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Die Gartenlaube (1883)/Heft 26

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[413]

No. 26.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


An unsere Leser und Freunde!

Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift.

Es ist unsern Lesern bekannt, daß vor wenigen Wochen die Bestrebungen unseres Blattes im Reichstage von gegnerischer Seite einer feindseligen Kritik unterzogen wurden, es ist ihnen aber auch bekannt, daß die „Gartenlaube“ bei dieser Gelegenheit in der deutschen Volksvertretung eifrige Vertheidiger gefunden. Die hohe Anerkennung, welche uns die Redner der liberalen Parteien zu Theil werden ließen, bestärkt uns von Neuem in dem unerschütterlichen Entschluß, an unserem alten Programm festzuhalten und Alles daran zu setzen, daß die „Gartenlaube“ ein Volks- und Familienblatt im besten Sinne des Wortes bleibe. Den Einfluß, welchen uns die ungemein große Verbreitung unserer Zeitschrift verleiht, werden wir in gewissenhaftester Weise nur dazu benutzen, um in der Nation den Sinn für wirklich edle und patriotische Ziele und jene freiheitlichen Bestrebungen kräftigen zu helfen, welchen Deutschland seinen Aufschwung und seine Größe verdankt.

Indem wir uns von den Kämpfen der wechselnden Tagespolitik nach wie vor fern halten, werden wir nicht verfehlen, auf alle jene großen Fragen der Gegenwart einzugehen, welche tief in das Volks- und Familienleben eingreifen, und es soll unsere Aufgabe sein, nach dieser Richtung hin aufklärend und belehrend zu wirken.

So werden wir, um einige Beispiele anzuführen, während des bevorstehenden Quartals die brennende Frage der Unterrichtsreform beleuchten und namentlich darauf dringen, daß zwischen den Lehrern, Eltern und Aerzten ein einmüthiges Zusammengehen zur Bekämpfung der Schulkrankheiten erzielt werde.

Ferner bietet uns die Hygiene-Ausstellung in Berlin reiche Gelegenheit, unsere Leser mit der „Gesundheitspflege in der Familie“ vertraut zu machen, und schließlich werden wir in unserem Blatte ein erhebendes Bild der muthigen Streiter entrollen, die in Siebenbürgen seit Jahren für das Deutschthum so unerschrocken kämpfen.

Diesen Artikeln wird sich eine Reihe anderer aus den Federn der besten populären Schriftsteller Deutschlands anschließen, und schon in einer der nächsten Nummern gedenken wir unsern Lesern die ersten Abbildungen der Landschaften am Congo nach den Originalaufnahmen des Dr. Pechuel-Loesche vorzulegen.

Was den novellistischen Theil anbetrifft, so gelangt im nächsten Quartal der überall mit so großem Beifall aufgenommene Roman „Gebannt und erlöst“ von E. Werner in einigen Nummern zum Abschluß, und diesem wird dann eine spannende Novelle

„Ueber Klippen“ von Friedrich Friedrich

folgen. Außerdem werden wir noch einige kleinere Erzählungen veröffentlichen, wie: „Guadalupe“ von C. Biller, „Heiße Stunden“ von Wilhelm Kästner und „Das heilig’ Dirnd’l“ von H. Villinger.

Für einen geschmackvollen und gediegenen Illustrationsschmuck werden wir stets zu sorgen wissen.

Die Redaction der „Gartenlaube“. 




Das alleinige Recht der     
Dramatisierung vorbehalten.

Die Hochzeitsreise.

Humoreske von Zoë von Reuß.
(Schluß.)

Als der Vicewirth, Herr Nährkorn, die Stubenthür hinter sich zugezogen hatte, nahm Frau Nährkorn das rothblaugewürfelte Regendach der Apfelhökerin von drüben zur Hand. Diese hatte es nämlich heute Abend beim Nachhausegehen zur schleunigen Ausbesserung abgegeben. Denn es hatte der Oeffnungen mancherlei, durch welche Sonne, Mond und Sterne auf die Apfelkörbe schienen, wenigstens scheinen konnten, wenn sie nämlich zur Regenzeit nicht gewöhnlich mit Wolken bedeckt wären. … Nach einer Viertelstunde war die Arbeit beendet, aber Frau Nährkorn noch immer harrend allein. Die Untersuchung des Geheimnisses oben nahm den Gatten über Erwarten lange in Anspruch. Um sich das Warten zu versüßen, sah Frau Nährkorn in die „Anzeigen“. Weil aber das Lesen eine gar mühselige und langwierige Beschäftigung ist, so ward die würdige Frau bald müde – wie Alles im kleinen Hinterstübchen: der Kater, der leise auf’s Sopha geschlichen war und Herrn Nährkorn’s Platz eingenommen hatte, der Vogel im Bauer, der das goldgelbe Köpfchen zwischen die Federn duckte, und die Flamme im Ofen, die ihr Prasseln und Zanken eingestellt hatte und ganz friedfertig geworden war. Nur die Wanduhr war noch mobil, ihr ebenmäßiges Ticktack klang in der allgemeinen Stille [414] eine Weile lang sogar lauter – endlich schlief die Unermüdliche aber auch ein, wenigstens hörte Frau Nährkorn nichts mehr … denn sie war weit weg in einem andern Lande. Auch war dort gut sein. Es regnete daselbst alle Tage und dazu schien allezeit die Sonne. Die aufgespannten Regenschirme aber, mit denen die Leute gingen, waren große runde Holzschüsseln, weiß wie Schinkenteller. Und darauf lagen herrliche, flachgerollte Kuchen, so wie sie die Dienstmägde in der Festwoche in’s Backhaus tragen. Die Regentropfen aber, die auf die Schirme niederfielen, waren eitel Mandeln und Rosinen. …

„Wach’ auf, Alte, wir wollen zu Bette gehen!“ hörte die Träumende jetzt wie aus weiter Ferne sagen. Sie beantwortete die Aufforderung vorläufig nur mit einem Gähnen.

„Wenn ich wüßte, daß sie derweil einmal herum schlief, so blieb ich noch,“ lachte der zurückgekehrte Herr Nährkorn seelenvergnügt. „Köstlicher Spaß das – solch ein Weinchen! Wirklich nette Leute, die neuen Miether – besonders der junge – wie nannten sie ihn doch? ‚Doctor, Doctor Fritz‘, der immer mit mir anstieß – wie gesagt: ausgezeichnet,“ setzte er zungenschnalzend hinzu.

Frau Nährkorn hatte sich endlich ermuntert. Ihr erster Blick traf die Schwarzwälder Uhr, die just eben wieder erwacht war und ihr Ticktack hören ließ und eine vorgerückte Stunde zeigte.

„Wo hast Du denn eigentlich so lange gesteckt, Alter?“ frug sie. „Was Wunder, wenn man müde wird – mutterseelenallein! Aber was war’s denn mit dem Lärm oben – doch nichts Schlimmes?“

„Nein, gar nichts Schlimmes – gar nicht, Alte,“ lachte Herr Nährkorn wieder voll Vergnügen – „ganz contrair im Gegentheil. …“

„Hör mal, Du kommst mir ganz curios vor – ich glaube fast, Du hast einen – Haarbeutel?“

„Meinst Du? Nun, ’s kann schon ein bischen sein! Mit den Wölfen muß man heulen, wie in der Kirche mitsingen!“

„Ich verstehe Dich nicht – was schwatzt Du eigentlich für dummes Zeug?“

„Schilt nicht mehr, Alte, ’s ist alleweil Feierabend! Ich sage Dir, das war ein Weinchen, wie ihn Dein Alter all sein Lebtag noch nicht getrunken hat. Der Herr Assessor hatte den Maitrank aber auch selbst gebraut, und die junge Frau präsentirte mir selbst das erste Glas. Charmantes Weibchen, noble Familie … Du mußt nämlich wissen, sie feierten irgend etwas, wahrscheinlich, daß sie nun wieder zu Hause sind. …“

„Sie sind wieder da, hier im Hause?“ frug die würdige Dame, indem ihr vor Erstaunen der Mund spannweit offen blieb. „Du träumst wohl, Alter, oder siehst doppelt?“

„Freilich sind sie da, oben in ihrem Quartier. Ganz heimlich sind sie gekommen – gestern oder vorgestern – ich glaube es wenigstens, hier sind sie jedenfalls!“

Die Nachricht klang der ehrenwerthen Frau Nährkorn wie ein Märchen. Ja, bunter als ein Märchen! Riesen und Zwerge, von denen die Märchen erzählen, giebt’s zuweilen noch in der Welt, ja vielleicht findet sich irgendwo in einem Winkel versteckt auch noch ein respectables Gespenst, dem die Polizei nichts anhaben kann. … Aber daß sich in einem Hause, dem sie und ihr Alter gegen halben Miethzins als Vicewirth respective Aufseher vorgesetzt waren, etwas Derartiges zutragen konnte, ging über alle Märchen und Märchenbücher hinaus. … Wußte sie nicht allezeit alles haarklein, was bei den verschiedenen Miethern geschah? Sie kannte alle Kinder beim Namen, und dazu die Geburtstage, wenigstens wenn, was häufig geschah, der Storch, hier im Hause geklappert hatte. Sie wußte fast allemal, was die Köchinnen der ersten Etagen ihren Herrschaften anrichteten, und daß die arme Zimmermannsfamilie im Hinterhause während der arbeitslosen Wintermonate ihr Mittagessen aus dem Suppenvereine geholt hatte. Sie kannte selbst beinahe alle Ein- und Ausgehenden bis auf die beiden stämmigen Artilleristen und den schmucken flinken Fünfunddreißiger der Dienstmädchen herab. … Und nun sollte der Assessor und die Frau Assessorin, die sie als Bewohner der ersten Etage unter ihre besondere Obhut zu nehmen gesonnen war, ohne Sang und Klang eingezogen sein und ohne „Willkommen“ und Bekränzung, wie es sich schickt, wenn ein junges Ehepaar einzieht und von der Hochzeitsreise eintrifft! Was mochte die Frau Assessorin gedacht haben? Sie war aus einem der besten Häuser der Stadt, und sie, Frau Nährkorn, kannte die ganze hochrespectable Familie, den Herrn Stadtrath, die Frau Stadträthin, die zu ihrer langjährigen Kundschaft gehörten, selbst der junge Herr Sohn war ihr bekannt, er hatte ihr nach der letzten Ferienreise noch eigenhändig den entenpfotenfarbenen Touristenschirm zur Ausbesserung überbracht. … Sonderbar blieb die ganze Geschichte jedenfalls – sonderbar und unerklärlich … es konnte fast nicht sein!

Alle diese vernünftigen Gedanken schossen blitzschnell durch den Kopf der würdigen Dame. Aber dem „es kann nicht sein!“ stellte sich alsbald die eben vernommene Thatsache gegenüber. Und wieder als Beweis dieser Thatsache der – Spitz ihres Alten! …

Nun – sie würde sich morgen von allem selbst überzeugen und das Geheimniß jedenfalls ergründen. Denn irgend etwas Wunderbares, Geheimnißvolles war dabei im Spiele: das sich abstreiten zu lassen, war sie, Frau Nährkorn, viel zu schlau! Bis morgen mußte sie freilich Geduld haben, vielleicht gab’s wieder eine schlaflose Nacht, wie gestern, wo ihr, von dem sonderbaren Lärm oben, die Gänsehaut über den Rücken lief. … Denn von dem Alten war heute Abend schwerlich noch etwas herauszupressen. Man hatte eben die Rollen getauscht. Von ihr war jede Müdigkeit gewichen, während der Herr Gemahl den schnurrenden Kater vom Sopha gescheucht und seinen Platz eingenommen hatte. Und bald darauf waren ihm die Augen zugefallen, nur das stillvergnügte Lächeln, mit dem er von seinem Besuche in der ersten Etage erzählt hatte, lag noch über den Lippen.




6.

Am andern Tage machte sich Frau Nährkorn allerlei auf den Haus- und Treppenfluren zu thun. Vermuthlich sah sie „der Ordnung wegen“ nach, ob die verschiedenen Dienstmägde das Fegen und Säubern ordentlich besorgten.

Plötzlich kam ihr von oben herab der Assessor entgegen. Er trug ein leichtes Aktenstück unter dem Arm und eilte spornstreichs zur Hausthür hinaus.

„Also doch!“ kopfschüttelte Frau Nährkorn und wollte schon wieder in ihr Hinterstübchen zurückkehren, als ihr noch zu guter Stunde einfiel, doch wenigstens der jungen Frau ihre unterthänige Gratulation zum neuangetretenen Ehestande zu überbringen. Das war doch das Mindeste, was man thun konnte. Dabei wollte sie natürlich auch um die geehrte Kundschaft bitten: die Frau Assessorin gebrauchte gewiß bald einen neuen Sonnenschirm.

Sie stieg vollends die Treppe hinan. Die Thür zum Vorzimmer war offen geblieben, der Assessor hatte es eilig gehabt. So trat Frau Nährkorn ungehindert ein.

Es war Niemand anwesend – wenn ihr nicht der Miether soeben im Hausflur begegnet wäre, so würde sie die ganze Geschichte von Neuem angezweifelt haben. Doch – die Flügelthüren zum anstoßenden Eßzimmer standen offen, und drinnen vor dem Büffetschranke stand eine junge Dame im Morgenhäubchen mit Rosaschleifen, so wie es junge vornehme Frauen zu tragen pflegen. Sie hatte der Eintretenden den Rücken zugekehrt und war beschäftigt, hellglänzende, feingeschliffene Krystallgläser wieder in die Fächer zu räumen, vermuthlich waren sie gestern Abend gebraucht worden. Ja, die Frau Stadträthin Wegner, die als vorzügliche Hausfrau stadtbekannt war, hatte das einzige Töchterchen gleichfalls häuslich und wirthschaftlich erzogen, mit der wurde kein Mann betrogen!

„Erlauben die Frau Assessor, daß ich mir die Freiheit nehme, Ihnen bestens zum angetretenen heiligen Ehestande zu gratuliren!“ begann Frau Nährkorn mit einem wohlgelungenen Knix. „Du lieber Gott, was werden Sie nur gedacht haben! Keine Guirlanden und Kränze um die Thüren – nehmen Sie’s nur nicht übel!“

Käte, die am Morgen von Marie beauftragt worden war, an ihrer Stelle das Aufräumen des Speisezimmers zu besorgen (die junge Frau selbst hatte auswärts einige Besorgungen zu machen), ließ sich vorläufig nicht in ihrer Arbeit stören und dachte mit schelmischem Wohlbehagen:

„Man hält mich für die Tante! … Nun, warum könnte ich nicht auch eine Frau Assessorin sein, oder noch lieber – eine Frau Doctorin?“

[415] Nur langsam wandte sie darum endlich den Kopf und sah mit einiger Befremdung eine fremde, sauber gekleidete Frau vor sich stehen, behäbig und mit ziemlichem Embonpoint ausgestattet – vermuthlich eine Vermiethsfrau oder Wäscherin, oder sonst etwas dergleichen. Es schien fast, als ob der Besuch mit naiver Selbstschätzung auf eine Einladung zum Niedersitzen warte. Das aber war keineswegs nach Kätchens Geschmack. Sich eine halbe Stunde von der besten Waschmethode und den Vorzügen des Bleichens unterhalten zu lassen, wenn man den Kopf bis obenhin voll interessanterer Dinge hat, das war zu viel verlangt. Erwartete sie doch jeden Augenblick den neuen Vetter Fritz wieder, und es war ihr aus diesem Grunde eigentlich sehr angenehm gewesen, daß die Tante auf den Wochenmarkt gegangen war. Der neugebackene Doctor und Vetter hatte ihr nämlich versprochen, ihr heute Morgen seine hübschesten Studentenlieder vorzusingen, sie aber wollte ihn selbst dazu auf dem Piano begleiten. Die junge Dame blickte darum sehr von oben herab und frug recht unfreundlich:

„Wen suchen Sie denn eigentlich?“

„Die junge Frau Assessor – ach Gott, Sie sind’s ja nicht!“

„Die Frau Assessor ist nicht hier,“ beschied Käte kurz.

