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Die Gartenlaube (1883)/Heft 37

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[593]

No. 37.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Ueber Klippen.

Erzählung von Friedrich Friedrich.
(Fortsetzung.)

Früher als ihr Vater stieg Moidl am folgenden Morgen in das Thal hinab. Und sie fühlte keine Schwäche mehr. Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten. Als sie im Dorfe anlangte und sich dem Gerichtsgebäude näherte, in welchem Hansel saß, eilte sie schneller und preßte die Hand auf’s Herz, um dasselbe zu beruhigen. Flüchtig nur grüßte sie die ihr Begegnenden.

Ohne aufzublicken zu der Zelle des Geliebten, ohne umzuschauen, trat sie in das Haus, und in das Zimmer des Bezirksrichters.

„Guten Tag, Moidl; was bringst Du mir?“ fragte der Richter, über den Besuch erstaunt.

Jetzt wurde das Mädchen sich der Schwierigkeit ihres Entschlusses bewußt. Mit pochendem Herzen und niedergeschlagenen Augen stand sie da.

„Was bringst Du mir, Moidl?“ wiederholte der Richter in freundlicher Weise und streckte ihr die Hand entgegen.

Und sie faßte sich.

„Ich komme des Hansel’s wegen,“ sprach sie.

„Des Hansel’s wegen? Moidl, was geht der Dich an?“ rief der Richter erstaunt.

„Ich hab’ gehört, er werde noch in Gefangenschaft gehalten, weil er nicht sagen wolle, wo er in der Nacht gewesen sei.“

„Das ist richtig. Er weigert sich, es zu gestehen, und ich meine, wenn er ein gutes Gewissen hätt’, dann würde er es sagen.“

„Er hat ein gutes Gewissen!“ rief das Mädchen. „Ich – ich kann es Ihnen sagen.“

„Du, Moidl?“

„Ja – er ist in der Nacht bei mir gewesen, wir haben uns dort oben getroffen. Er hat dies nicht gestehen wollen, um mich zu schonen, aber ich brauch’ keine Schonung, denn Gott ist mein Zeuge, daß unsre Lieb’ eine ehrbare gewesen ist.“

Dem Richter war es, als ob ein Schleier von seinen Augen genommen werde. Er hatte von der Liebe der beiden jungen Menschen keine Ahnung gehabt. Nun begriff er Hansel’s Schweigen – es wurde ihm Manches klar, was er nicht begriffen. Nur der eine Punkt blieb noch unaufgeklärt – wie war der Unterburgsteiner in die Schlucht gekommen?

„Setz’ Dich, Moidl, hier, mir gegenüber,“ sprach er zu dem vor Erregung zitternden Mädchen. „So! Und nun erzahl’ mir, wie es gewesen ist, ganz offen und wahr.“

„Ich werde die Wahrheit sagen,“ versicherte Moidl und blickte den Richter offen an. Dann erzählte sie, wie sie den Hansel liebe und ihm gelobt habe, sein Weib zu werden. Der Unterburgsteiner hab’ um ihre Hand angehalten, ihr Vater habe ihm dieselbe zugesichert, aber sie habe sich dagegen gesträubt. Ihr Vater habe sie dann nicht mehr in’s Thal zur Messe gehen lassen, da sei Hansel zu ihr gekommen, und wöchentlich hätten sie sich mehrere Male getroffen, bis der Unterburgsteiner einen Anschlag auf Hansel’s Leben ausgeführt. Um seinem Feinde auszuweichen, habe Hansel dann seit Wochen seinen Weg durch die Schlucht genommen, weil derselbe aber so schwierig gewesen, sei er stets nur am Sonnabend Abend spät gekommen. Auch in jener Nacht sei er oben gewesen, und sie habe ihn beredet, einen anderen Rückweg einzuschlagen, er habe dies indessen abgelehnt, weil er auf einem anderen Wege die Tücke des Unterburgsteiners gefürchtet habe. Er sei in jener Nacht erst kurze Zeit von ihr gegangen gewesen, da sei die Lawine niedergefahren und sie habe ihn für verloren gehalten. Weiter wisse sie nichts und sie wisse auch nicht, in welcher Weise er gerettet worden sei.

„Wie ist aber der Unterburgsteiner in die Schlucht gekommen?“ fragte der Richter.

„Ich weiß es nicht,“ gab das Mädchen zur Antwort. „Aber ich vermuthe, er hat des Hansel’s Weg entdeckt und einen neuen Anschlag auf sein Leben ausführen wollen.“

„Du wirst Recht haben, Moidl,“ sprach der Richter. „Nun sag’ mir aber, weshalb Du nicht früher zu mir gekommen bist und mir dies Alles gesagt hast.“

„Konnt’ ich dies denn? Als Alle sagten, daß Hansel David erschlagen habe, da habe auch ich in Verzweiflung um ihn gebangt. Wohl traute ich ihm eine solche That nicht zu, aber wenn der Unterburgsteiner ihm auf dem Rückwege entgegengetreten war, wenn sie an einander gerathen waren, sie haßten sich ja Beide, dann konnte er sich vom Zorne haben hinreißen lassen. Erst seit letztem Sonntag wußte ich, daß er unschuldig war.“

„Wodurch?“

„Ich ging zum ersten Male wieder zur Messe, der Weg wurde mir schwer, weil ich mich noch schwach fühlte, und ich hatte mich verspätet. Als ich hier am Hause vorüberging, rief Hansel meinen Namen und rief mir zu, daß er unschuldig sei. Da wußt’ ich es, denn mir konnt’ er keine Unwahrheit sagen. Als dann der Unterburgsteiner in dem Schnee gefunden wurde und sich herausstellte, daß er nicht erschlagen war, da glaubt’ ich, der Hansel müsse nun freikommen. Gestern erzählte der Gerichtsdiener meinem Vater, daß der Hansel in Haft bleibe, weil er [594] nicht sagen wolle. wo er während der Nacht gewesen sei; ich wußte, daß er es meinetwegen nicht gestehen wollt’, da faßte ich den Entschluß, Ihnen Alles zu sagen, damit er nicht länger unschuldig in Haft sitze.“

„Du hast recht gethan, Moidl!“ sprach der Richter, indem er dem Mädchen die Hand entgegenstreckte. „Hast Du dies Alles Deinem Vater gesagt?“

„Nein – nein! Er hätt’ es nicht gelitten, daß ich zu Ihnen gegangen wär’, denn er haßt den Hansel.“

„Weshalb?“

„Er weiß, daß derselbe mich liebt, und er ist ihm auch zu gering.“

„Nun, er wird seine Gesinnung jetzt ändern,“ bemerkte der Richter.

Traurig schüttelte das Mädchen mit dem Kopfe.

„Er ändert seinen Sinn nicht; ich weiß, daß mir harte Tage bevorstehen, ich will sie ertragen, wenn Hansel nur frei kommt. Er kommt doch frei?“

„Ich hoffe es,“ gab der Richter zur Antwort. „Wenn er mir bestätigt, was Du mir erzählt hast, dann halt’ ich ihn nicht eine Stunde länger in Haft.“

Glücklich erfaßte Moidl des Richters Hand und wollte sie an ihre Lippen führen.

„Laß – laß, Moidl,“ wehrte ihr der Richter. „Ich werd’ selbst mit Deinem Vater wegen Hansel sprechen.“

„Sie ändern seinen Sinn nicht. Hat er einmal einen Groll gefaßt, so hält er ihn fest.“

„Geh’ jetzt zur Messe, Moidl,“ fuhr der Richter fort. „Ich geb’ die Hoffnung nicht auf, daß sich für Dich Alles zum Guten wenden wird. Du hast viel ertragen, da gönn’ ich’s Dir.“

Das Mädchen ging.

Der Richter schritt in seinem Zimmer auf und ab. Nach des Mädchens Erzählung klärte sich Alles auf, aber er wollte sein Urtheil nicht gefangen nehmen lassen.

Er trat hinüber in die Amtsstube und ließ durch den Diener den Verhafteten vor sich führen.

„Nun, Hansel, hast Du Dich eines Andern besonnen?“ redete er den Eintretenden an. „Willst Du nun endlich Alles gestehen?“

„Ich hab’ nichts zu gestehen, Herr Richter,“ gab Hansel zur Antwort.

„Verlangt Dich denn nicht nach der Freiheit?“

„Doch, aber ich kann sie mir nicht geben.“

„Du kannst sie Dir geben,“ warf der Richter ein.

Hansel schwieg einen Augenblick, er schien mit sich zu kämpfen.

„Ich kann sie mir nicht geben,“ wiederholte er dann.

„Du hast einen festen Kopf,“ fuhr der Richter fort. „Soeben war die Tochter des Oberburgsteiners bei mir.“

Hansel fuhr zusammen, das Blut schoß in seine blassen Wangen.

„Die Moidl?“ fuhr es ihm über die Lsppen.

„Ja, die Moidl. Und sie hat mir gesagt, wo Du in der Nacht gewesen bist. Mit ihr bist Du zusammen gewesen, dort oben unter einem überhängenden Felsen.“

Hansel blickte den Richter starr an. Dann fuhr er mit der Hand über die Stirn hin.

„Das – das hat sie gesagt?“ fragte er.

„Ja, sie hat mir Alles gesagt, um Dir die Freiheit zu erringen. Sie hat mir erzählt, daß Ihr Euch liebt und daß Ihr Euch oft dort oben getroffen habt. Nun erzähl’ Du mir, wie es gewesen ist.“

Hansel’s Brust rang nach Athem. Er dachte nur an die Geliebte, die selbst die bösen Zungen der Leute nicht gescheut hatte, um ihm die Freiheit zu erringen.

„Hansel, nun erzähl’ mir Alles,“ drängte der Richter. „Sag’ die volle Wahrheit, das wird Dir am meisten nützen.“

„Jetzt kann ich sie sagen,“ entgegnete Hansel und sein Auge leuchtete hell. Er erzählte, wie er das Mädchen liebe und wie das Verlangen, sie zu sehen, ihn Nachts hinaufgetrieben habe auf den Oberburgstein. Dann schilderte er, wie der Unterburgsteiner eines Nachts auf ihn geschossen und wie die Kugel seinen Hut durchbohrt und seinen Kopf gestreift habe.

„Weißt Du denn, daß er es gethan hat?“ unterbrach ihn der Richter.

„Ja, ich weiß es. Ich hab’ ihn nicht gesehen, aber ich weiß, daß ich außer ihm keinen Feind hab’, der mir nach dem Leben trachten könnte. Und am folgenden Morgen in der Kirche hab’ ich die Gewißheit erlangt, daß er es gethan hat. Ich trat an seine Seite, und als er mich sah, wich das Blut aus seinem Gesichte, er zitterte und seine Augen waren starr auf mich gerichtet. Er hatte mich für todt gehalten, weil ich bei dem Schuß niedergestürzt war, und nun mocht’ er glauben, ich sei vom Tode auferstanden. Ich hatte dem Unterburgsteiner eine solche Tücke nicht zugetraut, der Kopf schmerzte mich, es gährte in mir und da hab’ ich in dem Wirthshause, als ich Wein getrunken, wilde Drohungen gegen ihn ausgestoßen. Wär’ er mir an dem Tage entgegengetreten, so hätt’ es ein Unglück gegeben!“

„Weshalb hast Du die Sache nicht zur Anzeige gebracht?“ unterbrach ihn der Richter.

„Ich konnt’ es nicht. Ich konnt’ ja nicht sagen, wo ich gewesen war,“ gab Hansel zur Antwort.

Und dann erzählte er weiter, wie er, um seinem Feinde auszuweichen, den beschwerlichen Weg durch die Schlucht gewählt habe. Er schilderte, wie die Lawine niedergefahren war und wie er sich dadurch gerettet, daß er sich hinter einen vorspringenden Felsen geworfen, und wie er sich mühsam, im Gesicht und an den Händen geschunden, an allen Gliedern fast gelähmt, zu dem Gehöft seines Vaters emporgearbeitet.

„Weiter weiß ich nichts,“ fügte er hinzu.

Seine Erzählung stimmte genau mit der des Mädchens überein.

„Und Du hast den Unterburgsteiner in der Nacht nicht gesehen?“ fragte der Richter.

„Nein.“

Der Richter war von der Unschuld Hansel’s völlig überzeugt, ihn selbst traf kein Vorwurf, aber es that ihm doch leid, daß der Bursch so lange Zeit in Haft gewesen war.

„Hansel, der Schein ist gegen Dich gewesen, aber es freut mich, daß Du ohne Schuld bist,“ sprach er, dem Verhafteten die Hand reichend. „Ich konnte nicht anders handeln, als ich gehandelt hab’ – auf mich wirf keinen Groll.“

„Nein, das thu’ ich nicht,“ entgegnete Hansel und hielt die ihm gereichte Hand fest. „Sie geben mich frei?“

„Gewiß. Du kannst gehen, wohin Du willst.“

Hansel zögerte noch.

„Ich dank’ Ihnen,“ sprach er. „Aber eine Bitte hab’ ich noch.“

„Sprich, Hansel.“

„Ich hätt’ noch ein Jahr und länger die Haft ertragen, um Moidl’s Ehr’ und Namen zu retten, die Leut’ werden über sie reden, aber, Herr Richter, ich schwör zu dem Heiland, ihre Ehre ist so rein, wie mein Gewissen! Ihnen werden die Leut’ es glauben, wenn Sie es sagen, mir nicht.“

„Ich werd’ es sagen, Hansel!“ rief der Richter. „Ich hab’ der Moidl versprochen, mit ihrem Vater zu sprechen, und ich werde es thun.“

„Den Sinn des Oberburgsteiners wenden Sie nicht,“ entgegnete Hansel. „Aber ich harre aus, und wenn ich darüber alt werden sollt’!“

„Nun geh, Hansel, Du bist frei,“ sprach der Richter. „Und wenn ich Dir helfen kann, dann komm’ zu mir, ich mein’ es gut mit Dir!“

Hansel erfaßte die Hand des Richters und führte sie an seine Lippen. Er eilte fort aus dem Zimmer und stürzte die Treppe hinab. Er verließ das Haus, in dem er so viele böse und trübe Stunden erlebt hatte. „Du bist frei – frei!“ rief es in ihm laut – mit dieser Empfindung stürzte er auf die Straße.

Die Messe war beendet, und die Leute kehrten aus der Kirche heim.

Der erste Gruß, der ihn empfing, war der erschreckte Ruf mehrerer Kinder:

„Der Hansel – der Hansel!“

Sie wichen vor ihm zurück. Es war, als ob ein wildes Thier aus einer Menagerie ausgebrochen wäre, vor dem Jeder flieht.

Er selbst floh. Wie ein Verfolgter eilte er die Straße entlang und stieg zu dem Gehöft seines Vaters empor. Aber die lange Haft hatte doch an seinen Kräften gezehrt, der Aufstieg war ihm früher nicht mehr gewesen als ein Spiel, jetzt versagte ihm [595] der Athem. An einem Felsen am Wege brach er kraftlos zusammen. Er hatte dem Geschicke mit festem Muthe getrotzt, nun es zu seinen Gunsten entschieden, verließ ihn die Kraft.

