum gewonnen wurden, wußte man derzeit gar nichts anzufangen. Staatsrath Radde, der berühmte deutsche Zoologe, dessen große Forschungsreisen durch Sibirien und den Kaukasus uns die genauere Kenntniß jener Länder vermittelten und welchem Tiflis heute sein musterhaft eingerichtetes Museum zu danken hat, erzählt, daß er den Großfürsten Michael von Tiflis nach Baku begleitet habe, als derselbe seinen Posten als Statthalter im Kaukasus bezog. Der Großfürst und sein Gefolge verließen auf Anregung der Bewohner Bakus jene Stadt bei Nacht, um nach Tiflis zurückzukehren. Als nun die Wagen des Statthalters durch die Oelregion fuhren, sahen die Reisenden eine weite magisch beleuchtete Allee vor sich. Die Oelpächter hatten nämlich zu beiden Seiten des Weges aus den Klumpen der Naphtha-Abfälle Kegel aufgerichtet, die sie bei einbrechender Nacht in Brand steckten. Der Wind ließ die Flammen dieser seltenen Fackeln mächtig wachsen und auflodern, und nun jagten die Gespanne zwischen diesen im mächtigen Dunkel gespenstig flackernden und prasselnden Flammen mit Windeseile hin. Der neue Statthalter und seine Begleiter genossen so auf dem Wege über die Halbinsel Apscheron eine Straßenbeleuchtung, wie sie pittoresker und phantastischer wohl kaum jemals geboten wurde. Wir erwähnen dieses Nachtbild nur, um darzuthun, wie wenig man derzeit mit den ungeheuren Massen der Naphtha-Rückstände anzufangen wußte. Aber auch das gereinigte Petroleum konnte man nicht dem großen Handelsmarkte zugänglich machen. Der Bau der transkaukasischen Eisenbahn nach Tiflis und Batum hatte derzeit noch gar nicht begonnen, und man mußte das Petroleum in Fässern mit Segelschiffen nach Astrachan versenden. Von dort wurde dasselbe umgeladen und die Wolga hinauf nach Nischny-Nowgorod gebracht. Die Fässer aber vertheuerten das Petroleum um 30 bis 60 Kopeken pro Pud. Ein großer Uebelstand bei dieser Art der Verschickung lag außerdem darin, daß die Segelschiffe von Wind und Wetter abhingen und daß die Wolga im Winter zugefroren, also nicht passirbar war. So blieben die ungeheuren Schätze für die volkreichen Staaten Europas fast unerreichbar.
Darum scheiterten auch alle Anstrengungen der Besitzer großer Naphthaländereien an der Transportfrage. Kokorew war unter ihnen
- ↑ 1 Pud = 16,38 Kilogramm. 1 Kopeke = 3,2 Pfennig.
der Erste, welcher aus kaukasischem Naphtha Petroleum zu gewinnen suchte. Als die Regierung ihr Land versteigerte, kaufte Kokorew ungeheure Naphthaterrains an, und da er die der Erde entströmenden Gase nicht unbenützt lassen wollte, so legte er seine Fabrik neben dem alten Tempel Zoroaster’s an, und die aus Erdspalten hervordringenden Gase wurden verwendet, um die Kessel der Raffinerien zu heizen. Nun besaß die Fabrik ein Heizmittel, das sie gar nichts kostete, aber die Werke lagen 17 Werst vom Meer entfernt und hatten kein Wasser. Bald stellte sich heraus, daß Kokorew bei der Anlage höchst kurzsichtig verfahren, denn die Gase, welche man umsonst hatte, waren auch völlig werthlos. Es stellte sich nämlich sehr bald für die Fabrik ein unangenehmer Ueberfluß heraus. Bei der Destillation blieben die Rückstände übrig, welche das herrlichste Brennmaterial abgaben und die man 17 Werst vom Hafen nicht zu verwenden wußte. Die Kosten des Transports waren dagegen so bedeutend, daß sie den Ertrag verschlungen hätten. Auf diese Weise erstickte Kokorew im eigenen – Oel, und der Gedanke, die ewigen Feuer als kostenfreies Heizmaterial zu verwenden, führte seinen Ruin herbei.
Die verzweifelte Lage der Naphtha-Industrie wurde zuerst von dem schwedischen Maschinenbauer Ludwig Nobel, einem Bruder Alfred Nobel’s, des Dynamit-Erfinders, klar erkannt, und dieser Riese an Unternehmungsgeist und schöpferischer Kraft fand auch sehr bald die rechten Mittel zur Ueberwindung aller Hindernisse. Er gelangte im Kaukasus bald zu der richtigen Erkenntniß, daß die Gewinnung billigen Naphthas von fast nebensächlicher Bedeutung sei, da dieses Rohmaterial im Ueberflusse und zu wahren Spottpreisen vorhanden war. Die schwierigste Aufgabe lag in der Beschaffung billiger Transportmittel, und diese löste er in so genialer Weise, daß er zum Retter des Naphthalandes wurde. Im Jahre 1875 rief Ludwig Nobel mit einem Capitale von drei Millionen Rubel „Die Naphtha-Productions-Gesellschaft der Gebrüder Nobel“ in’s Leben. Zunächst verband er seine Oelquellen, welche etwa 12 Werst vom Hafen lagen, durch eiserne Röhren mit Baku. Das Erdöl strömt fortan in ungeheure eiserne Reservoirs und von diesen aus durch die Röhren frei nach den in Baku gelegenen Reinigungsanstalten, wo es raffinirt wird. Dank jener Zuleitungsröhren fallen die Kosten für den ersten Transport jetzt vollständig weg, und man kann das Naphtha aus den großen Reservoirs ganz nach Bedarf den Reinigungsanstalten zulaufen lassen. Da die letzteren nun am Hafen liegen, so läßt sich das Petroleum sofort und ohne erhebliche Kosten auf die Schiffe überführen.
Ein weiteres Hemmniß – und zwar das größte von allen – für die Verschickung des Petroleums lag in der Verpackung durch Fässer. Der geniale Schwede machte sie vollständig entbehrlich. Er ließ in Schweden eiserne Dampfer bauen, welche außer der Schiffsmaschine und einigen Deckhäuschen nur große Bassins zur Aufnahme des raffinirten Petroleums enthielten. Von den am Hafen gelegenen Reservoirs der Raffinerie ließ man nun das Petroleum in die Dampfer fließen und fuhr mit diesen über das Kaspische Meer nach Astrachan und von dort die Wolga hinauf bis nach Zaryzin, jenem wichtigen Eisenbahnknotenpunkte südlich von Saratow, wo das Oel mittelst der Locomotive gen Norden und Westen weiter befördert wird. Um die Umladung möglichst einfach bewerkstelligen zu können, legte Nobel in Zaryzin hochstehende eiserne Reservoirs an, in die der Inhalt der anlangenden Dampfer durch eine Dampfpumpe entleert wird. Aus den Centralreservoirs zu Zaryzin läßt man dann das Petroleum in die mit eisernen Kesseln versehenen Waggons ab. Diese Eisenbahnwagen sind vollkommen zweckentsprechend gebaut und werden zu großen Petroleumzügen rangirt. Die Ueberführung der colossalen Flüssigkeitsmassen von den Dampfern zu den Centralbassins und von diesen zu den kesselartigen Eisenbahnwaggons wird durch die von wenigen Personen geleiteten Maschinen so einfach vollzogen, daß fremde Besucher die ungeheuren Anlagen für verödet halten müßten, wenn sie nicht das Geräusch der ruhig arbeitenden Dampfpumpe vernähmen, welches dem Athemholen eines Riesen gleicht.
Selbstverständlich erforderte die Durchführung des neuen Systems einen ungeheuren Aufwand von Capital und Arbeitskraft. Gegenwärtig verbinden in Baku sechs kolossale Zuleitungsröhren die Naphthaquellen mit den am Hafen gelegenen Raffinerien. Die Gesellschaft besitzt ein weites Terrain zu Balathani, auf welchem 45 Quellen im Betriebe sind. Charles Marvin, der bekannte englische Zeitungscorrespondent, erzählt in seiner Schrift über Baku, die Gebrüder Nobel hätten im letzten Jahre eine Quelle aufgeschlossen, welche 200 Fuß hoch in die Luft stieg und an 42 Tagen gegen 150 Millionen Liter Naphtha auswarf. Alle Anstrengungen, diese Quelle, deren Fluth man nicht zu sammeln vermochte, wieder zu verschließen, erwiesen sich dem mächtigen Oelstrahle gegenüber als vergeblich. Die Raffinerien der Gesellschaft in Baku vermögen heute 500,000 Centner gereinigtes Petroleum per Monat zu liefern. Die Werke arbeiten bis jetzt jedoch nur acht Monate im Jahre, da die Wolga der Schifffahrt im Winter verschlossen ist.
