Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1883)/Heft 17

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[269]

No. 17.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Vilmut war bleich geworden, dieser Nachricht von den Angriffen gegen das Leben des Freiherrn schien auch seine Ruhe nicht Stand zu halten, denn er trat wie in jähem Schrecken einen Schritt zurück, dann aber sagte er kurz und bestimmt:

„Sie haben Recht, dem muß ein Ende gemacht werden! Ich ahnte nicht, daß der Haß so weit gehen könne, aber diese Angriffe werden sich nicht wiederholen, mein Wort darauf!“

„Also können Sie ihnen doch ein Ende machen?“ sagte Paul mit bitterem Vorwurf, „und erst jetzt, im Angesichte eines Mordversuches, entschließen Sie sich dazu?“

Gregor hatte bereits seine Fassung wiedergefunden, und seine Stimme hatte den alten unbewegten Klang, als er antwortete:

„Herr Baron, ich lebe seit zwanzig Jahren in Werdenfels und habe ein besseres Urtheil über die hiesigen Verhältnisse als Sie, der Sie erst seit wenigen Monaten hier sind. Ihnen mag dieser Haß und diese Feindseligkeit des Volkes empörend erscheinen, ich erkläre Ihnen aber, daß damit nur ein Urtheil vollzogen wird an dem Manne, der sich einem anderen Urtheilsspruch nicht beugen wollte. Fragen Sie mich nicht, warum ich nicht früher eingegriffen habe, ich wäre sonst gezwungen, Ihnen Dinge zu enthüllen, von denen Sie keine Ahnung haben.“

Paul lachte verächtlich auf.

„Sprechen Sie nur immerhin! Ich kenne das alberne Märchen, das sich an den Brand von Werdenfels knüpft. Man erzählt es sich ja laut genug in der Umgegend, es ist auch mir zu Ohren gekommen, aber Sie muthen mir doch wohl nicht im Ernste zu, daran zu glauben!“

„Ich muthe Ihnen nur zu, den Freiherrn selbst zu befragen. Hören Sie seine Antwort und dann spotten Sie weiter über das ‚alberne‘ Märchen.“

Das Gesicht des jungen Mannes verdüsterte sich, und seine Stimme klang ernster, als er erwiderte:

„Ich weiß, daß hier irgend ein schweres, dunkles Geheimniß liegt, das das ganze Leben des Freiherrn verdüstert und ihn zu dem gemacht hat, was er ist, aber ich weiß auch, daß Raimund von Werdenfels kein Verbrecher sein kann, und wer ihn dazu stempeln will, ist ein Lügner! Ein Lügner!“ wiederholte er mit vollem Nachdruck, als Vilmut ihn unterbrechen wollte. „Das werde ich nöthigenfalls der ganzen Welt gegenüber vertreten, ich bedarf keiner Fragen und keiner Beweise – ich kenne meinen Onkel!“

Es lag etwas so Muthiges, Ritterliches in dieser Vertheidigung, in diesem energischen Eintreten für die Ehre eines Anderen, daß selbst Vilmut nicht ganz unberührt davon blieb, der strenge Ausdruck seiner Züge milderte sich etwas.

„Diese Zuversicht macht Ihrem Herzen Ehre, ich bedaure, sie nicht theilen zu können, und deshalb wollen wir nicht darüber streiten. Im Uebrigen wiederhole ich Ihnen mein Versprechen. Die persönliche Sicherheit des Freiherrn soll nicht mehr bedroht werden. Ich werde jenen Angriffen ein Ende machen.“

„Nun, Hochwürden, wenn Sie denn doch so allmächtig sind, so machen Sie zuvörderst dem Aberglauben ein Ende,“ sagte Paul, gereizt durch die Unfehlbarkeit jener Worte, „diesem kindischen Glauben, der in dem Gutsherrn einen Hexenmeister und Teufelsbanner, einen Unheilbringer und der Himmel weiß was noch Alles sieht. Ganz Werdenfels schwört darauf, vom reichsten Bauer bis zum ärmsten Tagelöhner; die Sache wäre einfach lächerlich, wenn sie nicht empörend wäre in unserem Zeitalter. Mit einer einzigen energischen Rede von der Kanzel hätten Sie dem Unfug ein Ende machen können, aber freilich, Raimund hat Recht, der Aberglaube ist Ihnen ein zu nützliches Zucht- und Schreckmittel, als daß Sie ihn entbehren könnten.“

Gregor richtete sich zu seiner vollen Höhe auf.

„Herr Baron, Sie scheinen zu vergessen, daß ein Priester vor Ihnen steht. Raimund von Werdenfels ist Ihnen ein schlimmer Lehrmeister gewesen, bei ihm haben Sie diesen Trotz gegen die Kirche gelernt, aber von ihm sollten Sie auch lernen, wohin es führt, wenn die Kirche ihre Segnungen verweigert. Fordern Sie mich nicht auch zum Kampfe heraus, es könnte ein Tag kommen, wo auch wir Beide uns als Feinde gegenüberstehen.“

Er stand vor dem jungen Manne mit der ganzen stolzen Unnahbarkeit des Priesters, der von jedem Bekenner seines Glaubens Unterwerfung fordert, weß Standes er auch sei, aber die hellen klaren Augen Paul’s wichen den seinigen nicht, und auch seine Stimme erhob sich jetzt laut und volltönend:

„Das heißt mit anderen Worten, Sie drohen mir in Buchdorf dieselbe Hölle zu bereiten, wie meinem Onkel in Werdenfels. Sie wollen auch dort Alles gegen mich hetzen? Wie Sie eine solche Drohung mit Ihrer Priesterpflicht vereinigen, ist Ihre Sache, die unserige ist es, uns dagegen zu wehren, und das werden wir thun. Ich fürchte mich nicht vor der geistlichen Ruthe, wie Ihre Bauern, und ich werde auch meine Buchdorfer davon zu entwöhnen suchen. Die Werdenfelser gebe ich auf, die sind blind und willenlos in Ihrem Banne. In meiner künftigen Heimath aber werde ich Alles daran setzen, daß es hell wird in den Köpfen, [270] denn ich sehe, wie noth das thut. Werfen Sie mir nur den Fehdehandschuh hin, ich nehme ihn auf, und es soll ein frischer fröhlicher Krieg werden!“

Der ganze kecke Trotz der Jugend sprach aus diesen Worten, aber sie verriethen doch mehr, als nur jugendlichen Uebermuth, es lag eine Energie darin, die ihre Wahrheit verbürgte.

Das mochte auch Vilmut fühlen, denn seine Augen hafteten auf dem jungen Manne mit einem Ausdruck, als wolle er die Stärke des Gegners abschätzen. Dann aber sagte er mit jener eisernen Ruhe, die nicht zu erschüttern war:

„Sie sind sehr aufrichtig, Herr von Werdenfels! Jedenfalls weiß ich nun, was ich von dem neuen Gutsherrn von Buchdorf zu erwarten habe, und werde mich darnach richten. Für den Augenblick stehen Sie noch als Gast unter dem Dache meines Hauses, sonst –“

„Bemühen Sie sich nicht, ich gehe schon!“ fiel Paul ein. „Aber eines bitte ich Sie doch Ihren Bauern mitzutheilen. Ich halte es nach den letzten Vorfällen für nothwendig, einen geladenen Revolver bei mir zu führen, und wenn einer von der Mordbande sich wieder an meinen Onkel wagt, so schieße ich ihn ohne Weiteres nieder. Wir sind jetzt im Stande der Notwehr, da denke ich das vertreten zu können!“ und mit einem kurzen, stolzen Gruße, welcher nicht erwidert wurde, verließ Paul das Zimmer.

Draußen im Hausflur blieb der junge Mann noch einige Secunden stehen, um die Erregung niederzukämpfen, wie er sich sagte, aber sein Blick, der so sehnsüchtig auf der gegenüberliegenden Thür haftete, gab eine andere Erklärung für dies Zögern; dann aber, wie unwillig über sich selbst, warf er den Kopf zurück und wandte sich zum Gehen.

Da wurde jene Thür leise geöffnet und ebenso leise wieder geschlossen. Eine zierliche, leichte Gestalt glitt heraus, und in der nächsten Minute stand Lily vor dem jungen Baron, der bei ihrem Anblick freudig überrascht auffuhr.

„Fräulein Vilmut! Wie sehr habe ich die Gelegenheit gesucht, Sie nur einen Augenblick zu sehen, zu sprechen!“

Lily blickte mit leuchtenden Augen zu ihm auf und streckte ihm zutraulich die Hand entgegen, während sie mit gedämpfter Stimme, aber aus Herzensgrunde sagte:

„Ich danke Ihnen, Herr von Werdenfels! O, ich danke Ihnen!“

„Wie? Wofür denn?“ fragte Paul befremdet, aber dies Befremden hinderte ihn nicht, schleunigst die dargebotene Hand zu ergreifen und festzuhalten.

„Dafür, daß Sie dem Vetter Gregor endlich einmal die Wahrheit gesagt haben! Das wagt sonst Niemand, und deshalb dünkt er sich unfehlbar. Aber Sie haben ihn gründlich abgekanzelt, gerade so, wie er mich immer abkanzelt, und das freut mich, dafür danke ich Ihnen, das geschieht dem Gregor recht – ganz recht!“

Und Fräulein Lily stampfte mit den Füßchen und machte eine kleine Faust nach der Richtung des Studirzimmers.

Es war eine sehr kindische Zustimmung zu seiner Kriegserklärung, aber Paul war ganz entzückt darüber, und während er die Hand küßte, die noch immer in der seinigen lag, fragte er lächelnd:

„Sie erschrecken also nicht vor meiner Ketzerei? Sie, die Cousine des gestrengen Herrn Pfarrers!“

„In unserem Institut war man sehr freisinnig,“ erklärte Lily mit Selbstgefühl. „Deshalb war auch Gregor von Anfang an dagegen, er wollte mich zur Erziehung in ein Kloster stecken, aber Anna litt das nicht. Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr von Werdenfels! Ich fürchte mich auch nicht vor der geistlichen Ruthe, räumen Sie in Ihrem Buchdorf nur damit auf. Ich wollte, ich könnte Ihnen dabei helfen!“

„Ja, das wollte ich auch!“ fuhr Paul unwillkürlich heraus.

Seine kleine Vertraute war ihm nie so reizend erschienen, wie in diesem Augenblick, wo sie in voller Rebellion gegen den strengen Vetter mit heißgerötheten Wangen dastand.

Er beugte sich zu ihr nieder, und ihr tief in die Augen sehend, sagte er leise:

„Fräulein Lily, wir haben uns lange nicht gesehen – haben Sie denn bisweilen an mich gedacht?“

Um die Lippen des jungen Mädchens zuckte ein schelmisches Lächeln.

„Dafür haben Sie schon gesorgt. Sie schrieben mir ja oft genug.“

„Ich schreibe morgen wieder!“ rief Paul eifrig. „Ich werde Ihnen schriftlich alle meine Reformpläne hinsichtlich Buchdorfs aus einander setzen, und Sie werden mir umgehend antworten, nicht wahr?“

In der Wohnung des Pfarrers hörte man eine Thür öffnen und schließen, und Fräulein Lily, die so tapfer bei den Reformplänen und bei der Rebellion mithelfen wollte, fuhr erschrocken zusammen.

„Ich muß fort,“ flüsterte sie. „Wenn Gregor zufällig käme –“

„Dann gnade Gott uns Beiden!“ fiel Paul lachend ein. „Aber Sie haben Recht, auch ich darf nicht länger bleiben. Leben Sie wohl, Lily, und vergessen Sie mich nicht ganz!“

Er hatte ihre Hand bereits zum zweiten Male geküßt, jetzt unterzog er sich nochmals dieser Beschäftigung, ehe er wirklich ging. Lily sah ihm eine ganze Weile nach.

„Vergessen Sie mich nicht ganz!“

Das klang so innig und bittend, und eigentlich verstand es sich doch von selbst. Aber wie seltsam weich hatte er ihren Namen ausgesprochen und wie tief hatte er ihr dabei in das Auge gesehen!

In dem jungen Mädchen begann zum ersten Male eine Ahnung aufzudämmern, daß dieser Blick und Ton nicht blos der Vertrauten, der Trösterin galt, als welche sie sich bisher ausschließlich betrachtet hatte.

Lily erschrak bei dem Gedanken, und ihr Herz fing plötzlich so heftig an zu klopfen, daß sie die Hand darauf preßte, aber das half durchaus nichts, denn das Klopfen hörte nicht auf, und der Gedanke kam immer wieder, aber er verlor mehr und mehr das Erschreckende. Wenn Paul nun wirklich die Hoffnungslosigkeit seiner ersten Liebe eingesehen hatte – man fand ja allgemein, daß die beiden Schwestern einander so sehr glichen, vielleicht fand er es auch.

Mit gesenkten Augen und glühenden Wangen kehrte Lily in das Zimmer zurück. Sie fand Anna nicht mehr dort, und auch die zweite Verbindungsthür war jetzt geschlossen; diesmal drang kein Laut herüber von dem Gespräche, das dort drüben geführt wurde, aber das junge Mädchen dachte auch nicht mehr an das Lauschen, sondern warf sich, froh des Alleinseins, in den großen Lehnstuhl und begann zu träumen.

Vilmut ging mit tief verfinstertem Gesichte in dem Studirzimmer auf und nieder, ganz beschäftigt mit den Besorgnissen, die jenes Gespräch in ihm wach gerufen hatte. Er sah in dem für so unbedeutend und leichtsinnig gehaltenen jungen Manne einen gefährlichen Gegner erstehen, und was ihm Macht gab über den Herrn von Werdenfels, das existirte nicht für den Gutsherrn von Buchdorf, der stand ihm frei gegenüber, und er hatte soeben gezeigt, daß er diese Freiheit brauchen werde.

Da wurde unvermuthet die Thür geöffnet und Anna erschien. Sie trat vor den Pfarrer hin, der aus seinem Nachdenken auffuhr, und sagte ohne jede Einleitung, mit athemlos gepreßter Stimme:

„Siehst Du es nun endlich ein, Gregor, wohin dieser unselige Streit geführt hat?“

„Du hast gehört, was wir sprachen?“ fragte Gregor mit scharfem Tadel.

„Unfreiwillig! Eure Stimmen tönten ja so laut, daß jedes Wort vernehmbar wurde. Also so weit ist es bereits gekommen, Raimund’s Leben ist bedroht, man will ihn tödten!“

„Den Freiherrn von Werdenfels meinst Du!“ sagte Vilmut eifrig. „Du hörtest ja, daß ich seinem Neffen das Versprechen gab, diesen Angriffen ein Ende zu machen.“

„Wenn das noch in Deiner Macht steht! Ich fürchte, es ist zu spät dazu.“

Ein stolzes, halb verächtliches Lächeln kräuselte Vilmut’s Lippen bei diesen Worten.