In seinem Innern wogte so Vieles durcheinander, die unsagbaren Qualen, die er erduldet, die Liebe Moidl’s und der Morgenschimmer eines neuen Glückes – er konnte es nicht fassen. Er lehnte den Kopf an den Felsen, neben dem er niedergesunken war, und weinte.

Es mußte sich in ihm lösen, was so lange gespannt war. Das Mißgeschick hatte ihn aufrecht erhalten, das Glück beugte seine Kraft.

Da legte sich eine alte und milde Hand auf seine Schulter, und eine Stimme rief:

„Hansel, mein Hansel!“

Es war seine Mutter, die ihn mit den Armen umschlang. Sie war in der Messe gewesen und hatte auf dem Heimwege seine Freilassung bereits erfahren. Da war sie ihm so hastig nachgeeilt, daß ihre Kniee zitterten und ihre Brust nach Athem rang.

Hansel umklammerte seine Mutter fest. Er wollte die Thränen zurückdrängen, aber er konnte es nicht.

„Sei ruhig, Hansel, jetzt ist ja Alles wieder gut,“ sprach die Frau, indem sie mit der Rechten über sein Haar hinstrich. „Ich hab’ an Deine Schuld nie geglaubt.“

„Und weißt Du, wer mich frei gemacht hat?“ rief Hansel, indem er den Kopf emporrichtete.

„Ich weiß es, der Bezirksrichter hat es mir gesagt. Konntest Du das Deiner Mutter nicht gestehen?“

„Es ging nicht, denn das Geheimniß gehörte nicht mir allein.“

„Nun komm,“ sprach die Frau, indem sie sich erhob. „Dein Vater weiß noch von nichts. Er konnte nicht mit zur Messe gehen, denn der Gram hat ihn arg mitgenommen.“

„Ich werd’ Alles wieder gut machen!“ rief Hansel, indem er neben seiner Mutter herging.

„Dein Vater wird sich erholen, nun er weiß, daß Du unschuldig bist.“

„Hat er mich für schuldig gehalten?“

„Mach’ ihm keinen Vorwurf daraus; es glaubten ja Alle, daß Du schuldig seiest. Er hat schwer darunter gelitten.“

Hansel schwieg. Als sie sich dem Gehöft näherten, eilte er seiner Mutter voraus und stürzte in das Haus und in die Stube.

„Vater, ich bin frei – frei!“ rief er dem Alten zu, ihm die Hand entgegenstreckend.

Fast erschreckt blickte der alte Haidacher zu ihm auf; er zögerte, die Hand anzunehmen.

„Bist Du aber auch ohne Schuld?“ fragte er.

„Ja, Vater, ja!“

Da erfaßte der Alte des Sohnes Rechte mit beiden Händen und hielt sie fest.

„Nun ist’s gut, Hansel,“ sprach er mit bewegter Stimme. „Nun leb’ ich wieder auf!“




Der Oberburgsteiner hatte die Messe etwas früher verlassen. Er saß in der „Post“ beim Wein. Da stürmte der Sohn des Wirthes in das Zimmer und rief:

„Der Hansel ist frei! Soeben ist er aus der Haft entlassen!“

Die Brauen des Bauers zogen sich zusammen. Seine Rechte schob das vor ihm stehende gefüllte Weinglas weiter auf den Tisch, als habe er keine Lust mehr zum Trinken.

„Weißt Du so genau, daß er entlassen ist?“ fragte er. „Er kann ja auch entsprungen sein.“

„Nein, er ist in Freiheit gesetzt. Als er das Haus verlassen, hat der Richter ihm ruhig nachgeblickt.“

Der Oberburgsteiner schwieg. Fest preßte er die Lippen auf einander und blickte starr vor sich hin.

Mehrere Bauern traten ein, sie sprachen nur von der Freilassung des Verhafteten.

„Oberburgsteiner, weißt Du, wer ihm die Freiheit verschafft hat?“ wandte sich einer der Eingetretenen an den Bauer.

„Was kümmert’s mich!“ entgegnete der Gefragte unwillig. „Ich hätt’ ihn nicht freigegeben.“

„Deine Moidl hat es gethan!“ fuhr der Erstere fort.

„Was soll das heißen?“ fuhr der Oberburgsteiner auf.

„Nun, sie ist heute Morgen zu dem Rlchter gegangen und hat ihm erzählt, wo Hansel in der Nacht gewesen ist. Sie hat sich mit ihm oben getroffen. Nun ist Alles aufgeklärt, und deshalb ist Hansel freigegeben.“

Der Bauer sprang auf, das Blut war aus seinem Gesicht gewichen.

„Du lügst!“ rief er heftig.

„Der Richter selbst hat es mir erzählt.“

Die Brust des Oberburgsteiners hatte schwer Athem, seine Hand hatte sich geballt. Aber er beherrschte sich. Schweigend schritt er auf die Thür zu.

„Wohin willst Du?“ riefen ihm Mehrere zu.

Er antwortete nicht. Langsam verließ er das Haus und schritt durch das Dorf hin, die Augen finster brütend auf den Weg gerichtet. Er wagte nicht aufzublicken, denn es war ihm, als ob ihm eine Schmach angethan wäre, die er nimmer abwaschen könne. So stieg er langsam zum Oberburgstein empor.

In der Stube saß seine Tochter. Ein freudig verklärter Zug lag auf ihrem Gesichte, denn ihr war es gelungen, den Geliebten zu befreien. Sie blickte hinüber zu dem Gehöft des Haidacher, im hellen Sonnenschein lag es da.

Da trat ihr Vater ein, langsam, finster. Den Hut hing er an die Wand, das Gebetbuch legte er auf ein kleines Brett neben der Wanduhr. Dann trat er vor sie hin.

„Bist Du heute beim Bezirksrichter gewesen?“ fragte er.

Moidl zuckte leise zusammen, aber nur für einen flüchtigen Augenblick, dann hob sie den Kopf ruhig zu ihm empor.

„Ja, Vater,“ entgegnete sie.

„Was hat Dich zu ihm geführt?“ fuhr der Bauer fort, und seine Stimme klang hart und tonlos.

„Ich hab’ Hansel die Freiheit verschafft.“

„Dem Buben! Dem Todtschläger!“ rief der Bauer heftig.

„Er ist unschuldig, Vater.“

„Schweig’!“ unterbrach der Bauer seine Tochter. „Ist es wahr, daß Du mit dem – welschen Bettler Dich des Nachts hier oben getroffen hast?“

„Ja, Vater, ich lieb’ ihn,“ gab Moidl zur Antwort und erhob sich.

„Verworfene Dirn’!“ schrie der Bauer auf und erhob die Hand zum Schlage.

Moidl sah ihm ruhig in’s Auge.

„Schlag nur zu,“ sprach sie, „Deine Hand kann mich nicht mehr schänden, als soeben Dein Mund gethan hat. Verworfen bin ich nicht, denn auf meiner Ehr’ haftet kein Flecken. Ich hab’ dem Hansel mein Wort gegeben, die Seinige zu werden; er ist mein Verlobter.“

Der Bauer hatte sich zur rechten Zeit gefaßt und nicht zugeschlagen. Langsam ließ er die Hand sinken, er konnte den ruhigen Blick seiner Tochter nicht ertragen.

„Haha! Dann sag’ dem Bettler doch, daß er zu mir kommt und um Deine Hand wirbt, ich werd’ ihm das Niedersteigen erleichtern!“ rief er mit wildem, höhnendem Lachen. „Du mußt lange, lange warten, bis Du Dein Wort einlösen kannst – bis ich unter der Erde liege, früher geschieht es nicht! Und daß Du nicht wieder mit ihm zusammentriffst, dafür werde ich schon sorgen!“

Erregt verließ er das Zimmer und das Haus.

Moidl ließ sich wieder still auf ihren Schemel nieder. Sie hatte gewußt, daß es so kommen werde, sie war auch darauf gefaßt, Jahre zu warten, das konnte ihre Liebe nicht schwächen. Und wenn ihr Vater sie einschloß, wie eine Gefangene, eins konnte er doch nicht hindern, daß ihre Gedanken zu dem Geliebten eilten und daß ihr Auge hinüberblickte zu dem Hause, unter dessen Dache er weilte. Mit ruhigem, festem Muthe sah sie der Zukunft entgegen.

Tage vergingen, ihr Vater sprach kein Wort mit ihr, sein Blick war finster.

Da trat, während sie still in der Stube saß, eines Nachmittags der Bezirksrichter ein. Freundlich reichte er ihr seine Hand.

„Wie geht’s, Moidl?“ fragte er.

„Es geht mir gut,“ gab das Mädchen zur Antwort, obschon ihre blassen Wangen ihren Worten widersprachen.

[596] „Hat Dein Vater sich darein gefunden, daß Du den Hansel heirathest?“

Moidl schüttelte traurig mit dem Kopfe.

„Das wird er nie thun, Herr Richter,“ entgegnete sie.

„Hat er mit Dir darüber gesprochen?“

„Ja, aber ich kannte seinen Sinn schon zuvor.“

„Und was willst Du thun?“

„Ich warte. Mein Herz gehört dem Hansel und wenn ich nie die Seinige werde.“

„Du sollst es werden!“ versicherte der Richter. „Um mit Deinem Vater zu reden, bin ich herauf gestiegen, ich hoffe, seinen Sinn zu wenden.“

„Das thun Sie nicht.“

„Laß es mich versuchen. Rufe ihn und dann laß mich allein mit ihm. Er kann gegen Hansel’s Charakter nichts einwenden.“

Moidl verließ die Stube, um ihren Vater zu rufen.

Wenige Minuten später trat der Bauer langsam und mit ernstem Gesichte ein. Er grollte dem Richter, weil derselbe Hansel freigelassen.

„Guten Tag, Herr Bezirksrichter,“ sprach er mit kaltem Gruß. „Was bringen Sie mir Gutes?“

„Muß ich Euch etwas bringen, Oberburgsteiner, um Euch einmal zu besuchen?“ warf der Richter lächelnd ein.

„Nein! Seien Sie willkommen, setzen Sie sich!“ fuhr der Bauer mit demselben ernsten, kalten Tone fort.

„Ich wollte Euch nur die Versicherung geben, daß gegen den Hansel Haidacher nicht der geringste Verdacht mehr vorliegt,“ sprach der Richter. „Es hat ihn schlimm getroffen, daß der Schein gegen ihn war, ich mußte ihn verhaften. Er hat die Freiheit lange Zeit eingebüßt, deshalb nehm’ ich auch keinen Anstand, offen zu erklären, daß er ohne jede Schuld ist.“

„Das geht mich nichts an. Ich hab’ ihn weder angeklagt noch freigesprochen,“ warf der Bauer ein.

„Doch, es geht Euch an. Die Moidl hat sich mit ihm versprochen, es ist dies jetzt kein Geheimniß mehr – tretet dem Glücke der Beiden nicht in den Weg und gebt den Leuten nichts zum Reden.“

„Die Leut’ kümmern mich nicht, meine Tochter kennt meinen Willen, und an ihm halt ich fest.“

„Was habt Ihr gegen Hansel? Er ist fleißig und strebsam. Das Gehöft seines Vaters ist freilich herabgekommen, aber er wird es wieder aufbringen, denn an Arbeitskraft ist ihm Keiner gleich.“

„Herr Richter, was ich gegen ihn hab’, ist meine Sache,“ gab der Bauer, seinen Groll mühsam verhaltend, zur Antwort. „In meinem Hause bin ich Herr und ich bin Niemand Rechenschaft schuldig, wen ich mir zum Schwiegersohne aussuche. Der Welsche wird es nie!“

„Oberburgsteiner, Ihr überschätzt Eure Macht. Ihr habt kein Recht, Eure Tochter gegen ihren Willen zu verheirathen.“

„So lange sie in meinem Hause lebt, muß sie mir gehorchen.“

„Und wenn sie trotzdem den Hansel heirathet – Ihr könnt es nicht hindern, deshalb seid klug und gebt zur rechten Zeit nach. Ich meine, die Beiden werden es Euch Dank wissen, so lange Ihr lebt.“

In der Brust des Bauers kämpfte und wogte es sichtbar. Der Zorn stieg in ihm auf, und er mühte sich, denselben niederzuhalten.

„Hindern kann ich es nicht,“ erwiderte er mit erbittertem Lachen, „aber dann ist sie mein Kind nicht mehr.“

„Ihr geht zu weit!“ rief der Bezirksrichter.

(Fortsetzung folgt.)




Wien vor zweihundert Jahren.

Ein Ruhmeskranz der alten Kaiserstadt.
(Schluß.)

Mit dem Kaiser und dem gesammten Hofe hatte nahezu die Hälfte der Bevölkerung die Stadt verlassen. Jetzt erst war dem Grafen Starhemberg freie Hand gegeben, und er benutzte seine Macht so energisch und weise, daß in kurzer Zeit mit der Wohlthat strenger Ordnung auch der Muth des Selbstvertrauens in die Herzen der Wiener Einkehr hielt.

Ein Kreis von erprobten Männern stand dem Commandanten zur Seite und zur Verfügung, vor Allen Feldzeugmeister Graf von Capliers, der Ingenieur-Oberst Rimpler, der Artillerie-Oberst Werner und Allen an Muth und Thatkraft ebenbürtig der Bürgermeister Wiens, Andreas von Liebenberg. Starhemberg hielt eine Ansprache an die Bevölkerung, welche rasch die weiteste Verbreitung und Befolgung fand. Er erklärte, daß weder die Befestigung noch die Besatzung der Stadt einem Angriff der Türken gewachsen sei, daß es an Verproviantirung wie an Munition fehle und daß alle dem mit vereinten Kräften abgeholfen werden müsse. Und so geschah’s. Aus den kampffähigen Bürgern wurden Freicompagnien gebildet, der Rector Grüner pflanzte die Marienfahne auf dem Universitätsgebäude auf und die Studenten eilten zu den Waffen; alle nicht waffentragenden Bewohner, vom höchsten Adel und von der Geistlichkeit bis zu den in die Stadt geflüchteten Landleuten, arbeiteten an den Festungswerken, an der Herstellung von Wällen und Batterien, an der Erneuerung der verfaulten Palissaden, an der Bedeckung der Häuser mit Dünger und Erde. Um Allen ein Beispiel zu geben, belud der Bürgermeister sich den ersten Karren und fuhr ihn zur befohlenen Stelle. Niemand weigerte sich fortan eines Dienstes, eines Wagnisses, eines Opfers. Soweit es noch möglich war, mußten die Landleute ihr Vieh in die Stadt retten; zu rechter Zeit kam noch ein Munitionstransport die Donau herauf und die letzte noch sehnlich erwartete Infanterie hatte die Thore erreicht, die nun zum großen Theil vermauert wurden. Die Bevölkerung der Stadt betrug in diesem Augenblick noch 60,000 Seelen; darunter 16,000 Mann Besatzung, nämlich 11,000 Mann Soldaten und etwa 5000 Mann Bürgermiliz, zu welcher namentlich die Studenten und die Handwerker gehörten. Und abermals mußten nun die so schönen, heiteren und reichen Vorstädte (bis auf die Leopoldsvorstadt, welche die Türken selbst später zerstörten) niedergebrannt werden, um nicht dem Feind als sichere Annäherungsmittel an die Stadt zu dienen. Augenzeugen erzählten noch lange: der Brand von Troja könne nicht so schrecklich gewesen sein. Es war Unglaubliches für die Vertheidigung gethan und geopfert worden, aber Wien stand gerüstet und kampfbereit da, als am 14. Juli das Türkenheer, dessen Spur die Flammen der brennenden Dörfer anzeigten, die Kaiserstadt umschloß.