„Wo ist sie denn?“

„Sie sehen ja – fort!“ antwortete die junge Dame noch kürzer und voll steigenden Verdrusses über die auffallende Beharrlichkeit, „was weiß ich’s!“

„Ist sie denn nicht – angekommen?“

Käte, die das Incognito ihrer Verwandten noch nicht preisgeben wollte (erst heute Nachmittag sollte es ja fallen), antwortete schnell entschlossen:

„Nein, sie ist nicht angekommen!“

„Nicht?“ frug Frau Nährkorn sehr erstaunt und wußte nicht, was sie eigentlich denken sollte.

„Nein – weshalb auch?“

„Der Herr Gemahl ist aber doch angekommen!“

„Wieso?“ machte Käte – „durchaus nicht!“

„Wie sie lügen kann!“ dachte entrüstet Frau Nährkorn, und sagte:

„Ich bin ihm doch eben auf der Treppe begegnet.“

„Nun – dann muß er freilich wohl zurück sein,“ lachte Kätchen laut.

„Gestern – nein vorgestern ist er schon gekommen,“ triumphirte Frau Nährkorn weiter.

„Aber dann wissen Sie’s ja – weshalb fragen Sie denn noch? Die Frau Assessor ist aber jedenfalls noch nicht hier!“ triumphirte jetzt wieder Käte, der das letzte Endchen ihres schwachen Geduldfadens riß und die den sonderbaren Besuch um jeden Preis los zu werden wünschte.

Aber Frau Nährkorn ließ sich nicht mehr einschüchtern, sondern frug mit einem ihren Gedanken verrathenden Blicke auf Käte’s wiederaufgenommene häusliche Thätigkeit:

„Und dafür sind Sie wohl hier?“

„Wie Sie sehen!“ spottete Käte, indem sie die Fächer des Buffetschrankes abschloß und den Schlüsselbund hausfraulich, aber ein wenig kokett in den Gürtel steckte.

„Und – Sie sind gestern auch angekommen?“

„Vorgestern, wenn Sie erlauben,“ hohnlachte Käte.

„Richtig, vorgestern. Und Sie wollen – hier bleiben?“ frug Frau Nährkorn, einen Schritt zurückweichend, zum letzten Male, und dabei rasch, zornflammend, aber mit stockendem Athem. Denn vor ihrem Geiste stand plötzlich nebelhaft das entsetzlichste Geheimniß! …

Käte wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Aus dem Felde schlagen, von einer beliebigen Unbekannten, ließ sie sich denn aber doch nicht. Deshalb sagte sie trotzig:

„Natürlich bleib’ ich hier – immer! – wenigstens so lange er’s haben will!“ setzte sie plötzlich timide hinzu. „Was geht übrigens Sie mein Hierbleiben an? Sie – unverschämte Person!“

„So, so, das geht mich sehr viel an! Wissen Sie, wer ich bin? Ich bin die Frau des Vicewirths und eine ordentliche reputirliche Frau und habe auf Ordnung im Hause zu sehen, und darum werde ich nicht leiden, daß, daß –“

„Was?“ frug Käthchen unschuldig.

Aber Frau Nährkorn hörte nicht mehr. Zornflammend hatte sie sich gewandt, um diese – Mördergrube zu verlassen. Denn immer klarer trat vor ihre erschreckte Seele ein grausiger Zusammenhang, irgend eine Geschichte, wie sie jetzt in allen Blättern zu lesen war. … Wo war die arme junge Frau? – Die Sache mußte schleunigst klar werden! Da – nahe der Thür, flog der aufgeregten Dame, die in lebhafter Gesticulation die Arme ausgebreitet hatte, plötzlich Jemand gegen Kopf und Brust. Es war ein langer Junge, mit einem Paket Bücher und Heften unter dem Arme, und einer hellblauen, silberumränderten Mütze. Der junge Herr schien fast über die Gebühr aufgeschossen, hatte dazu ein weiches Kindergesicht mit Augen wie „Vergißmeinnicht in Milch gekocht“, und lange semmelblonde Haare, und sogar schon einige gleichfarbige hoffnungsvolle Bartsprossen.

„So – haben Sie schon gehört, junger Herr?“ fragte stockend und athemlos Frau Nährkorn, die trotz ihrer Aufregung, oder vielleicht just durch dieselbe, sofort den jungen Herrn Wegner erkannt. Hatte sie sich nicht soeben auf’s Lebhafteste mit der hochachtbaren Familie beschäftigt und sich dabei mit Kummer und Schmerz der armen Eltern erinnert?

„Was?“ fragte Max, der eben nur an die „Schwarte“ des Ovid dachte, die er aus der Bibliothek des Schwagers heimlich holen wollte. Er hatte das ersehnte Buch vor einigen Wochen bei einem Besuche zufällig bemerkt und bedurfte dringend desselben, als Ultimus von Obertertia.

„Er ist wieder da, der Herr Assessor Kerner, der unsere erste Etage gemiethet hatte – nicht lange vor der Hochzeit …“ berichtete Frau Nährkorn in unverminderter Aufregung weiter.

„Sie sind wieder da? Wirklich? Du liebe Zeit, und die Guirlanden, die Mama bestellt hat, sind noch nicht einmal fertig, und auch mein Transparent nicht, ich male es nämlich selbst, mit Tuschfarben! Was wird Mama sagen! Wo sind sie denn?“

„Entschuldigen Sie nur – nehmen Sie’s nur nicht übel, junger Herr – du lieber Gott, wie soll ich’s denn nur ausdrücken? … Sehen Sie, der Herr Assessar ist zwar angekommen, aber er hat die junge Frau nicht wieder mitgebracht.“

Auch andere Leute als der semmelblonde hoffnungsvolle Obertertianer hätten sich vermuthlich auf solche Kunde keinen passenden Vers zu machen gewußt. Max versuchte es gar nicht einmal. Mund und Nase standen ihm vor Verwunderung offen: er war sprachlos.

„Wo ist – er denn?“ ermannte er sich endlich. Denn, daß die Portierfrau die Wahrheit sage, wenigstens in Betreff seines Schwagers, war ihm – leider! unzweifelhaft. … Dort lag ja der ansehnliche Aktenstoß, den der erwartete Gerichtsdiener allmorgendlich abzutragen pflegte, und da in der Ecke am Kleiderständer hing Rock und Mütze des Schwagers, daneben der Stock. Wer konnte wissen, ob es ihm unter solchen Umständen nun noch gelingen würde, die Ovid-Schwarte heimlich zu acquiriren. Und er brauchte sie so nothwendig, wie das liebe – Butterbrod, und war darum gleich aus der Schule hierher gelaufen, um sie zu holen, in der sicheren Hoffnung, durch Vermittelung des ihm wohlbekannten Vicewirthes oder des Stiefelputzers in das leere Quartier zu gelangen. … Sollte er denn wirklich wieder wegen mangelhafter Präparation mit seinem alten Pech hereinfallen – heute Nachmittag?

„Der Herr Assessor sind ausgegangen – auf’s Gericht, glaube ich – wenigstens mit Acten.“

Trotz des drohenden Verlustes der Schwester gab diese Nachricht dem Bruder das Leben zurück. Der Ausdruck der Züge verlor etwas von seiner gewöhnlichen ausdruckslosen Starrheit, um sogleich einer affenartigen Geschwindigkeit der Glieder Platz zu machen. Noch war ja Hoffnung vorhanden. … Dort lag ja das Zimmer des Schwagers und gleich rechts an der Thür im Bücherbrette stand in einem verlorenen Winkel der verdeutschte Ovidius Naso. Mit zwei langen Sätzen war er an der Frau vorüber und drinnen im Zimmer, und ehe sich die würdige Dame vollständig von ihrem Schrecken erholt hatte, war er auch schon wieder zurück, das bestäubte Buch hoch in der Hand.

„Sie haben’s wohl nicht recht verstanden, vorhin – was ich Ihnen erzählt habe, junger Herr,“ sagte Frau Nährkorn mit starker Betonung, da ihr das Benehmen des Bruders schlechterdings unverständlich blieb.

„Doch, doch, ja so - Marie - wo ist sie denn?“ erwiderte Max, den der Besitz der „Schwarte“ fast wider Willen in solch triumphirend glückliche Seelenstimmung versetzt hatte, daß er bei der besten Absicht nicht gleich „außer sich sein“ konnte.

[416]

Heu-Ernte.
Nach dem Oelgemälde von J. Köckert.

[417] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [418] „Ja, wo ist sie denn? Das ist ja eben der Haken! … O, o, es ist zu gräßlich! …“ Dabei zog die Frau den jungen Mann zur Thür hinaus und warf sie hinter sich zu. Denn es drängte sie, endlich aus der Mörderhöhle zu entkommen.

„Mein Schwager ist also wirklich – allein zurückgekommen?“ stotterte Max.

„Ja! – Nein! – Die dort ist mitgekommen! – Vorgestern.“ Mit diesen Worten deutete Frau Nährkorn durch die Glasthür in’s Vorzimmer zurück, in welchem Käte soeben wieder erschienen war, um nachzusehen, ob der Vetter endlich komme. Sie hatte nämlich im Wohnzimmer das Zuwerfen der Thür draußen gehört.

Max stand mit aufgerissenen Augen und starr.

„Ich will nur gleich zu den Eltern laufen und es ihnen melden!“ sagte er endlich mit anerkennenswerther Geistesgegenwart.

„Versteht sich – gleich! Ach, die armen Eltern!“

„Ja, ja, gleich!“

Damit war Max die Treppe hinab, als ob ihm plötzlich der Kopf brenne. – –

Die weite Entfernung vom Westende bis zum Elternhause hatte vor allem anderen dazu beigetragen, das stille Glück der Liebenden zu verbergen. Jetzt ward sie leider verhängnißvoll! Max, nachdem er mit berechtigter Selbstliebe für sich oder vielmehr für die nächste Censur gesorgt hatte, beschäftigte sich nun noch allein mit der Schwester.

Wo war Mieze?

Mieze, die nicht nur das beste Vesperbrod schnitt, sondern ihm auch mit unendlicher Geduld englische und französische Vocabeln eingepaukt hatte, sodaß er Ostern „versuchsweise“ nach Obertertia versetzt war. …

Daß die Wohnung der Geschwister wirklich bewohnt war, hatte er ja deutlich wahrgenommen. Glaubte er doch trotz seiner Aufregung und Eile im Zimmer des Schwagers starken Cigarrendampf gerochen zu haben. Er glaubte sogar die Sorte wieder zu erkennen, die Cigarrentasche des Schwagers hatte ihm hinter dem Rücken des Vaters allezeit offen gestanden, und er hatte von dieser verwandtschaftlichen Annehmlichkeit auch ausgiebigsten Gebrauch gemacht.

Auch versicherte Frau Nährkorn, dem „Herrn Assessor“ auf der Treppe begegnet zu sein – Frau Nährkorn, die seine Mama noch kürzlich in seiner Gegenwart eine zuverlässige Person genannt hatte.

Man hatte all die Tage her daheim natürlich fast nur von den Neuvermählten gesprochen. Und zwar kopfschüttelnd von allen Seiten! Wenigstens nach den Grüßen und letzten Nachrichten, die Vetter Fritz, der sie in Heidelberg gesprochen, von ihnen zurückgebracht hatte.

„Nach Italien lasse ich mir noch gefallen,“ hatte der Vater gesagt, „man muß die Feste feiern wie sie fallen! Aber bis nach Sicilien? Nun, meinetwegen auch dies, wenn nämlich der Geldbeutel reicht. Aber nach Algier? Zum Kukuk, was wollen sie denn in Algier?“

Sonderbar! Unwillkürlich mußte sich Max plötzlich eines wunderschönen lehrreichen Buches aus der Quarta-Bibliothek erinnerin. Es war eine Seeräubergeschichte, und das mit bunten Tondruckbildern versehene Buch berichtete von zwei sich zärtlich liebenden Geschwistern, die zusammen eine Reise über das Mittelländische Meer machten und daselbst von einem Piratenschiff angefallen wurden. Der Bruder, der die Schwester natürlich heldenmüthig vertheidigt, fiel im blutigen Kampfe, während das arme Mädchen von einem Corsaren geraubt und auf den Sclavenmarkt nach Algier geschleppt wurde.

Und wie man hienieden nicht ungestraft unter Palmen wandelt, so liest man auch nicht umsonst solch schöne Räubergeschichten. Es schien sich mit einem Male ein erneuter innerer Contact zwischen dem Buche in der Quarta-Bibliothek und dem semmelblonden Kopfe des glücklichen Obertertianers zu entspinnen, und weil das Contagium vermuthlich nicht allzu viel Gehirnmasse fand, so hatte es dafür um so mehr Platz sich auszubreiten. Wie – wenn Miezen ebenso geschehen wäre? Sie konnte doch unmöglich verloren sein wie ein Paket?

Der Schwager aber hatte sich vorsorglich gleich eine Andere mitgebracht und schnell geheirathet. Wo er die nur so schnell herbekommen hatte? Sie schien noch jung zu sein, ungefähr so, Wie die „Damen“ in der Tanzstunde und auf den „Lämmerbällen“ und hätte eigentlich besser für ihn selbst gepaßt.

Ungefähr soweit war Max mit seinen Reflexionen gekommen, und es war ihn, dabei ganz wirbelig geworden, ähnlich wie vorhin, als er gegen Frau Nährkorn angerannt war. Da stand er am Marktplatz vor dem Giebelhause der Eltern.




7.

„Daß Du ein Dummkopf seiest, habe ich leider schon lange gewußt, daß Du aber auch ein halber Tollhäusler bist, entdecke ich erst heute!“

Mit solchen Kernworten suchte der Stadtrath das sich weiter und gefährlich ausbreitende giftige Contagium zu verflüchtigen. Wie eine wohlthätige kalte Douche fiel es auf vier erhitzte Köpfe herab.