„Meine Pfarrkinder sind gewohnt, meinem Worte zu folgen, sie werden auch diesmal gehorchen.“

„Und sie haben Dir doch diesmal verschwiegen, was der junge Baron Dir soeben enthüllte. Du wußtest nichts davon, Du, der sonst Alles weiß und erfährt, was im Umkreise von Werdenfels geschieht. Du hast die Geister des Hasses und der [271] Zwietracht gerufen, versuche es, ob Dein bloßer Wink sie wieder bannen kann, ich zweifle daran.“

„Mäßige Dich, Anna!“ sagte Vilmut streng. „Du weißt nicht, was Du sprichst. Wenn wirklich eine Gefahr Werdenfels bedroht –“

„So trage ich die Schuld daran!“ fiel Anna leidenschaftlich ein, „denn ich habe ihn hergerufen.“

„Du?“

„Ja, und er ist dem Rufe gefolgt.“

„Also das war der Inhalt jener Unterredung in den Bergen? Ich hätte es wissen können, als er so plötzlich wieder erschien. Deinem Rufe folgte er natürlich.“

„Zu seinem Unglücke! Ich wollte ihn der Träumerei, der Entnervung entreißen, in der er zu Grunde ging, und stachelte ihn so lange, bis er sich zu dem Entschlusse aufraffte. Nun ist er gekommen, nun steht er mitten in dem Kampfe, den Du ihm aufgezwungen hast, und wird darin unterliegen, denn weichen wird er Dir nicht zum zweiten Male – ich kenne Raimund.“

Das ganze Wesen der jungen Frau bebte in leidenschaftlicher Erregung; so hatte Gregor sie nur einmal gesehen, als er mit erbarmungsloser Hand ihren Glückes– und Liebestraum zerstörte. In seiner Schule hatte sie jene Selbstbeherrschung gelernt, die jeden Sturm der Seele niederzwingt vor fremden Augen, und jetzt brach der Sturm doch hervor, das sagte ihm genug. Die drohende Falte stand noch auf seiner Stirn, aber seine Stimme klang im herbsten Spotte, als er erwiderte:

„Du bist ja ganz außer Dir! Der bloße Gedanke an die Gefahr dieses Mannes raubt Dir fast die Besinnung. Beruhige Dich! Ich konnte dem allgemeinen, dem verdienten Hasse einen gewissen Spielraum lassen; sobald er sich bis zum Verbrechen versteigt, werde ich ihn zu zügeln wissen.“

„Kannst Du auch den Aberglauben zügeln?“ fragte Anna mit schmerzlicher Bitterkeit. „Paul Werdenfels hat Recht, er ist eine mächtige Waffe in Deiner Hand, aber auch eine zweischneidige Waffe. Du selbst hast das Volk gelehrt, in Raimund einen Unheilsbringer zu sehen, dessen bloße Nähe schon verderblich wird, dessen Wohlthaten selbst zum Fluche werden. Du hast geschwiegen zu all jenen unsinnigen Märchen, in denen er als der leibhaftige Böse erscheint. Die Leute glauben ja ihr Seelenheil gefährdet, wenn sie ein Geschenk aus solcher Hand annehmen, und damit allein hast Du es erreicht, daß Deine Gemeinde in blinder Unterwerfung unter Deinen Willen ihre eigene Sicherheit preisgab. Wer schützt das Dorf, wenn die Wasser ihm wirklich einmal drohen?“

„Der Gott im Himmel, der es so lange geschützt hat!“ sagte Vilmut energisch. „Wo die Gefahr von den Elementen droht, die seinem Willen gehorchen, da heißt es, ihm vertrauen.“

„Und wo Menschenarme den Elementen wehren können, da heißt es ihn herausfordern, wenn man diese Arme zurückhält, und das hast Du gethan.“

„Was soll das heißen, Anna?“ fuhr Gregor gereizt auf. „Welch eine Sprache wagst Du gegen mich zu führen? Habe ich Dir von meinem Thun Rechenschaft abzulegen? Ich dulde keinen Einspruch in dem, was ich für recht anerkenne, ich folge einzig der Stimme meines Gewissens.“

„Und die Noth der ganzen Umgegend giebt Dir die Antwort darauf!“ sagte Anna unerschrocken. „Wir können ihr nicht wehren mit all unseren Kräften, aber Raimund konnte und wollte es. Du weißt am besten, weshalb er die Arbeiten an den Dämmen mitten im Winter beginnen ließ und weshalb sie abgebrochen wurden. Jetzt darben die Leute auf Dein Geheiß und all ihr Haß, all ihre Bitterkeit wendet sich gegen den, der ihnen Hülfe bringen wollte. Raimund allein –“

„Raimund und immer Raimund!“ unterbrach sie Vilmut mit einer beinahe wilden Heftigkeit. „Hast Du denn gar keinen anderen Namen für diesen Werdenfels? Muß ich Dich an das Wort erinnern, das Du mir gabst, als Du die Gattin Hertenstein’s wurdest? Du selbst sagtest mir: Meine Liebe ist überwunden und begraben, ich nehme nichts davon mit hinüber in des neue Leben! Hast Du damals mich oder Dich selbst belogen?“

Er war zu der jungen Frau getreten, und seine Hand umschloß die ihrige mit so eisernem Drucke, daß es sie schmerzte. Trotzdem entzog sie ihm ihre Hand nicht, und ihr Auge begegnete groß und flammend dem seinigen.

„Wenn es eine Lüge war, mit der ich mich täuschte, so hast Du allein sie mir aufgezwungen. Du stelltest mir diese Liebe ja als ein Verbrechen hin, bis ich selbst daran glaubte, bis ich Raimund von mir stieß. Vielleicht hätte ich es nicht gethan, vielleicht hätte ich Schuld und Verzweiflung mit ihm getheilt, wäre der erbarmungslose Richter nicht an meiner Seite gewesen, der mich immer und immer wieder auf diese Schuld hin wies. Ich glaubte damals mit der Vergangenheit gebrochen zu haben, aber man hält Manches für todt und begraben, was dann plötzlich nach Jahren wieder aufwacht mit seiner alten unbezwungenen Macht.“

Gregor erbleichte bei den letzten Worten, langsam, wie unwillkürlich löste sich seine Hand von der Anna’s und sank nieder. Die junge Frau mißverstand diese Bewegung, sie trat zurück, und es legte sich ein unendlich herber Ausdruck auf ihre Züge, als sie fortfuhr:

„Fürchte nichts, Dein Werk bleibt bestehen! Wir sind und bleiben getrennt. Die Kluft zwischen uns ist zu weit und zu tief, als daß wir uns je die Hände reichen könnten. Aber geliebt habe ich Raimund von dem Augenblicke an, wo ich mich von ihm losriß, bis zu dieser Stunde. Das ist nicht niederzuzwingen und zu ertödten mit aller Willenskraft, das löscht keine Schuld aus und kein Verbrechen. Ich kann ihn verlassen, verwerfen, verdammen – lieben werde ich ihn in alle Ewigkeit!“

Sie athmete tief auf, als sei mit dem Geständniß eine Last von ihrer Brust genommen. Gregor stand regungslos da, ohne zu antworten, aber seine Augen hafteten mit einem seltsamen Ausdruck auf dem schönen, glühend erregten Antlitz. War es Zorn über das Bekenntniß, oder Haß gegen Raimund, der Blick ließ sich nicht enträthseln, aber es glühte unheilverkündend darin.

Da drang plötzlich das Geläute der nahen Kirche herüber, und Vilmut zuckte zusammen bei dem ersten Glockenton, wie von einer Mahnung getroffen.

„Die Messe!“ sagte er halblaut. „Ich muß zur Kirche.“

„So will ich gehen,“ versetzte Anna, der diese Unterbrechung nicht unwillkommen zu sein schien. „Ich war im Begriff, mit Lily nach Hause zurückzukehren, wenn Du jedoch wünschest, daß wir der Messe beiwohnen –“

„Nein. Ich erlasse es Dir. Geh!“

Die Schroffheit dieser Worte verletzte die junge Frau sichtlich, sie wandte sich kurz und kalt ab.

„Dann fahren wir sofort. Leb’ wohl!“

Sie verließ das Zimmer, und Gregor hatte kein Wort des Abschiedes für sie. Er stand noch immer wie in sich selbst verloren und noch immer weilte der räthselhafte Ausdruck in seinem Auge. Lauter und mahnender klangen die Glocken, die den Priester sonst hinwegriefen von jeder Arbeit, von jedem weltlichen Gedanken zu dem Dienst am Altare, dem er sich mit voller, begeisterter Ueberzeugung geweiht hatte. Sie riefen ihn auch heute, und er hörte den Ruf und war bereit, ihm zu folgen, aber mitten hinein in den Glockenton flüsterten und raunten die Worte, die wie mit glühender Schrift in seiner Seele eingegraben waren: Ich kann ihn verlassen, verdammen, verwerfen – lieben werde ich ihn bis in alle Ewigkeit!




Auf der Försterei, die inmitten der großen Bergforsten von Felseneck lag, herrschte ein ungewöhnliches Leben, denn man erwartete nichts Geringeres als den Besuch des Freiherrn. Das war nun freilich nicht mehr so unerhört, als es noch vor sechs Monaten gewesen wäre, denn seit der Gutsherr sich in Werdenfels befand, hatte er seine frühere Unzugänglichkeit und Abgeschlossenheit theilweise aufgegeben, aber es blieb doch immer ein außerordentliches Ereigniß.

Die Veranlassung dazu lag freilich nahe. Das Forsthaus war ein altes baufälliges Gebäude, dem die Stürme und Schneelasten dieses Winters hart zugesetzt hatten; ein Umbau erwies sich als dringend nöthig, und der Förster hatte sich deshalb brieflich an den Freiherrn gewandt. Er hatte auch die gewünschte Zusage erhalten, es sollte ein Baumeister aus der Stadt kommen, um die Besichtigung vorzunehmen und Bericht darüber zu erstatten, urplötzlich aber hatte Werdenfels seinen Entschluß geändert. Er wollte selbst kommen, um an Ort und Stelle persönlich die nöthigen Anordnungen zu treffen, und hatte seinen Besuch zu einem bestimmten Tage ankündigen lassen.

[272] Zufällig befand sich auch Emma Hofer bei ihren Eltern. Sie war gestern gekommen, um einige Tage auf der Försterei zuzubringen, wie dies öfter geschah, diesmal aber hatte sie Frau von Hertenstein begleitet. Der Förster und seine Frau waren ebenso erfreut als überrascht über diesen Besuch, denn wenn ihre Tochter auch Lily bisweilen mitbrachte, die junge Frau hatte noch niemals das Forsthaus betreten, das im Umkreise von Felseneck lag. Sie nahm auch diesmal die ihr herzlich gebotene Gastfreundschaft nur für einen Tag an und beabsichtigte schon am nächsten wieder nach Rosenberg zurückzukehren.

Der Freiherr wurde um die Mittagsstunde erwartet, da er erst nach Felseneck fuhr und von dort herüber kam. Der Förster mit seinem ganzen Personal war in voller Gala zum Empfange bereit, während sich seine Frau und Tochter unten im Wohnzimmer befanden, um den vielbesprochenen Raimund von Werdenfels zu sehen. Sie kannten ihn freilich von früheren Zeiten her, wo er oft in der Försterei gewesen war, aber das war vor langen Jahren gewesen, und in Felseneck war er ihnen ebenso unsichtbar geblieben, wie jedem Anderen.

Am Fenster des Gastzimmers, das im oberen Stock lag, lehnte Anna von Hertenstein ganz allein und sah in den beschneiten Wald hinaus. Die mühsam verhaltene Aufregung der jungen Frau ließ ahnen, daß ihr Hiersein gerade an dem heutigen Tage kein bloßer Zufall war. Bald verließ sie ihren Platz, um in heftiger Unruhe das Zimmer zu durchschreiten, bald trat sie wieder an das Fenster und blickte auf den Fahrweg, der zum Forsthause führte.

Sie hatte Raimund nicht wieder gesehen seit jener Stunde auf der Bergwiese, und seitdem waren Monate vergangen. Sie sah noch das bleiche, müde Antlitz, die Augen voll finsterer Träumerei, die matte, halb gebrochene Gestalt des Mannes, der längst mit dem Leben abgeschlossen hatte, und der nur in Momenten der äußersten Erregung noch fieberhaft aufflammte, um dann wieder zusammen zu sinken. So war er damals gewesen, was mochte jetzt aus ihm geworden sein, nachdem er all die Bitterkeiten gekostet hatte, die man ihm in Werdenfels bereitete; dem Kampfe war selbst eine frische ungebrochene Kraft nicht gewachsen, er mußte ihm erliegen.

Da endlich ertönte in der Ferne das Geläut des Schlittens, und bald darauf fuhr dieser am Forsthause vor. Es war ein rauher, trüber Wintertag, und der Wind wehte mit schneidender Schärfe, trotzdem kam Raimund im offenen Schlitten, und er trug nicht einmal den Pelz zum Schutz gegen die Witterung, sondern nur einen einfachen Mantel, ebenso wie Paul, der neben ihm saß. Der Letztere stieg zuerst aus und wollte seinem Onkel behilflich sein, aber Werdenfels schien das nicht zu bemerken, und die rasche Bewegung, mit der er sich aus dem Schlitten schwang, hatte beinahe etwas Jugendliches. Auch seine krankhafte Scheu vor den Menschen schien sich gemindert zu haben, er runzelte nicht einmal die Stirn, als er die sämmtlichen Forstleute zu seinem Empfange versammelt fand. Ruhig, ohne Stolz und ohne Herablassung erwiderte er die Begrüßung, und als er mit dem Förster sprach, da sah man deutlich, daß auch das Schlaffe, Matte aus seiner Haltung verschwunden war, er überragte sogar die jugendlich schlanke Gestalt Paul’s, der hinter ihm stand.

Anna hielt sich verborgen hinter dem Fenstervorhang, und auch ihr fiel jene Veränderung auf. Was war das? Hatte Raimund in dem Kampfe, wo sie ihn unterliegend wähnte, die so lange verlorene Energie wiedergefunden? Fast schien es so!

Der Förster geleitete jetzt die beiden Herren in das Haus, dessen Besichtigung sofort begann. Zuerst wurden die unteren Räume in Augenschein genommen, dann kamen die oberen an die Reihe, und jetzt klang die Stimme des Freiherrn dicht vor der Thür des Gastzimmers.

„Nein, Hofer, von einem Umbau kann keine Rede sein, das Haus ist zu baufällig. Sie bleiben einstweilen hier, bis das neue Forsthaus fertig ist, das drüben an der Waldseite stehen soll, dann wird das alte Gebäude niedergerissen. Der Baumeister soll mir schon in der nächsten Woche die Pläne vorlegen, damit die Arbeit bald beginnen kann.“

Der Förster erging sich in lebhaften Dankesäußerungen, Werdenfels achtete nicht darauf, er musterte die Thüren zu beiden Seiten des Hausflurs, als eine dieser Thüren sich öffnete und Frau von Hertenstein auf der Schwelle erschien.

(Fortsetzung folgt.)




Zur Naturgeschichte des Wilderers.

Vom Großvater bis zum Enkel – drei Generationen in ihrem verbrecherischen Handwerk zeigt uns unser lebensfrisches und – wahres Bild!

Mit dem Hirsch hat es ihnen geglückt: der Alte stellte sich auf dem Wechsel vor, die beiden Begleiter trieben ihm den Hirsch langsam zu; noch einige Minuten, dann ist derselbe aufgebrochen und zum heimlichen Transport fertig gemacht. Plötzlich stutzt der Wache haltende Alte; sein feines Gehör hat ihn nicht getäuscht, des Försters Hund tritt auf die Blöße und windet nach dem Schweiß des aufgebrochenen Wildes; da muß auch sein Herr in der Nähe sein – darum fertig den Stutzen und den Finger am Abzuge! Der Andere hält das Messer fest gepackt zum Stoß, und nur der Junge ist noch grün im Geschäft und sucht ängstlich beim Alten Schutz.

Klebt nicht ein ganzes Stück Romantik an dem alten wetterfesten Kerl und seinem trotzigen Thun? Gewiß, gerade soviel wie an einem „Rinaldo Rinaldini“, „Baierischem Hiesel“ und ähnlichem besungenem Ungeziefer; aber das waren ja Räuber und Mörder!

Nun, und der Alte hier?! Wozu schlägt er denn mit dem Stutzen an? Etwa nur, um dem Förster einen guten Morgen zu bieten?!

Gerade diese romantischen Darstellungen und Schilderungen sind es, welche das große Publicum über die wahre Wesentlichkeit, die „Naturgeschichte“ des Wilderers täuschen und nicht selten sogar eine gewisse Sympathie hervorrufen; auch die malerische Gebirgstracht und das charakteristisch geschnittene Gesicht des Bergbewohners muß herhalten, denn noch nie sah ich einen Wilddieb „aus dem Osten“ mit langem Kittel und entsprechendem Gesichtstypus zu belletristischen Zwecken abgebildet; mit solchem ist kein Staat zu machen, er fesselt nicht und verdirbt den Effect, die ungeschminkte Thatsache tritt zu grell an ihm hervor – höchstens könnte er das Lied vom „armen Mann“ illustriren, dem die Noth und Verzweiflung, sich und den Seinen das Leben zu fristen, das Schießgewehr in die Hand drängen, während der Andere die Sippe derer vertritt, welchen eine angeborene Jagdpassion keine Ruhe läßt, dem das Schweifen durch Wald und Flur Lebenselement ist und dem schließlich, wenn er seiner Leidenschaft zum Opfer gefallen ist, ein gewisses Mitleid wie einem tragischen Helden folgt.