Die Vermehrung der Transportmittel für diese Massenproducte ist eine ganz erstaunliche. Im Jahre 1878 ging der erste Petroleumdampfer der Gebrüder Nobel, welcher den passenden Namen „Zoroaster“ trug, von Baku nach Zaryzin ab. Heute, wo das Grundcapital der Gesellschaft auf 10 Millionen Rubel erhöht ist, besitzt dieselbe [498] bereits 12 Dampfer auf dem Kaspischen Meere und 11 Dampfer auf der Wolga, 8 Eisenbarken und 7 Holzbarken mit Eisenbassins, endlich 32 Holzbarken zum Transport der Rückstände. Außer dieser Flotte besitzt die Gesellschaft 1500 Eisenbahnwagen mit Zehntonnenbehältern und Depôts mit Reservoirs zu Zaryzin, Orel, Moskau, St. Petersburg, Warschau und vielen andern Plätzen. Nun ist vor Kurzem auch der Schienengürtel vollendet, welcher Transkaukasien von Baku nach Batum durchquert. Schon gehen die mit Petroleum belasteten Eisenbahnwagen nach Tiflis und den Häfen des Schwarzen Meeres, und bald werden Petroleumschiffe zu den Häfen des Mittelländischen Meeres und die Donau hinauf bis nach Wien gelangen.
Man muß in der That die grandiosen Anlagen und Verkehrsmittel der Gebrüder Nobel bewundern. Diese genialen Schweden haben den tausendjährigen Naphthaquellen die Wege zu den Hauptstädten Europas geebnet, und ihre Schöpfungen beweisen, wie gut menschlicher Erfindungsgeist und menschliche Energie ungeheure Entfernungen und andere Hemmnisse zu überwinden vermögen. Vielleicht liegt in dem Namen Nobel ein günstiges Omen für die Zukunft; vielleicht setzen die Oelkönige des Ostens ihren Stolz darauf, der Welt das denkbar billigste Licht zu liefern. Gelingt es den Petroleumproducenten des Kaukasus, durch billigeres und besseres Oel erfolgreich mit den Amerikanern zu concurriren, so können wir uns darüber nur herzlich freuen, denn Petroleum ist das Licht des armen Mannes. Werden uns aber die uralten Lichtquellen des Kaukasus erschlossen, dann hat für die Culturstaaten Europas der Spruch wieder Geltung:
Brausejahre.
(Fortsetzung.)
Die alte Frau von Werthern war in der letzten Zeit mit dem Betragen ihrer Schwiegertochter außerordentlich zufrieden gewesen.
Emilie hatte es sogar neuerdings abgelehnt, in dem Goethe’schen Singspiel „Erwin und Elmire“ – von der Herzogin Amalie in Musik gesetzt – die Hauptrolle zu übernehmen, zu der man sie, neben Mademoiselle Rudorf, auf den besonderen Wunsch des Herzogs bestimmt hatte. Sie zog sich erst zurück, nachdem schon ein Paar Proben abgehalten waren, und brachte die Gesellschaft in einige Verlegenheit. Sic schützte aber Unwohlsein vor, und in der That konnte man ihr glauben, so seltsam bewegt, wechselnd in Farbe und Ausdruck wie jetzt, war sie früher nie gewesen. Auguste von Kalb trat nach einigen koketten Winkelzügen für sie ein und machte nun mit dem Kammerherrn von Seckendorf das zweite Paar.
Ließ auch Emiliens Verfahren an Rücksichtnahme einiges zu wünschen übrig, so verzieh ihr die Schwiegermutter in dem tröstlichen Gefühl, daß sie den bösen Zungen, die ihre Beziehungen zu dem jungen Fürsten bespöttelten, diesmal keine Ursache zu schlimmen Bemerkungen gebe. Auch daß Emilie viel zu Hause blieb, still für sich in der Gartenlaube saß, sich höchstens von dem ungefährlichen Bergrath von Einsiedel vorlesen ließ, diente zur Beruhigung der alten Dame. Sie empfand es als ein um so größeres Glück, daß Milli plötzlich so verständig geworden war, als ihr Gatte sie ärger denn je vernachlässigte.
Der Rittmeister hatte mit der Fuchsstute ein gutes Geschäft gemacht und schwamm im Ueberfluß; die Zeit der contractlichen Rücksichtsnahme für seine Frau war überstanden, er lebte jetzt also um so wilder, war oft Tage und Wochen lang auf Nachbargütern, zu dienstlichen Ritten oder Jagdpartien entfernt und bekümmerte sich wenig um beide Damen.
Emilie schien die Empfindlichkeit über ihres Mannes Benehmen abgelegt zu haben. Wenn er früher Tage lang nicht nach Hause kam, oder Abend für Abend in’s Wirthshaus ging, hatte sie sich schweigsam mit Thränen in den Augen abgewandt. Jetzt fand er sie immer gleichmüthig gestimmt. Raffte er sich zu einer Art Entschuldigung über sein Ausbleiben, seinen Lebenswandel zusammen, so pflegte sie zu entgegnen: er solle doch ja nach seinem Gefallen leben und ihretwegen sich nicht beunruhigen. Kurz, sie machte es jetzt beiden Theilen recht und war ihm eine so bequeme Frau, daß er anfing, sie auf seine Weise gern zu haben.
Es war an einem warmen Junitage, als Emilie mit ihrer Filetarbeit in der verschnittenen Lindenlaube saß, welche ihr den kleinen Stadtgarten so angenehm machte. Dies Fleckchen hinter dem von Häusern eingeschlossenen Hofplatz, eingehegt von einer Nachbarmauer, an zwei Seiten von andern Gärten umfaßt, war trotz seiner Enge, seiner Ein- und Abgeschlossenheit ein Paradies für die junge Frau geworden. Ein Paar schmale, von Buchsbaum und Lavendel begrenzte Wege, ein alter hoher Apfelbaum voll Staar- und Sperlingsgezwitscher, einige Taxusfiguren, ein Beet mit starkduftenden Narcissen und etwas Gebüsch gab die ganze Herrlichkeit ab. Die Lindenlaube war auch mehr einem Vogelbauer ähnlich, als einem Aufenthalt im Freien, sie hatte eine ringsum laufende Bank und einen runden, den mittleren Lindenstamm umfassenden Tisch, an dem Emilie jetzt ihr Nadelkissen zu einer endlosen Filetarbeit festgeschraubt hatte. Sie ließ aber oft die Hände sinken und schaute ungeduldig nach der kleinen Lattenthür, die auf den Hof führte; es war ersichtlich, daß sie Jemand erwartete.
Endlich öffnete sich das Pförtchen, und Moritz von Einsiedel trat in den Garten; das hübsche Gesicht der jungen Frau wurde bei seinem Erscheinen von einem hellen Roth der Freude übergossen. Er kam zu ihr in die Laube, küßte ihr die Hand und setzte sich neben sie; ein Buch, das er mitgebracht hatte, auf den Tisch legend.
„Sie sehen ernster aus als sonst, Herr von Einsiedel,“ sagte Emilie, ihn ängstlich beobachtend. „Habe ich irgend etwas gethan, das Sie verdrießt? Als Sie gingen, waren Sie mit mir zufrieden, weil ich die Rolle der Elmire auf Ihren Rath abgegeben hatte.“
„Es war verständig von Ihnen, daß Sie mir folgten; seien Sie ferner vorsichtig, auch wenn ich nicht da bin, Sie zu warnen.“
„Müssen Sie schon wieder verreisen?“ rief sie erschrocken.
Er seufzte, sah sie an und murmelte gepreßt: „Ja, auf lange Zeit.“
Sie schrie fast auf: „Gehen wollen Sie? Um Gottes willen, was haben Sie vor?“
„Ich komme, dem Rittmeister die Wohnung zu kündigen, da ich ganz fort will,“ sagte er hart und trocken.
Emilie war sichtlich keines Wortes mächtig, endlich brach sie in Schluchzen aus. Sie legte ihren Kopf in beide Hände und weinte laut, während ihr Körper krampfhaft bebte.
Diesen rückhaltlosen Ausbruch der reizbaren Frau hatte er nicht erwartet. Auch seine Farbe wechselte; er flehte sie an, sich zu beruhigen, er wolle ganz, ganz rückhaltlos offen gegen sie sein, dann müsse und werde sie ihm Recht geben. Er zog ihr die Hände von den Augen, küßte ihre thränenfeuchten Finger, sprang dann plötzlich auf, machte einen raschen Gang durch den kleinen Garten und kehrte beruhigter zu ihr zurück.
Sie erwartete ihn bleich mit weitgeöffneten, fragenden Augen.