Ueber 25,000 Zelte umfaßte das feindliche Lager; in der Mitte desselben glänzte der prächtige Zeltpalast Kara Mustapha’s, und die Zelte der vielen Paschas standen diesem an Pracht nicht viel nach. Die Stärke des Belagerungsheeres, wohl 180,000 Mann, erfüllte den Großwesir mit solcher Zuversicht, daß er eine Befestigung seines Lagers für überflüssig hielt. Da den Türken die Belagerungskunst fremd war, so leiteten ungarische und französische Ingenieure ihre gegen die Stadt gerichteten Arbeiten. Ihre Laufgräben waren auf 300 Schritte vom Glacis entfernt, der Kärnthner-, Burg-, Löwel- und Melkerbastei gegenüber angelegt und schon am 16. Juli nur noch 80 bis 90 Schritte von der Spitze der Ravelins vor dem Burgthor entfernt. Gefangene Christen wurden dabei durch Bastonaden zur Arbeit gezwungen. Was Wien von den Barbaren zu erwarten hatte, wenn sie siegen würden, bewies schon am 15. Juli die Beschießung des Fleckens Perchtoldsdorf, der dabei in Feuer aufging; als die Einwohner sich gegen Zusicherung ihres Lebens ergaben, wurden sie sammt und sonders niedergehauen. Ja, der befehligende Pascha tödtete eigenhändig die Jungfrau, die ihm die Schlüssel des Ortes übergeben wollte!

Aber selbst die heftigste Beschießung und Stürmung der Stadt vermochte nicht den Muth der Vertheidiger zu schwächen. Und doch drohten ihnen Gefahren im Innern, an welche sie im Kampfeifer nicht gedacht hatten. Die größte Gefahr für Alle war

[597]

Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg.
König Johann Sobieski von Polen.   Herzog Karl V. (IV.) von Lothringen.

Die Befreier Wiens.
Originalzeichnung von A. Greil.

[598] offenbar die mehrmalige Verwundung Starhemberg’s. Wäre der Mann, Kopf und Herz der Vertheidigung, gefallen, wie wäre das Ende geworden! Eine andere Gefahr erschien mit einer so hartnäckigen Ruhrkrankheit, daß durch sie die an sich schwache Zahl der Kämpfer noch verringert wurde. In dieser Noth erwarb sich der Bischof Kollonitz hohes Verdienst an den Krankenbetten. Auch eine Art Anerkennung dafür ist der Schwur Mustapha’s, ihn, wenn er in seine Hände falle, zu enthaupten und seinen Kopf dem Sultan zu senden. Später sendete man dem Bischof den Kopf des Mustapha, der in der Wiener historischen Ausstellung zur Erinnerung an den Sieg von 1683 zu sehen war; ebenso das Fernrohr, mittels dessen Starhemberg auf dem Stephansthurm die Bewegungen des Feindes zu beobachten pflegte.

Wie immer, wenn ein großes Schicksal die Menschen erhebt, fehlte es auch hier nicht an großherzigen und aufopfernden Zügen.

Nachdem ein Kürassier, welcher durch die Donau schwamm, der Lieutenant Michael Gregorowitsch, welcher bei den Türken gefangen gewesen war, und Jacob Heider, der Diener des im türkischen Lager gefangen gehaltenen kaiserlichen Residenten Freiherrn Kuniz, mit ihren Briefen glücklich in die Stadt gekommen, dann aber mehrere Couriere, die man aus der Stadt an den Herzog von Lotringen gesandt, nicht mehr zurückgekehrt waren, unternahm es der dreiundvierzigjährige Bürger und Kaufmann Georg Franz Koltschitzky, ein geborener Serbe, der lange im Orient gewesen und geläufig türkisch sprach, am 13. August Abends freiwillig in türkischer Kleidung und begleitet von seinem Diener Michailowitsch das Lager zu durchschreiten, er kam über die Donau und brachte dem Herzog seine Briefe. Auf dem Rückwege, am 17. August, wurden sie bei dem Versuche, wieder in die Stadt zu gelangen, von den Türken überrascht, konnten aber noch rechtzeitig die Palissaden übersteigen. Da Koltschitzky erkannt war, durfte er den gefährlichen Gang nicht wieder wagen; aber Michailowitsch unternahm ihn noch dreimal, scheint aber doch bei dem letzten Wagstück umgekommen zu sein, denn man hat später nichts mehr von ihm gehört.

Wenn die Wiener ihre Mauern und mit ihnen ihre Lieben und ihr Leben, trotz der furchtbarsten Noth und steigenden Drangsal noch mit der Aussicht auf Erlösung vertheidigten, so geschah auf dem platten Lande der Kampf gegen die blut- und beutegierigen Bedränger mit dem Mute der Verzweiflung. Nur im Norden der Donau hatte das Volk des offenen Landes in der Armee des Herzogs von Lothringen einigen Schutz; im Süden, wohin jetzt kein Soldat kam, mußten Bürger, Bauern und Mönche ihre Städte, Dörfer und Klöster elligst durch Verhaue wenigstens gegen die Streifzüge mordender und plündernder Horden zu decken suchen, und oft thaten sie es nicht ohne Erfolg. Noch häufiger aber wurden sie die Opfer der entmenschten Asiaten. Nicht weniger als 30,000 Landbewohner Oesterreichs sind damals von Türken und Tataren ohne Kampf niedergemacht und 40,000 in die Gefangenschaft geschleppt worden.

Bis zum 1. September waren die sehr kunstvoll angelegten türkischen Laufgräben ohne Erfolg gewesen, und die mit höllischer Musik und betäubendem Allahgeschrei vollführten Stürme mit fast übermenschlicher Tapferkeit abgewiesen worden. Am 3. September aber fiel der dreiundzwanzig Tage lang heldenmüthig verteidigte Burg-Ravelin in die Hände der Janitscharen, die freilich bei dieser Arbeit Tausende ihrer Mordbrüder verloren.

Nun war die Gefahr zu erschreckender Höhe gestiegen, die Gräben und Palissaden mußten in jener Gegend in die Straßen der Stadt verlegt und konnten offenbar nicht mehr lange gehalten werden, wenn nicht baldigst Hülfe herannahte. Am 4. September explodirte eine Mine an der Spitze der Burgbastion mit solchem Krache, daß die halbe Stadt erzitterte und Tausende von Feinden mit wildem Jubelgeheul antworteten. Die Türken kletterten bereits über den Schutt der Mauer hinauf, des Geschoßhagels nicht achtend, der auf sie niederprasselte; es wurde anderthalb Stunden verzweiflungsvoll gerungen und schon wehten Roßschweife auf der Bastion. Da erschien Graf Starhemberg selbst mit seinem ganzen Stabe an der Spitze der Reservetruppen und stürzte die bereits siegestrunkenen Barbaren mit gewaltiger Hünenkraft über die Mauertrümmer hinab in den Graben. Tag und Nacht arbeiteten nun alle Hände, Männer und Weiber, an der Ausfüllung der Bresche. Aber schon am 6. September führte eine neue springende Hauptmine an derselben Stelle einen neuen Sturm herbei, und auch dieser wurde glücklich abgeschlagen und hat 1500 Türken und nur 100 Christen das Leben gekostet.

Noch nie hatten die Türken so wüthend die Stadt beschossen und bestürmt, wie an diesen und den noch übrigen Tagen der Belagerung; denn Zweierlei war ihnen klar geworden: einmal, daß sich die Stadt nicht mehr lange halten könne, und zweitens, daß der Entsatz herannahe, und daß sie diesem zuvorkommen müßten, wenn sie Wiens Herr werden wollten.

Jetzt war der Augenblick der höchsten Noth für die edle Stadt gekommen! Und gerade in diesen schwersten Tagen mußte (am 10. September) der Tod den Mann rauben, welcher neben dem Commandanten von unschätzbarem Werth, ein unersetzlicher Verlust für Alle war, den Bürgermeister Liebenberg! Er sollte die Befreiung seiner Stadt nicht mit erleben!

Da nahte aber auch die Hülfe und Rettung.

Schon am 11. September bemerke man von den Thürmen der Stadt aus im Lager ein geschäftiges Hin- und Herrennen; Pferde wurden gesattelt, Kameele bepackt und Reiter zusammengezogen. Die Türken hatten sichere Kunde erhalten von dem Herannahen des Entsatzheeres, und des Wütherichs Kara Mustapha Hochmuth befand sich am Vorabend des jähen Falles.

Herzog Karl von Lothringen hatte am 24. August bei Bisamberg eine Abtheilung der Türken glänzend geschlagen, ein Ereigniß, das die Stadt, in welche, trotz aller Absperrung, diese Nachricht gedrungen war, als den ersten Hoffnungsstrahl mit Jubel begrüßt hatte. Und nun rückten, Fahnen um Fahnen, die Entsatztruppen an. Schon vor jenem Treffen waren die Baiern angekommen, geführt vom Kurfürsten Max Emanuel und dem F.-M.-L. Freiherrn von Degenfeld, und bald nach ihnen die Salzburger, Württemberger und Franken unter dem Reichsmarschall Fürsten von Waldeck. Ohne einen besonderen Vertrag mit dem Kaiser abzuwarten, zogen die Sachsen unter dem Kurfürsten Johann Georg dem Dritten heran und waren am 5. September in der Nähe Wiens. Die Polen, deren Anmarsch durch die Schwerfälligkeit ihrer Regierung und französische Ränke verzögert war, standen am 30. August in Nikolsburg, und am 31. hatte der ritterliche König Johann Sobieski die erste Zusammenkunft mit Herzog Karl bei Oberhellabrunn. Am 3. September schlug der König sein Hauptquartier bei Tulln an der Donau auf. Es folgten schließlich noch kaiserliche Truppen, die zerstreut im Reiche und den Erbländern gestanden hatten. Und nun übernahm den Oberbefehl der König von Polen.

Das Heer der Befreier überschritt die Donau und lagerte auf der Ebene bei Tulln. Es teilte sich in das Corps de bataille unter dem Kurfürsten von Baiern und dem Fürsten von Waldeck, den linken Flügel unter dem Herzog Karl von Lothringen und dem Kurfürsten von Sachsen, und den rechten Flügel unter dem polnischen Großfeldherrn Fürsten Jablonowski. Die Angaben über die Stärke des Entsatzheeres schwanken zwischen 65,000 und 83,000 Mann. Bei demselben befand sich als junger Officier der spätere Kriegsheld Prinz Eugen von Savoyen.

Kara Mustapha hatte dem Entsatzheere, das nun über den Kahlenberg heranzog, noch über 100,000 Mann entgegenzustellen, nachdem er über 30,000 Mann in den Laufgräben vor Wien zurückgelassen hatte; es waren Türken, das heißt Orientalen verschiedener Abkunft aus Europa, Asien und Afrika, neben ihnen Tataren, Ungarn, Siebenbürger, Walachen, Moldauer als Vasallenheerhaufen; Tököly befand sich mit etwa 30,000 Mann zu ihrer Unterstützung in Ungarn.

Kara Mustapha teilte sein Heer ebenfalls in drei Theile; das Mitteltreffen führte er selbst, den linken Flügel Pascha Ibrahim von Ofen, den rechten Pascha Kara Mehemed von Diarbekir, und so erwartete er seinen Gegner auf den Höhen zwischen Nußdorf und Dornbach.

Endlich erschien der 12. September, der Tag der Entscheidung. Noch am Tage zuvor waren die Truppen, nach Möglichkeit, in ihrer Ausstellung vorgedrungen, aber mit unsäglicher Mühe, denn ein anhaltender Regen hatte die Wege grundlos gemacht und die Waldwasser waren angeschwollen. Dennoch gelang es fünf sächsischen Bataillonen den Gipfel des Kahlenbergs zu ersteigen und, durch Oesterreicher verstärkt, bei der Leopolds-Capelle drei Geschütze aufzustellen. Diese drei sächsischen Kanonen brachten der Stadt den ersten Gruß der nun sicheren Hülfe, und gewiß ist nicht oft ein Kanonendonner mit solchem Jubel begrüßt worden, wie dort von den Tausenden in höchster Noth.

[599] Das Entsatzheer drang so weit vor, daß der linke Flügel den Leopolds-Berg, das Centrum den Hendel- und Langenberg und der rechte Flügel den Hermanns, Kobel- und Sauberg besetzten. In dieser Stellung, welche der König um drei Uhr noch einmal beritt, erwartete man den großen Morgen.

Wie hatte der Türke Kara Mustapha sich für den Tag vorbereitet? Echt türkisch! Derselbe sah der allmählichen Anhäufung und Entwickelung der feindlichen Streitmacht mit dem schönsten Türkenphlegma zu. Nur zu einem Befehle raffte er sich auf: im Lager bei Hernals wurden 30,000 christliche Gefangene jeden Alters und Geschlechts bewacht, um in die Sclaverei abgeführt zu werden. Da aber die Abführung derselben jetzt unmöglich und deren Bewachung lästig war, so erhielt der Pascha von Temesvar den Befehl, sie alle niederzumetzeln! Das geschah am 8. September. – Am folgenden Tage entschloß er sich, Wien noch eiligst mit Sturm zu nehmen, zog es aber dann vor, auf der Höhe von Döbling und Währing die noch heute an ihn erinnernde „Türkenschanze“ zu bauen, und nachdem er am 11. September noch die „zu spät“ gekommene Besetzung des Kahlenbergs versucht hatte, kam er endlich zu dem Entschlusse, am 12. September das Entsatzheer zu vernichten.

„Morgenroth, leuchtest mir zum frühen Tod“. Als der Tag erwachte, erkannte der Scharfblick des Königs die Schwächen der türkischen Aufstellung, die von Nußdorf bis Dornbach sich hinzog. Ein Kriegsrath mit den übrigen fürstlichen Befehlshabern führte zu dem Entschlusse, die Schlacht noch heute zu wagen. Nachdem man gemeinsam in der Klosterkirche das Abendmahl genossen, eilten alle Führer zu ihren Truppen – es war sechs Uhr geworden – und gleich darauf donnerten die Kanonenschüsse in’s Donauthal, die das verabredete Zeichen zum Aufbruche gaben.

Der Kampf des Tages war sehr schwer, denn jetzt war an die Türken die Reihe gekommen, um ihre Selbsterhaltung mit dem Muth, ja mit der Wuth der Verzweiflung zu kämpfen.

Der Kampf begann zwischen acht und neun Uhr auf dem linken Flügel gegen die Stellung der Türken am Nußberge unweit Nußdorf. Osman Oglu, der hier befehligte, hatte von Sachsen und Oesterreichern sich von diesem wichtigen Punkte verdrängen lassen und setzte nun Alles daran, wieder Herr desselben zu werden. Trotz aller Kampftüchtigkeit stieg von Augenblick zu Augenblick die Gefahr des Erliegens – dem die nahestehende Reichsinfanterie des Fürsten von Waldeck ruhig zusah –, da ließ der Prinz von Baden sächsische Dragoner absitzen und mit zwei Kanonen vordringen. Das Gefecht stand wieder, aber erst als noch vier Dragonerdivisionen und schließlich auch die gesammte sächsische Infanterie herbeigekommen, wurden die Höhen von Nußdorf gestürmt, und nach einem abermaligen wüthenden Widerstand bei Döbling fielen Nußdorf und Heiligenstadt in die Gewalt des siegreichen linken Flügels.