„Wie kann man so hart mit einem Mitmenschen verfahren, der sich doch nur an Thieren vergriffen hat, die der liebe Gott für Alle schuf? wie darf man ein Menschenleben gegen das eines Hirsches bedrohen oder gar nehmen?!“

Wahrlich zu Thränen könnten Einen solche humanistische Ergüsse rühren und den pflichttreuen Forst- und Jagdbeamten zu einem wahren Scheusal stempeln, wenn die Sache eben so wäre; aber sie ist nicht so, und wir hoffen mit Folgendem den Beweis dafür zu erbringen.

Gewiß giebt es in der großen Schaar der Wilderer hin und wieder Einen, welcher, sonst unbescholten, von der bittersten Noth gedrängt, sich ein Stück Wild zueignet, um den Hunger zu stillen, oder welcher der Jagdlust nicht widerstehen kann, wenn sich ihm eine günstige Gelegenheit bietet; die Vertreter dieser beiden Classen von Wilddieben sind Gelegenheitsdiebe und weder dem Wildstande noch dem Beamten ernstlich gefährlich, sie weichen dem Letzteren geflissentlich aus, und es giebt Beispiele, daß solche vom Jagdteufel besessene Individuen, wenn und so lange die Möglichkeit mit ihnen anzuknüpfen vorhanden war, zu retten waren. – So erinnere ich mich eines durch seine Jagdleidenschaft gänzlich heruntergekommenen Müllers, welchem man gleichwohl eine gewisse Ehrenhaftigkeit nicht absprechen konnte; er hatte nachweislich ein Mutterwild geschossen, sich den Beamten nicht ernstlich widersetzt und bei diesen dadurch eine gewisse Sympathie erregt, welche schließlich

[273]

A. NEUMANN X. A., Al. Toller sc.
Der Wilderer.
Nach dem Oelgemälde von M. Correggio.

[274] auch auf den Grundherrn überging, sodaß er ihn versuchsweise als Heger anstellte, in welchem Amte er so treue Dienste leistete und den Wilddieben, deren Kniffe er selbstverständlich aus dem Grunde kannte, so gefährlich wurde, daß aus dem Wilddiebe ein geachteter und sehr erfolgreicher Jagdbeamter erstand.

Aber das sind seltene Ausnahmen, Diamanten unter Kieseln; das Hauptcontingent sind die handwerksmäßigen Wilddiebe, jene gemeingefährlichen Verbrecher, welche ihre Sache auf Nichts gestellt und dem Gesetze Krieg bis auf’s Messer geschworen haben. – Häufig lernen die Jungen das Handwerk von den Alten, wie unser Bild an dem würdigen Kleeblatte zeigt, oft auch erfaßt sie die gefährliche Neigung ganz von selbst und schwer erklärlich; so stahl der Sohn eines höchst achtbaren Dorfküsters, in welchem Letzteren sicher keine Spur von Jägerblut erfindlich war, Orgelpfeifen aus der Kirche, goß sich Kugeln aus jenen und schoß damit Wild, für dessen Erlös er sich weiter ausrüstete, einer der gefährlichsten Wilderer, der endlich mit durchschossener Brust im Walde liegend gefunden wurde.

In den meisten Fällen kann man diesen verderblichen Hang schon am Knaben erkennen. Munter und gewitzigt, zeigt er Neigung zum Umherschweifen in Wald und Feld, aber entschiedenen Widerwillen vor einer dauernden regelmäßigen Beschäftigung, sieht mit der Begehrlichkeit einer Katze Vögeln und Hasen nach und ist im Sprenkelstellen weit sicherer, als im Schreiben und Lesen; mit dem Knaben, welcher am gefangenen Vogel Freude zeigt, ihn hegt und pflegt, steht es keineswegs schlimm – das tut aber der Wilddiebslehrling nicht, er behandelt ihn hart, sucht ihn zu verhandeln oder sonstwie zu verwerthen, freut sich des gelungenen Fanges, aber nicht des Vogels, und läßt ihn verkommen, wenn sich keine Verwerthung bietet, quält ihn auch wohl gar.

Solch verheißungsvoller Bursche findet nun leider gar bald seinen Lehrmeister, einen ausgelernten Wilddieb, welcher mit ihm anknüpft, ihn ermuntert, nach Wild auszuspähen und ihm die Fundstellen mitzutheilen, ihn mit hinaus nimmt, über Fährten und Spuren belehrt, denselben auch als Treiber benutzt und dabei die Seele des Knaben oder des Jünglings mit Haß gegen die betreffenden Beamten erfüllt, welche dem armen Mann nichts gönnen, aber nach dem Leben trachten, und endlich spielt er den letzten Trumpf aus, indem er ihm einen kleinen Antheil aus dem Erlös des geschossenen Wildes giebt und zu einem Gewehr verhilft.

Damit ist nun in der Regel dessen Schicksal besiegelt, er wird ergriffen, zum ersten Male verurtheilt und kommt mit rachevollem Herzen aus dem Gefängniß zu seinem Treiben zurück; er weiß, daß eine zweite Verurtheilung härter ausfällt, denkt mit Schrecken an die Gefängnißzeit zurück und wehrt sich daher auf’s Aeußerste vor ihrer Wiederholung; aber was thun? Arbeit will er nicht, bekommt er auch nicht; die besseren Gemeindeglieder meiden ihn, das Geschäft geht schlecht, er leidet Noth, – da erfaßt ihn tödtlicher Haß gegen seine Widersacher, gegen Alles, was sich ihm entgegenstellt, gegen das Wild, weil es sich nicht schußmäßig ankommen läßt – gegen Gott und die Welt, er stellt seine Sache auf Nichts – „Ihr oder ich!“ ist sein Wahlspruch!

Traurig sieht es um seine Familie aus, um Haus und Hof – da wohnt er in der verfallenen Hütte, der verkommene Mensch, dessen Weib dahinsiecht und dessen Kinder betteln gehen! So lange er noch zuzusetzen hatte, behandelte er seine Familie wenigstens erträglich, als aber Alles verkauft, verpfändet und aufgezehrt war, und er bei erfolgloser Heimkehr, mit Gott und der Welt hadernd, Nichts zu essen fand, da schlug er das arme Weib und die hungernden Kinder und warf sie zur Thür hinaus! Hatte er ein Stück Wild geschossen, so mußte er es meilenweit zum Hehler tragen, um den halben Werth dafür in Empfang zu nehmen, und kam er endlich, schwer angetrunken, in seine Hütte zurück, so langte der Rest des Erlöses nicht für die schreiendsten Bedürfnisse; er selbst brauchte Geld zu Pulver, Blei und Draht für neue Schlingen zu seinem verruchten Gewerbe, und wenn er wieder davon schlich, mußten die Kinder in’s Dorf zum Betteln!

Der Wilddiebstahl vermittelst Schlingen ist eine Specialität dieses verruchten Gewerbes und stammt aus Frankreich; die Schlingen sind von starkem, geglühtem oder schwachem, mehrfach zusammengeflochtenem Draht und werden auf den Wechseln (wo das Wild zu gehen pflegt) an starken Zweigen oder an Stämmchen so angebracht, daß das Reh oder der Hase beim Hindurchgehen, respective Kriechen, durch Zuziehen der Schlinge sich fängt. Geschähe dies immer am Halse und zöge sich die Schlinge immer regelrecht zu, so wäre in Folge schnellen Erstickens wenigstens keine Quälerei damit verknüpft, so aber fängt sich das Reh meist am Hinterleibe und geht nun den gräßlichsten Qualen entgegen. (Eine solche empörende Scene hat Guido Hammer im Jahrgang 1882, S. 647 der „Gartenlaube“ in Bild und Wort dargestellt.)

Einmal hörte ein Beamter ein Rehkälbchen jämmerlich klagen und glaubte es in der Gewalt eines Raubthieres, gewahrte zu seinem Erstaunen aber auf der Stelle, von der die Töne kamen, einen Mann, der Etwas im Arme hatte; der Krimstecher belehrte ihn, daß diese Bestie in Menschengestalt ein gefangenes Kälbchen auf die brutalste Weise quälte, um durch die Klagetöne dessen Mutter zum Schuß herbeizulocken, zu welchem Zweck er das Gewehr schußfertig im Arm trug; vor dem Geschrei hörte er den heranschleichenden Rächer nicht: beim Handgemenge entlud sich das Gewehr des Försters und zerschmetterte dem Wilderer den rechten Arm.

Auf den Kampf mit solchen Elementen muß der pflichttreue Beamte stets gefaßt sein, welche an Landesgrenzen oder in Gegenden mit großen Hütten- oder ähnlichen industriellen Werken besonders gefährlich werden; dort thuen sich die Wilderer häufig in Rotten zusammen, und wehe dann dem Beamten, der in ihre Hände fällt!

In solchen Jagdrevieren befindet sich der Beamte stets auf dem Kriegspfade, ist aber noch viel schlimmer daran , als der Krieger im Felde; hat dieser sich hervorgethan, sb harren Ehrenzeichen seiner, und das Publicum jauchzt ihm zu! – er kämpfte Schulter an Schulter gegen einen offenen, sichtbaren Feiud! – Hat der Beamte seine Pflicht erfüllt im Kampfe gegen ein Geschöpf, welches ihn hinter Baum und Busch im Hinterhalt bedroht, oder gegen eine ganze Bande – er, ganz allein, verlassen von aller Hülfe – dann hat er noch eine strenge, gerichtliche Untersuchung zu erwarten, deren Berechtigung zwar nicht unterschätzt werden darf, die aber wahrlich auch keine Annehmlichkeit ist. Der Wilderer hat seine Sache auf Nichts gestellt, der Beamte hat Weib und Kinder zu ernähren – soll er warten, ob es Ersterem gefällig ist, diese zu Wittwe und Waisen zu machen?

Der Kampf zwischen Wilderern und Beamten ist stellenweise, so an der schlesisch-böhmischen Grenze, besonders aber in Oberschlesien, mit einer Grausamkeit von Seiten der Ersteren geführt worden, welche an die Kämpfe zwischen Rothhäuten und Weißen in Nordamerika erinnert. In Oberschlesien wurde ein Förster vermißt – alles Suchen war vergeblich; da bemerkten Hirtenjungen, daß ihre Schweine emsig an einem Ameisenhaufen schafften, und fanden, als sie herbeikamen, ein Paar in Stiefeln steckende Menschenfüße hervorragen. Entsetzt rannten sie nach Hülfe, und man zog – am fünften Tage – den von Wilddiebshand festgeknebelten, in diesen Ameisenhaufen geworfenen Förster noch lebend heraus, der aber bald seinen Geist aufgab. Ueber den vermuthlichen, auch mir persönlich sehr wohl bekannten Thäter herrschte nur eine Stimme, und doch konnte man ihm nicht beikommen; später, bei einem Mordanfall ergriffen, gestand er im Zuchthause die grausige That ein.

Ein anderer berüchtigter Wilddieb war aus dem Zuchthause nach langer Haft entlassen; seine erste That auf freiem Fuße war ein Schuß durch das Fenster in des Försters Wohnstube, wo dieser mit seiner Familie beim Abendbrod saß; die Kugel fuhr dicht an der Schläfe eines dreijährigen Kindes vorbei, ohne das beabsichtigte Verderben anzurichten. – Nach vier Wochen wurde der Raubschütz im Nachbarreviere erschossen gefunden; der Kampf artete in Blutrache aus – „Alle für Einen“, hieß es hüben und drüben.

Wollen wir weiter blättern in dem schwarzen Buche? – Ich denke, wir haben der Beweise genug und klappen es zu! Hat man in allerjüngster Zeit von solcher Grausamkeit auch nichts gehört, so ist leider doch festzustellen, daß die Giftpflanze des Raubschützenwesens nach wie vor wuchert und noch lange wuchern wird.

Zum Schluß ein Stücklein echten Galgenhumors und unvergleichlicher Wilddiebsfrechheit. – Ein Jagdonkel aus der Residenz hatte sich kürzlich bei schönem Mondschein in seinem Pachtjagdrevier auf Hirsch, Schwein, Reh und sonstiges Wild angesetzt und harrte der kommenden Ereignisse. Er hört Schritte und macht sich fertig – auf die Bildfläche tritt aber kein Wild, sondern ein großer, breitschulteriger Kerl mit einem Rehbock auf dem Rücken und stellt sich breitspurig vor ihn hin:

[275] „Wollt Ihr fünfzehn Mark geben, da laß ich Euch den Bock gleich hier und Ihr könnt ihn Muttern mitnehmen – kriegt sonst doch keinen!“

Im Mondlicht erkannte der also Angeredete einen bekannten Wilddieb aus der Gemeinde, von der er die Jagd gepachtet hatte, der Bock war natürlich in seiner Jagd frisch geschossen; verblüfft über solche bodenlose Frechheit hatte er noch keine Worte gefunden, als der Wilderer mit seiner Beute schon an der nächsten Waldecke verschwunden war.

O. von Riesenthal.




Die „G. F. S.“

Von Marie Calm.

An einem schönen Sommernachmittage ging ich mit einem jungen Mädchen durch die Straßen Londons. Es war die Höhe der Saison. Die Menge eleganter Equipagen, welche die breiten holzgepflasterten Straßen entlang flogen, der Strom der Passanten, der auf und nieder wogte, der Glanz der Läden, welche ihre reichste Pracht entfalteten, hatten etwas Berauschendes. Ich liebe es, diese Pulsadern des Lebens klopfen zu hören, liebe es auch, die mannigfaltigen Producte der Natur und Cultur hinter den riesigen Schaufenstern zu bewundern.

Irgend ein Gegenstand erregte meine Kauflust, und ich bat meine Begleiterin, mit mir in den betreffenden Laden einzutreten. Etwas befangen sah sie nach ihrer Uhr und erwiderte dann, sie bedauere, meinen Wunsch nicht erfüllen zu können, denn es sei schon halb Sieben, und sie gehöre zu dem „Sechs-Uhr-Schließ-Verein“.

Verwundert über diesen sonderbaren Titel blickte ich sie fragend an, und sie erklärte mir nun, daß jener Verein sich die Aufgabe gestellt habe, das Loos der Verkäuferinnen zu erleichtern, indem er darauf antrüge, alle Modehandlungen um sechs Uhr zu schließen. Dadurch, meinte sie, würden die armen shop-girls Zeit bekommen, ihre Mahlzeit mit den Ihrigen einzunehmen und einen Spaziergang zu machen, während sie jetzt meist bis acht, oft bis zehn Uhr um Platze sein müssen.

„Wir haben schon,“ fuhr sie fort, „bewirkt, daß sie sich setzen dürfen, wenn sie gerade keine Kunden bedienen, denn das fortwährende Stehen ist erwiesenermaßen sehr schädlich; hoffentlich setzen wir auch das frühere Schließen der Läden durch und sichern ihnen so ein menschenwürdiges Dasein!“

Ich gestehe, daß in die Verwunderung, mit der ich meiner jungen Freundin zuhörte, sich ein Gefühl von Bewunderung mischte. Sie mochte achtzehn bis neunzehn Jahre zählen, war ein hübsches, blühendes Mädchen – und sprach so warm und so einsichtsvoll von diesen humanen Bestrebungen! Es war mir wieder ein Beweis – wie ich deren schon viele erhalten – daß bei den englischen Frauen der Gemeinsinn außerordentlich gepflegt wird. Weniger beansprucht durch die Privatinteressen des Hauswesens, als unsere Frauen, können sie ihre Gedanken, wie ihre Zeit und Kräfte, mehr den allgemeinen Interessen widmen und zeigen dafür im Allgemeinen warme Theilnahme und einen raschen, praktischen Blick.