„Was treibt Sie fort,“ stammelte sie, „warum wollen Sie mir das anthun? Sie wissen ja, wie glücklich ich war, wenn Sie mir vorlasen, mit mir plauderten! Ich war nicht mehr vergnügungssüchtig, nicht mehr anspruchsvoll. Diese Laube war meine Welt. Ich konnte jetzt meine Schwiegermutter und Werthern zufrieden stellen, aber nur, weil ich glücklich war durch den Verkehr mit Ihnen.“
Es lag etwas Schlichtes, Rührendes in ihren Worten und in der demüthigen Weise, in der sie sprach.
Er setzte sich ihr gegenüber; ernst und doch voll Milde und Liebe sah er das bebende junge Weib an, dann sagte er mit tiefem Athemzuge:
„Ich fühlte lange, daß ein rettender Entschluß für uns Beide gefaßt werden müsse. Täglich konnte ich Sie weniger entbehren, Emilie. Seit dem Winter fingen plötzlich meine Gedanken an, sich nur auf Sie zu richten. Ich war nicht mehr derselbe, ich konnte nicht bei meinen Büchern aushalten. Immer dachte ich daran, wie ich Ihnen begegnen könnte. Seit einigen Wochen trafen wir uns täglich. Anfänglich ergab auch ich mich dem Reiz dieses Verkehrs ohne Gegenwehr, dann ward mein Zustand, wenn [499] ich nicht bei Ihnen war, ein peinvoller Kampf. Wohin führte uns diese Neigung, der wir uns überließen? – Es ward nichts zwischen uns ausgesprochen, aber wir wußten, wir fühlten Beide, bei jedem Blick, jedem Laut, jeder Berührung, wie theuer wir einander waren. – Ich bin kein gewissenloser Phantast, Emilie; ich will uns nicht in’s Elend stürzen. Ich bin ein Mann, der ernst mit sich und seinen Leidenschaften ringt. Fest sagte ich mir: bis hierher und nicht weiter! Dann fragte ich mich: was thun? Wie der gefährlichen, der wachsenden Empfindung, entgegentreten oder ihr entrinnen? – Da bot sich mir die nöthige Umkehr in der Form einer jahrelangen Trennung. – Mir wurde kürzlich von einer Compagnie zur Ausbeutung afrikanischer Goldbergwerke ein günstiges Anerbieten gemacht. Unter anderen Verhältnissen würde ich meine Stellung hier nicht aufgeben, jetzt thue ich es Ihret-, unsertwegen, Emilie. Es ist ein rettender Ausweg, den ich mit blutendem Herzen, aber getrieben von der Nothwendigkeit einer Trennung einschlage.“
„Das überlebe ich nicht!“ stöhnte sie mit verzweiflungsvollem Ausblick. „Verlassen von Ihnen, was soll ich anfangen? O, könnte ich mich, doch von Werthern scheiden lassen!“
„Scheiden, scheiden!“ rief er, das Wort aufgreifend. „Scheiden, ja, das wäre nichts als ein äußerliches Bethätigen des innerlich längst Geschehenen.“
„O sagen Sie mir, was ich thun soll? Ich gehorche Ihnen, ich will nichts, als mich Ihnen unterwerfen. Soll ich zu Werthern gehen und ihm sagen, was ich wünsche? Vielleicht wird er mich schlagen, aber was schadet das! Die Mutter –“ sie stockte plötzlich, ward roth und blaß, sagte noch einmal: „Die Mutter“ – und brach dann wieder in Thränen aus.
„Nun?“ fragte er gespannt. „Glauben’ Sie, daß Frau von Werthern Ihnen wesentliche Hindernisse in den Weg legen kann?“
„Meine Schwiegermutter,“ stammelte Emilie, „ist ein Engel; sie besitzt alle die Tugenden, welche ihrem Stiefsohne fehlen. Sie öffnete mir ihre Arme, nahm mich in ihre Obhut und ward meine Freundin. Was sie vermochte, hat sie für mich gethan. Dafür forderte sie nur, daß ich den bösen Schein meide, daß ich einen Schleier über mein trauriges häusliches Verhältniß werfe und meinem, ihrem guten Namen jedes Opfer bringe. Mit den heiligsten Eiden habe ich ihr diese Schonung zugeschworen. Ich würde sie entsetzen, wenn ich ihr von einer Scheidung sprechen wollte. Das war es, was eben wie mit Bergeslasten auf mich fiel!“
Nach einer für beide Seelen inhaltschweren Pause sagte er:
„Sie haben Recht, eine Scheidung ist etwas Verletzendes für alle Theile. Auch ich bange davor, dies Verfahren über Sie kommen zu sehen.“
„Aber was dann?“
„Ich wähnte sagen zu können: bis hierher und nicht weiter!
Aber eine neue Stunde bringt neue Gewalten in’s Spiel; treibende, fordernde, herzbewegende Empfindungen. Eben war ich noch Herr der Verhältnisse, sicher die Wogen meines Lebensstromes theilend – jetzt schlagen mir die Sturzwellen über dem Kopfe zusammen.“
„O, daß ich Sie mit mir in diese Noth bringe!“
„Emilie! Noth? Ist das, was ich für Sie empfinde, nicht trotz Allem – Seligkeit?“
„Moritz, also doch? Also wirklich?“ jubelte sie.
„Ich bin wie aus einem Kerker an’s Licht gestiegen. Vergraben in meine Wissenschaft, suchte und fand ich nur in ihr Zweck und Ziel. Plötzlich schmückt sich in der Liebe zu Dir das Leben mit ungeahntem Reize. Ich weiß, ich fühl’s jetzt: Mann und Weib können sich hienieden das Höchste sein und geben!“
„Oder das fürchterlichste Elend bereiten,“ sagte sie jammernd.
„Ja, Du hast Recht! Es ist eine Grausamkeit, Dich, liebstes Wesen, Dich, für deren Wohl mein Vaterland aufgebe, hier in dieser unwürdigen Lage hülflos zurückzulassen, seiner, des Rohen Gewalt preisgegeben!“
Emilie stöhnte in wortloser Qual.
Er schwieg, tiefbewegt und schaute rathlos vor sich hin.
„Wäre ich doch todt;“ seufzte sie, „und läge daheim auf dem elterlichen Gut in der düstern Familiengruft!“
„Ja, es wäre, besser für Dich!“
Es war ein Seufzer der Verzweiflung und zugleich der Resignation, mit dem er diesen herben Ausspruch that.
Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, sah dann plötzlich wie von einem Entschluß erfaßt auf und sagte:
„Ich will keine Eclat machende Scheidung, aber ich will Trennung; ich bleibe nicht bei ihm! Mein guter, treuer Bruder, der jetzt das elterliche Gut bewirthschaftet, verheirathet mit einer Jugendfreundin von mir, hat mir versprochen, daß er mich aufnehmen wolle, wenn Werthern mich schlecht behandle. Ich war schon oft in Leitzkau bei den Geschwistern. Sie kennen meine Liebe und Rücksichtnahme für die herrliche alte Frau hier und billigen diese Empfindung. Ich will zu ihnen, ihnen meine Lage schildern, um ihren Beistand flehen, sie sollen mich für den traurigen Rest meines Lebens bei sich behalten.“
„Wird Deine Schwiegermutter diesen Plan der Trennung billigen?“
„Ich nehme keinen Abschied von ihr; ich theile ihr meine Absicht nicht mit! Wenn sie mich wiedersehen will, muß sie auf das Gut kommen.“
„Armes Kind, wie wirst Du es ertragen, ohne Zweck und Ziel, in der Einsamkeit begraben Dein Leben hinzubringen! O, könnten wir wenigstens die kurz gemessene Zeit vorher bei einander sein! Dann nähmen wir Beide eine glückselige Erinnerung mit in unsere Verbannung!“
Sie griff dieses Wort auf, sie versicherte ihm, er werde als Gast ihres Bruders willkommen sein; sie malte ihm aus, wie abgeschieden und sicher vor Späherblicken man in Leitzkau lebe, wie Geschwister ihnen ein paar Tage Seligkeit, ein paar Tage unbefangenen Sehens, Verkehrens, sich Liebens gönnen würden.
„Und sollte auch der Tod am Ende einer solchen Himmelswonne lauern,“ rief sie leidenschaftlich, „er würde mir willkommen sein! Was gäbe es denn noch Höheres, Herrlicheres in dieser Welt zu erleben, als die genossene Seligkeit mit Dir? Dann wüßte ich, weshalb ich geboren wurde, und wollte gern scheiden!“
Sie verfolgten ihren Plan und beschlossen, Weimar zusammen zu verlassen.
Emilie meldete sich bei ihren Geschwistern, und der Bergrath kündigte seinem Hauswirth die Wohnung, löste seine Beziehungen und richtete Alles zur Abreise ein.
Als die junge Frau über ihre angegriffene Gesundheit klagte, rieth die Mutter selbst zu einem Landaufenthalte beim Bruder.