Dennoch saßen die Anwesenden, wenigstens die weiblichen – Großmama-Medicinalräthin, Tante Bertha und die Stadträthin – noch immer wie erstarrt bei einander, während Max mit dem Rücken die Thür suchte, theils um einem zweiten, vielleicht noch kälteren Bade zu entgehen, theils um den phantasiereichsten und productivsten römischen Dichter, welchen er noch immer krampfhaft in der Hand hielt, vorerst in seiner „Bude“ in Sicherheit zu bringen.

„Bitte, liebe Frau, laß doch die Suppe herein bringen! Ich habe tüchtigen Appetit diesen Mittag,“ fuhr der Stadtrath in gleicher, glücklicher, kühler Tonart fort. „Willst Du nicht so gut sein und klingeln,“ wiederholte er lauter, als die Stadträthin sich noch immer nicht erhob. „Großmama und Tante Bertha, die mit uns essen werden, wünschen die Eßstunde nicht hinauszuschieben –“

„Mann – ich begreife Dich nicht!“ stöhnte die Stadträthin.

„Und ich Dich noch weniger – so wenig, daß ich gar nicht über die Sache reden mag! Doch verspreche ich dafür Dir binnen zwei Stunden Aufklärung des – Mißverständnisses zu bringen! Jetzt, wie gesagt, wollen wir zu Tische gehen! Liebe Mama, darf ich bitten? … Nach der Suppe muß ich schon selbst klingeln. …“

Damit war die Stadträthin dem Gatten indessen doch gewohnheitsmäßig zuvor gekommen. Auch hatte sie ihren Platz wie sonst eingenommen. Das Vorlegen mußte aber der Gatte über nehmen, dazu war sie vollkommen unfähig. Auch im Essen bestrebte er sich mit gutem Beispiele voranzugehen, wenigstens anfangs, später schien er gleichfalls zu erlahmen. Nur Max, der den Ovidius Naso glücklich in Sicherheit gebracht hatte, leistete das Seinige. Beim Dessert war der Stadtrath plötzlich verschwunden. Und Jeder ahnte, wußte, wohin er die Schritte gelenkt hatte.

Fünfzehn Minuten später war er draußen im Westend und stand im Hause des jungen Ehepaares. Bevor er die Treppe hinanstieg, trocknete er sich den Schweiß von der Stirn, den ihm die rasche Bewegung oder die – Angst ausgepreßt hatte. … Jetzt zog er die Glocke. Ein leichter flüchtiger Schritt tönte von drinnen an sein Ohr. Er lauschte gespannt, athemlos … jetzt öffnete man innen, und eine schlanke Frauengestalt flog ihm entgegen und lag an seiner Brust.

„Väterchen, liebes Herzensväterchen!“




„Thörichte Kinder, weshalb seid Ihr nicht öffentlich zu Hause geblieben? – Die ganze Geschichte hört sich an wie ein Lustspiel und hat mir dennoch, jetzt will ich’s gestehen, heimlichen Angstschweiß ausgepreßt!“ sagte eine Viertelstunde später der Stadtrath, wie erlöst, als er trotz vielfachen Zwischen- und Durcheinandersprechens endlich den Sachverhalt kennen gelernt hatte.

„Ich trage eigentlich die Schuld!“ sagte Marie beschämt.

„Oder ich – wenigstens will ich sie nur gleich auf mich nehmen – Einer muß doch der Sündenbock sein!“ sagte Fritz, der über die Studentenlieder und Käte das rechtzeitige Weggehen vergessen hatte und über Mittag geblieben war. „Ich stieß die rollende Kugel vollends den Abhang hinab.“

„Um des glücklichen Endes willen sei Euch verziehen, kommt aber nun eilig, damit auch Mama aus ihrer Sorge befreit wird.“ –

„Und einen ganzen Selectacursus im Haushalten habe ich durchgemacht, liebe Mama!“ sagte Marie mit stolzer Würde, als [419] man eine Stunde später daheim im Elternhause beim Kaffeetrinken überglücklich beisammen saß. „Man lernt erst, wenn man etwas allein thut und die Verantwortung dafür trägt. … Unsere zukünftige Küchenfee wird sich wundern, wenn ihre junge Frau schon Bescheid weiß.“

Die Stadträthin schüttelte indessen immer noch den Kopf.

„Ich kann’s noch gar nicht fassen – curiose Flitterwochen das!“

„Freilich – Deine Erfahrung und Dein unersetzbarer Beistand hat uns überall gefehlt, beste Mama,“ sagte jetzt der Assessor voll Anerkennung und Galanterie, und indem er sich der versalzenen Suppe erinnerte. „Aber – wer ist nicht einmal über seine Ideale gestolpert?“

Die Stadträthin schmunzelte zwar, konnte sich aber immer noch nicht ganz beruhigen und sagte:

„Also gar keine Hochzeitsreise – wollt Ihr denn durchaus selbst die Mode machen?“

„Warum nicht? Ist es nicht das Allernatürlichste von der Welt, mit seinem jungen Glücke das heißersehnte eigene Nest aufzusuchen, anstatt sich beliebig umherhetzen zu lassen? Wer thut mir’s nach?“

Fritz, der neben Käte stand, flüsterte dieser etwas in’s Ohr, was sie bis zu den Simpelfransen herauf erröthen machte. Niemand der Anwesenden hatte die Worte gehört; das feine Geistesohr des geehrten Lesers hat sie aber doch verstanden!




In den Hütten der Aussätzigen vor Jerusalem.

Bei Jaffa betrat mein Fuß die Erde des „heiligen Landes“. Arabische Barkenführer hatten mich von Bord des großen Triester Post- und Passagierdampfers, der schon weit draußen in der See die Anker fallen ließ, abgeholt und das schwankende Boot mit erfahrener Hand an Klippen und Untiefen vorüber durch die grollende Brandung bis an den zerfallenen Quai geführt. Es war zur Zeit der Orangenernte, im Februar. Die breiten Aeste bogen sich unter den goldenen Früchten, den Gärten entströmte ein balsamischer Duft, Tausende fleißiger Hände regten sich, pflückten die schweren Aepfel, verpackten sie in Kisten und trugen die Colli zum Hafen. Kein Mensch kümmerte sich um das Treiben des andern, ein Jeder hatte genug mit seiner Arbeit zu thun. Nur drei männliche Gestalten, in Lumpen gehüllt, saßen scheinbar theilnahmlos auf der Ufermauer und schrieen mir, als ich vom Strande aus die steinerne Treppe hinaufstieg, die bekannten ominösen Worte: „Bachschîsch, ya chawâge!“ („Ein Geschenk, o Herr!“) entgegen. Es waren Aussätzige, welche sich dem Palästinareisenden gewöhnlich zuerst im alten Joppe präsentiren, obschon ihre nächste gemeinschaftliche Behausung sich in dem nahezu zwei deutsche Meilen entfernten Städtchen Ramleh befindet. Zur Osterzeit, sobald zahlreiche und wohlhabende Pilger landen, stellen sich hier solche Unglückliche selbst aus Jerusalem ein, bei denen natürlich das Leiden noch nicht weit vorgeschritten sein darf und die daher ohne sonderliche Erschöpfung noch mehrere Stunden anhaltend zu laufen vermögen. Ich warf einige Kupferpara in die blechernen Schüsseln, welche alle diese Bedauernswerthen auf den Knieen vor sich halten, und eilte zunächst in die bekannte kleine württembergische Ansiedelung, um mir dort einen Wagen nach der Hauptstadt zu miethen.

Kaum zogen die Rosse an, um das hochsitzige, eigenthümlich construirte Fuhrwerk auf die Hauptstraße zu bringen, als wiederum dieselben drei „Elenden“ – so werden sie im Volksmunde in Syrien benannt – sich an den Pforten des Hôtelhofes postirt hatten, um abermals ihre leeren Gefäße jammernd und winselnd emporzuheben. Touristen, die auf der erwähnten Zwischenstation Ramleh vielleicht ein wenig länger als nöthig rasten, sind dann nicht selten auf das Höchste erstaunt, wenn direct vor den Thoren Jerusalems jene nämlichen Bettler zum dritten Male tributfordernd erscheinen, die ihnen beim Ausschiffen entgegentraten, und welche bei der Abfahrt aus der Colonie sich an sie herandrängten.

So seltsam es auch klingt, die Aussätzigen in Jerusalem und Ramleh bilden thatsächlich unter sich eine wohlorganisirte – Corporation mit einem „Scheich“ an der Spitze, der in den Frühjahrsmonaten die schnellsten Läufer auswählt und hinab nach Jaffa sendet, sobald dort die Ankunft eines wohlbesetzten europäischen Steamers erwartet wird. Während der Reisende in Ramleh ruht, um die heißen Mittagsstunden nicht in einem unbedeckten Gefährt auf der völlig schattenlosen Chaussee verbringen zu müssen, eilen diese aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, so schnell sie nur ihre Füße tragen können, auf kürzeren Seiten- und Gebirgspfaden voraus, um sich etwa fünfhundert Schritt vor der Stadtmauer Jerusalems rechts oder links von der Landstraße mit den anderen Leidensgenossen vereint zu lagern. Letztere gehören durchschnittlich schon zu den „Invaliden“ der Corporation. Ihre Glieder sind steif, ihr Gang schleppend, die Stimme heiser, die Finger nach innen gebogen und ohne Gefühl – in jeder Beziehung die mitleiderweckendsten Geschöpfe, die kaum aus ihren Hütten hierher zu kriechen vermochten.

Vernehmen sie aber den Hufschlag der Pferde, das Rollen der Räder, sehen sie eine Staubwolke auffliegen, so stoßen sie gemeinschaftlich ihren Ruf nach „Bachschisch“ in so denkbar kläglicher und gellender Weise aus, daß der Neuling in diesem Lande ein Unglück vermuthet und den Wagen halten lassen will.

Noch vor zehn Jahren waren diese Leprosen eine Plage für die Stadt, besonders fur die einzelnen europäischen Familien in derselben. Betrat man damals Jerusalem beim Zionsthor, so erblickte man zur Rechten sechszehn niedrige Hütten, aus unbehauenen Steinen aufgeführt und mit Stroh und Lehm zugedeckt. Diese Hütten – richtiger wäre schon die Bezeichnung Höhlen gewesen – waren kaum zehn Schritt von der an diesem Punkte ziemlich hohen Stadtmauer errichtet. Eine stieß an die andere, aber alle wandten ihr Angesicht von der Straße ab und der Mauer zu. Die Parias des „heiligen Landes“ hatten hier ihr Unterkommen gefunden. Niemand sorgte für sie, keiner kümmerte sich um sie, weder der Pascha, noch der Moschee-Vorstand; kein Hakim (Arzt), kein Marabut, kein Mensch brachte ihnen Hülfe, bezeigte ihnen Interesse, Jedermann ging ihnen aus dem Wege, nachdem er von weitem eine Scheidemünze oder eine Frucht in ihren Eimer geworfen hatte. Mitunter erschienen aber auch die Aussätzigen in den Häusern der Stadtbewohner und waren nicht eher zum Weggang zu bewegen, bevor man ihnen nicht ein Almosen reichte. Besonders ekelerregend mußte ihr Besuch in den Wohnungen der Europäer sein, die sich mit den Zudringlichen theilweise gar nicht oder nur äußerst mangelhaft verständigen konnten. War der hingeworfene Bachschisch dem unausstehlichen Gaste zu gering, so blieb derselbe so lange im Hause, bis ein zweiter größerer folgte.

Endlich raffte sich die türkische Behörde auf. Kiamil Pascha, Gouverneur der „heiligen Stadt“, erließ ein Bittschreiben an die europäischen Konsuln, die christlichen Bischöfe, Priester und Missionare, desgleichen an die wohlhabenderen Deutschen, Engländer und Franzosen in seinem Paschalik mit dem Ersuchen, ihm so rasch und so viel als möglich Gelder zu übermitteln, damit man den von aller Welt Gemiedenen eine halbe Stunde vor der Ringmauer ein Asyl erbauen und endlich die Baracken am Zionsthor niederreißen könne. Die Beiträge flossen reichlicher und schneller, als der Pascha geglaubt, da besonders die ansässigen Deutschen und Engländer von der unangenehmen Nachbarschaft in Bälde befreit sein wollten.

Der Bau des Spitals wurde diesmal wirklich sofort begonnen, wie gesagt, zum Besten mohammedanischer Araber und für Unterthanen des Sultan, obwohl kein Moslem auch das geringste Scherflein beigesteuert hatte. Noch ehe das Gebäude beim Dorfe Siloah gänzlich fertig gestellt ward, trieb Ali Bey, der Nachfolger Kiamil Paschas, die „hoffnungslos Elenden“ mit Gewalt in die neue Caserne, da sich freiwillig keiner zu einer Uebersiedelung bequemen wollte. Der Wechsel des Domicils war weniger die Ursache des Sträubens, als das zugleich unter Androhung der schwersten Strafen erlassene Verbot, sich künftighin noch in den Straßen und Häusern der Stadt zu zeigen. Nur für den zweiten Tag des Monat Schauwal („Kleiner Beiram“) sollte diese Bestimmung außer Kraft bleiben. Als man das schmutzige Gemäuer am Zionsthor zerstörte, blieb den Bejammernswerthen [420] natürlich nichts Anderes übrig, als sich in das neue Quartier zu flüchten. Sie versuchten aber ein Letztes. Ein Protest über die stattgehabte Austreibung, von ihrem „Scheich“ aufgesetzt, ging „in Aller Namen“ an die hohe Pforte in Stambul ab unb zwar als – Telegramm. Die Kosten beliefen sich auf nahezu hundert Franken, sie wurden auf einstimmigen Beschluß der Corporationscasse entnommen, aber eine Antwort kam vom Goldenen Horn nicht zurück. Dies geschah im Mai 1875.

Wohl ein Dutzend Mal habe ich meine Schritte nach dem Asyl bei Siloah gelenkt. Vom Jaffathor aus erreicht man es in etwa fünfundzwanzig Minuten. Der steinige Pfad führt thalwärts, die Vegetation ist dürftig und monoton, nur vereinzelt trifft man Gruppen verkümmerter Oliven. Schon im April sind die Bäche ausgetrocknet, Sand und Kiesel füllen ihr Bett aus, und einzig an dem Gipfel des Oelberges findet das Auge einen angenehmen Ruhepunkt. Bald aber ist auch dieser den Blicken entschwunden. Siloah, dessen Häuser wie Schwalbennester an den Felsen kleben, bleibt zur Linken liegen, während „das Haus der Kranken“ unterhalb des Dorfes auf einer kleinen Anhöhe steht. Es ist ein langer einstöckiger Bau mit acht Kammern. Im Rücken des Spitals, wenn dieser Ausdruck hier angewandt werden kann, sind beträchtliche Bodenerhebungen, und als ich das erste Mal den schmalen Hof zwischen dem Hause und der Bergwand betrat, standen drei Frauen und zwei Mädchen am Eingange. Sie waren nicht wenig überrascht, daß ein Nasrani (Christ) ihre sonst von Jedermann ängstlich gemiedenen Wohnungen aufsuchte. Konnte ich doch nie einen Touristen bewegen, mich nach diesem Hause zu begleiten, ja selbst ein amerikanischer Journalist prallte entsetzt vor mir zurück, als ich ihn darauf aufmerksam machte, für seine Zeitung eine detaillirte Schilderung dieses dürftigsten aller Hospize zu geben. Das Alter der drei Frauen, die mich sofort anbettelten, ließ sich nicht einmal annähernd feststellen, während die Mädchen mir auf Befragen mittheilten, daß sie elf und zwölf Jahre zählten.