Daß in einem Lande, wo Wohlthätigkeitsanstalten fast ganz Privatsache sind, die Wohlthätigkeitsvereine in höchster Blüthe stehen, läßt sich denken. Ich glaube, es giebt wenige Frauen, die nicht zu einigen derselben gehören. Eine sehr große Anzahl unterrichten in den Sonntagsschulen, die indeß jetzt wohl abnehmen werden, seitdem die Governmental schools, die Staatsschulen, jenen oft sehr kläglichen Behelf weniger nöthig machen; Andere gehören einem Verein an, der sich die Ergründung der Verhältnisse der Bittsteller zur Aufgabe macht, um sie in zweckmäßiger Weise unterstützen zu können, oder sie helfen gemeinnützige Schriften verbreiten; noch Andere halten „Mothers’ meetings“ ab, das heißt Zusammenkünfte mit armen Frauen, welche sie über die physische und sittliche Erziehung ihrer Kinder zu belehren suchen; und Viele sind Mitglieder der „G. F. S.“

Die „G. F. S.“! Ich hatte den Ausdruck schon öfter gehört, ohne ihn zu verstehen. Als ich mich darnach erkundigte, wurde mir erklärt, die „G. F. S.“ sei „the Girls’ Friendly Society“ – „Der Verein der Freundinnen der jungen Mädchen“.

Das ist ein langer Titel, und die praktischen Engländer, für welche „time is money“ („Zeit ist Geld“), haben selbst in den langen Sommertagen nicht Zeit, ihn ganz auszusprechen. Wie sie ihre Titulaturen meist nur mit Initialen bezeichnen – ich erinnere an das M. P., Member of Parliament, das M. A., Master of Arts, ja selbst das H. M., womit Her Majesty sich begnügen – so reduciren sie auch die oft sehr umständlichen Namen von Vereinen auf die Anfangsbuchstaben. So ist die Abkürzung „G. F. S.“ unter allen Mitgliedern des genannten Vereins gebräuchlich, auch in den Berichten wird sie angewendet, und bei feierlichen Versammlungen habe ich sie von den Rednertribünen herab gehört.

Diese „G. F. S.“ also ist ein Verein, der im Jahre 1875 gegründet wurde, um jungen Mädchen in dienstlichen Stellungen einen Schutz zu gewähren. In dem großen Labyrinthe Londons, wie in anderen großen Städten, und besonders den Fabrikorten Englands treiben Tausende von jungen Mädchen sich umher, die, dem elterlichen Hause entwachsen, ihr Brod durch eigene Arbeit zu verdienen suchen, es aber häufig nicht finden, häufig auch durch Krankheit, durch Versuchungen aller Art in Noth und Elend gerathen. Wie Viele versinken nicht widerstandslos in den brausenden Wogen jener Städte, die hätten gerettet werden können, wenn zur rechten Zeit eine hülfreiche Hand sich ihnen dargeboten, zur rechten Zeit ein freundlich mahnendes Wort an ihr Ohr und Herz gedrungen wäre! Mögen nachher die Hospitäler, die Arbeitshäuser, die Magdalenen-Stifte sich ihnen öffnen – es ist dann das gebrochene Geschöpf, das man noch zu heilen sucht, während man früher den Sturz vielleicht hätte verhüten können.

Deshalb nun haben sich in allen Orten Englands Damen verbunden, um sich der ihr Vaterhaus verlassenden Mädchen anzunehmen. Ob sie als Dienerinnen in ein fremdes Haus eintreten, ob sie Verkäuferinnen in Läden werden, oder in Fabriken arbeiten, die Dame, welche sich einmal verpflichtet hat, das Mädchen in ihren Schutz zu nehmen, ihre Freundin zu sein, behält sie im Auge. Bei den Dienstmädchen ist dieser Schutz nur dann nöthig, wenn sie ihre Stelle wechseln oder krank werden, denn man nimmt an, daß die Herrin stets die beste Freundin der Dienerin ist, und die Regeln des Vereins verbieten ausdrücklich, die Mädchen in den Häusern, wo sie in Dienst stehen, aufzusuchen oder sich irgendwie in ihre Dienstangelegenheiten zu mischen. Aber für die in Fabriken und Werkstätten beschäftigten Mädchen kann dieser Schutz jederzeit von großem Nutzen sein. Es sind von Seiten des Vereins besondere Personen angestellt, um diese Mädchen aufzusuchen und Erkundigungen über sie einzuziehen. Man findet sie in den verschiedensten Gewerben beschäftigt. Außer in den gewöhnlichen Stellungen als Nähterinnen, Schneiderinnen, Putzmacherinnen sind sie als Buchbinderinnen thätig, als Federschmückerinnen, Goldspitzen- und Franzenverfertigerinnen, in Cigarrenfabriken, Seidenwebereien, als Schuhmacherinnen, Packerinnen, Maschinistinnen etc.

Für diese Mädchen, die mehr oder weniger alle unter die gemeinsame Bezeichnung „Fabrikmädchen“ kommen – ein Titel, der die Verwildertsten und Rohesten des Geschlechts in sich schließt – ist es nun etwas Großes, in Verbindung mit einer Dame zu stehen, von der sie wissen, daß sie sich für sie interessirt, daß sie in der Noth ihnen beistehen wird, wenn sie selbst sich nur brav und ordentlich halten; etwas Großes, durch die Abendschulen des Vereins Gelegenheit zu haben, sich weiter zu bilden; etwas Großes auch, von Zeit zu Zeit am Sonntag Nachmittage in einem netten Locale mit anderen Mädchen ihres Alters zusammen zu treffen, ihren Thee einzunehmen und eine belehrende oder unterhaltende Lecture anzuhören. Natürlich ist das religiöse Element bei diesen Zusammenkünften auch vertreten – ein Factor, der, richtig angewandt, sehr segensreich wirken kann.

Da nur solche Mädchen in den Verein aufgenommen werden, welche sich als brav und sittlich ausweisen können, so darf man einerseits hoffen, daß der gegenseitige Einfluß ein guter sein wird, andrerseits sehen die Mädchen in Folge dessen eine Ehre darin, [276] zu dem Verein zu gehören. Auch macht man schon die Erfahrung, daß Herrschaften wie Arbeitgeber vorzugsweise gern solche Mädchen engagiren, welche ihr Vereinsbüchelchen vorzeigen können.

Dieses Büchelchen, das mir eben vorliegt, ist ein nett cartonnirtes kleines Heft, mit der Devise des Vereins: Bear ye one another’s burden (Traget Einer des Andern Last.) Außer dem Namen und der Adresse des betreffenden Mitglieds enthält es die Regeln des Vereins, die Quittungen für die der „Freundin“ geleisteten Beitragszahlungen und, was mir am wichtigsten scheint, eine Liste von Logir- und Heimathhäusern in allen größeren Städten Englands, wo die Mädchen, bei einem etwaigen Wechsel ihres Aufenthaltes, sicher sind, eine gute Unterkunft zu finden. Diese Liste ist gewiß von außerordentlichem Werth, denn man weiß, welchen Gefahren alleinstehende junge Mädchen ausgesetzt sind , wenn sie eine fremde Stadt betreten, nicht wissend, wohin sie sich wenden sollen. Solche „Heimathhäuser“ sind in vielen Orten von dem Verein selbst gegründet worden; in anderen stehen sie doch mit ihm in Verbindung.

Außerdem erhalten die Mädchen beim Verlassen eines Ortes von ihrer „Freundin“ eine Empfehlung an den Vorstand eines anderen Zweigvereins. Denn es existirt in Großbritannien schon jetzt, nach noch nicht siebenjährigem Bestehen des Vereins, kaum ein Ort, der nicht einen Zweigverein aufzuweisen hätte. Dreitausend Gemeinden gehören ihm an; die Zahl seiner Mitglieder beträgt circa 50,000, während 15,000 Damen als Associates, als „Freundinnen“ der Mitglieder fungiren.

Aber freilich, die besten Kreise des Landes interessiren sich auch dafür. Der Verein steht unter dem Protectorate der Königin, und die Erzbischöfe von Canterbury und York sind seine Präsidenten, während die vornehmsten Namen des Reichs in der Liste der Associates figuriren. Natürlich entsprechen dem auch die Mittel des Vereins, denn wenige Damen werden sich wohl begnügen, den als Minimum festgesetzten Jahresbeitrag von 21/2 Schilling (21/2 Mark) zu entrichten. Indessen ergiebt dieser geringe Beitrag von den 15,000 Damen schon die Summe von 37,500 Mark, die mit den 50,000 Mark Beiträgen der Mitglieder immerhin eine ganz beträchtliche Jahreseinnahme bilden.

Diese Mittel des Vereins dienen verschiedenen Zwecken. Zuerst, wie schon erwähnt, der Einrichtung von Heimathhäusern für stellenlose Mitglieder; ferner der Gründung von Abendschulen, in denen hauptsächlich Bibel- und Nähunterricht ertheilt wird; sodann der Unterstützung der Mädchen in Krankheitsfällen; auch wird eine Bibliothek davon beschafft, welche den Mitgliedern passende Lectüre liefert, sowie zwei Journale, von denen eins unter den „Freundinnen“, das andere unter den Mädchen circulirt, und schließlich bestreitet der Verein von jenen Beiträgen die nicht unbedeutenden Kosten der Zusammenkünfte jener schon erwähnten Theenachmittage, sowie der Feste, welche die Angehörigen des Vereins einmal alljährlich in jedem größeren Bezirk versammeln.

Einem solchen Feste, das in Chester stattfand, wohnte ich kürzlich bei. Einladungskarten für den 29. Juni waren an alle Vereinsangehörige innerhalb der Grafschaft Cheshire erlassen worden, und die Eisenbahndirectionen hatten sich freundlichst bereit erklärt, die Gäste für etwa den vierten Theil des gewöhnlichen Fahrgeldes zu befördern.

Ich hatte von der Vorsitzenden des Zweigvereins von Altrincham (bei Manchester), wo ich mich damals befand, eine Einladung erhalten und stellte mich pünktlich um halb ein Uhr auf dem Bahnhofe ein. Meine Wirthin, Mrs. S., die Gattin eines dortigen Geistlichen, war schon anwesend; begleitet von drei oder vier Damen des Vereins, und nicht weit von ihnen, auf den möglichst kleinen Raum zusammengedrängt, standen einige zwanzig junge Mädchen in ihrem besten Sonntagsstaat. Da wir eine Weile zu warten hatten, fingen sie hier schon an, sich an den buns (Rosinenbrödchen) und Apfelsinen zu erlaben, die Mrs. S. in großen Quantitäten bei sich führte.

Endlich brauste der Zug heran; eine Menge Mädchenköpfe streckten sich aus den Waggons dritter Classe hervor (denn wir bedienten uns alle dieser wenig aristokratischen Beförderungsmittel, die eine Lady sonst nie betritt, obgleich sie in ihrer Ausstattung jetzt weit besser sind, als bei uns) und eiligst suchte unsere kleine Heerde zu ihren Colleginnen drinnen zu gelangen oder doch unter sich zu bleiben. Einige indeß mußten doch mit in unseren Wagen kommen, wo sie anfangs sehr steif und still saßen – sie zogen rasch ihre Handschuhe an, die sonst wohl erst in Chester zum Vorschein gekommen wären – mit der Zeit aber, während der mehrstündigen Fahrt doch aufthauten.

Da war es denn ganz interessant zu beobachten, wie sich in ihrem Verhalten ihre Lebensstellung verrieth. Die sich am stillsten verhielten, auch am schlechtesten gekleidet waren, wurden mir als Fabrikmädchen bezeichnet – die Atmosphäre war ihnen augenscheinlich fremd, sie fühlten sich unbehaglich darin. Ein hübsches junges Mädchen in einem fast zu eleganten Costüm – gewiß von der Herrin ererbt – diente ohne Zweifel in einem feinen Hause. Sie unterhielt sich ganz unbefangen mit uns, ohne doch die Bescheidenheit zu verleugnen, welche die englischen Dienstmädchen weit mehr, als die unseren, bewahren, welch’ letzte, durch den steten Verkehr mit der Herrin, die ja oft an ihrer Arbeit Theil nimmt, leicht einen familiären Ton annehmen, den die englischen Verhältnisse fast unmöglich machen. – Mehrere der Mädchen waren dem elterlichen Hause, respective der Schule noch nicht entwachsen, denn sie dürfen schon mit zwölf Jahren dem Verein beitreten und genießen also schon früh den Schutz der „Freundin“, die desto größeren Einfluß auf sie ausüben kann.

Sehr hübsch war zu sehen, wie auf jeder Station neue Zuzüge von Mädchen, unter Leitung einiger Damen, hinzukamen, sodaß, als wir in Chester anlangten, ein ganzer Strom jugendlicher Gestalten sich aus den Waggons ergoß. Dieser Strom aber wuchs zum Meere an, als wir nun in Chester einwanderten, denn die Straßen der alten Stadt waren buchstäblich mit den Zügen der jungen Festtheilnehmerinnen angefüllt.

Der erste Versammlungspunkt war die Kathedrale, ein imposantes, altes Bauwerk, in der ein Festgottesdienst abgehalten wurde. Mehr als 800 junge Mädchen nahmen das Schiff der Kirche ein und sangen aus vollen, frischen Kehlen die Lieder, welche, zum Theil ihnen schon aus ihrem Mitgliedsbüchelchen bekannt, mit den dazu gehörigen Noten unter alle Theilnehmer vertheilt waren. Ein zum Verein gehörender Geistlicher, ein freundlicher, alter Herr, hielt die Predigt.

Von der Kathedrale aus ging der unabsehbare Zug nach dem Festlocale, einer ungeheuren, mit Fahnen und Blumen geschmückten Halle, in der endlose Tafeln, mit allem Zubehör eines englischen Thees bedeckt, der Gäste warteten. Auf hohen Standarten waren die Namen der vertretenen Orte an den Tafeln zu lesen, sodaß die große Menge sich leicht ordnete.

Wer aber zählt die Schüsseln mit Butterbroden, nennt die Namen der Kuchen, Fleischpasteten, Sandwiches etc., die gastlich hier geboten wurden? Berge von Vorräthen schwanden unter den frei zulangenden Händen der Gäste, zinnerne Fässer voll Thee leerten sich unter den emsig austheilenden Händen der Wirtinnen, bis zuletzt nichts übrig blieb, als etliche unbelegte Butterbrode und die Blumenbouquets.

Jetzt, nachdem der eß-theetische Theil beendet, folgte der ästhetische Theil des Festes. Aller Augen wandten sich nach oben, nach der Gallerie, auf der jetzt die Redner erschienen. Der Secretär der Gesellschaft, ein M. P. (Parlaments-Mitglied), war speciell zu dem Zweck von London nach Chester gekommen, um dem Feste beizuwohnen, und hielt nun eine herzliche Anrede an die Mädchen, welche seine Worte – wie in der That die jedes folgenden Redners – mit lebhaftem Applaus aufnahmen. Es schien fast, als sei der Thee ihnen etwas zu Kopf gestiegen, so geräuschvoll bezeigten sie ihren Beifall, besonders als der hohen Protectorin des Vereins, der Königin Victoria, gedacht wurde, sowie einiger anderer Damen, die sich um den Verein verdient gemacht hatten. Dann sang man einige Lieder; zum Schluß das unvermeidliche „God save the Queen“, das jede musikalische Production in England abschließt, und welches natürlich von der ganzen Versammlung stehend gesungen wurde.

Das schöne Wetter, das unser Fest den ganzen Tag über begünstigt hatte, lockte uns nun in’s Freie. Ein Theil der Gesellschaft wanderte nach dem Flusse zu, um die hübsche Umgegend kennen zu lernen oder Kahnfahrten zu unternehmen, Andere besahen die alterthümliche und höchst eigenartige Stadt. Ich schloß mich den Letzteren an und bewunderte die prachtvollen Kaufhallen die mit ihren langen Colonnaden mich an Bern erinnerten, und die mächtigen Festungsmauern, auf denen man spazieren gehen kann und die mit kleinen Wohnhäusern bebaut sind. Nun begriff ich auch, wie einst Rahab die Kundschafter Josua’s aus ihrem [277] Hause auf der Mauer hatte herablassen können – das war mir bisher nie klar geworden!