Da eben der Hof einen begünstigten Theil der Gesellschaft zu längerem Besuche auf der Ettersburg einlud, wo mancherlei Lustbarkeiten stattfinden sollten, und auch Emilie dieser Auszeichnung gewürdigt ward, trieb die sorgliche alte Dame selbst ihre Schwiegertochter, bald nach Leitzkau abzureisen, um sich die Anstrengungen der Ettersburger Fêten nicht aufzuerlegen. Sie war entzückt von dem Verhalten ihres verständigen, folgsamen Kindes, das die Freuden der Hofgesellschaften aus Rücksichten, und wie sie meinte auf ihr Zureden, opferte, und hoffte, daß sich so nach und nach immer mehr ihre gefährlichen Beziehungen zu dem jungen Herzoge lösen würden.
Herr von Einsiedel zog aus dem Werthern’schen Hause fort; er beabsichtigte die letzte Nacht im Gasthofe zuzubringen.
Der Rittmeister war vor ein paar Tagen abgereist, um eine große Hofjagd in Sondershausen mitzumachen.
Emilie hatte sich den Wagen ihres Bruders zur Stadt bestellt, sie wollte am andern Tage Weimar verlassen; diesen letzten Abend verlebte sie bei ihrer Schwiegermutter in deren wohnlichem Stübchen, aus dem sie sich so oft Trost und Liebesbeweise geholt hatte.
„Du bist wirklich sehr nervenschwach, mein liebes Kind,“ sagte die alte Dame beim Abschiede in ermunterndem Tone zu der Weinenden. „Es ist die höchste Zeit, daß Du hier fort und auf das Gut kommst. Ich empfinde ja mit Dir, mein Schäfchen, aber um so mehr lobe ich Dich und halte Dich in Ehren! Du wirst es nie bereuen, Deiner alten, besten Freundin gefolgt zu sein.“
Das war zu viel Güte von Seiten der arglosen Frau! Emilie warf sich, ergriffen von Trennungsschmerz, ihr zu Füßen, umfaßte ihre Kniee und schluchzte laut.
Frau von Werthern erschrak. „Welche Scene, mein Kind! Keine Exaltation, ich bitte; auch meine Nerven ertragen das nicht. Steh’ auf und geh’, wir sehen uns hoffentlich bald und frischen Muthes wieder!“
Emilie sprang auf, noch einmal umfaßte sie die Mutter, küßte sie leidenschaftlich und stürzte wortlos hinaus.
[500] Am andern Morgen stand der Leitzkauer Wagen, bepackt mit ein paar Koffern, vor Emiliens Hause. Erfüllt von widerstreitenden Empfindungen, warf die Flüchtende, die auf Nimmerwiederkehr Scheidende, sich hinein. Sie hatte mit Einsiedel die Abrede getroffen, daß er zu Fuß die Stadt verlassen und draußen, an der kleinen Schleuse des Schwanensees, zu ihr in den Wagen steigen solle. Sowie sie das Thor hinter sich hatte, richtete sich all ihr Denken auf ihn. Eine wallende Freude und Spannung erfüllte ihr leichtbewegliches Gemüth, und, den Ledervorhang der Kutsche zurückschiebend, legte sie sich weit hinaus, um nach dem Ersehnten auszuspähen. Da schritt vor dem Wagen ein Mann auf die kleine Wiesenschleuse zu; das mußte er sein!
Sie gebot dem alten Kutscher aus der Heimath, bei dem Herrn drüben anzuhalten. Der Mann nickte gehorsam, schlug auf seine Gäule und fuhr auf die vor ihm befindliche Gestalt zu; jetzt hielt er dicht neben dem Wanderer. Emilie bog sich weit heraus, um ebenso rasch erschrocken zurück zu fahren.
Es war der Oberkämmerer von Göchhausen, welcher, von seinem Krankenlager erstanden, den gewohnten Morgenspaziergang machte und jetzt an der Schleuse stand; sie zerstreut aus seinen wasserblauen Augen anstarrend, schlug er mit dem Stock auf das Holz und sagte pathetisch:
„Louis Wilhelm von Göchhausen ist hier gewesen!“
Dann wandte er sich ab und schritt davon. Auf der andern Seite des Wagens aber wurde in diesem Augenblicke die Thür aufgerissen; mit raschem Satz sprang Moritz von Einsiedel zu der Geliebten herein!
Schon war der schwarze Tod, die Pest, welche durch Jahrhunderte die Länder entvölkert hatte, in Europa erloschen und auch im fernen Osten lag ihre verheerende Macht in letzten Zügen. Da erhob an den Ufern des heiligen Ganges eine neue Hydra ihr furchtbares Haupt; eine ruhrartige Krankheit begann in Ostindien zu wüthen und „befiel so viele Menschen und tödtete so viele von ihnen“, daß sie nach dem Ausspruche des altrömischen Arztes Galen den Namen einer Pest verdiente! Im Mai des Jahres 1817 erschien sie an einem Arm des Gangesdelta, und von hier unternahm sie ihre Verheerungszüge durch ganz Ostindien, bald den schiffbaren Stromläufen, bald den Verkehrsstraßen folgend. Sie herrschte, stieg und fiel während aller Zeiten des Jahres, weder Kälte noch Wärme, weder Dürre noch unaufhörlicher Regen übten einen Einfluß auf ihre Entwickelung – sie spottete aller Abwehrmittel der Menschen. Seit jenem Jahre blieb sie heimisch in Ostindien.
Es war die Cholera, welche von hier aus Asien, Afrika und Europa in späteren Jahrzehnten bedrohen und selbst nach Amerika ihre tödtlichen Boten entsenden sollte. Schon 1823 hatte sie die Küsten des mittelländischen und kaspischen Meeres erreicht, hemmte aber plötzlich ihren Lauf, sodaß damals die europäischen Länder von ihr noch verschont blieben. Einige Jahre später 1829 erschien sie jedoch unerbittlich vor den Thoren des europäischen Rußlands in der Uralveste Orenburg, 1830 nistete sie sich in dem kaspischen Hafen von Astrachan fest und drang von hier über Rußland und Polen nach Deutschland und dem übrigen Europa ein.
Auf diese erste große Cholera-Epidemie, welche bis zum Jahre 1837 wüthete, folgten neue in den Zeiträumen von 1846 bis 1863 und 1865 bis 1875, abgesehen von den kleineren Epidemien, die sich nicht auf Welttheile erstreckten, sondern nur einzelne Länder befielen.
Wer zählt die Opfer, welche die Seuche bis jetzt dahingerafft? Die Statistik schweigt darüber. Wohl aber kennen die Völker ihre verderblichen Folgen, kennen den schlimmsten Feind, den ihnen dieses Jahrhundert brachte!
Zehn Jahre ließ er die europäische Cultur in Frieden, Ein Jahrzehnt schienen die Vorsichtsmaßregeln im Verkehr mit Indien, die sein Eindringen verhüten sollten, wirklich zu nützen. Da kamen plötzlich und unerwartet Hiobsposten aus den Hafenstädten des südlichen Frankreichs. Oefter als sonst ertönte das Sterbeglöcklein in den Straßen Toulons, auf seinen Plätzen loderten Flammen der brennenden Scheiterhaufen – ein altes Schauspiel wiederholte sich in neuen Zeiten, Eine Seuche befiel die Stadt, und die Nachkommen der Gallier kämpften mit den alten Mitteln des Aberglaubens gegen die unsichtbare feindliche Macht. Tausende flohen, denn es unterlag keinem Zweifel, daß die asiatische Cholera in Toulon ausgebrochen und bald hierauf nach Marseille verschleppt worden war. Nur wenige eilten auf die Bresche, um dem gefürchteten Feinde muthig die Stirn zu bieten – einige Aerzte waren es, unter ihnen als Vornehmster unser Robert Koch, der in Ostindien vor Kurzem „dem Gespenst die Larve abgerissen hatte“.
Durch die Nachrichten, welche diese erfahrenen Männer aus dem Süden sandten, wurden die Gemüther in Frankreich und den angrenzenden Ländern beunruhigt, die Regierungen traten zu Berathungen zusammen, ein Treiben und Arbeiten begann, als ob eine Kriegserklärung in Sicht wäre. Man berechnet die Stärke des Feindes, man mustert seine eigenen Kräfte, man sucht die Erfahrungen früherer Feldzüge zu verwerthen, um das eigene Land zu schützen. Und in der That ist die heutige Lage ernst: von Marseille und Toulon, zwei verkehrsreichen Städten, kann sich die Cholera über ganz Europa ausbreiten, und in Anbetracht dieser Thatsache ist jedes Verschweigen der Gefahr durchaus verwerflich. Auch die große Masse des Volkes muß sich mit ihr vertraut machen, denn, wenn die schwere Prüfung über uns ergehen sollte, dann wird Jeder berufen sein, mitzuwirken an der Bekämpfung der Seuche.