Ich inspicirte zunächst die letzte Kammer des Hauses, denn hierher führte man mich, um desto wirksamer an mein Mitgefühl zu appelliren. In dem niedrigen rauchgeschwärzten Raume lagen auf schmutzigen Lumpen zwei Männer, denen jedenfalls der Allerlöser Tod sehr nahe war. Keiner der Beiden vermochte aufzublicken, die Nase sowie die Nägel an den Fingern fehlten dem Einen sowohl als dem Andern, kein Glied konnten die Unglücklichen bewegen, und die Sprache ähnelte nur noch einem schwachen Röcheln. Neben den Lagerstätten standen Schüsseln mit erkaltetem Reis und Krüge mit Wasser.

Hülfe und Heilmittel gegen diese Pest kennt die Wissenschaft bislang nicht. Arzneien, eine gewisse Diät, selbst die größte Reinlichkeit schaffen nur eine zeitweilige Linderung. Vor ungefähr acht Jahren glaubten intelligente französische und deutsche Mediciner mit den neuentdeckten sogenannten indischen Medicamenten Erfolge erzielen zu können, indem man nämlich den Krankheitsstoff nach außen trieb. Aber die so behandelten Personen verfielen dabei zunächst in Fieber, dann in derartige starke und gefährliche Krämpfe, daß man von diesen angeblichen Remedien gänzlich absehen mußte.

Europäer werden nie von der Lepra ergriffen, auch die Gefahr einer Ansteckung existirt für sie nicht. In Palästina ist es fast ausschließlich die ärmere Landbevölkerung, welche von dem Uebel heimgesucht wird. Professor Dr. Häsert, eine der ersten Autoritäten auf dem Gebiete der Hautkrankheiten, schreibt darüber wörtlich:

„Die allgemeinen Ursachen des Aussatzes sind bekannt genug. Sie liegen in der tiefsten körperlichen, geistigen und sittlichen Verwahrlosung der betreffenden Volksclassen. Die Lepra ist die Wirkung aller der Einflüsse, welche den Menschen auf der niedrigsten Stufe der Cultur umgeben. Sie findet sich nur, wo diese Bedingungen zusammen wirken. Aus Mitteleuropa, besonders Deutschland, Frankreich etc., wo der Aussatz bis zum fünfzehnten Jahrhundert ganz allgemein verbreitet war, ist er durch die Cultur verschwunden, und diese allein wird ihn auch im Orient, und wo er sonst noch sich erhält, verdrängen.“

Die Lepra verschont kein Geschlecht, kein Alter, und was das Furchtbarste, sie vererbt sich, geringe Ausnahmen abgerechnet, von Generation auf Generation, bis die Familie gänzlich ausgestorben ist. Wohl überspringt die Krankheit zuweilen ein Glied, der aussätzige Vater oder die aussätzige Mutter können Eltern völlig gesunder Kinder sein, die bis zu ihrem Tode rein und intact bleiben. Aber an den Enkeln zeigt sich das Gift sicherlich wieder. Sobald die ersten Spuren dieses gräßlichen Fluches bei einer Person wahrgenommen werden, ist ihres Bleibens in der Gemeinde nicht mehr. Sind es Erwachsene, so verkaufen sie sofort ihren beweglichen oder unbeweglichen Besitz und gehen zumeist nach Jerusalem, seltener nach Ramleh oder Nablus (Sichem), wo kleinere Zufluchtsstätten bestehen. Jerusalem erhält deswegen den Vorzug, weil ihnen dort, wie mir einer der Aermsten naiv mittheilte, „die Jaffastraße gehöre“.

Kommen die Ausgestoßenen in Siloah an, so prüft sie zunächst der „Scheich“, natürlich selbst ein „Unheilbarer“, ob sie zur Aufnahme in die „Zunft“ sich eignen. Den Eintritt erkaufen sie sich dann je nach ihren Vermögensverhältnissen mit 2 bis 10 Silber-Medjidie (7 bis 35 Mark). Dafür erwerben sie folgende Berechtigungen. Zunächst einen Sitz an der Landstraße gegenüber der Wohnung des armenischen Patriarchen, weil dort die Fremdenpassage am lebhaftesten ist. Diesen Sitz darf ihnen Niemand streitig machen. Sind sie noch jung und körperlich rüstig, so werden sie auch nach Ramleh und Jaffa gesandt, um die erste „Steuer“, die häufig die beste ist, von den ankommenden Reisenden zu erheben. Vermögen ihre Glieder sie aber nicht mehr zu tragen, werden sie schwächer und schwächer und sozusagen geschäftsuntauglich, dann haben sie als „Eingekaufte“ stets einen gewissen Antheil an der Gesammteinnahme der Uebrigen.

Der „Scheich“ pflegt nur in Ausnahmefällen zu „arbeiten“. Er gruppirt vielmehr die Seinen ganz zweckmäßig vor dem Jaffathore und wacht ängstlich darüber, daß nur Angehörige der Corporation sich einen Platz auswählen; Leprosen, die sich nicht eingekauft haben und vor dem Jaffathore betteln wollen, werden von ihren „zünftigen“ Leidensgenossen so lange mit Schlägen tractirt, bis sie todt liegen bleiben.

Zunächst erblickt der Reisende, sobald er der „hochgebauten Stadt“ ansichtig wird, die weniger Kranken, die natürlich am meisten schreien müssen. Er giebt ihnen einen Bachschisch. Nunmehr gewahrt er erst die am gräßlichsten Verstümmelten. Diese heben ihre zerfressenen Glieder – Hände und Füße – so lange es der Aufwand der spärlichen Kräfte erlaubt, unverhüllt empor, und meist fällt wieder ein Piaster in die aufgestellten Blecheimer.

Beginnt die Zeit der Ernte, so hat der „Scheich“ das Recht, die Seinen an einem gewissen Tage auf die Felder zu schicken. Was sie an Früchten an einem Nachmittag fortschleppen können, ist ihr Eigenthum.

Schließt sich ein Leprose der Zunft nicht an, dann muß er wohl in der Herberge bei Siloah von den Anderen geduldet werden, aber sein Loos ist ein unerträgliches. Man verleidet ihm den Aufenthalt in jeder Weise, man bestiehlt ihn, ja man läßt es selbst an den gröbsten Mißhandlungen nicht fehlen, bis gewöhnlich der doppelt Verfehmte in das deutsche und christliche Aussätzigenasyl flieht, das sich ebenfalls vor den Thoren der Stadt, unweit des Stationsgebäudes des bekannten internationalen Reise-Unternehmers Cook, befindet. Dieses Haus ist eine Musteranstalt in jeder Beziehung, nur den Aussätzigen selbst gefällt sie nicht. Als sie vor einigen Jahren eröffnet wurde, waren Consuln, Priester, Missionäre, Aerzte – aber keine Aussätzigen anwesend. In neuerer Zeit haben sich mehrere Unglückliche eingefunden.

„Es ist jedoch nicht nur einmal vorgekommen,“ sagte mir der Vorsteher dieses Instituts, ein Mitglied und Lehrer der Brüdergemeinde, „daß Leute, die Jahre hindurch von uns auf das Beste verpflegt worden sind, heimlich das Haus verlassen haben, um nie wieder zurückzukehren.“

Den Gästen dieses Hospitals ist nämlich das Betteln auf das Strengste verboten, sie müssen außerdem, so weit es ihre physischen Kräfte gestatten, leichte Garten- und Feldarbeiten verrichten, sich regelmäßig waschen und baden, und alles das behagt ihnen nicht.

Die „Zölle“, welche die Wegelagerer an der Jaffastraße erheben, sind gar nicht so geringfügig. Im April 1881 starb beispielsweise in Siloah ein fünfzigjähriger Mann, der in wenig Jahren von den erbettelten Beträgen neunzig Silber-Medjidie (über dreihundert Mark) sich erübrigt hatte. Und dabei hindert sie noch oft im Winter die Witterung, die Hütten zu verlassen. Beginnt die Regenperiode, schwellen die Bäche an, werden die [421] Pfade unwegsam, dann verbietet sich von selber der Aufenthalt an der Landstraße. Man bleibt „unten“ in Siloah, kocht Reis, Kaffee und spielt mit Würfeln um Einsätze, die oft aus halben und ganzen Piastern bestehen. Der Aufenthalt im Asyl bei Siloah ist für Europäer geradezu unmöglich, den Arabern mag er gar nicht so fürchterlich erscheinen. Luft und Licht haben nur durch eine niedrige Thür Zutritt, durch welche der Rauch ebenfalls seinen Abzug findet. Polster, Matratzen sind nirgends vorhanden, nur Lumpen, Stroh und Unrath starren uns entgegen, aber schließlich sieht es in den Hütten der Landbewohner in Palästina auch nicht besser aus.

Lange währt ein solches Leben natürlich nicht. Vier, fünf Jahre nach Ausbruch der Krankheit schwinden die körperlichen und mit ihnen die geistigen Kräfte. Patienten, welche nach zehnjährigen Leiden sterben, sind Seltenheiten. Indessen ist es gar nichts Ungewöhnliches, daß Männer und Frauen, die bis zum fünfzigsten Lebensjahre gesund ihrer Beschäftigung nachgehen konnten, dann doch noch von der heimtückischen Krankheit erfaßt werden. Bei weitem mehr sind wohl jene Kinder, Knaben sowohl als Mädchen, zu beklagen, die bereits in ihrem neunten und zehnten Jahre „der erstgeborene Sohn des Todes“ für sich reclamirt.

Aus der Hygiene-Ausstellung in Berlin:0 Eisboot (Matrosen in Korkwämsern).


Das Elend in unseren großen Welt- und Culturstädten, in den Metropolen Europas und Amerikas kann unter Umständen ein Stück Poesie besitzen, und öfters schlägt auch für den verzweifeltsten Proletarier darin die Messias-Stunde. Aber die Misère zu Siloah hat keinen Trost, keine Versöhnung, keine Erlösung und obendrein den entsetzlichen Fluch der unverschuldeten Pein. Es liegt ein fremder Ausdruck in den Zügen dieser aus der menschlichen Gesellschaft und vom eigenen Haus und Hof Gejagten. Auch die „Geflohenen“ – so nannte sie Mohammed – können zu Stunden lachen und scherzen, doch seltsam klangen stets diese Laute der Freude an mein Ohr. Denn nie verlieren sie die Gewißheit, daß Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr ihre Krankheit furchtbarer, ihre Leiden unsäglicher werden. Die Schmerzen in den gekrümmten und zitternden Gliedern, in den offenen und zuckenden Wunden, in der beständig brennenden Kehle erreichen die letzten Wochen vor dem Tode eine Höhe, die wir nicht kennen und die wir auch kaum verstehen, weil in diesem Stadium der Auflösung nur schwache, unarticulirte Laute über die vertrockneten Lippen dringen. Und endlich – nicht einmal die Gleichheit des Todes existirt für sie, denn abseits scharrt man sie ein, ohne daß auch nur ein Marabut oder Fakir ein Gebet für sie spricht, für sie – „die hoffnungslos Elenden“.
Theodor Hermann Lange.     




Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


„Als ich hörte, daß das Dorf in Brand gesteckt werden sollte,“ fuhr Raimund fort, „stand ich wie vom Donner gerührt, aber in der nächsten Minute raffte ich mich zusammen und wollte davonstürzen, der Vater vertrat mir den Weg.

‚Halt! Wo willst Du hin?‘

‚Dem Andreas nach, ich will ihn zurückholen! Das soll nicht geschehen, darf nicht geschehen, Du mußt den Befehl widerrufen, oder ich thue es an Deiner Stelle.‘

‚Du?‘ fragte er verächtlich. ‚Denkst Du, der Andreas wird Dir gehorchen, wenn Du meinen Befehl widerrufst?‘

‚So hindere ich ihn mit Gewalt, und wenn er nicht gehorchen will, so rufe ich es laut durch das Dorf, daß man sich vor dem Brandstifter hüten soll.‘

Mein Vater erbleichte, er faßte mit eisernem Griffe meinen Arm und hielt mich gewaltsam fest.

‚Bube!‘ knirschte er. ‚Willst Du Deinen eigenen Vater preisgeben? Soll das Schloß Deiner Ahnen niedergebrannt werden? Willst Du selbst umkommen unter den Knitteln und Aexten der Bauern? Ein recht ehrenvoller Tod für den Letzten unseres Hauses – und das Alles um einer elenden Scheune willen!‘

‚Aber so bedenke doch die furchtbare Gefahr für das Dorf,‘ flehte ich. ‚Der Wind weht stürmisch von der Geisterspitze; wenn das Feuer nun weitergetragen wird, wenn –‘

‚Bah, die Bauern haben Glück,‘ unterbrach er mich, ‚denen geschieht nichts. Was thue ich denn anders, als was sie thun wollen? Du siehst es ja, daß sie Feuer an meine Thore legen. Wir wollen doch sehen, wer es länger aushält – das Schloß oder das Dorf. Du bleibst, Raimund, und gehst mir nicht von der Seite!‘

Das war der tyrannische Befehl, mit dem er mich stets seinem Willen beugte, dem ich sonst widerstandslos gehorchte, jetzt aber flammte die Energie der Verzweiflung in mir auf.

‚Ich bleibe nicht!‘ rief ich. ‚Wenn Du die Verantwortung trägst, ich kann es nicht. Ich folge dem Andreas und halte ihn zurück.‘

Der Vater ließ meinen Arm los und trat zurück.

[422] ‚So geh denn, Feigling,‘ sagte er, mit einem Tone, der mein Blut sieden machte. ‚Du bist wohl froh, einen Vorwand zur Flucht zu finden, Du brachtest ja schon vorhin die Mauerpforte in Vorschlag. Du willst Dich vor allen Dingen in Sicherheit bringen, das sieht Dir ähnlich. Du bist kein Werdenfels, bist es nie gewesen. Geh, gieb Dein Stammschloß preis, verlaß Deinen Vater in der Todesgefahr und rette Dich nach dem sicheren Buchdorf, aber merke es Dir, einen Sohn, welcher in solcher Stunde mir und der Gefahr feige den Rücken kehrt, kenne ich nicht mehr!‘

Das war mehr, als ich ertragen kannte, ich sah es an seinem Gesicht, daß er mir wirklich die Feigheit, die Erbärmlichkeit zutraute, von der er sprach. Und wenn ich trotz alledem die That hinderte, so war mir vermuthlich die Rückkehr unmöglich, und es gab dann keine Rettung mehr für die Eingeschlossenen. Mein Vater fiel in die Hände der Wüthenden und das Schloß mit ihm.