Unter den Kaufläden zeichneten sich besonders die Conditoreien aus, die in ganz England berühmt sind; man zeigte mir auch diejenige, welche den riesigen Hochzeitskuchen der Herzogin von Albany geliefert hatte. Unsere jungen Mädchen schienen sich auch von der Güte dieser Producte uberzeugen zu wollen, denn ich sah Viele von ihnen hineingehen, und auf der Rückfahrt ließen sie ihre Zuckerdüten ganz ungenirt circuliren.

Diese Rückfahrt war, wie das meist bei solchen Gelegenheiten der Fall, weit belebter als die Hinfahrt. Die Mädchen unterhielten sich ungenirt unter einander und mit den Damen, sangen Lieder und thaten ihr Möglichstes, um die Reste des mitgenommenen Proviants zu vertilgen. Auf jeder Station gab es Abschiede, und wir waren wieder zu unserem ursprünglichen Häuflein zusammengeschmolzen, als wir gegen 10 Uhr in den Altrinchamer Bahnhof einfuhren.

Mir hatte der hübsche Ausflug jedenfalls ein erhöhtes Interesse für den Verein gegeben, der in England – zum Theil auch schon in seinen Colonien! – so segensreich wirkt. Ein ähnlicher existirt auch auf dem Continent. Er ist unter dem Titel „Union internationale des amies de la jeune Fille“ in Neuschatel von dem durch seine humanen Bestrebungen berühmten Pastor Humbert gegründet worden, und erfreut sich einer weiten Verbreitung. Möchte er auch in Deutschland Boden fassen und recht viele Mitglieder gewinnen!




Zur Einführung in die allgemeine deutsche Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen.

Von Dr. Paul Boerner, Mitglied des Vorstandes.

Bald ist ein Jahr vergangen, seit ich in Erfüllung der mir gewordenen ehrenvollen Aufgabe an dieser Stelle eine allgemeine Einleitung in die damals ihrer Vollendung rasch entgegengehende Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen zu geben suchte. Die betreffende Nummer der „Gartenlaube“ war geschmückt mit dem Bilde des eigenartig schönen Gebäudes, welches den berühmten Baumeistern Heyden und Kyllmann seine Entstehung verdanke. Als die Nummer selbst ausgegeben wurde, konnte ihr Inhalt aber nicht mehr das Gefühl freudigen Stolzes auf das Deutschland so trefflich gelungene Friedenswerk hervorrufen, sondern nur tiefe Trauer und wehmütige Empfindung. Die Schreckensnachricht, daß das große Ausstellungsgebäude mit einem Theil seiner Schätze ein Raub der Flammen geworden sei, war wenige Tage zuvor schon überall hin gedrungen.


Das Hauptgebäude der Hygiene-Ausstellung in Berlin.


Die Ausstellung des Jahres 1882 sollte, so nahmen wir an, von epochemachender Bedeutung für Hygiene und Rettungswesen werden. Die Organisation unseres Werkes war eine selbstständige, ganz originale, und wir durften von ihr hoffen, daß sie ähnlichen Unternehmungen als Beispiel dienen werde. Statt dessen war der 12. Mai 1882, an welchem die Arbeit von mehr als einem Jahre in kaum einer Viertelstunde zerstört und zu Asche verwandelt wurde, allerdings, wie Baurat Kyllmann einleuchtend dargelegt hat, ein Tag von epochemachender Bedeutung in der Geschichte der Ausstellungsbauten überhaupt, aber in ganz anderem Sinne und nach anderer Richtung hin, als erwartet wurde.

Man war sich zwar früher wohl bewußt, sagt Herr Kyllmann, daß die hölzernen Ausstellungsbauten eine große Gefahr in sich bergen, sowohl für die ausgestellten Güter, als auch für das Leben des Publicums, welches dieselben besucht; indessen glaubte man zu der Annahme berechtigt zu sein, daß eine besondere Aufmerksamkeit und gesteigerte Sicherheitsmaßregeln geeignet seien, diese Gefahr fern zu halten. Die wiederholten günstigen Erfahrungen, welche bei den in rascher Folge sich drängenden Provinzial-Ausstellungen in Deutschland in dieser Beziehung gemacht worden waren, schienen die obigen Annahmen zu bestätigen, und nicht einmal die kleineren Brandunglücke, welche thatsächlich stattgefunden haben, vermochten diese Ansicht zu erschüttern. Erst die gewaltige Katastrophe vom 12. Mai 1882 veranlaßte einen vollständigen Bruch mit der bisher befolgten Ueberlieferung und Uebung. Eine Gebäudegruppe von über 11,000 Quadratmeter bebauter Fläche war mit ihrem gesammten Inhalte in der unglaublich kurzen Zeit von dreiviertel Stunden ein Raub der Flammen geworden, und die brennenden Theile und Funken hatten noch weitere große Gefahren für die Stadt befürchten lassen, trotzdem der Brand unter den verhältnißmäßig günstigsten Umständen für eine mögliche Unterdrückung stattfand; denn er brach bei Tage aus, die Feuerwache war zur Stelle, die Beamten der Ausstellung, mehrere Tausend Arbeiter waren zur Verfügung, um sofort jede gewünschte Hülfe zu leisten: aber die rasende Schnelligkeit, mit welcher die Flammen, auch der Windrichtung entgegen, sofort über das ganze Gebäude sich verbreiteten, spottete jeder menschlichen Kraftanstrengung. Die Vernichtung des Hygiene-Ausstellungsgebäudes machte es nunmehr jedem Techniker klar, daß in der Zukunft eine Verantwortung für Leben und

[278] Gesundheit des die Ausstellung besuchenden Publicums und für die Sicherheit ausgestellter Gegenstände nur bei massiv ausgeführten Gebäudeconstructionen übernommen werden könnte. War man daher früher aus finanziellen Gründen vor dem Gedanken zurückgeschreckt, für vorübergehende Zwecke massive Bauten auszuführen, so lag jetzt die Nothwendigkeit so dringend vor, daß „die finanziellen Rücksichten nicht mehr vorwiegen konnten“.

Als selbstverständlich ging die furchtbare Lehre, welche durch den Brand der Hygiene-Ausstellung der ganzen civilisirten Welt zu Theil geworden war, nicht verloren. Ich sehe ab von der Geschichte der Wiederherstellung des Werkes – die ganze Presse hat dieselbe ja Schritt für Schritt verfolgt – nur das Eine mag auch hier wiederholt werden, daß der Vorstand am Tage nach dem Brande, gestärkt und ermuthigt durch die Beweise der lebhaftesten Sympathie, die ihm vom deutschen Kaiserpaare, dem Kronprinzen und der Kronprinzessin, dem Fürsten Bismarck, den höchsten Behörden und allen Schichten des Volkes zugingen, sofort den Beschluß faßte, unter allen Umständen den großartigen, der Ausstellung zu Grunde liegenden Gedanken nun erst recht und in vollendeterer Form in’s Leben zu rufen. Dadurch, daß der deutsche Kaiser dem Unternehmen 100,000 Mark bewilligte, und durch die Munificenz der Stadt Berlin, die 200,000 Mark hergab, und durch die überaus ergiebigen Einzeichnungen zum Garantiefonds sahen wir uns in den Stand gesetzt, gleich nach den ersten Organisationsarbeiten auf Grundlage eines sorgfältig aufgestellten Entwurfes eine beschränkte Concurrenz für ein massives Ausstellungsgebäude, hauptsächlich in Eisenconstruction, ausschreiben zu können, und in dem Augenblicke, da diese Blätter zum Drucke gehen, wird das Gebäude bis auf einen Theil der majestätischen Kuppel, wie es die beiliegende Abbildung giebt, vollendet dastehen.

Ganz abgesehen von seiner Feuersicherheit bietet das neue Gebäude noch darin eine sehr wichtige Eigenthümlichkeit, daß die Ingenieure Dr. Pröll und Scharowsky in Dresden statt durchgehender Hallenbauten, wie es das Programm eigentlich verlangte, selbstständig neben einander gesetzte Eisensysteme in’s Leben riefen. Es liegt nämlich die Möglichkeit vor, daß man die Gebäude am Schlusse des Jahres wird abbrechen müssen, da das Grundstück dem Staate gehört. In diesem Falle erleichtert das gewählte System den Abbruch und Wiederaufbau ganz außerordentlich, und wird dieser Bau nach dem Schlusse unserer Ausstellung demnach noch oft genug ähnlichen humanen Zwecken dienen können.

Die Schöpfer des Entwurfes haben ihn in constructiver Beziehung sehr tüchtig durchgearbeitet, während nach der künstlerischen und architektonischen Seite hin die Architekten Kyllmann und Heyden die ihnen gewordene Aufgabe bei aller Einfachheit in musterhafter Weise gelöst haben. Die Ausführung der Arbeiten selbst ist so beschleunigt worden, daß man die bestimmte Zuversicht hegen darf, daß die Eröffnung der Ausstellung auf den Anfang Mai dieses Jahres festgesetzt werden kann. Das Gebäude bedeckt eine Fläche von 11,500 Quadratmeter, und wird die umstehende Abbildung das Verständniß der kurzen Notizen über die in ihr durchgeführten Verhältnisse erleichtern. Den Einzelsystemen ist ein Maß von neunzehn Metern zu Grunde gelegt. An die fünfundzwanzig Systeme der quadratförmigen Gruppe schließen sich in der Hauptaxe drei weitere Systeme und zwei polygonale Hallen. Letztere umfassen zwei größere, zu Restaurationszwecken bestimmte Höfe, während sich in den mittleren Systemen vier kleinere Höfe einbauen, welche zur Schaffung von seitlichem Licht und für die Zwecke der Wasserableitung angeordnet sind.

Die äußere massiv in Rohbau ausgeführte, von Portal- und Fensterbauten durchbrochene Umfassungsmauer ist 4 Meter und die darüber befindliche Fensterwand 5,7 Meter hoch. Außer dieser directen seitlichen Beleuchtung erhält jedes System noch hohes Oberlicht durch die 2 Meter hohen senkrechten Wände des oberen Aufsatzes. Das Mittelsystem der Hauptfront ist als Kuppelbau mit besonders vorgezogenem Hauptportal ausgebildet. Die Größe der bebauten Grundfläche beträgt im Ganzen 75,500 Quadratmeter oder rund 30 Morgen. Die Einzelbauten nehmen 3600 Quadratmeter, die Restaurationshallen 3200, die Eisenbahnhalle 1500 Quadratmeter ein.

Das neue Gebäude macht den Eindruck einer großen Einfachheit und eines gewissen Ernstes. Aber auch in diesem Jahre hat man nicht versäumt, für eine gediegene künstlerische Ausstattung desselben zu sorgen.

Das große Eingangsportal des Hauptgebäudes ist durch eine Kolossalgruppe in bronzirtem Gyps geschmückt, zu welcher der Bildhauer Arnold Brütt das Thonmodell fertiggestellt hat. Ein hoheitsvolles Weib, die Göttin der Gesundheit, steht in der Mitte und soll gleichzeitig eine Personification der Menschenliebe sein, deren Symbol, das rothe Kreuz, ihrem Diadem eingefügt ist. Ein der Göttin zur Heilung übergebenes krankes und nun wieder genesenes Knäbchen gleitet aus ihrer Linken in die Arme der beglückten Mutter herab, die es knieend entgegennimmt. Zur rechten Seite klammert sich ein gestrandeter Schiffer, von Segelfetzen umflattert, mit der Linken an einen zerbrochenen Mast, während seine Rechte in den von der Göttin dargereichten Rettungsgürtel greift.

Ein anderer Bildhauer, Peter Brener, hat die Büste der Kaiserin ausgeführt, die in der Mitte des großen Kuppelsaales ihre Aufstellung finden wird. Sie krönt ein schlankes viereckiges Postament, zu dessen Füßen eine halbnackte, weibliche, ideale Gestalt sitzt und das lächelnde Antlitz dem Beschauer zuwendet. Der rechte Arm umschlingt das Wappen des Heimathlandes der erhabenen Protectorin, der linke das des deutschen Reiches. Das Postament selbst wird fast vollständig verdeckt durch Genien, die es mit Rosenketten und Draperien umwinden; Velarien, von Professor Preller in Dresden gemalt, bilden den Hintergrund, von dem sich die Büste der Kaiserin abhebt; auch sie repräsentiren ideale Seiten der Ausstellung, die Wohlthätigkeit, verkörpert durch die heilige Elisabeth, während auf der anderen Seite Genesene im Tempel des Aesculap zu Epidauros für ihre Heilung dem heilenden Gotte Dankopfer darbringen.

Im letzten Pavillon des Hauptausstellungsgebäudes befindet sich das Rundgemälde, welches in diesem Jahre an die Stelle von Christian Wilberg’s zerstörtem Meisterwerke getreten ist. Dasselbe ist nach den Plänen des Baurath Kyllmann und Professor Hertel ausgeführt, und Gastein, das durch seine heilkräftigen Quellen, wie durch den Zauber seiner Naturschönheit berühmt, wiederzugeben, war die dem Künstler gewordene, von ihm in vielbewunderter Genialität gelöste Aufgabe.

Wir blicken auf das herrliche Bad. Felsentreppen führen an einem rauschenden Wasser vorüber, das mit der mächtigen vom Bildhauer Herter ausgeführten Figur der Quellennymphe geschmückt ist, zu einer Gebirgshütte, von der aus nach drei Seiten hin sich die Blicke auf die Hochalpenwelt öffnen. In der mittleren Aussichtsstelle befindet man sich dem hoch an der Felsenwand schwebenden Wildbad Gastein gegenüber. Rechts und links hat der Maler die Nebenthäler Gasteins mit einer entzückenden Frische wiedergeben, und auch der Kaiser in seinem Gastein so bekannten Wagen fehlt nicht.

Indessen so sehr auch einer solchen Ausstellung der küstlerische Schmuck ziemt, so ist er doch nur etwas Nebensächliches, den zahlreichen Objecten gegenüber, die in den Pavillons dieses Glas- und Eisenpalastes sich zusammengefunden haben. Nicht in diesem Augenblicke kann es die Aufgabe sein, die einzelnen Objecte auch nur flüchtig zu skizziren; es fällt dies der ständigen Berichterstattung zu. Nur das mag schon heute hervorgehoben werden, daß die Ausstellung bei Weitem reichhaltiger geworden ist, als dies im vorigen Jahre der Fall war. Sie wird ein in dieser Vollständigkeit noch nicht dagewesenes Bild der Leistungen Deutschlands und Oesterreich-Ungarns auf dem Gebiete der Gesundheitspflege, Gesundheitstechnik und des Rettungswesens geben. Der soeben vollendete Katalog weist über 1000 Nummern auf, und da gerade die kostbarsten Objecte fast alle gerettet worden sind und Regierungen, Gemeindeverwaltungen und Private darin gewetteifert haben, das Zerstörte wieder herzustellen, so können wir jetzt, nach wieder einem Jahre schwerer Arbeit mit freudigem Stolze sagen, daß durch die allgemeine Theilnahme der Nation ein Werk zu Stande gekommen ist, welches Deutschland in jeder Beziehung zur Ehre gereichen wird.

Es mag noch gestattet sein, auf die Umgebung des Ausstellungsgebäudes zur ersten Orientirung einen Blick zu werfen. Inmitten der Parkanlagen befindet sich eine Wasserfläche von circa 3000 Quadratmeter, um welche sich die mit hübschen Bäumen und Bosquets bepflanzten Wege ziehen. Restaurants, Musikpavillons und eine stattliche Anzahl von weiteren Einzelbauten umsäumt die Gartenanlagen.

[279] Die Beleuchtung des Terrains in den Abendstunden erfolgt in dem vorderen Theile vor dem Hauptgebäude mit elekrischem Bogenlicht durch die Firma Siemens und Halske, in den Terrainabschnitten nördlich der Stadtbahn mittelst verschiedener Systeme von Gasbeleuchtung, hauptsächlich Fr. Siemens’scher Regenerativbrenner, die Beleuchtung in dem Bauer’schen Restaurant mittelst elektrischen Glühlichtes durch die deutsche Edison-Gesellschaft, und die Beleuchtung des Gebäudes für häusliche und wirthschaftliche Einrichtungen mittelst elektrischen Glühlichtes durch die Gebrüder Naglo.