Das Centrum und der rechte Flügel hatten so bedeutende Terrainschwierigkeiten zu überwinden, daß sie nur langsam vordrangen. Erst gegen Mittag rückte der König an der Spitze seiner Reiterei und unter dem Schutze von vier Bataillonen des Centrums, deren Geschütz aus dem Galizinberge aufgestellt war, unweit Dornbach aus dem Walde hervor, während das Centrum die Höhen von Grinzing (bei Patzelsdorf) besetzte und mit dem rechten Flügel Fühlung gewann. Vom Siege des linken Flügels begeistert, brannten die Krieger vor Kampfbegierde, und bald sollten sie diese Begierde in Uebermaß zu stillen haben. Denn Kara Mustapha zog den Kern seiner Truppen zusammen und entfaltete die grüne Fahne des Propheten. Und als nun der König mit seiner Reiterei sich mitten auf den feindlichen Heerhaufen warf, stieß er auf unbezwinglichen Widerstand. Ein Theil seiner Reiterei wurde aufgerieben, ein Theil floh sogar, und der Großwesir jubelte schon Sieg!

Da kam die Rettung durch den Herzog Karl. Er sah die Gefahr und forderte den Kurfürsten von Sachsen zu einem Generalangriff auf den rechten feindlichen Flügel auf; beide erstürmten die große Batterie bei Döbling und eine Redoute bei Währing, die Sachsen, als die ersten bei den Batterien, richteten die Kanonen gegen den Feind und fort stürzten die aufgelösten Massen in regelloser Flucht erst in ihr altes Lager und dann weiter ohne Widerstand und Aufenthalt.

Durch diesen Angriff war der Großwesir gezwungen worden, vom König abzulassen. Dieser sammelte, ordnete und ermuthigte indeß seine Reiterschaaren, und als er nun abermals bei Dornbach hervorbrach, ergriff die Türken der panische Schrecken. Vergeblich erhob der Großwesir selbst die heilige Fahne und beschwor seine Paschas zu neuem Kampfe, vergeblich fiel er sogar dem Khan der Tataren zu Füßen, seine Rettung von ihm erflehend – Alles vergebens! Um sechs Uhr war die Schlacht zu Ende. Schon um fünf Uhr hatte Prinz Ludwig von Baden mit sächsischen und österreichischen Dragonern vor dem Stubenthor sich mit den Wiener Ausfalltruppen Starhembergs vereinigt. Da gab es wohl ein Händedrücken wie nicht oft in der Welt.

In das Türkenlager war zuerst der Herzog Karl mit den siegreichen Sachsen eingezogen; später kam der König mit den Polen und endlich die übrigen Truppen. Die Beute war außerordentlich groß, fiel aber zu drei Viertel in die Hände der Polen. Der werthvollste Beutetheil waren 500 Kinder, deren Eltern in Gefangenschaft geschleppt oder gemordet waren. Sie alle nahm der Bischof in seinen Schutz.

Dieser Tag hatte den Türken gegen 15,000 Mann gekostet; der Glanz der Janitscharen war für immer verblichen. Das christliche Heer verlor gegen 5000 Mann, darunter 1200 Polen.

Am 13. September hielten die Sieger ihren Einzug in dem befreiten Wien. Am 14. gab der Kaiser sich diese Ehre. Am 15. fand die Zusammenkunft des Kaisers mit dem König statt. Es war bei Schwechat, wo zum Andenken an den großen Augenblick eine Pyramide errichtet worden ist. Schade, daß man nicht diesen Stein die Frage des Kaisers eingegraben hat:

„Wie soll ich den König empfangen?“
Und die Antwort des Herzogs:
„Majestät, mit offenen Armen, denn er hat das Reich gerettet!“

Wir wollen den kaiserlichen Undank, über den sich so Mancher zu beklagen hatte, als schwarze Wäsche der Geschichte, hier bei Seite liegen lassen. Manchen ist ja doch ihr Lohn geworden. So wurde Starhemberg zum Feldmarschall, Bischof Kollonitz vom Papste zum Cardinal ernannt, und der mutige Koltschitzky erhielt von der Stadt die Erlaubniß, aus den im Lager erbeuteten Vorräthen von Kaffee das erste Kaffeehaus in Wien zu errichten.

Wir wollen noch einen Blick auf die vier Haupthelden des weltgeschichtlichen Ereignisses werfen, von welchen leider nur drei auf unserer Illustration Platz gefunden haben. Ohne alle Frage verdankt man den großen Doppelsieg der Vertheidigung und der Entsetzung Wiens, nächst der Tapferkeit und dem Opfermuth der Truppen und der Bürger, dem Feldherrntalente des Königs von Polen und des Herzogs von Lothringen, der Kriegserfahrenheit und dem Muthe des Kurfürsten von Sachsen und den ritterlichen und männlichen Eigenschaften des Grafen von Starhemberg.

Der König stehe auch hier obenan.

Wie kam es, daß gerade der Polenkönig zum Oberbefehlshaber des Entsatzheeres ernannt wurde? War dies etwa eine Courtoisie, welche man dem Oberhaupte eines verbündeten Staates erweisen zu müssen glaubte? Keineswegs! Die Auszeichnung galt einzig und allein dem Manne, dessen kriegerische Thaten schon lange vor der Schlacht bei Wien die Bewunderung der damaligen Welt hervorgerufen hatten.

An der Ostgrenze Polens begann er seine Laufbahn als einfacher Edelmann, und in jenen blutgetränkten Ländern, in denen nie der Friede herrschte, sondern ein fast ununterbrochener Kampf mit der anwachsenden Macht der Russen, mit den rebellischen Kosaken und dem anstürmenden Halbmond tobte, führte ihn der Gott der Schlachten bis zu den höchsten Staffeln des Ruhmes und Ansehens, die je ein Bürger der adeligen Republik erlangen konnte. Nicht allein den Feldherrnstab, auch die Krone selbst legte die Fortuna in seinen Tornister.

Als im Jahre 1672 der polnische Thron durch den Tod des Königs Michael „verwaist“ war, stand Sobieski als Kronfeldherr im Felde, um den Türken ihre Eroberungen im Osten des Reiches zu entreißen. Bei Chocim griff er den Seraskier Hussein an und errang mit 30,000 Mann einen glänzenden Sieg über die doppelte Macht des Feindes. Jener Morgen des 11. November war einer der glorreichsten Tage seines Lebens, und wenn man die Thaten für sich selbst und nicht nach ihrer geschichtlichen Bedeutung beurtheilen will, ruhmreicher als der 12. September 1683, an dem er mit anderen Feldherrn sich in den Lorbeer theilen mußte. Der Schnee fiel in dichten Flocken, als Sobieski mit gezücktem Säbel seine Infanterie zum Sturm gegen die Wälle des [600] türkischen Lagers führte, mit eigner Hand die grüne Hauptfahne Hussein’s eroberte und nach dreistündigem Kampfe das osmanische Heer vernichtete.

Die Erinnerung an diesen Sieg bewirkte es wohl, daß Sobieski am 21. Mai 1674 auf dem Wahlfelde zum König von Polen ausgerufen wurde. Und kaum hatte er den Thron bestiegen, da mußte er bald um Polens Dasein kämpfen, denn Ibrahim Pascha war mit 150,000 Mann vor den Thoren Lembergs erschienen. Da raffte König Johann ein Häuflein seiner erprobten Krieger, das kaum fünftausend Mann stark war, zusammen; mit diesem wagte er den furchtbaren Kampf gegen die dreißigfache Uebermacht und schlug den Feind in wilde Flucht. Und später hielt er mit wenigen Tausenden wochenlang das Heer des Seraskier Ibrahim Scheitan (200,000 Mann) auf und verrichtete Wunder der Tapferkeit.

So gelang es ihm, mit geringen Streitkräften übermächtige Feinde an der Ostgrenze seines Reiches zu bezwingen, und so ging auch der Schrecken seines Namens her vor den Fahnen der polnischen Heere. Aus diesen Gründen war gerade sein Erscheinen vor Wien von großer Wichtigkeit und das ihm anvertraute Commando durchaus gerechtfertigt.

Der diesem königlichen Helden an Verdienst und Würde zunächst stehende ist Herzog Karl V. (IV.)[1] von Lothringen. Das Leben dieses Mannes führt uns in die Intriguen ein, durch welche der französische Hof das Herzogthum Lothringen vom deutschen Reiche losriß.

Karl’s Vater, Franz, war der Bruder jenes Karl IV. (III.), welcher sein ganzes Leben lang mit der französischen List und Herrschsucht um die Selbstständigkeit seines Herzogthums im Kampfe stand. Aus seinem Lande vertrieben, flehte er die Kaiserlichen und Brandenburger an, vereinigt „die Grenzländer des Reiches“ zu schützen. Niemand erhörte ihn, und so ist er 1674 zu Albach bei Bernkastel aus Zorn und Kummer gestorben.

Diesem Oheim Karl’s war nämlich die Tochter seines Oheims Heinrich’s des Zweiten, Nicoläa, zur Gemahlin aufgedrungen worden; die Ehe war unglücklich und blieb kinderlos. Das aber war ja gerade die französische Absicht und eben deshalb war der jüngere Bruder desselben, Franz, zum Cardinal ernannt worden, damit auch er nicht durch Nachkommenschaft gefährlich werde. Die Schwester der Nicoläa, Claudia, sollte einen jüngeren Bruder Ludwig’s des Dreizehnten heirathen und dieser dann der einzige Erbe Lothringens werden. Als Franz von diesem Plane Kunde erhielt, entledigte er sich eiligst des Cardinalshutes und ließ sich mit der ihm längst gewogenen Claudia selbst heimlich vermählen. Das Geheimniß hielt sich nicht lange, und der französische Befehlshaber von Nancy wurde angewiesen, das junge Paar gefangen zu nehmen und zu trennen. Claudia aber schlich sich als Page verkleidet zu ihrem Gemahl, und Beiden gelang es, aus der Stadt und der französischen Gewalt zu entfliehen. „Damals fühlte Lothringen noch ganz deutsch“. Und da der Papst später die romantische Ehe anerkannte, so wurde der Stamm der Lothringer am Leben erhalten, um als Erbe der Habsburger den deutschen Kaiserthron zu besteigen.

Der zweite Sohn aus dieser romantischen Ehe war der Herzog Karl V. (IV.), dessen Kriegsthaten wir im Kampfe vor Wien bewunderten. Er war 1463 in Wien geboren. Sein Oheim Karl hatte ihn zum Nachfolger im Herzogthume bestimmt, mußte ihm aber schleunigst die Reise nach Nancy verbieten, als er von Paris die Kunde erhalten hatte, daß Prinz Karl sich zu einer verletzenden Aeußerung gegen Ludwig den Vierzehnten vergessen habe, die diesem zugetragen worden sei. Karl reiste sofort nach Paris, um sich vor dem König selbst zu rechtfertigen, erhielt aber dort nur den Befehl, Frankreich binnen vierzehn Tagen zu verlassen. Er kehrte nach Wien zurück und zeichnete sich in den damaligen Türkenkriegen aus. Als wieder einmal die polnische Krone feil war, trat er als Bewerber um dieselbe auf, mußte aber dem Johann Sobieski weichen; ihr gemeinsamer Sieg vor Wien machte Beide zu Freunden. Im Jahre 1674 starb sein Oheim und hinterließ ihm das Recht der Erbfolge in Lothringen, jedoch unter der von Ludwig dem Vierzehnten befohlenen Bedingung, daß das Herzogthum nach seinem Tod an Frankreich falle. Als Karl gegen diese, alle Reichs- und Familiengesetze verhöhnende Bedingung protestirte, erhielt er vom Könige die Antwort: Er habe die Herablassung gehabt, Lothringen als eine freie Gabe anzunehmen, und die lothringischen Prinzen reichlich dadurch belohnt, daß er sie für Prinzen von (königlich französischem) Geblüt anerkannt habe.

Herzog Karl schien dieses „Geblüt“ nicht so hoch anzuschlagen, er blieb lieber kaiserlicher General, vermählte sich mit der Schwester des Kaisers, der verwittweten Königin Eleonora von Polen, und ward Vater von vier Söhnen, deren ältester, Leopold, im Frieden von Ryswick Lothringen zurückerhielt, während der zweite, Karl Leopold, Kurfürst von Trier wurde. Seine fernere Feldherrnlaufbahn, die ausgefüllt ist mit Kämpfen gegen die Türken und Franzosen, können wir hier nicht verfolgen. Sie sind unvergängliches Eigenthum der Geschichte. Herzog Karl starb 1690; man sagt, er sei durch seinen Kammerdiener mittelst einer vergifteten Perrücke getödtet worden,

Von dem Kurfürsten Johann Georg dem Dritten von Sachsen, dem vom Kaiser Leopold auch mit Undank belohnten dritten Feldherrn vor Wien, können wir hier nur erwähnen, daß leider sein Kriegsheldenthum kein Glück für sein Land war. Aber sein patriotischer Sinn, der ihm gegen beide Reichsfeinde, Türken und Franzosen, das Schwert in die Hand drückte, verdient dankbare Anerkennung. Wären alle übrigen deutschen Fürsten Seinesgleichen an Vaterlandsehrgefühl gewesen, so würde die Schmach am Rhein nicht so hoch gestiegen, würde die Verwüstung der Pfalz nicht möglich geworden sein. Er starb, als Führer einer Rheinarmee, von der im Heere ausgebrochenen Seuche ergriffen, am 12. September 1691 in Tübingen.

Der dritte der auf unserer Illustration Dargestellten steht mit Recht im Bilde an der Spitze derselben: Ernst Rüdiger, Graf von Starhemberg, der Held und Mann, welcher den Triumph der Uebrigen durch die Erhaltung Wiens erst recht erhöht hat. Graf Ernst Rüdiger war zu Graz in Steiermark 1635 geboren, Sohn des damaligen Statthalters von Niederösterreich. Er trat in früher Jugend unter die Fahne und fand in Montecuculi seinen Lehrmeister, und zwar in einer Schule, welcher die Praxis nicht fehlte, denn die Kämpfe zwischen Türken und Ungarn waren sein Lehrfeld, aber zugleich seine Ehrenstaffel, auf welcher er in seinem fünfundvierzigsten Jahre die Stufe des Feldzeugmeisters erreicht hatte. Sein Sieg über Tököly in Mähren, 1680, veranlaßte den Kaiser, ihm beim Anzug der Türken 1683 die Vertheidigung Wiens anzuvertrauen.