Das alles stürmte auf mich ein. Frage mich nicht, wie ich gekämpft habe, es war die dunkelste Stunde meines Lebens. Wenn ich hinuntereilte, wenn ich der Menge draußen ein einziges Wort zuschleuderte, so war das Dorf gerettet, aber ich blieb und schwieg – und Werdenfels verfiel seinem Schicksal!“

Raimund hielt inne und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, die von kaltem Schweiß bedeckt war, erst nach einer Pause fragte er:

„Begreifst Du es nun, daß ich nicht Nein sagen konnte, als Du mich fragtest, ob ich mitschuldig sei an jenem Unglück?“

„Ja,“ sagte Anna leise.

Sie hob das Auge zu ihm empor, noch scheu und zögernd, aber nur einen Moment lang, dann warf sie sich mit leidenschaftlicher Innigkeit an seine Brust. Er verstand die Antwort auf sein Bekenntniß und wortlos, aber mit tiefem Aufathmen schloß er seine Braut in die Arme.

„Du weißt, wie entsetzlich jener Brand gewüthet hat, und um welchen Preis das Schloß gerettet wurde,“ fuhr Werdenfels endlich fort. „Selbst mein Vater stand entsetzt vor diesem schrecklichen, nicht gewollten Ausgang. Ich ertrug nicht den Anblick der rauchenden Trümmer, ich warf mich auf das Pferd und jagte davon, hinein in die Berge, bis das Thier erschöpft unter mir zusammenbrach. Ich fühlte keine Erschöpfung, die Flammen da unten im Thale jagten mich weiter, immer höher hinaus durch unwegsame Klüfte, bis in die Schneefelder der Geisterspitze. Erst als mich ringsum Eis und Nacht umgab, kam die ersehnte Ruhe. Die Eisjungfrau legte ihre kalte Hand auf meine Brust, und ich verlor die Besinnung.“

„Du hast eine schwere Krankheit davon getragen? Ich hörte es!“

„Ja, und als ich kaum genesen war, verließen wir Werdenfels, wo die bedrohlichsten Gerüchte umgingen. Die verzweifelnden Menschen, die Alles verloren hatten, ahnten den Zusammenhang, obgleich jeder Beweis fehlte.

Sie kannten meinen Vater, und mein Verschwinden unmittelbar nach dem Brande, meine schwere Erkrankung lenkten den Argwohn auf mich. Es hieß, der Vater habe die That befohlen und der Sohn sie ausgeführt. Ich hatte die Empfindung, als hätte ich das wirklich gethan!

Das Verhältniß zu meinem Vater war auch für mich unhaltbar geworden. Er sah es, daß ich das Geschehene nicht überwinden konnte, ich war ihm eine peinigende Erinnnerung daran, und so willigte er denn in die Trennung. Ich ging auf die Universität, ich ging auf Reisen und streifte freudlos und friedlos durch die Welt, bis ich Dich fand – um Dich wieder zu verlieren!“

„Warum schwiegst Du gegen mich?“ sagte die junge Frau vorwurfsvoll. „Warum mußte ich von Gregor hören, was nur Deine Lippen mir sagen durften? Dein langes Schweigen war es, was Dich am schwersten anklagte in meinen Augen.“

„Weißt Du, was es heißt, ein ganzes Leben voll Einsamkeit und Weh zu tragen und dann einmal, zum ersten Male glücklich zu sein? Ich fürchtete mein Glück und Deine Liebe zu verlieren mit jenem Bekenntniß, deshalb schob ich es immer wieder hinaus. Aber ich gebe Dir mein Wort darauf, Anna, noch ehe unser Bund unlöslich geschlossen wurde, hättest Du die volle, die ganze Wahrheit erfahren. Nun weißt Du Alles – nun richte mich.“

Sein Blick verschleierte sich wieder in der alten Weise, aber die großen strahlenden Augen, die auch ihm einst wie glückverheißende Sterne aufgegangen waren, sahen so hoffnungsfroh zu ihm auf, und die Stimme seiner Braut klang in voller, hingebender Zärtlichkeit:

„Nicht diesen düsteren Schatten mehr, Raimund! Laß ihn verschwinden. Du bist dem Leben zurückgegeben, und Dein Weib wird dieses Leben mit Dir theilen – ob es Fluch oder Segen bringt!“

Draußen war der letzte Rosenschimmer verglüht, und die Berggipfel ragten wieder starr und weiß empor, aber an dem noch lichten Abendhimmel, gerade über der Geisterspitze, stand groß und leuchtend ein Stern, er funkelte wie ein Diamant über dem schneegekrönten Haupte der Eisjungfrau. –

Die Nacht senkte sich auf das Gebirg nieder, aber sie kam nicht wie sonst schweigend und lautlos. Der warme weiche Hauch aus dem Süden wehte fort, und die Stimmen, die er aus dem Schlafe erweckt hatte, raunten und flüsterten jetzt nicht mehr, sie klangen laut durch die Nacht und das Dunkel.

Da krachte das Eis in den Bächen, und die so lange gefangene Welle blinkte wieder auf, die erstarrten, funkelnden Massen der Wasserfälle tropften und rannen von den Felswänden. In den Wäldern sank die Schneelast von den Zweigen, und die grünen Tannen regten die befreiten Wipfel und grüßten mit ihrem Wehen und Rauschen den Frühling.

Dort oben aber auf den Höhen lösten sich leise, wie von Geisterhand berührt, die weißen Schleier der Eisjungfrau. Sie begannen zu zerrinnen, zu zerfließen, tausend Quellen rieselten von den Gipfeln, mit jedem Schritte wachsend und anschwellend, tausend Bäche stürzten sich hinunter in das Thal, in den Bergstrom, der sie brausend und schäumend empfing. Aus jeder Felsschlucht, von jeder Klippe rauschte es nieder und stimmte ein in den vollen mächtigen Chor jauchzender Frühlingsstimmen.

Der Bann des Winters war gebrochen, die erlöste Natur rüstete zur Auferstehung – aber wenn die Eisjungfrau in das Thal niedersteigt, dann bringt sie Verderben!


Das alte unheilvolle Sprüchwort hatte Recht behalten! Jenes Frühlingserwachen war verhängnißvoll geworden und die Eis- und Schneemassen, die so plötzlich zerschmelzend von den Bergen niederrannen, brachten dem Thale Verderben.

Der Südwind hatte die Bahn gebrochen, jetzt kam der Frühling selbst, und jetzt begann der Kampf in der letzten Hochburg des Winters, im Hochgebirge, ein Kampf auf Leben und Tod.

Nicht umsonst hatten die Wasser ihre Banden gebrochen, nicht umsonst eilten sie in stürmendem Laufe dem Bergstrome zu. Er schwoll immer höher an, tobte immer wilder dahin, und die Fluth stieg drohender mit jeder Stunde.

Von allen Seiten zog dunkles Gewölk heran, schwerer, dichter Nebel senkte sich herab, und jetzt begannen die Schleusen des Himmels sich zu öffnen, und der Regen strömte Tag und Nacht, als sollte eine neue Sündfluth losbrechen. Was dem Thauwinde noch widerstanden hatte, das erlag diesen endlosen Regengüssen.

In den Thälern dampfte und gährte es von kämpfenden Wolken, die Lawinen donnerten nieder von den Höhen, die Wälder bebten und brachen unter den stürzenden Schnee- und Wassermassen, und jetzt machte sich auch der Sturmwind auf und sang sein brausendes Lied hinein in dies Toben der Elemente. Ueber dem Allem aber ragte die Geisterspitze auf, von flatternden Wolkenschleiern umwoben, und sandte immer wieder aufs Neue die tosenden Gletscherbäche in die Tiefe hinab und mit ihnen das Verderben!

Das Gebirg war fast unwegsam, und selbst die vorzüglich angelegte Bergstraße, die nach Felseneck führte, wurde von den Wildwassern theilweise überfluthet und zerrissen. Der Wagen des Freiherrn von Werdenfels hatte noch mit genauer Noth den Weg passirt, als er mit Frau von Hertenstein und deren Schwester von seinem Schlosse kam.

Anna hatte in der That auf der Rückkehr bestanden. Was ihr bisher das Recht gegeben hatte, in Felseneck zu weilen, hörte auf, nun Raimund völlig hergestellt war. Sie wollte die kurze Zeit bis zu der Vermählung, die in sechs Wochen stattfinden sollte, in Rosenberg zubringen. Der Freiherr hatte sich in Folge dessen gleichfalls zu der Rückkehr nach Werdenfels entschlossen, da es ihm nur von dort aus möglich war, seine Braut täglich zu sehen.

[423] Er wollte die beiden Damen nach Rosenberg geleiten, aber als man im Thale anlangte, zeigte es sich, daß die Brücke, die dort über den Strom führte, nicht mehr sicher war. Sie wankte bereits unter den anstürmenden Fluthen und man durfte es nicht wagen, sie zu passiren. Es blieb nichts übrig, als einstweilen nach Werdenfels zu fahren, das auf dem diesseitigen Ufer lag, die Verbindung mit der anderen Seite war vorläufig abgeschnitten.

Es war am Tage nach der Ankunft. Raimund befand sich mit seinen Gästen und mit Paul, der soeben von Buchdorf gekommen war, in dem Salon, wo das Bild des verstorbenen Freiherrn hing. Draußen wühlte der Sturm in den Baumwipfeln des Parkes, und der Regen schlug in schweren Tropfen gegen die Fenster. Aber das Sausen des Windes und das Plätschern des Regens wurden übertönt von einem Brausen und Toben, das aus furchtbarer Nähe herüberdrang. Es war der Strom, den man sonst nur dumpf in der Ferne hörte.

„Es sieht entsetzlich aus da unten in Werdenfels,“ berichtete Paul, der bei seiner Ankunft durch das Dorf gekommen war. „Das Wasser steigt mit jeder Minute und damit auch die Todesangst der bedrohten Menschen. Sie kämpfen mit der Energie der Verzweiflung gegen die andringende Fluth, aber ich fürchte, sie kämpfen vergebens.“

„Sie scheinen die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt zu haben,“ sagte Anna. „Noch gestern, als wir von Felseneck kamen, hieß es, das Dorf wäre nicht gefährdet, es sei das gewöhnliche Frühlingswasser, das nie ernstlichen Schaden anrichtet. Erst die Nacht muß das Unheil gebracht haben! Was meinst Du, Raimund?“

Raimund, der am Fenster stand, wendete sich langsam um.

„Ich meine, daß wir auf Alles gefaßt sein müssen,“ erwiderte er. „Ich habe ja stets den Frühling über in den Bergen verlebt, aber noch niemals habe ich ein so plötzliches Thauen der Schneemassen und ein so wildes Losbrechen der Bergwasser gesehen, und dazu dieser endlose Regen seit drei Tagen und Nächten! Bricht der Strom wirklich seine Ufer, dann ist das Dorf rettungslos verloren.“

Wie zur Bestätigung seiner Worte drangen jetzt dumpfe, eherne Klänge vom Dorfe herüber – Glockenklänge. Die Kirche von Werdenfels läutete Sturm, sie gab das Nothzeichen nach allen Richtungen hin.

„Wie schauerlich das klingt!“ flüsterte Lily ängstlich.

Auch Paul lauschte den unheimlichen Klängen, auf einmal aber stand er auf und trat zu dem Freiherrn.

„Raimund, die Werdenfelser haben es nicht um Dich verdient, daß wir uns noch um ihr Wohl und Wehe kümmern, und daß Du Dich nicht mehr im Dorfe zeigst, nach dem was geschehen ist, das ist selbstverständlich. Aber ich kann trotz alledem nicht ruhig hier im Schlosse bleiben, während die Gefahr da unten immer höher steigt. Laß mich hinunter! Ich will wenigstens sehen, wie es steht, und schicke Dir Nachricht herauf.“

„So geh!“ sagte Raimund kurz und ernst.

„Um Gotteswillen, Paul, willst Du Dich auch in Gefahr begeben?“ rief Lily erschrocken.

„Für mich ist gar keine Gefahr vorhanden,“ beruhigte sie Paul. „Der Einzelne kann ja hier überhaupt nicht eingreifen. Gott sei Dank, daß wenigstens mein Buchdorf sicher ist, da ist kein Wildwasser in der Nähe!“

Das junge Mädchen widersprach nicht länger, sondern hing sich an seinen Arm und begleitete ihn hinaus bis zum Schloßthor, während die beiden Anderen zurück blieben.

Anna hatte ihren Platz nicht verlassen, aber ihr Blick suchte Raimund, der wieder an das Fenster getreten war. Freilich, es war selbstverständlich, daß er im Schlosse blieb, seine Stirn trug ja noch das blutrothe Zeichen des Empfanges, den seine Werdenfelser ihm bereitet hatten, als er es einmal wagte, sich in ihrer Mitte zu zeigen. Wenn er das von Neuem versuchte, so hieß es vielleicht, der Felsenecker habe das Unglück auf das Dorf herabbeschworen, um sich zu rächen. Es war nur gerecht, wenn er die Verblendeten jetzt ihrem Schicksal überließ, und doch lag etwas wie Vorwurf in dem Blicke der jungen Frau.

„Gott gebe, daß die Gefahr vorübergeht!“ sagte sie gepreßt. „Wenn das Verderben wirklich hereinbricht, was wird dann aus dem unglücklichen Dorfe und – aus Gregor?“

„Der Pfarrer?“ fragte Raimund mit Bitterkeit. „Nun, der hüllt sich in sein unfehlbares Priesterthum und fordert seine Gemeinde auf, sich dem Willen des Herrn zu beugen. Werdenfels wäre geschützt und in Sicherheit ohne sein Eingreifen, das weiß er, so gut wie wir Alle, aber er hilft sich mit einem Gebete darüber fort.“

„Nein, nein, Du kennst Gregor nicht. Was er auch gethan, wie schwer er geirrt haben mag, er hat immer das unerschütterliche Bewußtsein seines Rechtes gehabt. Fällt das Dorf wirklich zum Opfer durch seine Schuld, so ist das für ihn mehr als Vernichtung.“

„Ich glaube, Du traust ihm mehr Herz zu, als er besitzt. Doch gleichviel, er hat mich so erbarmungslos gerichtet, nun mag er sich selbst richten.“

(Fortsetzung folgt.)

Bilder aus der Hygiene-Ausstellung.

1. 0Verkehr auf dem Wasser.0 (Mit Illustrationen von A. v. Roeßler.)

Die „kalte, unerbittliche Vernunft“ thront über den Entschlüssen und Thaten der Völker des neunzehnten Jahrhunderts. Praktisch! Praktisch! ist die Losung, welche in dem Leben der heutigen Tage allgemeine Geltung findet. Vergebens suchen wir nach den Aeußerungen jener Schwärmerei, die noch vor wenigen Jahrzehnten die Gemüther beherrschte und selbst im politischen Wirken den idealen Gefühlen die Oberhand verlieh. Kühl, vernünftig ist heute die Politik, welche die Diplomaten und die Völker zur Richtschnur ihres Handelns wählen, ein eisiger Verstandeshauch weht durch die moderne wissenschaftliche Forschung, ein frostiger Realismus beherrscht selbst das blüthenreiche Gebiet der Künste. Fast scheint es, als ob in diesem großen Kampfe um’s Dasein, welchen die Völker und Menschen führen, kein Raum da wäre für die milderen Regungen des Herzens.