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Daß wir gegen die früheren Einfälle der Cholera nicht besonders gut gerüstet waren, weiß wohl Jedermann. Vor Allem fehlte uns die Kenntniß der Ursachen dieser Seuche, und darum fehlte auch allen Unternehmungen gegen dieselbe die nothwendige Klarheit, die Jeden überzeugen würde. Den Abwehrmitteln wurden Hypothesen zu Grunde gelegt, die, von den Einen anerkannt, von den Andern bekämpft, ein einheitliches Vorgehen erschwerten. In dieser wichtigen Hinsicht dürfte heutzutage ein wesentlicher Fortschritt gegen früher zu verzeichnen sein. Der geheimnißvolle Schleier, welcher die Entstehung der Cholera umgab, ist zerrissen, und allmählig beginnen sich die Ansichten zu klären, allmählig wird das schwierige Räthsel, welches Jahrzehnte lang die Forscher beschäftigte, der endgültigen Lösung näher gebracht.
Schon früher vermuthete man, daß die Cholera, ähnlich einigen anderen ansteckenden Krankheiten, durch einen jener kleinen mikroskopischen Organismen erzeugt werde, die in der Luft, im Wasser und in dem Boden verbreitet sind, von denen viele für uns vollständig belanglos sind, von denen eini, wie z. B. der Hefepilz, uns nützlich sein können, und von denen einige wenige zu den fürchterlichsten Feinden des Menschen gehören. Sobald die letzteren in unsern Körper gelangen, vermehren sie sich in demselben in riesigen Verhältnissen, rufen gewaltige Störungen hervor und führen selbst den Tod herbei.
Diese zu den Spaltpilzen gehörenden Wesen sind unendlich klein, viel kleiner als die winzige Trichine, denn 30,000 Millionen dieser Individuen können in dem Raume eines Stecknadelkopfes enthalten sein und wiegen alsdann erst den tausendsten Theil eines Gramms. Wir wissen, daß der Milzbrand, jene ganze Heerden vernichtende und auch Menschen tödtende Seuche, durch derartige Organismen, die sogenannten Milzbrand-Bacterien, hervorgerufen wird, wir wissen auch, daß die Malaria, jenes verderbliche Fieber sumpfiger Gegenden, ähnlichen Pilzen, die in den Sümpfen entstehen, ihren Ursprung verdankt.
Es ist gewiß als eine große wissenschaftliche Errungenschaft zu bezeichnen, daß es dem verdienstvollen deutschen Forscher, Robert Koch, gelungen ist, nachzuweisen, daß die frühere Vermuthung auf Wahrheit beruhte, daß in der That die Cholera durch Einwanderung eines solchen winzigen Pilzes in den menschlichen Körper erzeugt werde. Derselbe, dem der Name Komma-Bacillus beigelegt wurde, sieht einem gekrümmten Stäbchen, einem geschriebenen Komma ähnlich, durch welche Form er sich besonders von seinem geradlinigen Verwandten unterscheidet. Er ist mit
[501][502] Eigenbewegung ausgestattet, und Koch sah ihn in einem Tropfen Nährlösung sich rasch durch das Gesichtsfeld des Mikroskops hin und her bewegen. Zuerst wurde er im Darme Cholerakranker gefunden, dann auch in den Entleerungen derselben.
Von höchster Bedeutung sind einige Aufschlüsse über die Lebensbedingungen des Komma-Bacillus. Die Feuchtigkeit ist sein Lebenselement, die Trockenheit einer seiner größten Feinde. Koch hat gefunden, daß dieser Pilz, dem Eintrocknen ausgesetzt, rascher abstirbt, als kaum eine andere Bacterienart. Gewöhnlich ist schon nach dreistündigem Eintrocknen alles Leben im Komma-Bacillus erloschen. Dagegen wurde die wichtige Beobachtung gemacht, daß in der Wäsche der Cholerakranken, wenn sie mit deren Entleerungen beschmutzt war und während 24 Stunden im feuchten Zustande gehalten wurde, die Cholerabacillen sich in ganz außerordentlicher Weise vermehrten. Dieselbe Erscheinung trat ferner ein, wenn Entleerungen Cholerakranker oder der Darminhalt von Choleraleichen auf feucht gehaltener Oberfläche von Leinwand, Fließpapier oder ganz besonders auf der Oberfläche feuchter Erde ausgebreitet wurden. Nach 24 Stunden hatte sich regelmäßig die ausgebreitete dünne Schleimschicht vollständig in eine dichte Masse von Cholerabacillen verwandelt.
Zu erwähnen wäre schließlich, daß der Cholerabacillus gegen Säuren sehr empfindlich ist, daß schon verhältnißmäßig geringe Mengen derselben sein Leben zerstören. Schon die geringe Menge von Säure, welche sich im gesunden Magen vorfindet, scheint, wie Experimente an Thieren beweisen, zu genügen, um den Komma-Bacillus zu verdauen, oder zu tödten.
Leider können diese wichtigen Entdeckungen Koch’s noch nicht als erschöpfend betrachtet werden. Wir wissen, daß die meisten Bacterien, aus ihrer gewöhnlichen Form in eine andere, in die sogenannte Dauerform übergehen können. So bildet z. B. die Bacterie des Milzbrandes Sporen, die Wochen, Monate, ja Jahre hindurch ihre Lebensfähigkeit behalten und unter günstigen Umständen sich wiederum in Bacterien verwandeln. In dieser Dauerform sind die niedrigen Organismen gegen die äußeren Einflüsse, gegen Hitze, Trockenheit, Säuren etc., viel widerstandsfähiger als sonst. Man nimmt nun an, daß auch der Komma-Bacillus in eine solche Dauerform übergehen könnte, es ist aber bis jetzt nicht gelungen, dieselbe zu finden. Aber die oben mitgetheilten Thatsachen genügen schon, um auf die Art und Weise der Verbreitung der Cholera einiges Licht zu werfen, und sie werden noch durch eine höchst bemerkenswerthe Erfahrung Kochs in Ostindien wesentlich ergänzt.
In der Heimath der Cholera wurden seit langer Zeit kleine Cholera-Epidemien beobachtet, die sich nur auf die nächste Umgebung der sogenannten Tanks erstreckten und darum den Namen Tankepidemien erhielten.
Unter Tanks versteht man nun in Bengalen kleine, von Hütten umgebene Teiche oder Sümpfe, welche den Anwohnern ihren sämmtlichen Wasserbedarf liefern und zu den verschiedensten Zwecken, wie Baden, Waschen und auch zur Entnahme des Trinkwassers benutzt werden. Daß bei so mannigfaltigem Gebrauche das Wasser im Tank stark verunreinigt wird, ist selbstverständlich. Sehr oft kommt aber noch nach dem Berichte der deutschen Cholera-Expedition hinzu, daß Latrinen, wenn Einrichtungen primitivster Art so genannt werden dürfen, sich am Rande des Tanks befinden und ihren Inhalt in den Tank ergießen, und daß überhaupt das Tankufer als Ablagerungsstätte für allen Unrath und insbesondere für menschliche Fäcalien dient. Es lag darum nahe, die oben erwähnten kleinen Epidemien mit der Beschaffenheit des Tankwassers in Verbindung zu bringen.
Als nun in Saheb Bagau, einer der Vorstädte von Calcutta, wiederum eine solche Epidemie ausbrach, begab sich Koch an Ort und Stelle und erfuhr, daß unter Anderem auch die mit Choleradejectionen beschmutzten Kleider des ersten tödtlich verlaufenen Cholerafalles im Tank gereinigt wurden. Das Wasser des Teiches wurde nun zu verschiedenen Zeiten mikroskopisch untersucht, und in den ersten Wasserproben fanden sich Cholerabacillen in ziemlich großer Menge vor. Als die Epidemie dagegen schon im Erlöschen begriffen war, konnten nur noch im Wasser, das einer sehr stark verunreinigten Stelle des Tank entnommen wurde, die Cholerabacillen in nur geringer Anzahl nachgewiesen werden.
So wurde hier durch einen vielleicht verschleppten Cholerafall das Trinkwasser von Saheb Bagau vergiftet und wurde zum Träger und Verbreiter der Epidemie.
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Fassen wir nun diese Thatsachen zusammen, so werden sich für uns folgende Schlüsse ergeben:
Eine große Gefahr der Cholera-Ansteckung liegt in den Entleerungen der Erkrankten, durch welche unsere Gebrauchsgegenstände und Nahrungsmittel verunreinigt werden.
Die Krankheitsträger gelangen durch den Mund und Magen in den Darmcanal und rufen, hier angelangt, die Erscheinungen der Cholera hervor. Ein gesunder Magen schützt den Körper in gewissem Grade vor der Ansteckung, und darum müssen zur Zeit der Epidemie alle für die Verdauung schädlichen Einflüsse vermieden werden, was ja auch der alten Erfahrung aus früheren Epidemien durchaus entspricht.