Die Gartenanlagen sind nach den Bestimmungen der städtischen Parkdeputation auf Kosten der Stadt Berlin von dem städtischen Gartendirector Herrn Mächtig ausgeführt.

So möge die Ausstellung denn im Laufe des Sommers und Herbstes vielen Tausenden dienen zur Belehrung und Erquickung. Auch von ihr soll dann gelten, daß sie Diejenigen heranziehen und befriedigen werde, welche wissen wollen, was die deutsche Industrie auf dem Gebiete der Gesundheitspflege und Gesundheitstechnik, sowie auf dem des Rettungswesens geleistet, welche Fortschritte sie im letzten Jahrzehnt gemacht hat und welche Lücken andererseits noch vorhanden sind. Sie wird darbieten ein treues Bild der sanitären Einrichtungen, welche Staat und Gemeinde in Deutschland zum Schutze der Volksgesundheit getroffen haben, und sie wird durch das, was sie bringt, das Verständniß für öffentliche Gesundheitspflege in vielleicht bis jetzt noch ungeahnter Weise fördern. Mehr als alle Belehrungen wird auch hier die eigene Anschauung maßgebend sein.

Die competenteste Kritik ist der Ausstellung in hervorragendem Maße auch in diesem Jahre gesichert, da mehrere große Vereine, welche sich ihr im Jahre 1882 anzuschließen gedachten, demnächst ihre Jahresversammlungen in Berlin abhalten werden. Die Vortragscyklen aus den in der Ausstellung vertretenen Gebieten der Hygiene und des Rettungswesens sind von Neuem vorbereitet, und die Presse aller Parteien wendet unserem Unternehmen die lebhaftesten Sympathien zu. Es kann daher auch jetzt wieder der Hoffnung Raum gegeben werden, daß der Einfluß der Ausstellung über die Zeit ihres Bestehens hinausgehen und auf die weiteren Fortschritte der Gesundheitspflege und Gesundheitstechnik einen maßgebenden Einfluß ausüben wird.

     Berlin, Mitte April 1883.




Ein Spaziergang durch das Thüringer Spielwaarenland.

Um nicht Erwartungen anzuregen, welche in dem Folgenden nicht befriedigt werden könnten, will ich sofort den Zweck enthüllen, dem ich mit dieser keinen Arbeit nachstrebe. Wir gehen in das Spielwaarenland, nicht um schwerwiegende, mit statistischen Gerüsten ausgestattete Belehrungen über ehe-, und dermalige Zustände von Industrie und Handel zu empfangen; nicht um uns in die technischen Einzelheiten der vielgestaltigsten Gewerkthätigkeiten einweihen zu lassen; auch nicht, um in den uralten Krieg über das Mein und Dein von Arbeitern und Arbeitgebern mit einzutreten und in dem Wirrsal von Recht und Unrecht Licht und Ausgang zu finden – nein, nichts von alledem, sondern wir benutzen die Frühlingszeit, um Alle, welchen das Glück des Christbaumes mit Kinderlust bescheert ist, zu verlocken, mit den fußreisefähigen Kindern einmal die Berge und Thäler zu besuchen, wo die Tausende von Menschen wohnen, welche fast das ganze Jahr hindurch für den einen Tag arbeiten, an dem Millionen Kinder rings um die Erde ihr erstes und höchstes Freudenfest feiern.

Wir gehen in das Spielwaarengebiet des meininger Oberlandes, weil dasselbe auf engem Raume den Augen der Kinder Alles darbietet, was ihr Herz erfreut, ohne ihre Füße zu sehr zu ermüden. Natürlich meinen wir damit Kinder von zehn bis vierzehn Jahren; die Kleinen, welche noch im vollen Glauben an das Christkindlein selig sind, gehören nicht in die Werkstätten, wo die Tausende von Bescheerungsgegenständen gemacht werden. Mit den größeren und kräftigeren Kindern aber diesen Spaziergang auszuführen, ist eine vielfach belohnende Lust. Den Kindern kann eben Alles, was sie einst als Spielzeug entzückte, im ganzen Laufe seiner Entstehung, bis zur Vollendung gezeigt werden. Da steht vor ihnen der Wald, bald auf hohem Berge, bald an steilen Abhängen, bald in tiefen, wasserdurchrieselten Thälern und Schluchten, aber überall erinnert er an die Holzspielwaaren, und jede der vielen Schneidemühlen sagt ihnen, wie er klein gemacht wird. Da schreiten sie an den Gruben und Brüchen vorüber, aus welchen die Masse genommen wird, welche sie später zu Glas oder zu Porcellan verarbeiten sehen. Wir wandern mit ihnen von Fabrik zu Fabrik, bald durch den ewig herrlichen Wald, bald über lichte Höhen, die uns mit ihrer Fernsicht entzücken; wir gehen auch in die keinen Waldhäuser, wo die Familien bei der Arbeit sitzen. Und wenn da den Kindern auch die Bilder der Armuth nicht erspart werden, so kann das ihren Herzen nur zum Segen gereichen. Ueberall aber begegnen wir freundlichen Menschen; gar manche Arbeit, im Wald und im Hause, begleitet schöner Gesang, und die müden Wanderer nimmt am Abend überall im Gebirg ein gastliches Haus mit guter Bewirthung auf. Eine Kinderreise kann nirgends mit mehr Nutzen und Vergnügen für Alt und Jung vollbracht werden, als in unserem Thüringer Spielwaarenlande.

Am Thor zu diesem Spielwaarenlande stehen wir, wenn wir vom Norden, von Saalfeld oder Schwarzburg her kommen, schon in Wallendorf-Lichte. Wallendorf ist ein meiningischer, Lichte ein schwarzburg-rudolstädtischer Marktflecken. In jedem derselben besuchen wir Porcellanfabriken, welche 800 bis 1000 Arbeiter beschäftigen und in Güte des Porcellans, Schönheit und Mannigfaltigkeit der Form und Trefflichkeit der Malerei Mustergültiges liefern. Vor Allem aber führen wir die Kinder in die hier von den Regierungen von Meiningen und Rudolstadt gegründete und erhaltene Kunstschule für Freihandzeichnen, Modelliren und Malen. Die über 200 Schüler sind arme Knaben vom neunten Lebensjahre an, und die Lehrlinge und Arbeiter in den Fabriken. Der Unterricht geschieht natürlich unentgeltlich. Wenn aber unsere Kinder die Berge und steilen Gebirgspfade sehen, welche diese armen Waldjungen passiren müssen, um im rauhesten Winter über Schnee und Eis in ihre Schule zu gelangen, so werden sie die Wege und die Jungen gewiß mit aufmerksameren Augen und letztere recht theilnehmend ansehen. Der Leiter dieser Schulen ist der Maler Louis Hutschenreuter. Er hat sich durch sein opferfreudiges Walten offenbar vielen Dank verdient, und es ist nur zu wünschen, daß derselbe ihm auch immer zu Theil werde.

Wir müssen nun, jedoch auf bequemen Wegen, einen tüchtigen Berg ersteigen; oben aber, in einer Höhe von 2500 Fuß über dem Meere, genießt das Auge einen prächtigen Blick auf die malerischen Gebirgsdörfer ringsum, die alle im Dienst der Glas- und Porcellanfabrikation stehen, denn der Boden läßt höchstens Kartoffeln und Sommergetreide reifen. Wir begrüßen zuerst den höchsten bewohnten Ort Thüringens, das Dorf Igelshieb. Jetzt, im Frühling, werden unsere Kinder kaum glauben, daß in harten Wintern die Bewohner von Igelshieb, meist Glasarbeiter, es erleben können, daß sie sich den Ausweg aus ihren verschneiten Häuschen durch eine Art Tunnel im Schnee graben müssen, wenn sie es nicht vorziehen, den Ausgang durch das Bodenloch zu suchen.

Gleich neben Igelshieb liegt der große Ort Neuhaus am Rennstieg. Hier eilen wir in die Glasfabrik von L. u. S. Müller, um ein Meisterstück der Glasbearbeitungskunst zu betrachten: ein Kriegsschiff von etwa zwei Fuß Länge, das in allen Theilen, selbst mit Ausrüstung und Bemannung nur aus Glas besteht, und zwar Alles frei über der Lampe, ohne alle mechanische Beihülfe hergestellt, gewiß eine reizende Kinderlust!

Und nun winken uns die drei wichtigsten Industriestätten Thüringens, die unser Bild zeigt: Lauscha, als die Geburtsstätte der Glas-, Limbach als die der Thüringer Porcellanindustrie, und Sonneberg, das aus einer „Tochter Nürnbergs“ (vergl. „Gartenlaube“ 1865, S. 712) durch die Vermählung mit dem Großhandel zur Mutter der heimischen Hausindustrie geworden ist.

Einmal auf der Höhe, eilen wir zuerst nach Limbach, nicht ohne auf unserm Gange im gemüthlichen Forstwarthaus Bernhards-Thal [280] zu einem stärkenden Trunke eingekehrt zu sein. An großen Porcellanerdbrüchen vorüber gelangen wir zu dem Orte, wo Gotthelf Greiner, ein ebenso origineller wie genialer Mann, der zweite Erfinder des Porcellans geworden ist. A. Fleischmann, der Sonneberger Commerzienrath und Geschichtschreiber der Industrie des Oberlandes, hat in seinen „Culturhistorischen Bildern“ (Hildburghausen, Kesselring) eine Selbstbiographie des alten Herrn abgedruckt, die zu dem Belehrendsten, aber auch Erquicklichsten gehört, das man in unserer Urgroßväter Schreibart lesen kann. Niemand versäumt es, vor das Denkmal zu treten, das in Limbach dem Vater der gesammten Thüringer Porcellanindustrie gesetzt worden ist. Die von ihm gegründete Fabrik besteht noch, des alten Rufs würdig; sie producirt hauptsächlich kleine freistehende, trefflich modellirte und gemalte Thiere, ein belehrendes und unterhaltendes Spielzeug für Kinder.

Limbach liegt auf einer so schroffen Wasserscheide, daß es hierin eine Merkwürdigkeit aufzuweisen hat: vom Gasthause sendet die vordere Dachrinne ihr Wasser dem Elbegebiet durch die hier entspringende Schwarza, die hintere Rinne aber durch die Grümpen, einen Quellbach der Itz, dem Rheingebiet zu. Im Kranz seiner Aussicht liegen Scheibe mit einer im Figurenfache ausgezeichneten Porcellanfabrik, ferner die beiden höchsten Berge Meiningens, der Kieferle und der Bleß, und endlich Steinheide, ein trauriges Denkmal des Dreißigjährigen Krieges, vorher eine florirende Bergstadt und seitdem ein armer Flecken, auf dessen einstigen Marktplatz jetzt Gras wächst.

Und nun schlagen wir den Weg nach Lauscha, oder, wie es im Volksmund heißt, nach „der Lausche“, ein. Auf demselben haben wir die schönste Gelegenheit zu der Betrachtung: wie übergroß schon der Tribut war, den die Menschen von den Waldungen forderten. Die Eisenwerke allein verbrannten jede Woche den Bestand einer sieben Morgen haltenden Waldung, und die Glashütten verbrauchten zusammen jährlich 1200 Klafter. Und während die Groß- und Kleinindustrie des Oberlandes fast ganz auf Holz beruhte, wurden auch noch „vom Fiscus“ große Holzmengen in das Ausland verflößt. Schon Martin Luther äußerte über diese Waldverwüstung: „Es werde noch vor dem jüngsten Tage wie an guten Freunden so an wildem Holze Mangel sein.“ Auf Kosten des Waldes vermehrten sich die Kartoffeläcker, während die Poesie der Köhlerhütte vor der Prosa der Steinkohlenhütte erblich, aber wenigstens zum Besten des Waldes.

Wir kommen auf unserm Bergweg nach etwa zweistündigem Waldgang bei der Göritzmühle in dem düster-romantischen Steinachgrunde an, und wandern wieder straßauf, um uns nach abermals einer halben Stunde des Anblicks der lustigen Lausche zu erfreuen; denn so und nicht anders verdient der seltsame Ort genannt zu werden.

Wohl wird das Thal, je höher hinauf, um so schluchtartiger; eng an einander drückt Haus an Haus sich die schmale Straße entlang, und wo eine Seitengasse unentbehrlich wird, da hängen die Häuschen wie Schwalbennester am Abhang – und doch ist keine Spur von Trübsinn und Mißmuth in den Augen zu lesen: im Gegentheil, die Heiterkeit lacht nirgends so gerade heraus, als ob Musikantenblut in allen Adern flösse, und der neckische Geist ist landläufig dort.

Aber kann es denn da anders sein, wo einst böhmisches und schwäbisches Blut sich vereinigten? Die Gründer der ersten Glashütte in Thüringen waren zwei aus ihrer Heimath ihres protestantischen Glaubens wegen im Jahre 1595 vertriebene Männer, Christoph Müller aus Böhmen und Hans Greiner aus Schwaben, kurzweg der „Schwabenhans“ genannt. Beide erhielten gemeinsam am 10. Januar 1557 in einem „Erbbrief“ vom Herzog Johann Kasimir in Coburg ein kostbares Privilegium zum Anbau an der Lauscha. Noch im selben Jahre begann die Arbeit, und hat also unweigerlich am selben Tage in vierzehn Jahren die Lausche ihr dreihundertjähriges Glasjubiläum zu begehen. Ihre ersten Arbeiter brachten sie mit sich, sämmtlich wie wilde Thiere aus den katholischen Landen fortgehetzte Leute. Sie begannen ihre Arbeit mit Gesang eines Chorals und Gebet und halfen durch ihre Hauptarbeit selbst der lutherischen Lehre im Volke zu immer weiterer Verbreitung, indem sie die damals beliebten bemalten Trinkgläser mit biblischen Sprüchen in Luther’s Sprache schmückten.

Die Einübung immer neuer Choräle führte von selbst auch zu gemeinsamer Uebung in musikalischen Instrumenten, und bald ward es Sitte, daß jeder „Gläser“ (so hießen die Glasbläser) wenigstens eines Instrumentes Herr sein mußte. Hatten die braven, fleißigen und frommen Leute in der Lausche schon an sich, da ihre Arbeit gesegnet war, alle Ursache zu einem gesunden Frohsinn, so setzte diese Pflege der Musik und die vom Coburger Herzog gestattete Anlegung einer eigenen Bierbrauerei der Lauschaer Heiterkeit die Krone auf.

Merkwürdiger Weise ist sogar der Dreißigjährige Krieg, der in Südthüringen und Nordfranken so furchtbar wüthete (vergleiche mein „Bild aus Deutschland im Elend“, Jahrgang 1865, Seite 825), an der Lausche spurlos vorübergegangen. In die Thalzwiesel der alten und der faulen Lauscha verirrte sich weder Pandur noch Kroat, während der Glasbedarf sogar zunahm und die Waaren durch Händler auf den Schleichwegen des Gebirges hinausgetragen wurden.

Unter so glücklichen Umständen gedieh auch die Volkspoesie der Glasmaler, die später nicht blos mit Bibel-, sondern auch mit selbsterfundenen Reimsprüchen ihre formen- und farbenreichen Trink- und sonstigen Gefäße verzierten. Ein Beispiel von 1684 lautet:

„Ich bin schön hell und klar aus Sand und Asch gemacht,
Durch Menschenkunst und Wind in solche Form gebracht.
Setzt man mich unsanft hin, so brech ich gleich entzwei:
Mich dünkt, ein Mensch und ich – das ist fast einerlei.“

Wenn drei Jahre darnach (1687) die erste Postkutsche, die zwischen Coburg und Gräfenthal über den Wald fuhr, die Lausche weit links liegen ließ, so winkt ihr dagegen in unseren Tagen die Gewißheit, daß die Locomotive durch den Steinachgrund dampfen und vor der Hand wenigstens Sonneberg und Lauscha mit einander verbinden wird.