So wehklagen wenigstens die Feinde des Fortschritts, so greifen sie an die Resultate der freien Forschung, welche die Concurrenz, den Kampf um’s Dasein und ähnliche Gesetze als leitende Mächte in der Entwickelung der Menschheit erkannt hat, und indem sie sich für die alleinigen Apostel der wahren Menschenliebe ausgeben, suchen sie vor den Augen der Menge den freien Geist der Neuzeit ob seiner Herzlosigkeit in den Staub herabzuziehen.

Aber sie sind in blindem Wahne befangen, und schwarze Verleumdung ist ihre Rede. Denn niemals wahrlich hat die Nächstenliebe schönere Werke gezeitigt, als in unserem Jahrhundert, niemals wehte so hoch über allen Völkern des Erdenrunds das reine Panier der Barmherzigkeit.

Ist es denn nicht diese von freier Geistesforschung beherrschte Zeit gewesen, welche durch das Genfer Kreuz die Schrecken der blutigen Kriege milderte? Verdanken wir ihr nicht die zahllosen [424] Asyle für Obdachlose, die Volksküchen für Hungrige, die mit allen möglichen Hülfsmitteln glänzend ausgerüsteten Lazarethe für Kranke, die Spitäler für Blinde und Taube? Hat nicht dieses Jahrhundert den Wahnsinnigen, welche frühere verblendete Zeiten dem Scheiterhaufen oder den Peitschenhieben eines rohen Aufsehers auslieferten, jene vom echten Geist der Humanität durchwehten Irrenhäuser geöffnet?

Wohl thront heute die Vernunft über unseren Entschlüssen und Thaten, aber mit ihrer Herrschaft ist das Bewußtsein der Menschenwürde zur volleren Reife gelangt, und mit ihm hat die Nächstenliebe nur um so festere Wurzeln in den Herzen der Aufgeklärten geschlagen.

Ein Gang durch die Hygiene-Ausstellung in Berlin führt uns auf jedem Schritt laute Verkünder dieser Ansicht entgegen. Schutz für Kinder, Schutz für Arbeiter, Rettung für Verunglückte, das sind die Schlagwörter, die uns von allen Seiten entgegenleuchten. Es wäre in der That lehrreich, neben dieser Ausstellung eine andere des Rettungswesens in einem der früheren Jahrhunderte zu errichten, man würde dann vergleichen und seltsame Schlüsse ziehen können. Man würde zu der Ansicht gelangen, daß die Barmherzigkeit und Opferfreudigkeit früherer Zeiten zu denen der heutigen Tage sich nicht anders verhalten, wie die Almosenspenden eines Kindes oder von Mitleiden gerührten Jünglings zu der thatkräftigen Hülfe des besonnenen Mannes. Durch alle die Werke des Samariterthums, gleichviel welchen Namen sie tragen, welche uns die Berliner Ausstellung vorführt, zieht sich ein Gedanke: das berechnende Nützlichkeitsprincip, das mit den geringsten Mitteln die größten Erfolge zu erzielen strebt. Darum ist heute der Gang unter den Bogen der Berliner Stadtbahn neben dem Lehrter Bahnhof auch vom allgemein menschlichen Standpunke so überaus lehrreich, denn er zeigt uns die Werke der Moral des neunzehnten Jahrhunderts, von dem man behauptet, daß es sich von aller Moral losgesagt hat und die Völker der Verwilderung des Herzens zutreibt – diese Ausstellung ist in der That eine gewaltige Rechtfertigungsschrift für unsere Zeit, ein Buch, welches auf jeder seiner Seiten die Idealisten und vom Weltschmerz ergriffene Schwärmer Lügen straft.

Eisleiter.

Schiffsbank mit luftdichten Ballons als Rettungsboot für sechs Personen.

Rettungsboot für zwölf Personen. Hergestellt aus Gitterwerk und luftdichten Kasten, welche für gewöhnlich als Schiffsbänke dienen.

Blättern wir in demselben!

Wir führen unsere Leser zunächst vor die Gruppe, welche den officiellen Titel: „Verkehr auf dem Wasser“ trägt. Da fällt uns sofort in’s Auge die interessante Ausstellung der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“. Ihr Name ist wohlbekannt im deutschen Vaterlande, denn wer kennt nicht ihre Entstehungsgeschichte, wer nicht die Heldenthaten ihrer Mitglieder? Wem sollte es nicht bekannt sein, daß diese Gesellschaft durch ihre Vertreter der wahren Nächstenliebe zum Siege verhalf unter den rauhen Bewohnern der Seeküsten, deren Eltern noch einen „günstigen Strand“, das heißt möglichst viele gestrandete Schiffe, in ihren Kirchen vom Himmel erflehten? Was wir dort sehen, ist uns schon von früher her zum großen Theil bekannt. Da sind die Rettungsboote, die Schwimmgürtel, die Bojen, die wir sofort nach ihrer Erfindung unsern Lesern in Bild und Wort vorgeführt haben.

Aber aus der Masse dieser Rettungsapparate taucht bei näherer Betrachtung manches Neuere und weniger Bekannte auf, und diesem wollen wir vornehmlich unsere Aufmerksamkeit schenken.

Ein alter Bekannter winkt uns entgegen: ein Rettungsboot, aus cannelirtem Eisen gebaut und zum Rudern und Segeln eingerichtet. Wir wissen ja schon, daß das Material, aus welchem dieses Fahrzeug gebaut ist, sich von dem Holze, aus dem man früher alle Böte zimmerte, durch viele Vorzüge unterscheidet. So ein hölzernes Boot wird bei [425] trockener Witterung im Schuppen manchmal leck, das eiserne dagegen erträgt Trockenheit und Hitze, ohne irgend einen Schaden davon zu tragen, und dabei ist es merkwürdiger Weise leichter und selbstverständlicher Weise widerstandsfähiger als sein hölzernes Brüderlein.

Wir mustern seine Ausrüstung. Die Pumpe im Boote ist uns längst bekannt. Was bedeutet aber der Sack aus grobem Segeltuche? Der sachkundige Cicerone, der uns auf diesem Wege begleitet, sagt:

„Das ist der Lenzsack.“

„Wie? Lenzsack?“ fragen wir.

Der von den Seewinden und Seereisen gebräunte Herr scheint keine Lust zu haben, sich mit uns in eine lange Unterhaltung einzulassen.

„Der Herr sind ein Schriftgelehrter,“ meint er, nicht ohne Malice auf unsere Landrattenwenigkeit herabblickend, zieht einen Druckbogen aus der Tasche und fügt hinzu: „Hier ist auch der Lenzsack beschrieben.“

Für Jeden zum Gebrauch. Bekanntmachung. Zur Rettung in Gefahr. R. Henkel XA. ER

Rettungsvorrichtung in Seebädern.

Wir nehmen mit höflicher Verbeugung das Blatt entgegen und sehen: es ist die „Hygiene-Ausstellungs-Zeitung. Organ für die Interessen der öffentlichen Gesundheitspflege und des Rettungswesens in Deutschland“.

Beim Anblicke eines neuen Blattes vergißt der Journalist alles Andere und versetzt sich, einer höheren Macht der Geistesverwandtschaft unter den Ideen folgend, in die Lage seiner ihm unbekannten oder bekannten Collegen.

„Glückliche Zeitschrift,“ denken wir uns, „deren Lebenslauf so regelrecht geordnet ist. Der Verleger bestimmt im Voraus nicht nur ihren Geburtstag, sondern auch die Stunde, in der sie zum letzten Male hinausgetragen wird. Mit dem Schlusse der Ausstellung hat auch für sie die Glocke geschlagen, und der Redacteur geht, ohne dem ausgelösten Unternehmen eine Thräne nachzuweinen, ohne an dem hochwichtigen 1. October, dem Beginne der Winter-Lese-Saison, sich um die Zahl der Abonnenten zu kümmern.“

Da fällt inmitten dieser Betrachtung unser Blick wieder auf das Stück Segeltuch, und dieses gemahnt uns an die Berichterstattungspflichten, die wir auf uns genommen, und in dem Wirrwarr und Labyrinth der Gehirnzellen tönt wieder die Frage:

„Was ist der Lenzsack?“

Da lesen wir nach kurzem Suchen in der genannten Zeitschrift

„Für ganz schwere Fälle, wenn das Boot vor dem Wind und hoher See läuft, ist auch noch der Lenzsack oder Schlepper im Boot; es ist dies ein kegelförmiger Sack aus starkem Segeltuch von der Gestalt eines Zuckerhutes, an der Mündung etwa 60 Centimeter weit und 1,4 Meter lang. Er dient dazu, das Boot der Länge nach vor der See zu halten und damit zu steuern, wenn durch die hohe See das Hintertheil des Bootes so gehoben wird, daß Steuerreemen oder Steuerruder aus dem Wasser kommen; hätte man dann keinen Lenzsack, so würde das Boot von der See quer geworfen und übergerollt werden. Der Lenzsack wird, mit der Oeffnung nach vorn, an einem starken Tau geschleppt, während eine dünne Leine an dem spitzen Ende befestigt ist. Da beim Schleppen die Mündung nach vorn ist, so füllt sich der Sack mit Wasser, leistet einen beträchtlichen Widerstand und hält dadurch das Boot vor der See. Wirft man das stärkere Tau an der Mündung los und holt die dünne Leine an dem spitzen Ende ein, so wird der Sack umgekehrt, klappt zusammen und kann mit leichter Mühe in’s Boot geholt werden. Auch ist der hinter dem Boote schleppende Sack ein vorzüglicher Brandungsdämpfer, indem sich die hinter dem Boote aufrollende See stets daran bricht. Seit Einführung der Lenzsäcke haben die Vormänner die bisher zum Inventar der Rettungsböte gehörenden Oelkannen im Boot als überflüssig erklärt.“

Wir scheiden nun von dem unscheinbaren und doch so wichtigen Tuchsack und gedenken der Oelkrüge, deren die Meereswellen besänftigende Macht noch vor Kurzem mit so großem Pomp gepriesen wurde und die in unserer so rasch vorwärtsschreitenden Zeit schon einen Concurrenten gefunden.

Die Mannschaft des Rettungsbootes wird auch mit dem Cordes’schen Gewehre ausgerüstet, aus welchem sie keine Kugeln, sondern Leinen abschießt, durch welche zwischen dem Boot und dem Schiff eine Verbindung hergestellt wird, wenn das erstere an das Wrack nicht gelangen kann. Die Wurfweite des Gewehrs beträgt 70 Meter.

In neuester Zeit hat man auch floßartige Rettungsböte construirt, welche gewöhnlich als Bänke auf dem Schiffe benutzt und im Augenblicke der Gefahr über Bord geworfen werden können.

[426] Unsere Abbildungen auf Seite 424 veranschaulichen uns die Gebrauchsweise dieser Schiffsbänke. Der Künstler zog es vor, die ausgestellten Objecte so zu zeichnen, wie sie im wirklichen Leben angewandt werden, anstatt einfache Abbildungen der Modelle etc. zu liefern, und unsere Leser werden ihm wohl dafür Dank wissen. Auf der Ausstellung sind z. B. die Modelle der Schiffsbänke kleinem Kinderspielzeug nicht unähnlich, und erst die durch das Bild angeregte Phantasie gewährt uns einen besseren Einblick in den hohen Nutzen derselben.

Ein anderes Rettungsboot, welches nicht allein mit dem flüssigen, sondern auch mit dem festen Element der See zu kämpfen hat, ist das Eisboot. Oft kommt es vor, daß durch ein plötzlich eintretendes Eistreiben die Fischer von der Küste abgeschnitten und in die See hinausgetrieben werden. Da war es bis jetzt für die Mannschaften der Rettungsstationen mit sehr großen Schwierigkeiten verknüpft, Eismassen mit gewöhnlichen Rettungsböten zu überwinden. Für solche Fälle wird nun das Eisboot verwendet. Wie uns unsere Abbildung (Seite 421) zeigt, ist dasselbe mit einem Schlitten versehen, sodaß es durch Menschen- oder Pferdekräfte auf festem Eise leicht fortbewegt werden kann. Es ist ebenso wie die anderen Rettungsböte aus cannelirtem Eisenblech gebaut und wiegt im Ganzen 750 Kilogramm.

Außer Proviant, Compaß, Apotheke, Fangleinen etc. ist dieses Boot noch mit zwei Paar Eissporen, zwei Eisstampfen, einem Flaschenzug und Hau-Anker ausgerüstet. Soll das Boot nach vollbrachter Rettungsthat aus dem Wasser wieder auf das Eis gebracht werden, dann wird es mittelst des in das Eis eingehauenen Ankers und des Flaschenzuges in’s Trockene hinaufgezogen.

Verlassen wir aber für einen Augenblick die Seeküsten und wenden wir uns den Gewässern des Festlandes zu. Auch hier fordern jahraus jahrein die Flüsse und die Teiche ihre Opfer. Das Rettungswerk der Verunglückten ist namentlich im Winter besonders schwierig. Selbst dem besten Schwimmer gelingt es oft nicht, wenn er einmal auf dem Eise eingebrochen ist, sich wieder emporzuarbeiten. Die Eiskante, an der er sich festklammern will, bricht nur allzu oft ab, und die schwere Winterkleidung vermehrt, da sie bald immer mehr Wasser ansaugt, in ungünstigster Weise das Gewicht des Körpers. Zu den verschiedenen projectirten Rettungsmitteln in dieser Gefahr, wie den Holzkugeln und Leinen, kommt als letztes Glied in der Kette noch die Eisleiter.

Sie ist aus leichtem Holz gearbeitet und soll dem Eingebrochenen auf dem Eise zugeschoben werden. Ihr vorderer Theil ist so gebaut, daß er, sobald die Leiter an die freie Stelle im Eise gelangt, von selbst sich senkt und so eine Trittleiter bildet, auf welcher der Verunglückte in gewissem Sinne bequem hinaufsteigen kann. Diese Eisleiter kann auch an den Seeküsten Verwendung finden, und unser Bild (Seite 424) veranschaulicht uns einen derartigen Rettungsact im größeren Stil. Den Verunglückten waren schon vorher Schwimmgürtel zugeworfen worden, hierauf wurde rasch die Eisleiter auf dem zweirädrigen, am Ufer haltenden Karren herbeigeschafft und die Rettung gelingt in der geschilderten Art.

Die Eisleiter dürfte bei uns auf Schlittschuhbahnen nicht fehlen. Vereine und Behörden sollten ihr Augenmerk auf dieses einfache, aber praktische Rettungsinstrument richten.