Da ferner die Bacillen im Stuhl der Cholerakranken nachgewiesen sind, so müssen alle derartigen Entleerungen desinficirt werden. Die Thatsache, daß auf der Oberfläche feuchter Leinwand die Bacillen sich in großer Menge entwickeln, verräth wiederum die Wäsche der Kranken als ein Verschleppungsmittel der Seuche. Auch diese Entdeckung erklärt die früher bekannte Thatsache, daß Wäscherinnen, welche die Wäsche der Cholerakranken zu reinigen hatten, oft von der Cholera befallen wurden. Auch die Wäsche und Kleidungsstücke solcher Patienten müssen daher einer sorgfältigen Desinfection unterworfen werden, bevor mit ihnen irgend welche Manipulationen vorgenommen werden.
Auch Wasser ist als Träger der Krankheit zu bezeichnen, und es empfiehlt sich darum, nicht nur das Trinkwasser, sondern auch alles andere, welches zu den gewöhnlichen häuslichen Verrichtungen gebraucht wird, vor dem Gebrauch zu kochen, während verdächtige Brunnen etc. geschlossen werden müssen.
Der wissenschaftlichen Forschung erwachsen aus den neuen Entdeckungen neue Aufgaben. Sie wird die Natur des gefundenen Krankheitserregers genauer prüfen, sein Verhältniß zu der Beschaffenheit des Bodeus, des Grundwassers etc. näher untersuchen müssen. Daß ihr dies jetzt, nachdem die Ursache der Krankheit erkannt worden ist, leichter gelingen wird, wer wird daran zweiseln?
Doch es würde wenig Nutzen haben, diese Fragen vor dem Laienpublicum zu erörtern.
Die in diesem Artikel gegebenen Andeutungen dürften genügen, um zu beweisen, daß wir heute der Cholera besser gerüstet entgegentreten können, als je in früheren Zeiten. Sollte dieselbe sich gegen alle Erwartung weiter in Europa ausbreiten, so werden die Behörden, von wissenschaftlichen Autoritäten unterstützt, sicher nicht verfehlen, Vorsichts- und Verhaltungsmaßregeln zu veröffentlichen, die alsdann Jeder befolgen muß. Denn nicht allein durch Regierungshandlungen im großen Stile kann diese Seuche bezwungen werden; nur dadurch, daß jeder Einzelne sein Haus zu
einer festen, gesunden Burg gestalte, wird der Sieg des menschlichen Verstandes über den unsichtbaren tückischen Feind ermöglicht.
Denis Diderot.
Wie die ganzen gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen in den meisten Ländern Europas im 17. und 18. Jahrhundert total zerrüttete waren, so sah es auch um die Literatur der Völker schlimm aus.
Das Wohlleben der Gesellschaft artete mehr und mehr zu einem zügellosen Suchen und Haschen nach raffinirten äußerlichen Genüssen aus, die Höfe gingen mit lebendigem Beispiel voran, der Adel und das Bürgerthum
folgten. Wie sich aber die Augen der gesammten Gesellschaft auf die Höfe der Fürsten richteten und jeder Einzelne von dem Streben beseelt war, alle Widersinnigkeiten, alle Thorheiten, die ganze hohle Prunksucht, die er dort beobachtete, getreulich nachzuahmen, so waren auch die Vertreter der zeitgenössischen Literatur zu knechtischen Dienern des Hofes herabgesunken. Selbst die Diener der Kirche gaben sich einem üppigen Genußleben hin, wenn sie auch stets weniger bestrebt waren, sich im Glanze der fürstlichen Höfe zu sonnen, als vielmehr mit allen Mitteln eine Verwirklichung ihrer eigenen ehrgeizigen Pläne herbeizuführen.
Allen voran marschirte Frankreich „an der Spitze der Civilisation“, wie sich die französische Eitelkeit auszudrücken pflegte. Je tyrannischer der Geist aber lange Zeit niedergehalten war, um so rebellischer erhob [503] er sich und suchte später alle Banden abzuschütteln, die seiner freien Entwickelung hinderlich waren. Die Lobpreisungen auf Fürsten und Höfe verstummten, tadelnde Stimmen wurden laut, ja endlich direct der Fehdehandschuh hingeworfen; die kirchlichen Satzungen galten nicht mehr für unantastbar, es erhoben sich vielmehr Zweifel, Untersuchungen wurden angestellt und in Flugschriften veröffentlicht – die Aufklärung hielt überall ihren Einzug. Gerade in Frankreich aber, von welchem Jahrhunderte hindurch die schädlichsten Einflüsse ausgegangen waren, entbrannte auch mit zuerst der Kampf gegen die bestehenden trostlosen Verhältnisse.
Eine Reihe von Männern machte rückhaltlos Front gegen alle Uebelstände in Staat, Kirche und Gesellschaft und ließ sich durch keine Hindernisse entmuthigen, so viele ihnen derer in den Weg gelegt werden mochten. Montaigne, Descartes, Pascal, de la Rochefoucauld und viele Andere haben sich durch diese ihre Bemühungen einen unsterblichen Namen erworben, und gleich ihnen auch Denis Diderot, an den wir heute durch die hundertste Wiederkehr seines Todestages noch besonders erinnert werden.
Am 5. October 1713 geboren, erreichte Diderot ein Alter von 71 Jahren. Sein Vater, ein wohlhabender Messerschmied zu Langres in der Champagne, ließ ihn von den Jesuiten erziehen und setzte auf seine Zukunft um so größere Hoffnungen, als sich sein Talent schon frühzeitig als ein bedeutendes auswies. Wenig einverstanden aber war er, als die Jesuiten ihren Einfluß geltend machten, den begabten und aufstrebenden jungen Mann dauernd an sich zu fesseln und ihn für den geistliche Stand zu gewinnen. Er bot deshalb seine ganze Autorität auf, ihn zur Ergreifung eines andern Berufes zu drängen, und seine Bemühungen hatten den Erfolg, daß Denis in der That den dringenden Wünschen des Vaters entsprach, seine Gedanken an den geistlichen Beruf aufgab und sich den Rechtsstudien widmete. Damit war er den Einflüssen der Jesuiten entzogen, für den neuen Beruf aber keineswegs innerlich gewonnen, ja, das Rechtsstudium sagte ihm so wenig zu, daß er sich bald mit allem andern, mit Philosophie, Mathematik, Physik beschäftigte, nur mit dem eigentlichen Berufe nicht. Alle Einreden seines Vaters blieben fruchtlos; er wurde mit den schönen Wissenschaften und den hervorragenden Schöngeistern der Zeit bekannt und vernachlässigte seine Rechtssachen vollends, sodaß es mit seinem Vater zum Bruche kam und dieser ihm jede Unterstützung entzog. Dies war für die Zukunft Diderot’s entscheidend; er wandte sich fortan der Schriftstellerei zu und trat damit in den Beruf ein, in welchem er in der Folgezeit so hervorragend zur Geltung gelangen sollte.
Bezeichnend für den Geist, welcher den jungen Schriftsteller beseelte, war gleich seine erste literarische Thätigkeit: die Uebersetzung von Werken derjenigen Engländer, die in ihrem Vaterlande schon seit Jahrzehnten an der Aufgabe, Aufklärung zu verbreiten und eine bessere Zeit herbeizuführen, thätig waren. Bald aber wandte er sich der eigenen Production zu und entfaltete sowohl als Philosoph wie als Romanschriftsteller und Dramatiker eine reiche Wirksamkeit. Er rang sich frühzeitig zu einer ganz bestimmten, politisch wie kirchlich freisinnigen Anschauung durch und suchte diese dann in seinen Schriften zu verfechten. Schon seine 1746 erschienenen „Philosophischen Gedanken“ erregten um so größeres Aufsehen, als dieselben ihrer nach den Begriffen der leitenden Persönlichkeiten in Kirche und Staat antireligiösen und revolutionären Tendenzen wegen auf das Heftigste angefeindet wurden, sodaß das Buch verboten und schließlich sogar auf Befehl des Parlaments öffentlich vom Scharfrichter verbrannt wurde. Fast nicht mindere Angriffe erlebte er auch bei Herausgabe seiner „Encyclopädie“, jenes großartigen, auf freisinniger Grundlage aufgebauten Conversationslexikons, welches von solcher Bedeutung wurde, daß von nun an der Name „Encyclopädie“ für alle ähnlichen Wörterbücher in Anwendung kam, und daß in Frankreich und besonders auch in England und Deutschland umfangreiche encyclopädische Werke begonnen wurden, die streng wissenschaftlich weiter auszubauen suchten, was Diderot so meisterhaft angebahnt hatte. Die Verbreitung des Werkes im Publicum war eine außerordentliche. Schon die erste Auflage hatte eine Stärke von 30,000 Exemplaren, die sich rasch verkauften. Die Verleger hatten einen Reingewinn von über 2½ Millionen Livres – ein Erfolg, der sicher auf das Conto Diderot’s und der nach Aufklärung dürstenden besseren Elemente des Volkes und selbst auch der höheren Kreise zu schreiben war. Der erste Band erschien im Jahre 1751, während die letzten Bände erst volle fünfzehn Jahre später beendet werden konnten. An diesem Werke arbeiteten die ausgezeichnetsten Männer der Zeit, Allen voran Diderot, die Seele des Unternehmens, dann der berühmte Mathematiker d’Alembert, und neben diesen viele Andere, wie Marmontel, Rousseau, Voltaire etc. Das Erscheinen des vielbändigen Muster-Conversationslexicons, nach dessen Herausgebern ihre Zeit den Namen des Zeitalters der Encyclopädisten erhielt, stieß indeß auf die größten Schwierigkeiten, und ohne das lebhafte Interesse einiger einflußreicher Hofleute für die Fortführung des Werkes wäre dasselbe schwerlich zu Ende gebracht worden.