In Lauscha steckt eine kerngesunde Triebkraft. Die Häusergruppe von neun Familien zu Ende des Dreißigjährigen Krieges war vor dreißig Jahren schon zu einem Dorfe von nahe an vierzehnhundert Seelen angewachsen, und jetzt zählt das Dorf Lauscha dreitausend Einwohner und könnte alle Tage eine Stadt werden.

Die erste Sehenswürdigkeit des Ortes ist die alte Glashütte, kurzweg „die Hütt“ genannt. Die beiden Gründer hatten sie zu zwölf Ständen eingerichtet, von welchen die sechs auf der Abendseite dem Greiner, die sechs auf der Morgenseite dem Müller gehörten. Diese Einrichtung besteht noch, auch die beiden Namen haben sich erhalten, ja es giebt fast nur Müller und Greiner in der Lausche (die durch Abstammungs- oder Scherz-Anhängsel an die Namen sich von einander unterscheiden); nur der Besitz dieses Dutzends ist insofern geändert, als jetzt je sechs Glasmeister einen ganzen, sechs je einen halben Stand und zwei zusammen drei Stände inne haben. An jedem Stand arbeiten zwei Gesellen.

Die Hauptbeschäftigung ist das Röhrenziehen. Aus dem Hafen in der Ofengluth heraus holt der eine Geselle mittelst der sogenannten eisernen Rohr- oder Hohlglaspfeife flüssiges Glas und dreht es, Luft durch das Rohr einblasend, auf einer Platte, bis es eine Walze von bestimmter Länge und Stärke bildet; dann heftet der andere Geselle die Glaswalze mit dem andern Ende an ein sogenanntes Bindeisen, und nun laufen Beide, der mit der Pfeife fortwährend Luft einblasend, aus einander und ziehen so das Glas zu Röhren von jeder beliebigen Stärke, die lang hingestreckt auf dem Boden liegen. In Stücke zerkleinert, gehen dieselben in die Hände der Lampenarbeiter über. Außerdem stellt man in er Hütte noch Glasdraht zum Spinnen der Glaswolle, Glaskugeln aller Art, dagegen Trink- und Arzneigläser nur noch selten her. In der Hütte herrscht, trotz der nicht leichten Arbeit, immer munteres Leben, erleichtert durch das allgemeine „Du“, das in den Kreisen der Arbeiter alle Vornehmigkeitsgelüste Einzelner unmöglich macht.

Die Lampenarbeiter vertreten die Hausindustrie. Früher war die Arbeitslampe auf dem Werktische erst mit Talg gespeist, dann mit Paraffin, abwechselnd mit Petroleum gefüllt, das Gesicht des Arbeiters kam möglichst nahe an die Flamme, weil er die nöthige Stichflamme selbst blasen mußte – für Augen und Lungen eine schwere Aufgabe. Dies dauerte bis 1867, wo der Segen einer Gasanstalt nach Lauscha kam. Seitdem laufen die Gasröhren durch den ganzen Ort, zu jedem der Schwalbennester an den Bergen hinan, und sogar zu den Nachbarorten Igelshieb, Ernstthal und Neuhaus a. R. hinauf, die alle bei Lauschaer Gas arbeiten. Wie es jetzt so reinlich am Werktische ist, sehen wir

[281]

Im Thüringer Spielwaarenland.
Zeichnung von Louis Hutschenreuter in Lichte, zum Theil nach Photographien von C. Hirsch in Lauscha.

[282] an demjenigen, an welchem auf unserer Illustration uns der Zeichner (nach einer Photographie von C. Hirsch) Herrn Ludwig Müller-Uri mit seinen Söhnen vorführt.

An der Lampe werden jetzt vorzugsweise Glasperlen, Puppen-, Thier-, und Menschenaugen und Spielzeug, reizende Früchte und farbenprächtiger Christbaumschmuck hergestellt; die ehedem vielproducirten Glasfiguren haben jedoch der billigeren und massenhafteren Herstellung aus Porcellan weichen müssen. In diesem Augenblicke florirt der Glasperlenvertrieb in wahrhaft großartiger Weise, beschäftigt alle Hände von den ältesten bis zu denen der Kinder und und bringt ansehnliches Geld und vermehrte Fröhlichkeit in den Ort. Besonders sind’s die mattierten Hohlperlen und die sogenannten Fischperlen, welche jetzt verlangt werden, deren Perlmutterglanz dadurch erzeugt wird, daß man in die Krystallperle mittelst einer Pipette eine Gallerte von Fischsilber und Gelatine einbläst und dann die Perlen auf einer Wiege so lange in rollender Bewegung erhält, bis die Färbung in der Perle sich auf alle Seiten vertheilt hat. Diese Manipulation besorgen meistens Mädchen. Es ist eine Lust, in eine solche Stube zu treten und zu beobachten, mit welch neckischer Unterhaltung hier die Langeweile der Beschäftigung vertrieben wird. Nur Eins fehlt: das Singen geht nicht, weil Alle das hübsche Mundwerk zum Blasen brauchen.

Zum Verkaufe werden die Perlen auf Fäden von zehn und zwölf Zoll Länge angereiht, welche je nach deren Größe zwanzig bis hundert Stück fassen; das ist eine Schnur, zwölf Schnüre bilden eine Masche. Die oben genannten Bergorte bringen Tausende von „Maschen“ zu den Grossisten nach Lauscha, sodaß der Perlenbetrieb allein jetzt nach Hunderttausenden zu schätzen ist.

Eine Berühmtheit besitzt Lauscha in dem obengenannten Ludwig Müller-Uri, der die Kunst der Herstellung von Menschenaugen zur höchsten Vollendung gebracht und alle Concurrenten, selbst die früher alleinherrschenden Pariser, aus dem Felde geschlagen hat. Anderswo, als in der Lausche, würde man eine solche Kunstindustriegröße, welche mit den goldenen Medaillen der größten Ausstellungen geschmückt ist, wenn auch nicht gleich in einem Palaste, doch einem stattlichen Hause suchen. Hier führte mein Lauschaer Freund mich den steilen Pfad zu einer der hohen Seitengassen hinauf und richtig zu einem der Schwalbennester hinan, die am Berge hängen. Ueber eine Steintreppe steigen wir in’s Innere. Hier erfreut uns allerdings im Wohnzimmer die freundlich bürgerliche Einrichtung, die allezeit wohlthut. Wir verstehen aber die Harmonie des Aeußern und Innern dieses Hauses erst, wenn uns der Hausherr selbst begrüßt hat: der einfache, bescheidene Mann, der gleichwohl weiß und fühlt, was er geleistet hat. Nachdem wir seine reiche Sammlung eigener und fremder Augenmuster gesehen, folgten wir ihm und seinem jüngeren Sohn auf einer geländerlosen schmalen Stiege in sein – Atelier, hätte ich beinahe geschrieben – nein, in seine Werkstatt, die an Schmucklosigkeit nicht übertroffen werden kann. Und in diesem Raume hatte Müller-Uri sein Leben lang gearbeitet, um ein deutsches Vorurtheil durch einen deutschen Sieg niederzukämpfen. Müller’s Sohn setzte sich sofort an den Werktisch, entzündete die Gasflamme desselben und stellte, während sein Vater jede einzelne Hantirung und Glasröhrenwahl erklärte, ein Auge mit so prachtvoller blauer Iris her, daß es dem schönsten Frauenantlitz zur Zierde hätte gereichen können.

Wir beschränken uns hier auf diese wenigen Mittheilungen, weil der Gegenstand einen besonderen Artikel verdient und erhalten soll. Zur Erklärung unseres Bildchens sei nur noch gesagt, daß der alte Müller-Uri über der Gasflamme ein Stück Rohr schmilzt, während der ältere Sohn, Reinhold, dem jüngeren, Albin, für ein neues Auge das Vorbild auf einer Musterkarte zeigt. Beide Söhne sind des Vaters würdig. Ein verwandter Zweig des Hauses besteht bekanntlich in Wiesbaden.

Steigen wir nun wieder von unserer Höhe hinab, um noch einen raschen Blick auf die Arbeit und schließlich auf die Vergnügungen der Lauschaer zu werfen.

Ein Ort, für dessen Hauptindustrie noch ein halb Dutzend andere Ortschaften fast Haus für Haus thätig sind, und dessen Productionswerth in Glaswaaren allein auf 1,200,000 Mark zu veranschlagen ist, kann selbstverständlich nicht für die nächste Umgebung arbeiten, sondern muß seinen Absatz in der ganzen Welt suchen. Das verleiht den großen Exportgeschäften ihre Wichtigkeit, aber auch ihren Werth. Ohne die Rührigkeit, mit welcher dieselben nach immer neuen Absatzgebieten[WS 1] ausforschen und zugleich die heimische Production durch immer neue Verbesserungen und Muster immer concurrenzfähiger zu machen suchen, würde diese Hausindustrie ihre Lebensfähigkeit verlieren. Eine Aufzählung der Firmen würde hier zwecklos sein, da die Geschäftswelt sie längst kennt und die Kinder, die wir zu ihnen führen, doch keine Geschäfte eingehen wollen.

Neben der Glasindustrie bestehen in Lauscha zwei Porcellanmalereien. Im Besitz der älteren, von Ens und Greiner, befindet sich eine Gemälde- und Skizzensammlung von Jagd- und Schlachtstücken, die kein Besucher des Orts ungesehen lassen sollte. Eine neue Porcellanfabrik ist im Aufblühen begriffen.

Lauscha hat zwei Schulen und eine Kirche; in jenen wirken sechs Lehrer und ein Zeichenlehrer, in dieser unterstützt den Geistlichen ein musterhafter Kirchenchor in der Erbauung der Gemeinde; ein Beweis, daß mit Fleiß und Fröhlichkeit sich gar wohl bei diesen Waldleuten auch die Frömmigkeit vereinen kann. Trotzdem heißt es dort nicht „Ora et labora“, sondern umgekehrt „Arbeite und bete“. Als einmal bei einer Kirchenvisitation der Obergeistliche die Stände der Frauen ziemlich leer fand und fragte: „Wo sind denn diese?“ erhielt er die laute Antwort: „Sie sitze derhem und schneide Schmehlz.“[1]

Da gegen den Fabrik- und Hausarbeiter des Waldes oft der (leider nicht immer ungerechte) Vorwurf erhoben wird, daß es bei ihm „wie gewonnen, so zerronnen“ heiße, so ist hier die Bemerkung am Ort, daß in Lauscha ein Spar- und Vorschußverein besteht, dessen Gesammtumsatz im Jahr 1881 sich auf 1,106,680 Mark belief.

Der heitere Geist, der in dem Dorfe seit den Tagen seiner Begründer herrscht, äußert sich nicht blos bei der Arbeit, auf der Straße und im Wirthshaus nach üblicher Landbewohnerweise, sondern der gesellige Sinn hat sich auch höhere Aufgaben gestellt, und es ist für ein Dorf wohl aller Ehre werth, daß dort zwei Musikvereine, zwei Gesangvereine, zwei Turnvereine, ein Bildungsverein und sogar eine Theatergesellschaft mit ständiger Bühne ein geistig frisches Leben führen. So lebt in seinem Waldwinkel dieses intelligente, fleißige, gemüthliche Völkchen und ist mit Recht stolz darauf, wenn es rings umher heißt: „Die Lausche bildet eine kleine Welt für sich.“

Sollte es nicht werth sein, einen solchen Ort aufzusuchen?

(Schluß folgt.)



Der chaldäische Zauberer.

Ein Abenteuer aus dem Rom des Kaisers Diocletian.
Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


Lucius Rutilius, der bis dahin unausgesetzt bestrebt gewesen, mit seiner geliebten Hero eine Begegnung herbeizuführen, um die Trauernde umstimmen und ihre verzweiflungsvollen Entschlüsse rückgängig machen zu können, war von jenem Tage an völlig verändert.

Mehr in der Richtung der Phantasie, als in der des ruhigen, vorurtheilslosen Prüfens begabt, ausgestattet mit einer echt dichterischen Empfänglichkeit für alle äußeren Eindrücke, zweifelte er nicht an der Ehrlichkeit des räthselhaften Chaldäers, noch an der Wahrheit dessen, was er gehört und geschaut hatte.

Da auch Cajus Bononius nicht im Stande war, ihm die Wunder, die sie erlebt hatten, auf natürlichem Wege zu erklären, [283] so blieben die Bemühungen des Freundes, der ihn schon am folgenden Tage wieder aufgesucht und sich eifrig bestrebt hatte, ihm die Eindrücke des verflossenen Abends nach Möglichkeit abzuschwächen, ohne Erfolg.

Und weil Rutilius nun selbst überzeugt war, daß die so heiß ersehnte Verbindung mit seiner geliebten Hero nicht nur ihm, sondern auch ihr und ihrem theuren Vater unwiderruflich zum Verderben gereichen würde, so schien es ihm ein Gebot der Pflicht und der Ehre, die unabwendbare Trennung durch keinerlei Zögerungen und Schwankungen fürderhin zu erschweren, sondern alsbald durch einen heldenhaften Entschluß ganz und gar zu verwirklichen. Selbst ein Wiedersehen, ein Abschiednehmen mußte vermieden werden – darin konnte er jetzt seiner Geliebten nur beipflichten. Es galt, die Pfeile, die so tief in die sehnsuchtskranken Herzen sich eingewühlt hatten, rückhaltlos und gewaltsam herauszureißen; nur so war unter dem gnädigen Schutze der Götter vielleicht noch Heilung möglich; wenn nicht für ihn – denn er fühlte, daß ohne Hero das Leben ihm glanz- und farblos sein würde inmitten aller Herrlichkeit dieser Erde – so doch möglicher Weise für sie, die vergessen konnte, die vergessen sollte und mußte, so sehr auch der Jüngling bei diesem Gedanken erbeben mochte.

Er schrieb ihr daher in kurzen Worten, daß auch er den Spruch der Todesgöttin gehört und die Ueberzeugung gewonnen habe, es stelle sich zwischen ihn und Hero der unabänderliche Wille des Fatums: so entsage er denn. Mit welchen Gefühlen, brauche er wohl nicht aus einander zu setzen. Indem er ihr Ruhe wünsche für ihre Seele, thue er ihr zu wissen, daß er fürder in Rom nicht verweilen könne, wo er Gefahr laufe, ihr zu begegnen und so immer von Neuem an das Glück erinnert zu werden, das er für alle Zeiten verloren. Am folgenden Tage schon werde er die Hauptstadt verlassen, ohne sein Ziel zu nennen, damit nicht einmal ihre Gedanken ihm folgen könnten.

Diesen Entschluß führte er mit der Hast eines Menschen aus, der vor sich selber zu fliehen hofft.

Nur von einem einzigen Sclaven begleitet, ritt er in aller Morgenfrühe nordwärts über die milvische Brücke – der Landschaft Etrurien zu, um sich über das altberühmte Pisae nach Gallien zu wenden. Keinen seiner zahlreichen Freunde hatte er vorher noch besucht, mit Ausnahme des Cajus Bononius, dem er Massilia (Marseille) als den Punkt bezeichnete, wo er zunächst für einige Monate Rast zu machen gedachte. Dort besaß er nämlich in der Person eines arpinatischen Ritters einen Gastfreund, der ihn mit offenen Armen aufnehmen würde.

*               *
*

Cajus Bononius indeß war Tag und Nacht erfüllt von der fieberhaften Begierde, klar zu sehen in der Wirrniß dessen, was er erlebt hatte.

Wenn sich die wundersamen Ereignisse in der Wohnung des chaldäischen Zauberers minder gehäuft, wenn sie – bei all ihrer augenfälligen Wirklichkeit – nicht den Charakter einer gewissen theatralischen Berechnung getragen hätten, so wäre Bononius geneigt gewesen, sich ernsthafter als je mit der Frage zu beschäftigen: Giebt es wirklich eine oberste geistige Potenz, die über den Seelen der Abgeschiedenen waltet, und giebt es Menschen, die vermöge der besonderen Eigenart ihrer seelischen Kräfte im Stande sind, mit dieser Potenz in Wechselwirkung zu treten?