Wir machen jetzt vor einem Gerüst Halt, wie es durch unsere letzte Abbildung (Seite 425) veranschaulicht wird. Es ist mit verschiedenen Rettungsapparaten behangen. Um seinen Zweck und Nutzen zu begreifen, müssen wir uns an den Strand irgend eines Seebades mitten unter das aus Curgästen bestehende Publicum versetzen. Daß auch dort Unglücksfälle vorkommen, ist allgemein bekannt. Die meisten von ihnen werden dadurch verursacht, daß die Badenden bei ihren Schwimmübungen plötzlich auf tiefere Stellen gelangen und, sobald sie keinen Grund unter den Füßen fühlen, die Besinnung verlieren. Um ihnen aus dieser gefährlichen Situation zu helfen, sollen nun am Badestrande jene Gerüste aufgestellt werden, auf denen sich allerlei Rettungsapparate befinden: „Für Jeden zum Gebrauch“ und „Zur Rettung in Gefahr“.

Da sehen wir neben den Rettungsringen und Wurfkugeln mit Leinen zwei am Fuße der Bretterwand angebrachte leichte Stangen, mit deren Hülfe man die Verunglückten auf seichtere Stellen ziehen kann. Das links unten hängende Sprachrohr dient zur Verständigung mit den Badenden auf weitere Entfernungen.

In der Mitte der Bretterwand ist ein Raum freigelassen worden für Bekanntmachung der Ortsbehörde zum Schutze der Einrichtung und für Anweisung zur Behandlung scheinbar Ertrunkener.

Die Pflicht der Badewärter und -Wärterinnen ist es ferner, die Rettungsapparate vor dem Beginn der Badestunden an den richtigen Ort zu hängen und dieselben nach Ablauf derselben aufzubewahren, und im Interesse des Publicums selbst liegt es endlich, sich mit dem Gebrauch der Apparate vertraut zu machen, was übrigens bei den oft langweiligen Strandpromenaden eine recht interessante Unterhaltung abgeben dürfte.

Unser Führer durch die Ausstellung erklärt uns noch den Gebrauch des danebenstehenden Raketenapparates, dessen einer Theil, die Anker-Raketen, weniger bekannt ist.

Ist bei hoher See der Abgang des Bootes vom Strande nicht zu erreichen, so schießt man gegen die anprallenden Wogen eine Rakete ab, an deren Ende eine Leine mit einem Anker befestigt ist. Sobald der Anker sich auf dem Meeresgrund festgesetzt hat, ziehen die vordersten Männer im Boote die Leine an, und während die übrigen ihre Ruder in Bewegung setzen, stößt das Fahrzeug der stürmenden See zum Trotz vom Lande ab.

Wir schließen hiermit unsern Gang durch diesen Theil der Ausstellung. Unser Bericht macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit, denn wir haben nur das hervorgehoben, was gerade von allgemeinem Interesse zu sein schien und bis jetzt in den Spalten dieses Blattes nicht beschrieben wurde.

Dem Fachmann bietet diese Gruppe ein reiches Material zu vergleichenden Studien, wie überhaupt die Hygiene-Ausstellung erst dann voll gewürdigt werden und wirklichen Genuß bieten kann, wenn man sich in das Studium der einzelnen Theile vertieft.

Nur Eins möchten wir noch hervorheben. Alles, was wir in dem imposanten Krystallbau, unter den gewölbten Steinbögen der Stadtbahn und in den zahlreichen aus grünem Gebüsch hervorschauenden Pavillons erblicken, ist das Resultat der deutschen Arbeit und der deutschen Erfinder.

Die Schöpfer der Ausstellung können mit Stolz auf ihr Werk herabblicken. Ein ernstes Wollen und Treiben blickt uns dort von allen Seiten entgegen. Ein großartiges Bild des Kampfes der Menschen gegen die vernichtende Gewalt der wildtobenden Elemente entrollt sich hier vor unseren Augen, und wir verzagen nicht bei seinem Anblick, denn wir sehen, wie Sieg auf Sieg errungen wurde, und unwillkürlich steigt in unseren Herzen empor der Hoffnungsstern einer glänzenden, glücklicheren Zukunft.




Zur Genealogie der Familie von Humboldt.

Von J. Loewenberg.

Man mußte seit der Enthüllung der Denkmäler Wilhelm’s und Alexander’s von Humboldt so viel Irriges über die Verwandtschaftsverhältnisse ihrer Familie hören und lesen, daß es zweckmäßig erscheint, diese genealogischen Angaben nach den zuverlässigsten Quellen zu berichtigen und durch einige ältere wenig bekannte Nachrichten zu erweitern:

Die zeitherigen Biographen der gefeierten Träger des Namens Humboldt lassen sie von einem altadligen Geschlechte in Hinterpommern, aus dem Hause Zamenz oder Zemmenz im Fürstenthume Camin abstammen, das hier im Neustettiner Kreise Güter in alterblichem Besitze gehabt habe. Berghaus läßt ihre Ahnen schon „in frühen Zeiten, in dem Kampfe der Deutschen gegen die slavischen Völker, mit dem Flamberg fechten“. Pott erklärt den Namen Humboldt etymologisch als gleichbedeutend „wie ein sagenhafter, in’s Riesenmäßige ausgezogener Hune“ – französische Biographen lassen den Vater Wilhelm’s und Alexander’s von Humboldt so reich gewesen sein, daß er dem Könige die Kosten des Siebenjährigen Krieges wesentlich tragen half – und endlich war es auch üblich geworden, den Namen Humboldt schon früh mit dem Barons- oder Freiherrntitel zu prädiciren.

Ob man das dioskurische Brüderpaar Wilhelm und Alexander von Humboldt dadurch zu ehren glaubte und sonderlich geehrt hat, bleibe [427] dahingestellt. Man wird indeß weder die historische Wahrheit noch die schuldige Pietät verletzen, wenn man solchen Mythen, solchen und ähnlichen prüfungslos bis auf die Druckfehler aber- und abermals abgeschriebenen Fabeln nicht ohne Weiteres beipflichtet.

Die folgenden Auseinandersetzungen dürfen umsomehr Interesse erregen, als sie charakteristische Einblicke in das Leben früherer Culturepochen gewähren.

Die ältesten zusammenhängenden genealogischen Nachrichten über die Familie Humboldt finden sich in Krohne’s „Allgemeines teutsches Adelslexicon“ vom Jahre 1774. Aus ihm schöpften alle bisherigen Biographen. Ihr Inhalt lautet im Wesentlichen:

„Erdmann Ludwig von Humboldt war kurfürstlich brandenburgischer Rath. Sein Sohn Conrad war brandenburgischer Legationsrath auf einer Gesandtschaftsreise zu Paris, nachher königlich preußischer Rath und Amtshauptmann der Starostei Draheim und Sabin, starb 1723. Sein Sohn Hans Paul fing seine Kriegsdienste unter dem adeligen Cadettencorps in Kolberg an; 1706 ward ihm vor Turin, wo er als Capitain im Felde stand, der Fuß zerschossen; hierauf pensioniert, heirathete er 1713 die Tochter des königlich preußischen Generaladjutanten von Schweder und starb 1740 auf seinem Gute Zeblin.

Von seinen fünf Kindern ist Alexander Georg der Vater unsers Brüderpaars.“

Diese Nachrichten können wesentlich berichtigt und erweitert werden, wenn auch die älteren classischen Gewährsmänner für die Geschichte des pommerschen Landes und Adels, Gundling, Caspar Abel, Brüggemann, über die Familie von Humboldt und ihren angeblichen Grundbesitz nur dürftige Data enthalten.

Aber bleibt auch der alterbliche Grundbesitz und das Alter des Adels der Familie von Humboldt ziemlich unerwiesen, so finden sich doch ausführliche und zuverlässige Nachrichten von mehreren Trägern des Namens, die zu den tüchtigsten und biedersten Männern der Zeit gehörten.

Ob Heinrich Humboldt, 1442 Kossät in Grunow im Angermünder Kreise, schon zu den Ahnen unserer Humboldt zu zählen, ist nicht festgestellt. Sicher aber gehört zu ihnen Johann Humboldt, der während der schwersten Zeiten des Dreißigjährigen Krieges gelebt hat und als Bürgermeister in Königsberg in der Neumark am 11. Februar 1638 im dreiundsechszigsten Lebensjahre gestorben ist. Von seinem Sohne Clemens erzählt zunächst Georg Christ. Gutknecht, Prediger zu Hermsdorf und Wulkow, in seiner ungedruckten Chronik von 1400 bis 1750, Blatt 96:

„Der Churf. Brandbrg. Amtmann auf Neuhoff starb 1650, 2. Januar, Clemens Humpolt, und ward mit seiner Tochter, so etliche Tage nachher erblasset, auf einem Todtenwagen nach Virchow abgeführt und in der Kirche begraben. Auf sein Begehren und der Wittwe Anhalten ward die Gedächtnißpredigt über 2. Tim. 4, 6. in Stettin gedruckt. Er wollte zwar studiren, war auch schon 1 Jahr in Frankfurt, allein wegen der schwierigen Kriegszeiten, da sein Vater, Consul in Königsberg in der Neumark, durch vielfältige Einquartierung, unerträgliches Contribuiren, unzählige Durchzüge, plündern und rauben dergestalt enerviret, daß er zur Continuirung seiner Studien ihm keine sumptus necessarios suppeditiren (nöthigen Aufwand beschaffen) können, hat er nolens volens den Studiis valediciren (dem Studium entsagen) müssen. Unterdessen hat er sich beim Stadt Syndico in Crossen 2 Jahr als Manuensis lassen gebrauchen, bis er nach und nach zum Amtmann recommandiret worden. War fromm und mildthätig, die Predigten hat er mit sonderlicher Devotion angehört, alle und jede in ein Reinbüchlein zum fleißigsten aufgezeichnet und nicht eher zu Hause gespeiset, bis solche wieder aufs reine bracht, wie denn nach seinem Tode 5 unterschiedliche Bücher sehr nett und sauber eingenäht gefunden, darin er vor 5 Jahren die dispositiones mit sonderlichen Fleiß geschrieben. Wenn er irgendwo den Kirchendienern dienen können, so war es seine höchste Lust und Freude, hat 3 Kirchen ein rühmliches legiret und zum bau und wiederanschaffung der geraubten Glocken verehrt, war glimpflich, dienstfertig und bescheiden, hatte ein teutsches, treues Herz, hat für die Unterthanen Tag und Nacht gereiset, geschleppt und mit Fleiß dahin gesehen, daß ihnen kein Unrecht geschehe, darumb die begränzten Nachbarn ihm oft nach Leib und Leben getrachtet und Er manche Nacht geflohen und seinen Tod causirt, alt 45 jahr.“

Es ist zu bedauern, daß die Kinder dieses Clemens Humpolt nirgends namentlich erwähnt werden.

Nur von Conrad Humboldt ist es zweifellos, daß er ein Sohn des Clemens gewesen. Ueber seine Amtstüchtigkeit geben die Hofkammer-Acten im königlichen Ministerialarchiv, die Starostei Draheim betreffend, ausführliche Auskunft. Er trat als energischer Mann mit unbeugsamer Strenge und Ausdauer der willkürlichen Anmaßung der Nachbarn, namentlich der Manteuffel,[1] entgegen.

Von Hans Paul Humboldt bemerkt König ausdrücklich, er sei „filius unicus“ von dem Draheimer Amtmann Conrad gewesen, und ergänzt die Nachrichten Krohne’s dadurch, daß er l703 als Fähndrich zum Heiden’schen und bald darauf zum Canitze’schen Regiment gekommen und endlich als Capitain, mit 8 Thaler Pension monatlich, in der Gegend von Köslin gelebt habe. Von ihm hat sich auch noch das Immediatgesuch um die Renovirung, richtiger wohl um die Verleihung des Adels erhalten. Es lautet buchstäblich:

 „Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König,
 Allergnädigster Herr!

Nach geschehener Eingabe umb die confirmation des Adels zu erhalten, habe ich mich nach Stolp zum Platenschen Regimentsfeldscherer begeben müssen, welcher nach einer 4 Wochen Bettlagerung mir 1 paar Knochen, wie ein 16 ggr. Stück Groß aus der blessur geschnitten, so daß nunmehr im Stande bin nicht einen Fuß aufzusetzen. Alß ich aber dennoch wegen meiner lieben Kinder die Sache gern zu Ende bringen wollte, So wünsche Ew. Königl. Majestät Allerhöchste Person ich allergehorsambst und allerunterthänigst, meinem vorigen gethanen petito Allergnädigst Gehör zu geben, den Adel auf’s Neue zu ertheilen, auch das dabey gefügte Wappen zu conferiren.

Ich getröste mich Allergnädigster Erhörung und verbleibe bis an den letzten Bluts Tropffen in tiefster Submission

 Ew. Königl. Majestät
 Allerunterthänigster
Stolpen, 16. May 1738.  Hans Paul Humboldt.“


Hiernach scheint die anerkannte Adelsprädicirung nicht über das Jahr 1738 hinauszugehen, und wo sie früher vereinzelt vorkommt, nur conventionell gewesen zu sein wegen der hohen Stellung, die der Prädicirte einnahm.

So war es auch noch 1830 zweifelhaft, ob Wilhelm und Alexander von Humboldt der Barons- oder Freiherrntitel gebühre.

Von den Kindern Hans Paul Humboldt’s starben mehrere schon im Kindesalter, ihn überlebten nur vier Söhne und eine Tochter.

Einer seiner Söhne, Alexander Georg von Humboldt, geboren 1720 zu Zamenz in Pommern, ist der Vater unsers Brüderpaares Wilhelm und Alexander. Von ihm berichtet der Geograph Büsching:

„Als er eine sehr gute Erziehung im väterlichen Hause genossen hatte, ging er 1736 in preußische Kriegsdienste, unter des Generallieutenant von Platen Dragonerregiment. Ob er sich nun gleich in drei Kriegen zu seiner Ehre hervorthat, so hatte er doch keine hinlängliche Gelegenheit, seine Talente zu zeigen und dadurch emporzusteigen; daher verließ er diese Dienste 1762 als Major. Der König ernannte ihn 1764 zum Kammerherrn und setzte ihn an den Hof des Prinzen von Preußen. 1766 reizten ihn die vorzüglichen Eigenschaften der Frau Marie Elisabeth von Colomb, verwittweten Freifrau von Hollwede, sich mit derselben zu vermählen, aus welcher Ehe zwei Söhne vorhanden sind. Schon 1769 legte er die Stelle am kronprinzlichen Hofe nieder und lebte von dieser Zeit zwar ohne Amt, aber nicht ohne nützliche Thätigkeit. Seine Güter in der Neumark hatte er verpachtet, aus seinem Wohnsitze Tegel suchte er aber zu machen, was durch Kunst daraus werden konnte, und der Augenschein lehrt, daß er ein Mann von Verstand und Geschmack gewesen ist. Für einen solchen haben ihn auch Hohe und Niedere im Umgange erkannt und deswegen hochgeachtet. Er war auch ein großer Menschenfreund, leutselig und wohlthätig. Sein Tod, welcher am 6. Januar 1779 im 59. Jahre seines Alters erfolgte, ward daher von Jedermann bedauert.“

Die „Vossische Zeitung“ vom 9. Januar klagt:

„Nicht nur die Edelsten des Staats, auch die Menschheit hat in ihm einen Freund und das Vaterland einen Patrioten verloren.“

Aus der Ehe des Majors von Humboldt mit der verwittweten von Hollwede entsprossen eine Tochter, die schon früh starb, und das gefeierte Brüderpaar Wilhelm und Alexander.