Das Widerstreben der Priester und ihres Anhangs war ein so heftiges, daß selbst Minister wie Choiseul und Malesherbes zuweilen zu wunderlichen Mitteln greifen mußten, um ein Forterscheinen des Werkes zu ermöglichen. So wurde Ludwig der XV. bei Tafel darauf gebracht, nach der Verfertigungsart des Schießpulvers, und die Marquise Pompadour, nach der Herstellung der Pomade zu fragen, worauf dann die bezüglichen Bände der Encyclopädie herbeigeholt und die betreffenden Artikel verlesen wurden. War dann das Interesse des Hofes erneut angeregt, so war auch das Erscheinen des Werkes bis auf Weiteres wieder gesichert.
Als Romanschriftsteller und Dramatiker war Diderot von den Engländern Richardson, Lillo und Moore nicht ganz unabhängig, doch übte auch er selbst wieder in Frankreich sowohl wie in Deutschland einen nicht geringen Einfluß aus. In Deutschland waren es insbesondere unsere großen Altmeister Goethe und Lessing, die sich eingehend mit Diderot’s Werken beschäftigten und diese selbst zum Theil in’s Deutsche übersetzten, wie Goethe den Roman „Le petit neveu de Rameau“ („Der Neffe Rameau’s“) und Lessing die Dramen „Fils naturel“ („Der natürliche Sohn“) und „Père de famille“ („Der Familienvater“), in welchen Diderot nach dem Vorbilde der oben genannten Engländer dem pedantischen Schäferroman und dem antikisirenden Königs- und Heldentrauerspiel den Familienroman und das bürgerliche Drama entgegen zu stellen suchte.
Die Mittheilungen der zeitgenössischen Schriftsteller über den Charakter Diderot’s weichen in manchen Punkten von einander ab. Im Allgemeinen stimmen aber doch alle darin überein, daß der Dichter sich als Mensch durch natürliche Herzensgüte, Freimuth und Liebenswürdigkeit auszeichnete und mit Ausdauer und Hingebung vielen eine warme und wahre Freundschaft erwies.
Eine Miesbacherin. (Illustration S. 501.) Ja, lach’ nur! Du hast’s freilich gut. Du bist als ein glückliches, freies Weib zu preisen,
denn Du stehst unabhängig da von der gewaltigsten Tyrannin, welche in allen Städten, von der größten bis zur kleinsten, und leider Gottes auch
schon in vielen Flecken und Dörfern der sogenannten civilisirten Länder die gesammte weibliche Welt in Sclavenbande legt, die, wenn man sich
ungalant ausdrücken dürfte, mit einem Narrenseile die täuschendste Aehnlichkeit haben. Du weißt schon, was ich meine: die Tyrannin „Mode“,
auf welche Du im berechtigten Stolze auf Deine heimische unwandelbare „Tracht“ mit Gleichmuth hinblickst. Was kümmert’s Dich, daß sämmtliche
Damen in Petersburg und Rom, Wien und Madrid, London und Berlin ihre Kleider-Ordres von Paris erhalten? Du siehst höchstens neugierig
die reisenden vornehmen Frauenspersonen mit dem verschnörkelten Kleiderputz Dein schönes Miesbach durchwandeln. Du wunderst Dich vielleicht;
sicher ist aber: Du lachst! Und Du kannst lachen und stolz sein, denn Du hast keine Mode, sondern eine Tracht, an der man Dich erkennt.
Wenn Einer von Weitem auf Dich zukommt, so braucht er nicht erst zu fragen: „Woher des Landes?“, sondern ein Blick auf die feste Gestalt in
ihrer Tracht sagt’s ihm deutlich. Das ist eine Miesbacherin!
Und wodurch zeichnet sich denn die Miesbacher Frauentracht so besonders aus? Einer, der Land und Volk von Oberbaiern genau kennt, Karl Stieler in München, hat in einem Buche „Wanderungen im Baierischen Gebirg etc., von Herman von Schmid und Karl Stieler.“ sich auch darüber ausgesprochen. Er sagt, bis zum Jahr 1750 könne man der Tracht der „Bergler“ nachspüren, theils durch erhaltene Kleidungsstücke, theils durch Abbildungen, z. B. auf Votivtafeln. Damals habe die Tracht der Frauen hauptsächlich in dem „Miederleibe“ mit „Brustfleck bestanden; jenes war ein Leinwandleibchen mit meist dunkelblauen Aermeln, dieser ein Stück Pappe mit buntem Zeug überzogen und mit Borten besetzt – dazu wurde ein Goller von weißer Leinwand und um den Hals ein schwarzes Flortuch mit einer Silberzier daran getragen. Die Trachten sind natürlich im Hochgebirg und in den Alpenvorlanden verschieden, und [504] Stieler nennt sogar die sogenannte „Isartracht“, die sich seit etwa 1800 ausgebildet, eine Untracht, gegen welche glücklicher Weise das Volk selbst ein Gegenmittel in dem Wohlgefallen an der Tegernseer oder Miesbacher Tracht gefunden habe.
Bei den Männern ist das Hauptstück derselben die graue Joppe mit dem grünen Kragen, dessen Erkämpfung von den Jägersleuten, die ein Alleinrecht auf die grüne Farbe behaupteten, manchen Streit mit blutigen Köpfen gekostet. Auch der weibliche Anzug stimmt damit überein. Zu Mieder und Geschnür mit buntseidenen Halstuch erscheint überall das hohe schmalkrämpige Miesbacherhütl. Das Haar scheiteln die Mädchen und flechten es mit bunten Bändern zu Zöpfen, die sie meist um den Kopf legen.
Auch den Schmuck liebt die Miesbacherin. Ueber das blüthenweiße Hemd hängen zierlich die Fransen ihres Busentuchs auf das Mieder herab, und den Hals umschlingt sechsfach die silberne Kette mit dem Schloß von bunten Steinen. Der dunkelfarbige Rock mit buntem Rande reicht bis zu den Knöcheln. So steht sie in den festen Schuhen vor uns und lacht uns so offen und herzlich an, daß wir nicht umhin können, ihr auch zum Abschied zuzurufen: „Ja, lach’ nur! Du hast’s freilich gut!“
Der schiefe Thurm von Terlan. Die Tage eines originellen Bauwerkes im schönen Land Tirol, des bäuerlichen Bruders des weltberühmten Thurmes von Pisa, sind gezählt. Der schiefe Thurm von Terlan wird abgetragen, da die Gefahr des Einsturzes eine drohende geworden ist.
Tausende sind bewundernd an ihm vorübergezogen, Tausende an seinem Fuße, im Wirthshause von Terlan, dem weinberühmten Orte, gesessen, die Wahrheit des alten Satzes an sich erfahrend, daß ein guter Tropfen anderwärts besser zu haben sei als da, wo er gewachsen.
Einige Notizen über den Thurm dürften unseren Lesern wohl von Interesse sein. Etwas Bestimmtes über Alter und Erbauung ist leider nicht bekannt, und auch die Erwartung, darüber etwas Näheres durch den Inhalt des am 17. Mai herabgenommenen Thurmknopfes zu erfahren, hat sich nicht erfüllt, da derselbe außer Münzen aus dem 17. und 18. Jahrhundert nur einige Reliquien und unwesentliche Documente enthielt. – Durch die in Folge der Hochwasserkatastrophe des Jahres 1882 angeordnete und vom Ingenieur Jellinek ausgeführte Untersuchung über den Bauzustand des Thurmes wurde aber festgestellt, daß die Meinung, der Thurm sei von seinem Erbauer absichtlich mit schiefer Axe projectirt und ausgeführt worden, eine irrige ist.