Wie er dieses Vertrauen gerechtfertigt, ist in dem vorliegenden Artikel dargetan, und gegen ihn war der Kaiser gerecht, indem er ihm einen kostbaren Ring und 100,000 Thaler spendete, ihm ferner den Feldmarschallstab, die Würde eines Staats- und Conferenzministers und endlich das Recht verlieh, fortan den Stephansthurm in seinem Wappen zu führen. Die Stadt Wien erklärte das gräflich Starhembergische Haus auf der Wieden für abgabenfrei, der Papst beehrte ihn mit einem Breve, der König von Spanien mit dem Orden des goldenen Vließes.

Im Verein mit dem König von Polen setzte er den Krieg gegen die Türken und Ungarn fort, ward aber vor Ofen so schwer verwundet, daß er den Heerbefehl aufgeben mußte. Er kehrte nach Wien zurück und widmete sich fortan als Hofkriegsraths Präsident mit Vorliebe der besseren Organisation des Heeres, wozu er an dem Herzog Karl von Lothringen und dem Prinzen Eugen von Savoyen treue und gediegene Helfer fand. Er starb am 4. Januar 1701.

Als Nachtrag und Abschluß unseres Artikels möge man noch das Folgende gelten lassen. In ganz Europa fand der Sieg über die Türken freudigen Wiederhall, die Türken aber fühlten, daß von diesem Tage an ihr Halbmond im Abnehmen begriffen war. Bezeichnend für sie ist, daß Kara Mustapha den unschuldigen greisen Ibrahim Pascha erdrosseln ließ und selbst wieder auf Befehl des Sultans in Belgrad erdrosselt wurde. Die Verfolgung der fliehenden Türken aber wurde binnen wenigen Jahren zur Rückeroberung von ganz Ungarn aus den Händen der Asiaten und zum Wiedergewinn des Landes für Europa. Tököly, der im türkischen Heerlager blieb, starb als Vasall des Sultans in Kleinasien.

[601]

Der Uklei-See.[2]

Mit Originalzeichnung von G. Sundblad.

Von Hügeln dicht umschlossen, geheimnißvoll
Verhüllt in Waldnacht, dämmert der Uklei-See.
Ein dunkles Auge, das zur Sonne
Nur um die Stunde des Mittags blicket.
Emanuel Geibel.

Das norddeutsche Hochland, welches sich mit seinen weitausschauenden Kuppen und alten ehrwürdig rauschenden Wäldern, mit seinen tief ausgerissenen Schluchten und eingesunkenen Thälern als ein breiter Gürtel um das Gestade der Ostsee legt, steht bekanntlich und besonders bei Deutschen in dem Rufe, sich hervorragend schöner landschaftlicher Reize nicht rühmen zu dürfen; höchstens daß man Rügen nachsagt, daß es sich in den urkräftigen Waldungen der Granitz und Stubnitz von Putbus bis zur Stubbenkammer und in den Kreideklippen mit der zauberischen Aussicht auf Meer, Bodden und Strandgliederung ganz angenehm leben lasse. Jene geringe Meinung von unserem Küstenlande ist jedoch keine gutberechtigte. Denn außer diesem von der Schöpfung allerdings reich begnadeten und mit Recht vielberühmten Eilande giebt es noch manche andere Gegend, die, wenn schon ihr Lob nicht so laut im Munde der Völker klingt, ihr Angesicht doch nicht zu verhüllen braucht, sondern mit den anmuthigen Zügen, welche die Natur ihr anerschaffen hat, dankbar vor uns Menschen lächeln darf.

Ich denke dabei vor Allem an eine Landschaft, die, in ein Prachtgewand [602] norddeutscher Natur gekleidet, einen Ehrenplatz im Panorama unseres Reiches verdient; es ist Wagrien, das zauberische Ländchen Ostholsteins. Verschwenderisch geradezu hat die Natur es mit üppigem Reichthum gesegnet und in Mannigfaltigkeit der Formen sein Bild gewiß zu einem der lieblichsten unseres ganzen weiten Vaterlandes gemacht. Wer landschaftliche Schönheiten unserem Ostseestrande bestreitet, der mag von der Burg Hessenstein in Wagrien hinaus über die fruchtbaren Gefilde, über das wirklich blaue Meer bis nach den hell herüberleuchtenden dänischen Inseln oder zurück in’s Land hinein schauen, in das grünwogende Meer vollwuchsigen Buchenwaldes, über die grünen Auen, goldenen Kornfelder und die zahlreichen aus Flur und Baum herausblickenden tiefdunklen Seespiegel, und wem dann beim Anblick dieser Höhen-, Seen- und Wälderpracht nicht das Herz aufgeht, nun, dem hat Gott eben nicht die rechte Gunst erwiesen. Dabei erglänzt in dem lieblichen Gewand des Ländchens ein Kleinod von so tiefer Strahlung und von so schwermuthsvoller Pracht, wie das Auge es wo anders nicht in gleicher Schönheit schauen wird. Dieses Kleinod ist ein Waldsee im Buchenhain Eutins, ein in Einsamkeit versenktes Wasser, um das Poesie und Sage ihr Goldgewand gesponnen haben – der Uklei-See.

Wer den Hertha-See bei der Stubbenkammer auf Rügen oder den Wodan-See auf der Insel Wollin betrachtet und liebgewonnen hat, wird sich von dem Uklei-See eine Vorstellung machen können, wer diesen aber selbst gesehen, muß bekennen, daß er seine Geschwister noch um Vieles übertrifft.

Wenn man von der alten Gremsmühle, die heute noch im Schwentine-Thal bei Eutin im Strudel des Wildbachs klappert, den breiten Fahrweg nordöstlich nach dem Pfarrdorfe Malente am Keller-See, dem „Grünau“ aus Voß’ „Luise“, verfolgt und den Fußsteig an Sielbeck vorbei und den nördlichen Rand des Keller-Sees entlang einschlägt, so tritt man in den Dom eines ansteigenden uralten Buchenwaldes ein, wo uns schlängelnde, mehr und mehr umdunkelnde Pfade bis auf eine Anhöhe führen: hier sehen wir nun tief zu unseren Füßen den melancholischen Spiegel des Uklei-Sees. Der hohe dunkle Wald umschließt ihn von allen Seiten, sodaß nur zur Mittagsstunde die Sonne ihre Strahlen in seinen stillen Grund hinabtauchen kann. Eine Walddecke von Waldmeister, Farren und Sauerklee weht rund herum einen Zauber tiefster Einsamkeit. So liegt er da versenkt in diesen feierlichen Friedensschlummer, ein Bild unsagbar schwermuthsvoller Pracht. Und ob die vor jedem Windhauche geschützte, ganz regungslose Wasserfläche die Wolken und die Waldhöhen wie ein Zauberglas wiederspiegelt, oder mächtig und düster, wenn das Abendglühn die Baumwipfel zum Abschiede in sein flüchtiges Gold taucht, emporblickt wie das Auge eines unergründlichen Geheimnisses, oder ob im Mondschein der Geist der Sage um die schilfigen Ufer wandelt, immer ist es eine tief poetische Stimmung, welche die Seele des einsamen Beschauers vor diesem Naturwunder ergreift.

Es ist verständlich, daß eine solche weltfremde Friedensstätte im Glauben des Volkes den natüriichen Boden der Wirklichkeit verloren hat, und erst aus der Belebung mit übersinnlichen Gestalten sich das Ungewöhnliche und Großartige ihres Eindrucks erklärt. Die Volksseele ist und bleibt ja nun einmal ein großes unmündiges Kind, das nach dem Grotesken am liebsten begehrt und mit dankbarem Gemüth alles das in sich aufnimmt, was seiner Einbildungskraft schmeichelnd neue Nahrung giebt, das es begreift und lieb gewinnt, mit dem es mit der Tiefe seines Herzensgrundes zu denken und zu fühlen vermag, mit dem es lachen, aber auch weinen darf. So hat denn auch der Uklei-See sein stilles einst geträumtes Bild, und um sein Ufer schwebt die Lichtgestalt der Sage erklärend, was Geheimnißvolles sein tränenfenchtes Auge für das Menschensehnen birgt.

Wo jetzt der stille Grund des Sees liegt, soll vor Jahren inmitten eines alten Eichenhaines dem schönsten Wiesengrün eine Silberquelle entsprungen sein. Wie von Geisterhand gewoben, umflocht die heilige Stätte ein unsichtbares Band, sodaß sie nie eines Wanderers Fuß betreten hatte, selbst das scheue Wild sich dem Born nie zu nahen wagte. Doch bei Vollmondschein, so geht die Sage, in lauen Sommernächten, konnte man unter dem dichten Laubgeflecht im Zwielicht die verschleierte Gestalt eines schönen Weibes sehen, wie sie seufzend, klagend, händeringend an der Quelle umherirrte, um erst mit dem Mondlicht wieder dahinzuschwinden.

Als einst ein Ritter durch den Wald gezogen kam und ermattet zu der Quelle eilte, um mit heißen Zügen das frische Naß zu schlürfen, da sah er durch das Laubbgehänge das wunderbare Frauenbild von dem Mondlicht sanft umflossen, mit aufgelösten wallenden Locken, um die weiße Stirn ein Silberband geschlungen, den lichten Schleier zurückgeschlagen und eine Harfe in der Hand, welcher die zarten Finger schmerzzuckende Töne entlockten.

Und wie er sah und lauschte, ward es ihm enge um Brust und Herz, und von Schauer und Entzücken erfüllt, eilte er vorwärts, um sich in namenloser Sehnsucht ihr zu Füßen zu werfen. Doch das zauberische Weib hob sich erschreckt weg, hüllte sich in Schleier und Gewand und betheuerte ihn mit lauten Klagen von ihrem Weh und Leid, diese Unglücksfalle schnell zu fliehen und nicht muthwillig den Zorn finsterer Mächte heraufzubeschwören. Doch des Ritters Muth wich nicht und wuchs nur in stürmischer Liebesgluth, und auf den Knieen liegend schwor er bei seinem Schwerte und bei seiner Rittterehre, er wolle ihr Ritter und ihr Retter werden. Da schwankte sie, den stolzen Worten trauend, beugte sich nieder, neigte sich zur Quelle, und ihrer Hand erblühte eine Lilie. „Diese Blume blühte in ewiger Jugend,“ sprach sie, „nie wird ihr frisches Blüthenleben vergehen, so lange sich Dein Herz des Schwures bewußt bleibt. Zwölf Monden sollst Du sie behüten und zwölfmal mit ihr als Zeichen Deiner Treue hierher wiederkehren. Doch dahin welken und sterben wird sie, wenn Du das Wort nicht hältst.“

Schon raffte voll Entzücken der Ritter sich auf, um das liebreizende Weib an sein Herz zu schließen, da ward es plötzlich dunkel um ihn, und wo sie gestanden, sah er nur Nebel wallen. Umsonst rief er, der Wald blieb stumm, nur ein hundertstimmiges Echo drang auf ihn wie ein Warnungsruf ein. Erschüttert suchte er sein Roß, schwang sich in den Sattel und sprengte in das Dunkel, seinen Schwur zu lösen.

Zum elften Male schon war der Ritter nach dem Thale, das all sein Sehnen barg, hinabgeritten, und schöner und prächtiger war jedesmal die Lilie aufgeblüht. Zum zwölften Male lenkte er sein Roß dem dunklen Haine zu. Heisere Eulenrufe tönten durch das Rauschen der Wipfel, und finstere Wolken jagten am trüben Mondlicht vorüber. Mit glühendem Verlangen, doch zitternd wie von Fieberfrost geschüttelt, drang er vor, drang weiter bis zur Quelle und suchte im Brausen des Sturmes unter dem Lichte zuckender Blitze verwirrten Sinnes des Weibes Spur, ohne daß er bemerkt hatte, daß längst die Lilie welk seiner Hand entfallen war. Und wilder wurde das Sausen und Toben des Wetters, rauschend beugten sich die gewaltigen Eichen, der Boden wich zurück, aus dem Quell schwellten Fluthen, Alles verschlingend und des Thales ganze Weite füllend. Als aber der junge Tag erwachte, da ruhte der See im süßen Morgenschlummer, auf dem Grunde Gram und Kummer deckend. Des Ritters Leiche lag angespült im silbernen Gewand am Ufer; allnächtlich aber ertönet heute noch im Schilf des Uklei-Sees des betrogenen Weibes laute Klage.

Die geheimnißvolle, schwermüthige Stimmung, in welcher der Spiegel des Sees und seiner Umrahmung blinkt, erkärt sich aus dem feierlichen Schweigen dieser selbst und der Lage des Seebeckens. Der Spiegel liegt circa 30 Meter hoch über der Ostsee und ist nach drei Seiten hin von steilaufsteigenden Uferwänden umgeben. Nun an der Südseite geht das Gelände anfangs sanft an, steigt dann aber zum „Wüstenfelderholz“ ebenfalls schroff empor. So erscheint das Becken also wie ein Kessel, den das dunkel beschattete Wasser ausfüllt, und das südliche Gelände wie ein Thor, durch welches man zu seinen Ufern tritt. Dieser romantischen schönen Lage wegen erfreut sich der Uklei-See eines großen Rufes, und kein Wanderer wird die Gefilde von Wagrien durchwandeln, ohne den Fußsteig von Malente zu betreten, der ihn durch die Walddämmerung an das wunderbare Wasser führt.

F. S.

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Ein Säuglings-Kuhstall.

Von Dr. Chalybäus.

Die medicinische Wissenschaft hängt nicht mehr dem alchymistischen Probleme nach, künstlich Menschlein zu machen, aber sie ist jetzt vor die Aufgabe gestellt, neugeborene Menschlein künstlich zu großen Menschen aufzuziehen. Sicher über die Hälfte aller Mütter, wenigstens in der großen Stadt, mag oder vermag jetzt nicht, ihre Kinder an der Brust selbst zu ernähren. Man ertheilt solchen Frauen den Rath, dem Kinde eine Amme zu geben. Der Rath ist für das Kind der Mutter ebenso gut, wie für das Ammenkind schlecht; was auf der einen Seite gewonnen wird, das wird auf der anderen entzogen, das eine Kind gedeiht nur auf Kosten des anderen. Zudem ist der Rath auch leichter gegeben, als befolgt, und zur Erlangung einer wirklich guten Amme aus den städtischen Vermittelungsbureaus gehören besondere Glücksumstände. Es ist hiernach eine ganz besonders richtige, aber auch besonders schwierige Aufgabe der Gesundheitspflege, für gute Ersatzmittel der Muttermilch zu sorgen.

Die neuere Zeit hat, diesem Bedürfnisse nachgehend, Frauenmilch-Surrogate in großer Anzahl auf den Markt gebracht, in Form von Kindermehlen, Kinderzwieback, Kraftgries und andern Kindernahrungsmitteln. Es ist nicht zu leugnen, daß die rationelle Zusammensetzung dieser Präparate sowie ihre Verdaulichkeit und Haltbarkeit bedeutsame Fortschritte gemacht und daß ihre Mittel deshalb auch vielfach nützlich gewirkt haben. Keines dieser Surrogate indeß vermag sich in seiner allgemeinen Verwendbarkeit als künstliche Nahrung für Säuglinge mit einer guten Thiermilch, speciell der Kuhmilch, welche für den allgemeinen Gebrauch allein in Betracht kommt, zu messen.

Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß die große Sterblichkeit der kleinen Kinder wesentlich von der mangelhaften Versorgung mit guter Milch abhängt. In den großen Städten ist die stete Beschaffung frischer, unzweifelhaft und gleichmäßig guter Kuhmilch mit ganz besonderen Schwierigkeiten verbunden. Da die Milch nicht in der Stadt selbst, sondern auf den Landwirthschaften in mehr oder weniger großer Entfernung vom Stadtweichbilde erzeugt wird, so sind der Kuhstall, das Vieh und das Gebahren des Milchproduzenten der Ueberwachung des Consumenten ganz entzogen. Die Milch ist ein sehr empfindlicher Stoff, der sorgsam behandelt sein will, sie ist leicht dem Verderben ausgesetzt und verliert schon durch das Aufbewahren an ihrer Güte. Noch mehr leidet sie bei längerem Transport, wenn sie wiederholtem Rütteln und starker Sonnenhitze ausgesetzt wird, ganz abgesehen noch von den Gefahren der Verunreinigung durch unreine Gefäße und das Gebahren mit unsauberen Händen. Hierzu kommt weiter noch, daß gerade die Milch der Verfälschung und Gehaltsverringerung durch den Zwischenhändler ganz außerordentlich ausgesetzt ist.

Ist schon die Beschaffung der gewöhnlichen unverfälschten Kuhmilch für die große Stadt mit vielen Schwierigkeiten verknüpft, so ist es noch viel schwieriger, die Stadt mit solcher Kuhmilch sicher zu versorgen, welche zum Ersatz der Frauenmilch tauglich und zur Ernährung kleiner Kinder im ersten Lebensjahre dienlich ist; denn zu diesem Zwecke ist keineswegs jede gute Kuhmilch ohne Weiteres verwendbar. Nicht jede Muttermilch bekommt dem zarten Säugling; die Kuhmilch ist aber der Frauenmilch nicht ganz gleich zusammengesetzt und stellt deshalb schon an sich größere Anforderungen an die Verdauungskraft des kindlichen Magens. Sodann ist die Zusammensetzung der Kuhmilch keine ganz gleichbleibende, sie wechselt sowohl bei verschiedenen Kühen je nach der Rasse, als auch bei derselben Kuh je nach dem Alter, dem Gesundheitszustande, der Milchperiode und der Fütterung der Kuh, und zwar sind die Unterschiede, welche die Milch je nach diesen wechselnden Verhältnissen zeigt, ganz bedeutende; es giebt Milchsorten, welche nicht verfälscht sind und dennoch keine normale ungeschwächte Milch mehr vorstellen.

Um eine gute, gehaltvolle und sich gleichbleibende Milch zu erzielen, ist es vor Allem nothwendig, daß in der Milchwirthschaft die genaueste Sorgfalt auf die Erhaltung des Gesundheitszustandes der Milchkühe verwendet wird. Zur Beurtheilung desselben sind aber die wenigsten Landwirthe, namentlich kleineren Landwirthe befähigt, und nicht wenige sind sogar geneigt, auch noch die Milch von kranken Kühen zu verkaufen; ist es doch vorgekommen, daß Milch von Kühen vom Dorfe nach der Stadt verhandelt worden ist, welche vom Thierarzt scharfe und giftige Arzneimittel erhalten hatten. Kühe, die zum Ziehen verwendet werden, geben eine geringe Milch.

Von großem Einfluß auf das Wohlbefinden des Milchviehs und damit auf die Güte der Milch sind die baulichen Verhältnisse des Stalles, das Melken selbst, sowie die Sauberkeit des ganzen landwirthschaftlichen Betriebes.

Die bedeutendsten Verschiedenheiten in der Zusammensetzung der Milch werden aber durch die Verschiedenartigkeit der Fütterung der Kühe bedingt. Es kommt nur selten vor, daß die Kühe auf der Wiese schädliche Kräuter fressen; in Rom aber sind Kinder durch Milch erkrankt, welche aus Herbstzeitlosen und Schierling stammende Gifte enthielt. Gnadenkraut macht die Milch abführend, Anis verleiht ihr feinen Geruch, Wermut feinen Geschmack, Safran und Hundszunge ihre Farbstoffe. Von Einfluß auf die Mengeverhältnisse der Milchbestandtheile ist die Nahrhaftigkeit des Futters, je nachdem die Wiesen gedüngt werden oder nicht. Im Sommer und Herbst genießen die Kühe meist grünes Futter auf dem Weidegang, oder durch Vorlage von Klee, Gras, Gemengfutter, Wicken, Runkelrüben und Aehnlichem im Stalle. Diese wasserreiche Fütterung vergrößert die Milchmenge, und aus diesem Grunde werden vom Viehbesitzer auch im Winter zur Stallfütterung oft nicht trockenes Heu und Klee verwendet, sondern allerhand Wurzelfrüchte, Kartoffeln, Bierträber, Branntweinschlempe, verschiedene billige Wirthschaftsabfälle etc.

Die Milch wird bei diesem Futter, das, nebenbei bemerkt, den Kühen selbst oft nicht zusagt, wässeriger und zur Säuerung neigend; es scheinen sich neben den gewöhnlichen chlor- und phosphorsauren Salzen auch schwefelsaure zu bilden, und deshalb wirkt diese Milch darmreizend und Durchfall erzeugend. Wir beobachten den gleichen Einfluß der Nahrungsweise ja auch bei den stillenden Frauen, und deshalb wird diesen stets die Einhaltung einer bestimmt vorgeschriebenen Diät anbefohlen, um die Säuglinge vor Verdauungsstörungen zu bewahren. So streicht z. B. von Ammon in seinem vielgelesenen Buche über „Die ersten Mutterpflichten“ alle grünen Gemüse, Kohl, Kraut, Rüben vom Speisezettel der Mutter, weil deren Milch dann blähend und abführend wirkt. Auch die Kühe, welche als Ammen dienen sollen, müssen auf eine besonders geregelte Nahrungsdiät gesetzt werden, um den besonderen Anforderungen dieses Dienstes zu genügen. Die grüne, wasserreiche Fütterung der Kühe liefert eine Milch, welche für gesunde Erwachsene zwar ganz brauchbar, für Säuglinge aber eine ungeeignete und gefährliche Nahrung ist. Solche Milch erzeugt bei den Kindern Magen- und Darmerkrankungen mit lebensgefährlichen Durchfällen oder mit langwierigen Verdauungsstörungen, welche Krämpfe, Abzehrung, Rhachitis und Scrophulose im Gefolge haben. Daher erklärt sich auch der Umstand, daß die kleinen Kinder hauptsächlich im Sommer, während der Grünfutterzeit, von Darmkrankheiten befallen werden, und zwar vorzugsweise diejenigen, welche nicht an der Mutterbrust liegen, sondern Kuhmilch erhalten.

Eine weitere Vorsicht bei der Milchwirthschaft ist dadurch geboten, daß eine Uebertragung gewisser Krankheiten vom Thiere auf den Menschen stattfinden kann. Als verdächtig und gefährlich ist besonders die Milch von Thieren zu bezeichnen, welche mit Perlsucht oder Tuberkulose, mit Maul- und Klauenseuche, mit Euterverschwärung behaftet sind. Der Genuß der rohen Milch vom seuchekranken Kühen kann eine fieberhafte Krankheit zur Folge haben, welche mit einem Bläschenausschlage auf den Lippen und der Zunge verbunden ist. Der Unterleibstyphus ist wiederholt in London durch Milch verbreitet worden, welche in Gefäßen, die mit inficirtem Brunnenwasser gespült worden waren, verschickt wurde, sowie durch solche, welche von Melkern besorgt wurde, in deren Familie die Krankheit herrschte. Auch bei einer Diphtheritisepidemie in London ließ sich die Verbreitung derselben in Verbindung [604] mit dem Milchbezuge bringen, und zwar wurde die Ursache auf eine Eutererkrankung der Kühe zurückgeführt.

Die Tuberkelkeime der Kuh können sich, insbesondere wenn die Krankheit auf die Milchdrüse übergreift, der Milch beimischen und so Tuberkulose erzeugend wirken. Darum ist immer daran festzuhalten, daß nicht jede erste beste Milchkuh als Ammenkuh brauchbar ist. Manchen Krankheitskeim, der als ererbt gilt, hat sich das Kind mit der Mutter- oder Kuhmilch erst angesogen. Von der Ernährung des Säuglings hängt die Kräftigkeit seiner Constitution für’s ganze Leben ab; wird doch Niemand ein Kind von einer schwindsüchtigen Mutter oder Amme stillen lassen.

Aber mit derselben Sorgfalt sollten die Eltern und Aerzte über die Gesundheit der nährenden Kühe wachen und ängstlich die Milch kraftloser und kranker Thiere ausschließen. Einer schwächlichen und dürftigen Frauenmilch ist eine als Specialität methodisch producirte, von nur ausgezeichneten Kühen gemolkene Kindermilch als Nahrungsmittel des Säuglings sogar vorzuziehen.

Durch eine richtige Futtermischung und durch strenge Auswahl der Thiere ist es möglich, eine fehlerlose Säuglingsmilch zu erzielen. Der Landwirth, der seine Milch als Marktwaare verwerthet, wird, wenn er buttert, bei der Fütterung darauf bedacht sein, möglichst den Buttergehalt selbst auf Kosten der übrigen Bestandtheile zu steigern, und, wenn er die ganze Milch verkauft, wird er bei der Auswahl der Thiere darauf sehen, Kühe mit möglichst reichlichem Milchertrag in seinem Stall zu haben. Deshalb bevorzugt er die Holländer, Oldenburger, Dessauer, kurz die Niederungsrassen, welche täglich 18 bis 20 Liter und mehr Milch geben. Aber diese Milch ist wässeriger und weniger gehaltreich, die Thiere magern bei der übertriebenen Milchabsonderung leicht ab und leiden erfahrungsgemäß häufiger, als Kühe sogenannter Höhen- oder Gebirgsrassen, an Tuberkulose.

Es kommt deshalb bei der Auswahl des Viehbestandes für einen Säuglings-Kuhstall nicht auf besonders milchreiche, sondern auf besonders gesunde Kühe an, nicht darauf, daß die Milchmenge groß, sondern daß die Milchqualität eine vorzügliche und für den besondern Zweck eine besonders geeignete ist. Die verbreiteste Krankheit des Rindes ist die Tuberkulose; die sichere Erkenntniß dieser Krankheit am einzelnen Thier ist im Beginn oft sehr schwierig. Es ist deshalb am sichersten, von vornherein auf eine gesunde Rasse zu sehen.

Die gesundesten und lebenskräftigsten Rindviehrassen stellt aber, wie schon bemerkt, das Gebirgsvieh. Schon das Vieh der Mittelgebirge, vom Harz, von der Rhön, von Oberbaiern, vom Pinzgau, vor Allem aber das Schweizer, insbesondere das bunte Simmenthaler und das einfarbige Allgäuer, ist kräftig und kerngesund. Diese Gebirgsviehrassen sind zwar weniger ertragsreich und geben nur 10 bis 12 Liter Milch täglich, aber dafür sind sie auch nahezu frei von Tuberkulose.

Nach den im Vorstehenden geschilderten Grundsätzen sind in den letzten zehn Jahren in mehreren großen Städten hygienische Milchställe errichtet worden.

Unsere Abbildung zeigt die in Dresden seit sechs Jahren bestehende Milchcuranstalt des früheren Rittergutsbesitzers Otto Wille, Bautznerstraße 71. Dieselbe steht unter der fortlaufenden Controle zweier Aerzte, eines Professors der Thierarzneischule und eines Chemikers. Der Stall selbst ist nicht in einem engen Hofe eingebaut, sondern frei im Garten gelegen, in einem eigenen Gebäude. Dasselbe hat, um im Winter allzu starke Abkühlung zu verhüten, ein doppeltes Dach, welches in der Mitte einen kuppelartigen Aufbau mit ringsum laufenden Ventilationsfenstern trägt. Die Mitte des 18 Meter langen und 16 Meter breiten Stallraumes nimmt ein erhöhtes freies Rundtheil ein, zu welchem Stufen führen und in dessen Centrum ein kühler Springbrunnen plätschert. Rings im Kreise um diese Plattform laufen die Stände der Thiere so, daß diese mit dem Kopf nach innen stehen. Die Höhe des Stalles beträgt über den Ständen 4 Meter, über dem Kuppelbau 6 Meter, der Luftinhalt 1096 Meter, sodaß bei vollständiger Besetzung des Stalles mit 34 Kühen 44 Cubikmeter, bei dem durchschnittlichen Bestand von 25 Kühen 44 Cubikmeter Luftraum auf den Kopf kommen, ein für die Gesundheit der Thiere so günstiges Verhältniß, wie es in keinem anderen Kuhstall erreicht sein dürtfte.

Die Wärme im Stalle hat hei einer Außentemperatur von –6° R. noch 11° betragen, bei 0° : 12°, bei 2 bis 4° : 13 bis 14°, bei 8 bis 18° : 15; bei fortdauernder äußerer Sommerwärme von 24 bis 25° stieg die Stalltemperatur auf 20 bis 22°, konnte aber durch Inbetriebsetzung der Ventilation mittelst des angestellten großen Aeolus dauernd auf 15° erniedrigt werden. Man kann den Thieren in der Stadt ihre heimathliche Alpenluft ja nicht ersetzen, aber bei dieser ununterbrochenen Ventilation ist die Temperatur und Beschaffenheit der Luft im Stall stets eine gesunde und angenehme, es stößt Einem beim Eintritt nicht, wie sonst gewöhnlich, der Dunst und Stank der heißen stagnierenden Stallluft entgegen.

Der Fußboden des Stalles ist cementirt, und alle unreinen Flüssigkeiten fließen sofort in die Abzugscanäle ab, der Dünger wird sofort entfernt und der beschmutzte Stand alsbald erneuert. Die Fliegen, sonst eine wahre Plage der Thiere, werden hier nicht durch Mistgeruch angelockt, sondern durch die fortwährende Lufterneuerung verscheucht.

Auf die Reinlichkeit und Hautpflege der Kühe wird besondere Aufmerksamkeit verwendet, die schönen kräftigen Gebirgskühe werden gestriegelt wie die Pferde, ihr Fell sieht glatt und glänzend aus und läßt keinen angetrockneten Schmutz bemerken. In den Stall aufgenommen werden nur junge, etwa drei- und vierjährige Kühe, die das erste oder zweite Kalb tragen. Länger als drei bis höchstens vier Jahre bleiben dieselben nicht im Stalle, sondern werden dann abgemolken und verkauft. Jede neuangekaufte Kuh macht eine vierwöchentliche Quarantäne durch, sie bleibt erst zwei Wochen im Filialstall, dann noch zwei Wochen innerhalb des Gehöftes im getrennten Beistall. Jede neumelkende Kuh liefert zunächst eine stoffarme, etwas abführend wirkende Milch; die Milch solcher Kühe wird erst nach vierzehn Tagen zu der für die Säuglinge bestimmten Mischmilch mitbenutzt, und auch dann wird noch darauf geachtet, daß nicht die Milch vieler neumelkender Kühe gleichzeitig eingeschüttet wird. Die Melkdauer der Kühe erstreckt sich auf 36 bis 37 Wochen. Das Zulassen der Kühe und die neue Zucht geschieht im Gehöft selbst. Tragende Kühe liefern höchstens bis zum Ende des vierten Monats noch gut brauchbare Milch, dann stehen sie 8 Wochen „trocken“ im Stall; sie bekommen in dieser Zwischenzeit kein Kraftfutter, sondern trockenes, wie die andern. Im letzten Vierteljahr waren 23 Kühe 91 Tage (2093 Kuhtage) anwesend; davon waren nur 19 Stück täglich milchend (1726 Milchtage), und hiervoll gab jedes Stück 9,9 Liter Milch täglich.