Die Studien, mit denen sich Bononius befaßt hatte, lieferten allerdings nicht das Geringste, was für die Wahrheit einer solchen Hypothese zu sprechen schien; eher im Gegentheil. Dennoch – gerade der vorurtheilsloseste Kopf, der da erfahren, wie oft sich das Unwahrscheinliche als Wahrheit erweist, ist am ersten dazu bereit, Fremdartiges und Widerspruchsvolles unbefangen zu prüfen und ihm nicht ohne Weiteres mit jener wohlfeilen Durchschnittsklugheit die Berechtigung abzusprechen. Nicht das jenseits aller Erfahrung Liegende, nur das logisch Undenkbare wird der wahre Denker zurückweisen.

Olbasanus hätte also bei Cajus Bononius unbestrittenere Erfolge erzielt, wenn er an Stelle der drei überraschenden Wunder nur eins in Scene gesetzt hätte. So aber war jener Instinct, der sich gleich zu Anfang geregt hatte, als Bononius jenes triumphirende Lächeln des Zauberers wahrnahm, rastlos am Werk, und mit dem Eifer des Forschers, der eine weltbewegende Entdeckung zu machen hofft, suchte Bononius nach möglichst einfachen und natürlichen Erklärungsgründen für die verblüffenden Phänomene … Hundertmal glaubte er die Wahrheit schon am Fittich zu fassen, und immer wieder entschlüpfte sie ihm, und die fröhlich aufleuchtende Hoffnung erwies sich als trügerisch.

Zwei Umstände noch kamen hinzu, die ihm zu denken gaben.

Einmal war es selbst mit der umfassendsten Kenntniß aller Naturkräfte nicht zu erklären, daß die Antwort auf die Frage des Lucius Rutilius, den Olbasanus doch gar nicht kannte, so völlig mit der Antwort auf die Fragen der Hero übereinstimmte. Nicht minder befremdlich erschien ihm der zweite Umstand. War dieser Olbasanus wirklich ein Gaukler, der in eigennütziger Absicht sein Opfer betrog, was hätte dann näher gelegen, als ein schließliches Einlenken auf die Wünsche des Lucius Rutilius? Der Chaldäer hätte dem trauernden Jüngling jede Buße auferlegen und, falls es ihm nur um das schnöde Gold zu thun war, eine sehr erhebliche Summe benennen können, durch deren Behändigung an den Vertrauten der Göttin die Lösung von jenem angeblichen Verhängniß möglich geworden wäre. Nichts von alledem. Die Göttin des Olbasanus verharrte mit der unerbittlichen Strenge des Fatums bei dem, was jene Schrift bereits auf den Eingeweiden des Opferthiers ausgesagt. Diese Thatsache stimmte entschieden zu Gunsten des Zauberers. Welches Interesse konnte der Mann verfolgen, wenn er gegen seine bessere Ueberzeugung die Hoffnung eines liebenden Jünglings zerstörte, da doch die Belebung dieser Hoffnung für den Wahrsager ohne Zweifel gewinnreicher zu werden versprach?

Cajus Bononius fand für alle diese Dinge keine Erklärung.

So schritt er eines Tages – es war eine Woche etwa nach erfolgter Abreise des Lucius Rutilius – durch die Alleen des Marsfeldes. Dieser nachmittägliche Gang, einige Stunden, eh’ er sein Mahl genoß, war von Cajus Bononius lange versäumt worden; jetzt, da der Kopf ihm von der ewigen Unrast seiner aufgeregten Gedanken glühte, hatte er die alte Gewohnheit wieder aufgenommen und heute bereits zum vierten Mal die übliche Wanderung an den sogenannten Septen, dem Platze der alten Volksversammlungen, vorüber nach der weithinschattenden Doppelreihe der Ahornbäume angetreten, deren rauschendes Laub sich bereits stark zu färben begann.

Trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit war die Luft so mild und weich wie im Frühling. Auf den Reit- und Fahrwegen hatte sich ein glänzendes Leben entfaltet. Vornehme Damen in prunkvollen Sänften ließen sich zwischen den Lorbeerbüschen und Myrthen einhertragen, gefolgt von einem Schwarm buntgekeideter Cavaliere, – denn die stilvolle weiße Toga des alten Römerthums war längst nicht mehr die ausschließliche Tracht dieser Modeherren. Reich gewordene Fabrikanten aus Alexandria rollten im zweirädrigen Cisium, kraushaarige Läufer in grellrothen Gewändern voraus, neben der Prachtkalesche des adelstolzen Senators und dem blitzenden Ponywagen der thurmhoch frisirten Dame der Halbwelt – der „Libertina“, von der uns Ovid gesungen. Auf den Rasenplätzen ward der Ringkampf und das Discuswerfen geübt; aber die Kämpfer betrugen sich fein manierlich – verglichen mit den wilden Tummlern, die hier noch unter Tiberius und Caligula ihre Muskeln gestählt – und der Discus war kleiner geworden, wie für Knaben bestimmt, ein Symbol der fortschreitenden Entartung, die schließlich dem gewaltigen Anprall des sieghaften Germanenthums unterliegen sollte …

Cajus Bononius schritt wie ein Nachtwandler durch all diese prächtige Wirrniß. Auch hier, inmitten der lebensfreudigen, leichtsinnigen Bevölkerung der Weltstadt, ward er des Druckes nicht ledig, der ihm auf Herz und Stirn lastete. Um die Künste des Olbasanus in ihrer Nichtigkeit zu erkennen, hatte er sich an jenem Abend, da er mit Rutilius zusammentraf, auf den Weg gemacht – und die Folge war, daß er jetzt mehr als je in die Netze der Unklarheit sich verstrickt fand! Es lag etwas Tragikomisches in diesem Sachverhalt; ab und zu hatte Bononius so das dumpfe Gefühl, als spiele er vor sich und der achtungswerthen Gesellschaft, die sich hier unter den Ahornbäumen erging, eine etwas klägliche Rolle …

Da mit einem Male rief ihn Jemand bei Namen.

Er wandte sich um.

„Du bist’s, Philippus?“ rief er einem stattlichen, etwa sechsunddreißigjährigen Manne zu, der aus einem Seitenwege zu ihm herantrat. Der Mann trug die Kriegsrüstung eines Centurionen [284] (Hauptmanns) des Stadtpräfecten; seine Züge verriethen energische Willenskraft, verbunden mit unverkennbarer Herzensgüte und Offenheit.

„Wie geht’s, Bononius?“ fragte der Krieger, dem jungen Weltweisen freundlich die Hand bietend. „Lebst Du noch, oder ist’s nur Dein Schatten, was hier herumschweift? Beim Hercules, drei Monate sind es zum wenigsten, seit ich zum letzten Male das Vergnügen hatte, Dir die Rechte zu schütteln. Was treibst Du denn, Du unbegreiflicher Einsiedler? Lässest Du noch Metalle auf dem Dreifuß zerschmelzen, oder bist Du wieder bei den schrecklichen Schriften des Heraklit? Irgend etwas Entsetzliches muß es sein, was Dich so ganz und gar Deinen besten Freunden entfremdet.“

„Du hast Recht,“ sagte Bononius. „Ich war überaus fleißig während der letzten Monate. Aber Du siehst ja, ich bessere mich …“

Sie schritten eine Strecke weit neben einander. Der junge Mann hörte nicht ohne Wohlbehagen das frische, gutmüthige Geplauder des strammen Centurio, der bald ein Pferd kritisirte, bald vom letzten Wettrennen und dem neuesten Pantomimenschauspiel erzählte, oder mit derber Ursprünglichkeit seiner Verwunderung über irgend eine der gefeierten Schönheiten Ausdruck verlieh, die in den Polstern ihrer Tragbetten oder ihrer Kaleschen vorüberkamen.

„Sieh dort!“ sagte er plötzlich, seinen Redefluß hemmend. „Nein, ist’s zu glauben? Wie bleich sie ausschaut …! Kennst Du sie nicht – Hero, die Tochter des Heliodorus?“

Cajus Bononius zuckte heftig zusammen. Die Geliebte des Lucius Rutilius war ihm bis jetzt noch nicht zu Gesicht gekommen, so sehr er sich im Geiste während der letzten Woche mit ihr beschäftigt hatte. Sie aufzusuchen, lag keine äußere Veranlassung vor; ja, er würde die ausgesprochenen Absichten seines entsagenden Freundes durch einen Besuch im Hause des Sicilianers augenscheinlich gekreuzt haben. Jetzt aber, da der Zufall diese Begegnung herbeiführte, war dem jungen Manne doch ganz zu Muthe, als habe ihm nur der Anblick Hero’s gefehlt, um klar zu sehen in all den Räthseln, die ihn geängstigt. Er verschlang sie fast mit den Augen, die wunderholde Mädchengestalt, die, von den Falten einer blendend weißen Palla umhüllt, soeben an der Seite eines hageren jungen Mannes in die Ulmen-Allee einbog.

Sie war in der That bleich, die liebliche Hero, bleich und traurig, trotz des leisen Lächelns der Höflichkeit, das ihr wehmüthig um den kleinen schwellenden Mund spielte. Das dunkelblonde, üppige Haar, das in schlichter Wellenlinie die ebenmäßige Stirn umrahmte, erhöhte noch diesen Eindruck. Theilnahmlos blickte sie auf das bunte Getriebe; theilnahmlos hörte sie die lebhaften Reden ihres fieberisch erregten Begleiters. Hinter ihr, an der Seite einer frischen, blühenden Fünfzehnjährigen, in welcher Cajus Bononius die von Rutilius so vielfach erwähnte Lydia vermuthen durfte, schritt Heliodorus, der Vater der bleichen Hero, sichtlich verstimmt, die Brauen herabgezogen, die Lippen fest auf einander gepreßt. Er schien mit Lydia in ernster Unterredung begriffen.

„Das ist Hero?“ fragte Bononius. „Und wer ist der unsympathische Mensch, der so voll Ungestüm auf sie einspricht?“

„Agathon, ein Landsmann des Heliodorus. Ich traf ihn öfters beim Stadtpräfecten.“

Jetzt kamen Bononius und Philippus an der Gesellschaft vorüber. Philippus grüßte. Bononius blickte starr bald auf Hero, bald auf den sie begleitenden Agathon. Es lag etwas in der Erscheinung dieses Menschen, was ihm bekannt schien, obgleich er sich auf’s Bestimmteste zu erinnern glaubte, daß er ihm nie im Leben begegnet sei. So vergaß er denn alle Rücksicht der Höflichkeit, und als auch Heliodorus mit Lydia glücklich vorbei war, konnte sich Cajus Bononius trotz der städtischen Sitte, die dergleichen verbot, nicht enthalten, den Enteilenden nachzuschauen.

Wie er die Gestalt des Agathon so von der Kehrseite erblickte, zuckte es ihm mit einem Mal durch’s Gehirn, wie eine leuchtende Offenbarung. Das war dieselbe hagere Gestalt, die an jenem Abend, als er mit Lucius Rutilius an der Pforte des Olbasanus stand, aus dem Ostium (Thürgang) kam und entschritt. Die Haltung, die eigenthümliche Bewegung der rechten Schulter, das Gesammtbild – Alles war unverkennbar.

Nun war dem jungen Manne auf einmal klar, was er bis dahin für ebenso unerforschlich gehalten, wie jene nächtlichen Wundererscheinungen: die Beweggründe nämlich des Olbasanus. Alles, was Olbasanus dem unglücklichen Rutilius und der trauernden Hero geweissagt hatte, war eine Bestellung des Agathon …! Die Motive aber, die hinwiederum diesen bestimmten, heischten keine Erklärung. Hero war jung, schön, reich, und Agathon bewarb sich um ihre Gunst. Cajus Bononius betonte sich vornehmlich den Reichthum, – schon weil es ihn mit Genugthuung erfüllte, besagten Agathon noch entschiedener verachten zu dürfen, als dies statthaft gewesen, wenn seinem Intriguenspiel nur die wahnsinnige Leidenschaft zu dem reizenden jungen Mädchen zu Grunde gelegen.

Freilich, das Unbegreifliche, was Rutilius und Bononius im Hause des Chaldäers erlebt hatten, war durch diese Entdeckung nicht um Haaresbreite verständlicher; aber Bononius hatte erneuten Muth und erneute Thatkraft geschöpft, um mit Aufbietung aller Mittel dem Ziele entgegenzusteuern, das er jetzt, frei von den letzten Resten metaphysischer Beklemmungen, kühnlich in’s Auge faßte. Er wußte es nun, Olbasanus war kein Phantast, kein Schwärmer, der sich wenigstens halbwege selber betrog, sondern ein Gaukler, der sich zum Werkzeug hergab für die gemeine Selbstsucht eines tückischen Schleichers. Dieser Gaukler mußte entlarvt werden – das stand dem jungen Manne so fest, wie dem Beter die Ueberzeugung von der Gnade der Gottheit.

Dem Centurio war die Gemüthsbewegung seines Begleiters nicht entgangen. Offen und rückhaltslos, wie er war, fragte er geradezu, was ihn beim Anblick dieser Sicilianer so ungewöhnlich befremde; ob Cajus Bononius in Hero etwa eine lange vergeblich gesuchte Circus-Nachbarin wieder erkannt oder in Agathon einen unbequemen Rivalen entdeckt habe. Der Jüngling befand sich in einer Stimmung, die das Herz mittheilsam und bedürftig macht, von Anderen Rath zu erfragen; er schätzte den Centurio seit lange als einen zuverlässigen und besonnenen Mann; er glaubte überdies wahrzunehmen, daß auch Philippus für Agathon keine sonderlichen Sympathien verspüre.

Ein Wort gab das andere.

Ein wenig abseits aus dem Gewühl schlendernd, machte Bononius dem Centurio zunächst einige Andeutungen, und enthüllte ihm dann, nachdem Philippus ihm bei allen Göttern die strengste Verschwiegenheit zugesagt hatte, das Erlebniß mit Olbasanus.

Der wackere Centurio war außer sich. Er hatte niemals an die Narrenspossen der Beschwörer geglaubt: hier aber lag es ja klar zu Tage: Agathon, der niederträchtige Gauner, hatte den Olbasanus erkauft! Er, Philippus, wußte, daß Agathon sich in schlechten Vermögensverhältnissen befand. Die wenigen hunderttausend Sesterzien[2], die dem verschwenderischen Wüstling noch von vielen Millionen erübrigten, glaubte er natürlich nicht besser anlegen zu können, als wenn er sie zur Erlangung der ungeheuren Erbschaft verwandte, die Hero, als das einzige Kind ihrer Mutter, ihm in die Ehe mitbringen würde. Die Sache war so klar wie das himmlische Sonnenlicht. Aber noch hatte der freche Betrüger nicht seine Ernte gehalten und nach dem Ausdrucke in Hero’s lieblichem Antlitz zu schließen, hielt es Philippus für zweifelhaft, daß er jemals gewinnen werde, was er auf so tückische Weise erschleichen wollte. Gleichviel: mit dem voraussichtlichen Mißerfolge des Agaton war noch nicht gut gemacht, was der ruchlose Beschwörer dem armen Rutilius angerichtet. Er, Philippus, wollte Alles aufbieten, um in Gemeinschaft mit Cajus Bononius die Sache wieder in’s Geleise zu bringen.

„Besuche mich morgen zum Früstück,“ sagte er endlich, nachdem er in aufgeregter Gesprächigkeit alle diese Momente in Erwägung genommen. „Wir entwerfen dann einen Feldzugsplan, der nicht nur unsern trefflichen Lucius Rutilius in alle Rechte seines blühenden Glücks wieder einsetzen, sondern auch Deine brennende Wißbegierde nach den verborgenen Kräften, mit denen Olbasanus gearbeitet, stillen soll!“

„Wohl!“ versetzte Bononius. „Ich werde zur Stelle sein.“

So trennten sie sich.

(Fortsetzung folgt.)




 manicula 0 Dieser Nummer ist Nr. 5 unserer „Zwanglosen Blätter“ beigelegt.


Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Schmelz, kleine bunte Glasröhrchen zur Ausschmückung von Frauengewändern, die eben als Mode-Artikel stark begehrt werden.
  2. Silbermünze = 20 Pfennig R.-W.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Absatzgebiesen