Die Untersuchung ergab, daß ein Theil des Mauerwerks, welches sich jetzt unter der Erde befindet, von dem übrigen durch einen klaffenden Riß von 10 Centimeter Breite getrennt ist und die Steine des aufgehenden Mauerwerks von dem Fundamente in horizontaler Richtung verschoben waren, sodaß die über das Terrain ragende Thurmmasse nur auf einen Theil des Fundamentes, und zwar gerade auf dem ohnedies sehr zum Nachgeben geneigten ruht. Die von den Giebelfenstern der Süd- und Westseite aus vorgenommenen Lothungen ergaben Ausweichungen von 1,77 Meter auf der Südseite und 3,08 Meter auf der Westseite, gegen 1,26 und 2,37 Meter, welche das Resultat einer im Jahre 1866 durch den Maurermeister Stricker vorgenommenen Messung war, sodaß sich also innerhalb eines Zeitraums von 16 Jahren der Thurm nach Süden um 0,51 Meter und nach Westen um 0,71 Meter mehr vorgeneigt hat. Durch weitere Untersuchung wurde festgestellt, daß der Eckpunkt des obersten Kranzgesimses an der geneigten Kante – 39,84 Meter über dem Straßenniveau – um 3,25 Meter, und die Kreuzspitze – 73,35 Meter über dem Terrain – um 6,47 Meter aus dem Loth gerückt war, ferner, daß der Lothfußpunkt des Schwerpunktes 1,57 Meter weit vom Mittelpunkt der Thurmbasis wegfällt. Die im Februar 1884 vorgenommene abermalige Lothung ergab, daß sich der Thurm seit August um weitere 3 Centimeter geneigt hatte.
Am 11. April wurde die Abtragung des Thurmes angeordnet, und am 17. Mai erfolgte die Abnahme des Kreuzes und des Thurmknopfes. Vorläufig soll die Abtragung nur so weit gehen, als für die öffentliche Sicherheit nothwendig ist. Bei günstigem Grundwasserstand wird nach endgültiger Untersuchung des Fundamentes bestimmt werden, ob auch der Rest des Thurmes abgetragen werden muß oder für einen Wiederaufbau erhalten bleiben kann. G. K.
Die Laubenvögel oder Gärtnervögel. Wer aufmerksam in der Natur sich umschaut, wird zu der Einsicht gelangen, daß wir an Wunder nicht zu glauben brauchen; es geht eben Alles natürlich zu, selbst wenn uns hier und da etwas verwunderlich oder wohl gar unerklärlich erscheint. So durften die Naturforscher oder andere Wanderer, wenn sie in den Wildnissen von Neuholland, Neuseeland und Neuguinea plötzlich ein artiges Gärtchen mit laubenförmigem Gange zierlich hergestellt und mit bunten Federn, Blüthen, Früchten etc. geschmückt vor sich sahen, in der That darin ein kleines Wunder der Natur erblicken. Wie war dasselbe dorthin gekommen, wer hatte es hier inmitten des Urwaldes errichtet? Von den gerade auf recht niedriger Cuturstufe stehenden Eingeborenen durfte man es nicht erwarten, und welchem der hier hausenden Thiere sollte man es zutrauen? Nur Vögel konnten die seltsamen Baumeister sein.
Eine kleine Sippschaft Gefiederter, von etwa Drossel- bis über Dohlengröße, welche den Krähenartigen oder Rabenvögeln und insbesondere den Paradiesvögeln nahe stehen, hat man um der erwähnten Eigenthümlichkeit willen Lauben- oder Gärtnervögel geheißen.
In den üppigen, dicht belaubten Gebüschen an der Moretonbai und im Cederngehölz der Liverpool-Ebene, dann später innerhalb der Dickichte des schönen Urwaldes der Ausläufer des Arfakgebirges fanden manche Reisende solche Wunderbauten. Ganz in der Nähe des Fußpfads, erzählt Beccari, befand ich mich dem schönsten Werke gegenüber, welches je von einem Thiere errichtet worden. Es war eine Hütte inmitten einer mit Blumen geschmückten Aue; das Ganze ein Prachtbau im Kleinen. Der schmucklose Laubenvogel, dessen Werk ich hier sah, wählt eine flache Stelle und stellt um eine kleine Staude aus feinem Erdmoose einen Kegel vom Umfange einer Spanne am Grunde her. Auf der Spitze dieses Mittelpfeilers stützt sich das ganze Gebäude, dessen Höhe etwa einen halben Meter erreicht. Von der Spitze des Pfeilers gleichsam ausstrahlend werden Reiser und Halme so angebracht, daß sie mit dem einen Ende den Pfeiler, mit dem andern den Boden berühren und so eine kegelförmige Hütte bilden. Das Dach wird fest und für den Regen undurchdringlich geflochten. Der Bau mißt im Umfange etwa einen Meter und die Vorderseite ist offen. Als hauptsächlichsten Baustoff verwenden die Vögel die feinen und geraden Stengel einer Orchidee, welche in dichten Büscheln auf den bemoosten Zweigen alter großer Bäume wächst. Nun aber begnügt sich der gefiederte Baumeister nicht blos mit der Errichtung dieser Hütte, sondern er legt vor derselben auch einen Garten an. Dieser bildet einen freien, bedeutend größeren Raum, als die Laube selbst. Aus weichem Moose wird eine Wiese oder ein grüner Teppich hergestellt, auf welchem Blumen und Früchte von lebhaften Farben so regelmäßig umhergestreut liegen, daß sie in der That ein Ziergärtchen bilden.
Mit dieser Ausschmückung begnügen sich die Vögel aber noch nicht, sondern sie suchen auch noch allerlei andere Dinge zum Schmuck zusammen, so die bunten Federn der dort lebenden ungemein farbenprächtigen Sittiche und anderer Papageien, bunte Muscheln, Schneckengehäuse, gebleichte kleine Knochen, bunte Steinchen u. A. m., ja man behauptet sogar, wenn in der weiten Umgebung irgend ein auffallender Gegenstand, ein Ring, Knopf, eine Nadel oder dergleichen, verloren gehe, so sei er sicherlich beim Laubenvogel wieder zu finden.
Am seltsamsten erscheint es nun aber, daß die ganze Anlage selber für keinen anderen Zweck als den des Vergnügens errichtet wird.
Mit großer Freude kann ich darauf hinweisen, daß Laubenvögel auch bereits zu uns nach Deutschland gelangt sind. Der für die Ornithologie leider zu früh verstorbene Forscher Regierungsrath E. von Schlechtendal in Merseburg erhielt im Jahre 1881 drei eigentliche Laubenvögel, welche vom Großhändler Charles Jamrach eingeführt waren. Der Preis stand auf etwa 45 Mark für den Kopf. Bereits ein Jahr früher hatte der Großhändler J. Abrahams in London auch einen gefleckten Lauben- oder Kragenvogel eingeführt, und die erstgenannte Art ist dort auch schon mehrfach in den Handel gelangt.
Man behauptet, daß diese hochinteressanten Vögel auch sprachbegabt
seien, und diese Annahme liegt nicht fern, da wir ja unter ihren nächsten
Verwandten viele und tüchtige Sprecher vor uns haben. Hoffen wir, daß
die Laubenvögel demnächst zahlreicher herüber kommen und in unseren
zoologischen Gärten, ja, selbst in den Volièren der Liebhaber durch ihre
künstlerische Thätigkeit uns erfreuen mögen. Dr. Karl Ruß.
Kleiner Briefkasten.
C. B. Sch.., Ch. A. S. in Sch., F. Z. in Nürnberg, M. M. in D., Hugo K., A. A. in Z. bei Prag, Th. M. in Zürich, J. O. L., E. A. Sp. in D., M. T., L. Sch. in Bremen, G. P. in Prag, Eug. J. in Königsberg, H. E. in Hof: Ungeeignet.
Dr. F. H. Sie finden das Gesuchte in Jahrgang 1874.
Inhalt: Die Herrin von Arholt. Novelle von Hans Schücking (Forstsetzung), S. 489. – Spruchverse. Von Friedrich Bodenstedt. S. 492. – Der starke Christoph. Von R. Artaria. S. 492. Mit Illustration S. 493. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Neue Wege zu uralten Lichtquellen. Von R. Elcho. S. 496. Mit Abbildungen S. 496 und 497. – Brausejahre. Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe (Fortsetzung). S. 498. – Die Cholera-Gefahr. Von Valerius. S. 500. – Denis Diderot. Von Dietrih Theden. Mit Portrait S. 503. – Blätter und Blüthen: Eine Miesbacherin. S. 503. Mit Illustration S. 501. – Der schiefe Thurm von Terlan. Von G. K. Mit Abbildung S. 504. – Die Laubvenvögel oder Gärtnervögel. Von Dr. Karl Ruß. – Kleiner Briefkasten. S. 504.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Der Maler des Bildes ist nicht J. Kirchner, sondern Frank Kirchbach jr. (1859–1912). Vgl. dazu Kleiner Briefkasten, Heft 34, 1. Antwort. Richtig zugeordnet auch in: Illustrirter Katalog der internationalen Kunstausstellung im Königl. Glaspalaste in München 1883, 4. Aufl., München 1883, S. 13 – und ja auch in der Besprechung des Werkes von Rosalie Braun-Artaria (S. 492–495).