Eine stets gleichmäßige Ordnung und pünktliche Regelmäßigkeit herrscht in der Fütterung, Tränkung und Melkung. Die Mellzeit ist früh 1/4 4 bis 4 Uhr und Nachmittags 1/2 4 Uhr, also nur zweimal am Tage, wobei wohl die Milchmenge, dafür aber auch der Unterschied in der Morgen- und Abendmilch geringer wird, als bei dreimaligem Melken. Die gemolkene Milch kommt sofort in die abgesonderte, dem Stall angebaute kühle Milchkammer. Dort wird die Milch sämmtlicher Kühe gemischt, und diese Mischmilch ist daher von einer großen Gleichmäßigkeit der Zusammensetzung. Sie ist von vorzüglichem Geschmack und hält sich beim Aufbewahren besser als jede andere. Es wird früh und Nachmittags, und zwar stets nur frischgemolkene Milch abgegeben. Dieselbe wird in Glasflaschen, deren Korke mit besonderen Marken verklebt sind, um jeden Betrug auf dem Wege auszuschließen, gefüllt und in gut federnden Wagen, sodaß sie nicht arg geschüttelt werden kann, in die Wohnungen der Abnehmer gefahren, wobei auf eine pünktliche Zustellung besonders geachtet wird, weil jede Verspätung die ängstlichen Mütter mit Sorge erfüllen würde. Der Preis der Milch ist 50 Pfennig für das Liter; er erscheint nicht unangemessen, wenn man die Kostspieligkeit der Anlage inmitten der Stadt und des jeden Gewinn durch die producirte Milchmenge ausschließenden Betriebes erwägt. Die Milch ist immer noch fast noch einmal so billig, als das Nestle’sche Kindermehl und billiger als das Halten einer Amme.

Die öffentliche Controle der Milchanstalt geschieht, außer durch die Commission, auch durch das abnehmende Publicum selbst, und das bietet die volle Garantie, daß in dem Betrieb nie die mühevolle und peinliche Gewissenhaftigkeit, welche nothwendig ist, nachlasse. Die Mütter folgen gern der Einladung, selbst in den Stall zu kommen, und überwachen mit scharfem Auge alle Einrichtungen und Vorkehrungen, aber sie sind auch die dankbarsten Lobredner der Anstalt für das Gedeihen ihrer kleinen Lieblinge. Außer dem allgemeinen Urtheil der Aerzte ist die sich immer

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Centralstelle der Wisse’schen Milchcuranstalt in Dresden. 0Originalzeichnung von Ing. von Hartitzsch.

[606] wiederholende Erscheinung, daß alle Familien, welche einmal ihren Bedarf von der Anstalt bezogen haben, bei allen nachkommenden Kindern regelmäßig wiederkehren, und daß sie sich die Milch selbst in entfernte Sommerfrischen nachschicken lassen, das sicherste Zeichen, daß sich die Kindermilch bewährt und daß die Errichtung solcher Anstalten einem wahren Bedürfniß der öffentlichen Gesundheitspflege entspricht.

Es müßte eine hübsche Gallerie pausbäckiger Gesichter geben, wenn sie einmal kämen, alle die Kleinen, in ihren Ammenkuhstall, dem sie ihre Gesundheit und Kraft verdanken.




Der Zug und die Zugstraßen der Vögel.

Mit einer Karte nach Dr. J. Palmén.

Als ich dieser Tage im schönen Thüringen bei der „Fröhlichen Wiederkunft“ in eine Laube trat, beschlich ein eigenthümlich Gefühl meine Brust beim Anblick der bereits im herbstlichen Roth prangenden Blätter einer sogenannten „wilden Rebe“, welche die Abendsonne, durch einen Riß von regenschweren Wolken hindurchleuchtend, mit ihrem Golde übergoß. In der That, der Herbst ist im Anzuge; die Tage werden sichtlich kürzer, die Morgen und Abende kühler. Noch ein paar Wochen und unser Ohr vernimmt geheimnißvolle Stimmen in den Weiden am Bache, in Garten, Wald und Feld.

Unseren aufmerksamen Blicken begegnen öfters junge Nachtigallen, welche anscheinend in geschäftiger Eile von Gebüsch zu Gebüsch, von Gartenhecke zum Haag, von Hain zu Hain pilgern, während Singdrosseln und viele andere befiederte Freunde vom Beerensegen des Nachsommers den Zehnten erheben und mit Gezwitscher und lauten Strophen ein bevorstehendes Etwas ankündigen. Freund Staarmatz inspicirt noch einmal seinen wettergeschwärzten Brutkasten, sein Baum- und Mauerloch, schlüpft ein und aus, schlägt mit den Flügeln, die metallisch glitzern im Sonnenschein, und läßt als allezeit wohlgelaunter Bursche seine bauchrednerischen Musikweisen ertönen über der trauten Stätte seines Heims.

Aber auch in den Lüften regt sich’s merklich unter den Vögeln. Dohlen und Saatkrähen sammeln sich in schwarzen Flügen in den Vorhölzern unserer Wälder, wimmelnd und schwätzend, dem Ohr des Kundigen ein gewichtiges Vorhaben ausplaudernd. Aehnlich schaaren sich die Wildtauben, allabendlich in Nadelhölzer einfallend. Auch die Reiher schlagen sich zu Trupps zusammen und sitzen auf den kahlen Aesten der Eichenwälder und Triftbäume, während der klappernde Freund der Kinderwelt, der rothbeinige Storch, unten auf den feuchten Wiesengründen Musterung hält. Auf den morgenfrischen Dächern sammeln sich die Hausschwalben zum Stelldichein. In dichtgedrängten Reihen sitzen die Rauchschwalben auf den Bäumen und den Telegraphendrähten der Eisenwege, von Zeit zu Zeit einzeln, zu zwei oder drei oder gruppenweise ihre Flugkünste zeigend – ein wahres Turnfest.

Zuweilen aber, plötzlich wie auf ein verborgenes Commando, stiebt das ganze Vogelheer wimmelnd und zwitschernd in die Luft. Nach und nach jedoch bevölkert sich der als Sammelplatz dienende Draht wieder auf’s Neue von den Zurückkehrenden: es war ein bloßes Spiel, ein Manöver gewesen.

So viel wird uns klar, daß eine geheimnißvolle Bewegung durch alle Reihen der gefiederten Welt hindurch sich abspielt, eine Bewegung, die immer deutlicher wird, je mehr die Natur an herbstlichem Charakter gewinnt. Wenn schon unsere Menschenbrust eines eigenthümlichen Gefühles sich nicht erwehren kann beim Anblick des bunten, theilweise schon fallenden Laubes in Wald und Hain, der frostzähen Georginen und Astern, die in unseren Gärten in grellen Farbentönen dem Auge sich aufdrängen, der kurz scheidenden Tage, so ist das nur ein schwacher Widerhall von dem, was in der leichtbeschwingten Schaar vorgeht, vom kleinen Sänger im Gebüsch bis hinauf zu den Riesengeschwistern in den Lüften. Sie alle belebt ein Etwas, das der Naturfreund von ihren Augen ablesen zu kennen glaubt, ein Etwas, das ihrem ganzen Benehmen ein bestimmtes Gepräge verleiht. Selbst der Gefangene wird ergriffen von dieser Unruhe, wenn die herbstliche Luft durch das offene Fenster an den Stäben seines Käfigs vorbeistreicht. Oft mitten in der Nacht erwacht er, wie geplagt von heftigen Träumen, schlägt mit seinen Flügeln in blindem Eifer gegen die Wände, stößt wie ein Tobsüchtiger mit dem Kopfe gegen die Decke, sodaß wir ernstlich um sein Leben besorgt sind. Kurz, ein Losungswort spricht die beredte Sprache in der Vogelbrust; in Millionen Vögelherzen hallt es wieder, und eines Tages hat es bei allen gewirkt: Auf in die Fremde!

Segler, Kukuk und Pirol sind bereits unseren Blicken entrückt; sie eröffnen den Reigen zur Weltreise gegen Süden. Ihnen auf dem Fuße folgen die zarten Laubvögel, die Schilfsänger, die Würger, bald auch Wachteln, Wiedehopfe, Sumpfschnepfen. Nun nimmt die Auswanderung immer wachsende Ausdehnung an. Auch aus dem Spiele der Schwalben auf dem Kirchthurmdache ist Ernst geworden: ein Septembermorgen hat sie uns entführt auf die ganze Dauer des Winters.

Ganz vereinzelt im Thierleben steht der Zug der Vögel nicht da. Kennen wir doch schon unter den Insecten eine ganze Anzahl von Arten, welche gemeinschaftliche Wanderungen – wenn auch in kleinem Maßstabe – unternehmen, theils im Larvenstadium, theils im ausgebildeten Zustande. Ich verweise auf die Züge des Heerwurms (Sciara Thomae), der Larve einer auch in Deutschland vorkommenden Mücke, auf die Schaaren von Processionsspinnerraupen, unliebsamen Gästen unserer Eichenwälder, auf die hier und da zu beobachtenden Züge der Distelfalter, der Kohlweißlinge, gewisser Libellen und besonders die verheerenden Schwärme von Wanderheuschrecken. Aber auch unter den Wirbelthieren giebt es Wanderer. Der Lemming (Myodes lemnus), ein kleiner Nager auf hohen Gebirgen Norwegens und Schwedens, unternimmt alljährlich in ungeheuren Schaaren Wanderungen vor dem Ausbruche der Kälte, und noch von manchen anderen höheren Thieren, z. B. von gewissen Fischen, kennt man ähnliche Gewohnheiten. Solche Kenntniß führt uns in zwangloser Weise zu der Frage nach den Ursachen, welche im Allgemeinen den Wanderungen der Thiere zu Grunde liegen. Da wird sich nach einiger Ueberlegung als Resultat ergeben, daß es vornehmlich zwei Factoren sind, die hierbei in Betracht kommen: eintretender Nahrungsmangel einerseits, Abnahme der Wärme andererseits. (In manchen Fällen werden auch durch eigenthümliche Fortpflanzungsverhältnisse solche Wanderungen hervorgerufen.) Es wird also unsere Aufgabe sein, zu prüfen, inwiefern diese beiden äußeren Ursachen beim Zuge der Vögel eine Rolle zu spielen berufen sind, ob einer von beiden eine größere Bedeutung zugeschrieben werden muß.

Eintretender Nahrungsmangel ist bei den vorgenannten Thieren sehr oft die Triebfeder zu größeren oder kleineren Wanderungen. Wenn ein bestimmter Bezirk für die Ernährung der ihn bewohnenden Wesen nicht mehr ausreicht, werden letztere eben auswandern müssen, sofern sie nicht untergehen sollen im Kampfe um’s Dasein. Für die Mehrzahl der Vögel jedoch kann Nahrungsmangel eigentlich kaum als Ursache des Fortziehens angenommen werden, wenigstens nicht im Momente, wo der Zug anhebt. Vor dem Wegziehen sind zwei wichtige Abschnitte im Leben des Vogels vorüber: Brut und Mauser. Die durch diese beiden anstrengenden Lebensepochen entschwundenen Kräfte hat der Vogel wieder doppelt ersetzt durch seine jetzt entschieden der Ernährung hingegebene Lebensweise. Für die meisten Vögel ist ja auch im Herbste der Tisch vortrefflich gedeckt, und es dürfte eine hinlänglich bekannte Thatsache sein, daß die im Herbste uns verlassenden Vögel keineswegs mager, sondern sehr fett und wohlgenährt aussehen. Von beginnendem Nahrungsmangel könnte im Anfang der Zugperiode höchstens etwa bei ausgesprochenen Insectenfressern die Rede sein, während viele andere Arten, deren Nahrung während des Sommers auch vorwiegend aus Insecten bestand, im Herbste recht gern eine Beerencur unternehmen.

Wir werden somit zu dem Schlusse geführt, daß es die Wärme-Abnahme sein muß, welche in der Vogelwelt diese wunderbare Zugerscheinung hervorgerufen hat. Der Vogel ist eben ein echtes Luftthier, ein Thier des Lichtes und der Wärme. „Diese sensitiven Wesen – wo anders streben sie auf ihrem Zuge hin, als zur Sonne, zum wärmenden Sommer des Südens?“ Weist uns doch schon die Bekleidung des Vogels darauf hin.

[607] „Die Feder, dieses lockere, vielverzweigte Feingebilde einer hornartigen Substanz, zeigt sich gegen den so sehr vermehrten Wasserdunst und die stetigen naßkalten Niederschläge unserer Winter sehr empfindlich. Ein feuchtes oder nasses Federkleid schwillt an, sträubt sich und erhöht das Gewicht des Vogels, dessen Wärme entflieht durch die Lücken in seiner durchnäßten und verwirrten Hülle, sowie durch die Verdunstung.“

Kleine Thiere haben relativ die größte Verdunstungsoberfläche und werden daher von den Temperatur-Schwankungen ihrer Umgebung am meisten beeinflußt. Der Vogel mit seiner Federhülle kann daher in unserem Klima nicht gut bestehen, ist leichter dem Verderben anheim gegeben, als die Säugethiere, die zum Theil im Winterschlaf den schädlichen Einflüssen der Winterkälte zu begegnen suchen. Die Mehrzahl der Vögel muß wandern, ihr Zug in die Ferne ist eine Nothwendigkeit, eine Lebensbedingung. Wenn aber die Wärme-Verringerung die Ursache des Zuges bildet, so müssen wir von Süden nach Norden eine Zunahme der Zugvögel nachweisen können. Und in der That stellen die in kalten und gemäßigten Klimaten nistenden Vögel das hauptsächlichste Contingent zum Zuge. Je näher dem Süden, desto mehr vermindert sich die Erscheinung des Zuges bei der dort einheimischen Vogelschaar. Dagegen scheinen in den Aequatorialländern die Wechsel von Dürre und Regenzeit auf die Gewohnheiten der Thiere Wirkungen zu äußern wie in unserem Erdtheile die großen Temperaturwechsel, und durch Alexander von Humboldt wissen wir, daß zur Zeit großer Ueberschwemmungen auf der Südseite der Antillen große Flüge verschiedener Zugvögel aus dem Gebiete des Orinoco und seiner Nebenflüsse eintreffen.

Früher suchte man die Ursache des Zuges hauptsächlich in einem von der Natur dem Vogel tief eingeprägten Wandertriebe, ja man nahm bei der Erklärung zu einem hochentwickelten Ahnungsvermögen von Kälte und Unwirthlichkeit die Zuflucht, ohne dies irgendwie begründen zu können. Alle die räthselhaften Erscheinungen, welche uns hier entgegen treten, wurden durch ein anderes noch dunkleres Räthsel, den geheimnißvollen Instinct, erklärt. Die Neuzeit hat mit dieser willkürlichen Auslegung der Naturereignisse längst gebrochen und auf Grund sorgfältiger Beobachtungen Ansichten aufgestellt, die wir in Nachfolgendem kurz zusammenfassen. Es sind bei dem Zugphänomen zunächst zwei Momente in’s Auge zu fassen, das zeitliche und das räumliche.