[428]

Blätter und Blüthen.


Der goldgelbe Hausfreund als Sprecher. Es ist erstaunlich, in welcher regsamen Weise die Liebhaberei für den Kanarienvogel im Allgemeinen und für den vorzüglichsten Harzer Sänger im Besondern sich in der Gegenwart entwickelt hat. Die „Gartenlaube“ brachte im Laufe der Zeit ja bereits mehrfach bezügliche Schilderungen, und man darf wohl annehmen, daß die außerordentlich große Zahl der Liebhaber des köstlichen Canariengesanges über den Vogel ausreichend unterrichtet sei. Wer außerdem, mit Rücksicht darauf, daß man nur dann die rechte, volle Freude an einem Vogel wie an jedem lebenden Thiere überhaupt haben kann, wenn man sein ganzes Wesen, alle Eigenthümlichkeiten und namentlich seine Bedürfnisse genau kennt und die letzteren zu befriedigen weiß, sachgemäße Belehrung sucht, kann in einer in den letzten Jahren staunenswerth reichlich emporgeschossenen Literatur sicherlich volles Genüge finden; es giebt Bücher, welche den Canarienvogel schildern, zum Preise von 25 Pfennig bis 2 Mark und sogar Mark 3,50.

Diese Literatur bestrebt sich, neben der praktischen Anleitung zur Pflege, Zucht und Gesangsausbildung, auch die Vorzüge des Canarienvogels immer mehr zur Geltung zu bringen, und man darf ohne Uebertreibung sagen, daß das Studium des Canariengesanges gewissermaßen einen kleinen Wissenschaftskreis bilde.

Neuerdings ist nun aber eine ganz absonderliche Eigenthümlichkcit des Vogels hinzugekommen, welche ihn noch interessanter erscheinen läßt.

In der Londoner Zeitung „The Times“ war im vorigen Jahre kurz angegeben, daß ein Schäfer dort einen sprechenden Canarienvogel besitze, und der Redacteur hatte hinzugefügt, es sei zweifellos der erste Fall, in welchem man auch bei dieser Vogelart Sprechbegabung festgestellt habe. Die letztere Behauptung war indessen keineswegs richtig, denn schon vor vielen Jahren hatte ein Pastor in Braunschweig von einem solchen so bevorzugten Vogel erzählt, später war über einen zweiten in Berlin im „Journal für Ornithologie“ und in meiner Zeitschrift „Die gefiederte Welt“ berichtet, und über einen dritten hatte die Frankfurter „Didaskalia“ Nachricht gegeben. Immerhin aber ist das Vorkommniß offenbar ein so hochinteressantes, daß es sich wohl der Mühe verlohnt, über einen solchen Vogel zu berichten, und umsomehr war ich erfreut, als sich mir kürzlich die Gelegenheit bot, einen sprechenden Canarienvogel in Berlin selber zu hören und zu sehen.

Herr Geheimrath Gräber, Prinzenstraße 99, gab bereitwillig die freundliche Erlaubniß zum Besuch, als ich aber erschien, empfing mich die Frau Geheimräthin mit dem Bedauern, daß ich wohl vergeblich gekommen sein werde, denn der Vogel scheine heute nicht sprechen zu wollen.

Vor drei Jahren, erzählte sie, sei sie in den Besitz des Vögelchens gelangt, welches damals noch ganz jung gewesen sei, sich aber recht kräftig und zum fleißigen Sänger entwickelt habe. Dann, wahrscheinlich in Folge des naturgemäßen Federwechsels, habe er aufgehört zu singen und lange Zeit geschwiegen und währenddessen habe sie oft zu ihm geplaudert:

„Singe doch, mein Mätzchen, wie singst du? Widewidewitt!“

Während die Dame mir diese Auskunft gab und sich mit den letzterwähnten Worten dem Vogel selbst zuwandte, fing er an eifrig zu schmettern und mitten im Gesange erklang es:

„Widewidewitt, wie singst du, mein Mätzchen?
Singe doch, mein Mätzchen, widewidewitt!“

Immer und immer wiederholte er diese Worte, und klarer und deutlicher konnte ich sie verstehen, bis die Pflegerin zuletzt lachend meinte, es schiene, als ob er sich vor mir so recht hören lassen wolle, denn so viel und eifrig habe er seine Kunst seit langer Zeit nicht geübt.

Der Canarienvogel spricht übrigens in ganz anderer Weise als der Wellensittich, welchen wir auf der Ausstellung des Vereins „Ornis“ in Berlin im Jahre 1880 vor uns gehabt und der, wenn auch leiernd, doch articulirt mit entschieden menschlichem Ton die Worte hervorbrachte. Der erstere dagegen webt vielmehr seine menschlichen Laute mitten in den Vogelschlag hinein, vor- und nachher immer eifrig weiter singend, sodaß sie ganz harmlos, gleichfalls wie gesungen, ertönen.

Während der Vogel vor mir so unermüdlich seinen Canariengesang schmetterte und die menschlichen Worte hineinwebte, fand ich auch bald eine Erklärung dafür, daß er nur dann singen solle, wenn seine Herrin zu ihm rede, und daß er von ihr das Nachsprechen überhaupt erlernt hat: ihr ungemein klangvolles, melodisches und gesanggeübtes Organ ist es eben, was derartig auf ihn einwirkt und ihn zur Nachahmung anregt.

Wer Abrichtungsversuche mit den beiden kleinsten und sicherlich nicht am wenigsten interessanten gefiederten Sprechern anstellen will, findet Anleitung dazu in meinen beiden Büchern: „Der Canarienvogel“ (vierte Auflage) und „Der Wellensittich“. Vor allem aber ist darauf zu achten, daß nicht der Schüler allein, sondern auch der Lehrer von vornherein besonders begabt sei. In allen bisher festgestellten Fällen ist es kein feiner, zarter Harzer, sondern ein derber, kräftiger Canarienvogel von gewöhnlicher deutscher Rasse gewesen, welcher sprechen gelernt hat – der Abrichter oder besser die Lehrmeisterin muß aber vor allem jenen melodischen Klang der Sprache und dann ein Erforderniß haben, ohne welches man bei allem solchem Thierunterricht niemals ein gutes Ergebniß erreichen kann, nämlich volle Hingabe an die Sache, in welcher unendliche Ausdauer und Geduld begründet liegen. Dr. Karl Ruß.     




Ein altes Anliegen noch einmal unsern wohlwollenden Lesern an’s Herz zu legen, werden wir so oft und so dringend und drängend gebeten, daß wir endlich doch dazu schreiten müssen. Die älteren Leser unseres Blattes entsinnen sich wohl leicht und gern jener warmen Worte, welche Ernst Keil in seiner sinnigen Weise an sie richtete, als er sie einmal – um bei Seite gestellte Claviere für arme Lehrer und ein anderes Mal um abgethane Fahrstühle für arme Gelähmte bat. Wir wissen, daß er selbst damals solche Zumuthungen an seine Leser für etwas kühn erklärte und keinen sonderlichen Erfolg von denselben erwartete. Wie aber waren wir überrascht, wie groß und herzlich war seine Freude, als ihm nicht nur ein Clavier, sondern nach und nach fast ein Dutzend Instrumente zur Verfügung gestellt wurden! Und wie freudig erregt war er von jedem der Dankbriefe, welche schilderten, welch neues Leben in dem Dorfschulhause erblüht sei, seitdem ein Clavier die Wohnstube schmücke und mit seinen Tönen Alt und Jung beselige! Denselben Erfolg hatte seine Bitte um Fahrstühle; manche der freudigen Geber erboten sich sogar, die Kosten des Transports ihrer abgelegten Nothvehikel zu ihren „Nachfahrern“ zu tragen.

Seit jenen Erfolgen sind wohl die Zeiten anders geworden, aber die „alten Anliegen“ sind dieselben geblieben. Ebenso glauben wir aber auch annehmen zu dürfen, daß in den Reihen unserer Leser das Wohlwollen nicht ausgestorben ist, das einst so viele Freude bereitete und so manches Leid milderte. Mag es in unseren Tagen noch kühner erscheinen, als ehedem, so wagen wir es doch, hiermit die Bitte auszusprechen um alte bei Seite gestellte Claviere und um abgelegte Fahrstühle! Wir haben für beide allezeit Verwendung, und der Dank aus freudeerfüllten Herzen wird immer der schätzbarste Preis dafür bleiben.




Zum ersten allgemeinen deutschen Kriegerfest in Hamburg.

0 Min Vaderland, min dütsches Land,
Wat ik di leewen doh,
Von Ostsee- bet an Nordseestrand
Un deep na Süden to,
Wo Elsaß-Lothring wedder uns –
Wer harr dat fröher dacht! –
Ol Vader Rhin de höllt upstunns,
För Dütschland dor de Wacht.

0 Dat „Cam’rad kumm“ klung hell und lud
Von Barg bet laug an’t Haff.
Adjüs, leew Oellern! adjüs söt Brut!
Un fort gung dat in Draff
Na Frankrik rin; de Schelmfranzos
Harr uns to dull tom Spott.
De Krieg bröcht Sieg, wi flogn drup los,
Uemmer weer mit uns Gott!

0 Dat weer en Tid, so herrlich grot,
As man een wesen kann.
All weern wi Bröder, und Got un Blot
Dat setten wi geern dran.
Nu hebbt wi en Kaiser un en Rik;
„Cam’rad kumm“, giw mi de Hand!
Holl fast un sing mit mi toglik
Von’t dütsche Vaderland!

0 Min Vaderland, min dütsches Land,
Wat ik die leewen doh,
Von Ostsee- bet an Nordseestrand
Un deep na Süden to,
Wo Elsaß-Lothring wedder uns –
Wer harr dat früher dacht! –
Ol Vader Rhin de höllt upstunns
För Dütschland dor de Wacht.

 Karl Theodor Gaedertz.




Eine nachahmungswerthe That wird aus Thüringen berichtet. Es ist schon oft und leider noch immer mit verhältnißmäßig geringem Erfolge darüber geklagt worden, daß die Theilnahme des deutschen Binnenlandes an den Opfern für die Rettung Schiffbrüchiger an den deutschen Küsten, trotz aller Bemühung Einzelner, nicht allgemein genug sei. Da kommt dieser Mahnung die That einer edlen deutschen Frau zu Hülfe. Sophie Eckardt, die Wittwe des Gerbermeisters Karl Eckardt, in Naumburg an der Saale, hat der Gesellschaft für Rettung Schiffbrüchiger ein großes Rettungsboot mit voller Ausrüstung, das den Namen ihres verstorbenen Gatten trägt, zum Geschenk gemacht. Das aus cannelirtem Eisenblech hergestellte, zum Segeln und zum Rudern eingerichtete Boot gehört zu den Gegenständen der Hygienischen Ausstellung. Kann das Andenken eines lieben Todten schöner geehrt werden?




Herr Karl Werner, Professor an der Kunstakademie zu Leipzig, der berühmte Architektur- und Aquarellmaler, hat im Redactionslocale der „Gartenlaube“ ein größeres Aquarellbild niedergelegt, welches derselbe zum Besten der Sammlung für die Nothleidenden im Eifellande verwerthet zu sehen wünscht. Es stellt den Palazzo Corbajo in Taormina dar. Der hochgeehrte Künstler sieht von einer Bestimmung des Preises ab, hat aber zu einem Schätzensanhalt die Preisliste seiner Aguarellensammlung dem Bilde beigelegt. Da uns für die Ausführung seines menschenfreundlichen Wunsches kein anderer Weg offen steht, als der der Oeffentlichkeit, so betreten wir denselben hiermit und ersuchen die Freunde unseres Blattes, ihre Angebote für dieses Gemälde zu stellen oder stellen zu lassen. Ein Kunstwerk von einem so gefeierten Meister und damit zugleich einen Gotteslohn für eine gute Handlung zu erwerben, eine solche Gelegenheit wird sich edlen Kunstfreunden nicht vergeblich darbieten.



Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede ein Leipzig.

  1. In dem ersten Bericht Conrad Humboldt’s an den Kurfürsten finden wir unter Anderem folgende Stelle:
    „Wie ich denn Ew. Churf. Durchl. hiemit unterthänigst berichten muß, was gestalt in Falkenhagen oder großen Pusche Von seiten der Starostey als von Seiten der Popielewsken oder Manteuffel mit denen bishero hincinde geschehenen Verhandlungen fast ein gantzes jahr eingehalten und den beeden theilen das Holtzfällen ohne turbation exerciret worden; – Alß aber am 1. Febr. der draheimische Ambtsschreiber David Dumble zum Behuff der Starosteygebäude und Zu anbauung des wüsten freysitzes in Clashagen, so Ew. Churfl. Durchl. ihm in gnaden geschenket hat, einiges Holtz in obgedachtem Falkenhagen oder großen Pusch abhauen lassen, haben des Brutzischen Manteuffels bediente, die draheimischen Leute angefallen und dem einen ein gespanntes Rohr auf die Brust gesetzet, mit Betrohung ihn tod Zuschießen, sofern er sich nicht mitt ihnen abfinden und das gefälte Holtz hinterlassen würde, worüber der Pauer den Mannteuflischen schützen 12 Lbsch. oder 8 gute groschen geben müßten. …“
    Der Bericht erzählt noch von anderen Gewaltthaten der Manteuffel und sucht ihre vermeinten Ansprüche zu widerlegen; die Manteuffel behaupteten nämlich, daß ihr „Recht an dem Pusche von verschiedenen Königen in Pohlen gebilliget“ worden, während Humboldt aus den Kanzlei-Acten nachzuweisen suchte, daß die betreffenden Ländereien Staatseigenthum wären. In dieser Angelegenheit schreibt Humboldt in demselben Berichte:
    „Stelle also Ew. Churfl. Durchl. in allerunterthänigkeit anheim, wie ich mich zur Abwendung solcher Einträge, wodurch dem Hauße Draheim märklich könnte praejudiciret werden, hiernächst zu verhalten habe. Inzwischen hoffe, es werden Ew. Churfl. Durchl. gnädigst genehm halten, das, wenn die Mannteuffel in obgedachtem Pusche Holtz fällen, ich sie ebenfalls, wie hiebevor von hieraus solches öfters geschehen, abpfänden, und, da sie gewalt thun, gewalt mit gewalt zurücktreiben laße, absonderlich da mir berichtet wird, daß die Mannteuffel … den Pusch oder Falkenhagen gentzlich verwüsten wollen, welches alles nach möglichkeit zu verhindern ich meinen Pflichten gemäß mich jederzeit unterthänigst befleißigen werde, als
     Durchlauchtigster Churfürst, Gnädigster Herr
     Ew. Churfürstlichen Durchlauchtigkeit
     unterthänigster und gehorsamster Knecht
     Conrad Humboldt.“