Die Zeit des Hauptzuges bei der Mehrzahl der Vögel fällt in die der beiden Tag- und Nachtgleichen. Abzug und Ankunft ist natürlich für die einzelnen Vogelarten höchst verschieden. Für einige der bekanntesten der zahlreichen Pilgernden habe ich die allgemeinen Umrisse der Zugzeiten bereits oben angedeutet. Mit einer genaueren Aufzählung glaube ich den Leser verschonen zu müssen, und ich begnüge mich damit, anzugeben, daß im Allgemeinen ein Vogel, welcher am frühesten seine Brutgeschäfte vollendet und mausert, auch am zeitigsten zur Reise aufbricht. Arten, die jährlich nur einmal brüten, werden selbstverständlich früher zur Abreise schreiten, als solche mit zwei und drei Bruten. Desgleichen macht sich die Regel geltend, daß die zuerst ziehenden Vögel immer zuletzt wiederkehren, und umgekehrt die spät ziehenden am ehesten wieder in ihrer Heimath sind. Gereist wird bald bei Tag, bald bei Nacht.

Hinsichtlich des Zeitpunktes des Abzuges und der Rückkehr läßt sich, wie angedeutet, im Allgemeinen für die einzelnen Arten eine bestimmte Regelmäßigkeit constatiren, die ja vielfach zu Bauernregeln und Jägersprüchen Veranlassung gegeben hat. Ich brauche blos an die bekannten Schnepfensonntage zu erinnern. Doch kommen auch mehr oder minder beträchtliche Schwankungen vor. Läßt doch die alltägliche Auffassung sogar die Ankunft der Vögel an einem gewissen Orte als Zeichen für die Witterungsverhältnisse in denjenigen Ländern erscheinen, wohin sie ziehen, anstatt derjenigen, von wo sie kommen. Auf Grund dieser Annahme hat man den gefiederten Wesen ein Ahnungsvermögen zuerkannt, die sie zu Wetterpropheten besonders geeignet machen sollte.

Von ganz besonderem Interesse ist das räumliche Moment der Zugerscheinung, das Studium der Zugstraßen und der Winterstationen für die beschwingten Südenpilger. Lange war man sich über diesen Punkt im Unklaren und manches ältere Handbuch der Thierkunde bringt irrthümliche Angaben, wie z. B. das Werk von Lenz „Ueber die Vögel“. Ergötzlich sind, nebenbei gesagt, die Auseinandersetzungen der alten Naturforscher über den Charakter der winterlichen Vogelfauna in ihrer Heimath. Der bei dem Vesuvausbruche von 79 n. Chr. verunglückte römische Naturforscher Plinius glaubte, daß der Kukuk jeweils im Herbst sich in einen Sperber verwandelte und im Frühjahre wieder Kukuksgestalt annähme. Bei der oberflächlichen Aehnlichkeit beider Vögel ist dieser Irrthum erklärlich; er sah eben während des Winters keinen Kukuk mehr. Bis in’s Mittelalter cursirten dergleichen Sagen, und selbst bei Conrad Geßner finden wir noch keine klare Vorstellung von dem Verbleiben unserer Zugvögel während der kalten Jahreszeit.

Genauere Kenntniß der Zugstraßen und Winterstationen hat uns eigentlich erst die jüngste Periode der Naturwissenschaft gebracht. Nachdem schon früher ein russischer Reisender, von Middendorff, in Sibirien den Verlauf der Zugwege im Osten zu ergründen bestrebt war, machte 1876 ein schwedischer Forscher, Dr. J. Palmén, in einem eigenen Werke „Die Zugstraßen der Vögel“[3] zum Gegenstande einer speciellen Untersuchung. Durch eine Fülle eigener Beobachtungen, durch emsiges Sammeln von Beobachtungsnotizen bewährter Ornithologen, wie Naumann, Alex. von Homeyer, Alfred Brehm und vieler Anderer, durch das Studium von Museen und Privatsammlungen endlich hat sich Dr. Palmén in den Besitz eines reichen Materials zu setzen verstanden, das ihn zu Resultaten führt, die in der That Jedermanns Interesse verdienen.

Ein Blick auf die beigegebene Karte (S. 608) belehrt uns über den Verlauf der Zugstraßen auf unserm Erdtheil. Palmén unterscheidet deren dreierlei. Auf unserer Karte haben wir, da es sich nur darum handelt, dem Leser einen Einblick in das Wesen der Zugstraßen zu ermöglichen, nur zwei Arten derselben angedeutet, und zwar die marin und submarin-litoralen, d. h. die durch das Meer und die Meeresküsten bestimmten (durchbrochene Linien), und diejenigen, welche dem Laufe der Flüsse und Küsten entsprechen (fein punktirte Linien), die sogenannten fluvio-litoralen, während wir die für uns weniger wichtigen, durch Eisfelder des Polarmeeres bedingten glacial-litoralen Straßen weglassen.

An der Hand der Beobachtungsnotizen über 19 Vogelspecies zeigt uns nun der Verfasser, welche Wege jeweils eine der fraglichen Arten auf dem Herbst- und Frühjahrszug einschlägt. Uns interessiren zunächst die Linien, welche für Deutschland in Betracht kommen.

Da sehen wir denn, daß eine große Heerstraße aus hohem Norden über Nowaja Semlja durch die Halbinsel Kanin zum weißen Meer sich hinzieht und über die großen Seen im nordwestlichen Rußland zum finnischen Meerbusen verläuft. Mehrfach sich theilend und wieder vereinigend, streicht sie in zwei Aesten längs der südschwedischen und deutschen Gestade der Ostsee hin, durchschneidet die dänische Halbinsel, um sich an der niederländischen Küste auf’s Neue in zwei Aeste zu spalten. Während der eine davon den atlantischen Küsten Frankreichs und der iberischen Halbinsel folgt (verstärkt durch Zuzügler aus England), um nach Afrika hinüberzuführen, setzt der andere mitten durch den Continent hindurch.

Da nun die Zugvögel mit Vorliebe den Verlauf von Flußthälern als Wanderstraßen benutzen, so lange dieselben nicht allzu sehr von der allgemeinen Zugrichtung abweichen, so kann es nicht wundern, wenn die Hauptzugstraße Mitteleuropas durch den Unterlauf des Rheins, die Mosel und die Saone gegeben wird.

Ein ebenfalls sehr stark besuchter Weg begleitet den Rheinstrom beträchtlich weiter nach Süden, führt über die westschweizerischen Seen durch das Thor von Genf, um, der Rhone nach verlaufend, in spitzem Winkel mit der vorbeschriebenen Straße zusammenzutreffen und dem Golf von Lion zuzustreben.

Was nun den Weg über das Mittelmeer anbetrifft, so macht die Karte ersichtlich, daß dreierlei Fälle möglich sind. Ein Theil der Zugvögel begleitet[WS 1] westwärts noch eine Strecke weit die Mittelmeerküste Frankreichs und Spaniens, setzt dann etwa auf der Höhe des Cap de la Nao nach Algier über. Andere Arten ziehen ostwärts, um längs Corsica und Sardinien nach Tunis zu gelangen oder durch die Meerenge von Messina die große Syrte zu erreichen.

Der Verlauf der mitteleuropäischen Zugstraße ist nicht genau der von Nord nach Süd, sondern zeigt eine westliche Ablenkung. Diese Ablenkung wird durch die Alpenkette verursacht, welche durch ihre quere Lage und ihre Höhe zu einem Hinderniß wird, das manche der befiederten Pilger zu umgehen suchen. Indessen giebt es genug andere, die sich durch das Alpengebirg keineswegs in ihrer Reiseroute beirren lassen.

Manche Wandervögel nun kommen durch den Vierwaldstättersee [608] das Reußthal herauf. Wenn sie im Urserenthal anlangen, bietet sich ihnen eine Aussicht auf drei Pässe dar, auf die Furka, die nach Wallis, auf den Oberalppaß, der nach Graubünden, und auf den Gotthard, der nach Italien führt. Der letztere ist der höchste und auch der am weitesten vorgestreckte von diesen Pässen. Nichtsdestoweniger lassen sich die Vögel nicht irre machen. Sie schwenken, ohne die beiden übrigen Pässe zu beachten, gleich zum St. Gotthard ein, als wenn sie wüßten, daß dieser auf dem kürzesten Wege sie ihrem Ziele entgegenführe. Nach kurzer Rast auf den kleinen Gotthardseen eilen sie, Thäler und Gebirgseinschnitte als Anhaltspunkte verwerthend, hinab zur Po-Ebene.

Was die übrigen Zugwege durch das Innere von Mitteleuropa anbetrifft, so scheinen nicht wenige Arten mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Weser und die Elbe hinauf zu ziehen. Ebenso gehen sie auch die Oder hinauf nach Schlesien, wohin die Elbe theilweise Beiträge liefert. Soweit Thatsachen vorliegen, scheinen die in dieser Weise angekommenen Vögel später durch die baierische Niederung zu dem Flußthale der Donau und längs desselben weiter nach dem südöstlichen Europa zu ziehen.

Nach dem Beigebrachten und einem nochmaligen Blick auf unsere Zugkarte wird dem Leser klar werden, daß man im Irrthum befangen war, wenn man Aegypten als die Winterherberge unserer mitteleuropäischen Zugvögel ansah, wie man bisher allgemein zu thun pflegte. (Vergl. „Lenz, Die Vögel“, Seite 14.) Die Wintergäste Aegyptens und der Nilländer stammen wohl sämmtlich aus dem Osten und ziehen längs der Zugstraße, welche die Levante mit dem Schwarzen Meer und dem Gebiete des Ob in Verbindung setzt.

Zugstrassen der Vögel.

Daß eine Ausdehnung der Wanderungen einzelner unserer Zugvögel von der nördlichen Erdhälfte über den Aequator hinaus bis zur südlichen Hemisphäre stattfinde, wird einstweilen wohl mit Recht in Zweifel gestellt.

Früher glaubte man den Zug durch die Richtung der Meridiane bedingt. Der obengenannte russische Naturforscher von Middendorff stellte fernerhin die Hypothese auf, welche das erstaunliche Orientirungsvermögen der Zugvögel dadurch erklärte, daß sie immerwährend der Richtung des Magnetpoles sich bewußt wären und dem zufolge auch ihre Zugrichtung genau innezuhalten wüßten.

„Was dem Schiffe die Magnetnadel ist, wäre dann diesen Seglern der Lüfte das innere magnetische Gefühl, welches vielleicht in engstem Zusammenhange mit den galvanisch-magnetischen Strömungen stehen mag, die im Inneren des Körpers dieser Thiere erwiesenermaßen kreisen – der Vogel ist durch und durch Magnet.“

Eine merkwürdige, für unsere groben Sinne nicht recht faßbare Erscheinung ist allerdings das genaue Einhalten dieser Luftwege von den Vögeln. Allein ich glaube nicht, daß wir die Erklärung so weit herzuholen haben, wie es durch von Middendorff geschehen, und bin überzeugt, daß die Ansicht der Gebrüder Müller, wonach der ziehende Vogel sich im großen Ganzen an die herrschenden Luftströmungen hält zur Zeit seiner Weltreise, weit mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat.

„Diese Luftströmungen – sie sind das ihn erweckende und leitende Agens, dem er in seiner ausgeprägten Eigenschaft als Luftthier regelmäßig folgt und dessen Walten er sich übergiebt.“

Im Gegensatz ferner zu der herrschenden Meinung, daß der ziehende Vogel in der Regel oder stets der Windrichtung entgegen steuere, stellen die Gebrüder Müller die durch eine Reihe von Thatsachen gestützte Ansicht auf, daß auch die geringste (nur keine allzu heftige, orkanartige) Windströmung in seiner Zugrichtung dem Wandervogel förderlich sei.

Ich glaube ferner, daß im Allgemeinen das Moment der Erziehung beim Zugphänomen immer noch nicht genügend betont wird. Wenn wir die Thatsachen würdigen, daß innerhalb einer und derselben Art die älteren Individuen die Führung der Jüngeren, der ganzen luftigen Karawane übernehmen, daß zu den verirrten, verschlagenen Zugvögeln die jungen Exemplare das Hauptcontingent liefern, daß besonders klugen und vorsichtigen Vogelarten minder kluge und wehrhafte sich anvertrauen, so werden wir zu der Ueberzeugung gelangen, daß die Erfahrung eine überaus wichtige Rolle zu spielen berufen ist beim Zuge der Vögel. Die Summe der Erfahrungen wird um so größer sein, je länger die Lebensdauer des Individuums währt, beziehungsweise je öfter ein Vogel den Zug in die Fremde und die Heimkehr zu unternehmen Gelegenheit hat.

Wir müssen zwar dem Vogel ein ungemein feines Ortsgedächtniß, hoch entwickelte Sinneswerkzeuge, vor Allem ein außerordentlich scharfes, ein gleichsam fernrohrbewaffnetes Gesicht zusprechen, wir müssen das Zugphänomen entschieden als eine „Großthat“ bezeichnen, aber wir brauchen bei Erklärung keineswegs zu übernatürlichen Kräften unsere Zuflucht zu nehmen. Der Zug wird auch vieles von seinem geheimnißvollen Nimbus verlieren, wenn wir ihn betrachten als eine Gewohnheit, die, ursprünglich hervorgerufen durch Aenderung der Klimate auf unserer Erdoberfläche, späterhin im Laufe unermeßlicher Zeiträume sich fixirt hat in der Natur des Vogels – ein treffliches Beispiel von der Macht der Vererbung.
Dr. Emil A. Göldi.

Inhalt: Ueber Klippen. Von Friedrich Friedrich (Fortsetzung). S. 593. – Wien vor zweihundert Jahren. Ein Ruhmeskranz der alten Kaiserstadt (Schluß). S. 596. Mit drei Portraits von A. Greil. S. 597. – Der Uklei-See. S. 601. – Mit Illustration von G. Sundblad. S. 601. – Ein Säuglings-Kuhstall. Von Dr. Chalybäus. S. 603. Mit Illustration von J. von Hartigsch. S. 605. – Der Zug und die Zugstraßen der Vögel. Von Dr. Emil A. Göldi. S. 606. Mit einer Karte nach Dr. J. Palmén. S. 608.


Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Diese doppelte Bezifferung der Lothringer Herzöge des Namens Karl rührt daher, daß der Sohn des Königs Ludwig IV. von Frankreich, welcher, 953 geboren, von Kaiser Otto II. mit dem Herzogthume Niederlothringen belehnt worden war, als Karl I. mitgezählt wird. Er starb 993. Von der zweiten Lothringer Herzogsreihe wird dann Karl, der Sohn des Herzogs Johann I., als Karl II. (I.) bezeichnet.
  2. Uklei (früher Ukeleyne) gilt als das Diminutiv von Uk, Ak oder Ach (Wasser).
  3. Erschienen bei W. Engelmann in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hegleitet